Minakata Kumagusu Ein Blick Auf Den „Gefesselten Riesen“
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Minakata Kumagusu Ein Blick auf den „gefesselten Riesen“ TANIGAWA Kenichi 谷川健一 Übersetzt von Peter Lutum, Hamburg* Mit den nun vorliegenden Gesammelten Werken von Minakata Kumagusu 南方熊楠 und Yanagita Kunio 柳田国男, besteht jetzt die Gelegenheit, anhand ihres Briefwechsels einen Vergleich dieser beiden Persönlichkeiten vorzunehmen. Die Briefe Minakatas, die den umfangreicheren Teil der Werke ausma- chen und zudem eine größere Lebendigkeit aufweisen, lassen, wenn sie mit den Briefen Yanagitas an Minakata kontrastiert werden, eine Reihe interes- santer Dinge zutage treten. Vom ersten brieflichen Kontakt bis zum Abbruch ihrer Korrespondenz galt Yanagitas Interesse vor allem dem Ursprung und der Lebensweise der japanischen Bergbewohner, wobei er bei schwierigen Fragen und Unklar- heiten oftmals Minakata konsultierte, der ihm so dann mit vielen erläutern- den Beispielen antwortete. Zu jener Zeit konzentrierte sich Minakata unter großer Aufopferung auf seinen Widerstand1 gegen die Zusammenlegung der ländlichen Shintô- * Für das Korrekturlesen danke ich Veit-Gunnar Schüttrumpf. 1 Die Meiji-Regierung veranlaßte 1906 eine Zusammenlegung der Schreine, um durch eine Zentrierung des religiösen Lebens und der Bräuche zum Staats-Shintô die Auto- rität des Meiji-Kaisers in seiner religiösen Position zu stärken. In der Zeit des Staats- Shintô, etwa 1871–1945, übernahm die japanische Regierung die Kontrolle über die Schreine und errichtete ein Rangsystem, bei dem die Schreine in Staats-Schreine (kansha) und sonstige Schreine (shôsha) eingeteilt wurden. Nachdem die Meiji-Regie- rung im Jahre 1906 die Zusammenlegung der Schreine angeordnet hatte, durfte pro Dorf nur noch ein Schrein existieren. Die übrigen Schreine des betreffenden Dorfes wurden zerstört und deren Gottheiten in andere Schreine inthronisiert. Mit der Ab- schaffung und Zusammenlegung der Schreine ging eine Vernichtung der schreineige- nen Forstbestände und deren ökologisches System einher; vgl. Horst HAMMITZSCH (Hg.): Japan-Handbuch. 3. Auflage. Stuttgart: Franz Steiner Verlag 1990. In der Ta- geszeitung Muro shimbun (Muro ist ein kleines Dorf in der Präfektur Wakayama) übte KAGAMI – Heft 49 27 Schreine2 und bat hierbei Yanagita, der damals noch Regierungsbeamter und Parlamentsabgeordneter war, um Unterstützung. So entwickelte sich schließlich aus dieser anfänglichen Korrespondenz ein reger Briefwechsel, in dem sie sich nach und nach immer häufiger gegenseitig zu Rate zogen und einander förderten. Etwa seit der Phase, in der Yanagita seine Zeit- schrift Kyôdo kenkyû3 („Heimatforschung“)4 herauszugeben begann und zugleich Minakatas Kampagne gegen die Schreinzusammenlegung lang- sam an Intensität verlor, veränderte sich auf subtile Weise ihre bis dahin freundschaftliche Beziehung. Obgleich Yanagita dem enzyklopädischen Wissen Minakatas eine unge- heure Hochachtung und Bewunderung entgegenbrachte, trachtete er schon von Anfang an danach, sich mehr und mehr von dessen Kenntnissen unab- hängig zu machen, um eine eigene, nach seinen Vorstellungen ausgerichtete volkskundliche Methode zu formulieren. Allein in diesen wenigen Punkten kommt bereits ihr gänzlich unterschiedliches Charakterprofil zum Vor- schein. Wir können sicher davon ausgehen, daß sie sich ihrer Gegensätz- lichkeit bewußt waren und besonders eklatant muß dieses insbesondere für Minakata am 27.09.1909 erstmals scharfe Kritik gegenüber der Abschaffung und Ver- einigung der Schreine und wurde im August des folgenden Jahres, als er den Präfek- turabgeordneten gegen dessen Willen sprechen wollte und sich darauf zu ihm unerlaubt Zutritt verschafft hatte, wegen Hausfriedensbruch für 18 Tage inhaftiert; vgl. TSURUMI Kazuko: Minakata Kumagusu. 1. Auflage 1981. Kôdansha gakujutsu bunko 1993. 2 In seinem Aufsatz „Minakata Kumagusu to ,Itoda-Sarugami-toshi‛ Gôshi-Jiken“ erör- tert Hashizume Hiroyuki die Motive Minakatas gegen die Zusammenlegung der Schreine. Er zeigt auf, daß die Vernichtung des Sarugami-Schreins in Tanabe der Aus- löser für Minakatas Kampagne gegen die Schreinzusammenlegung gewesen war. Des weiteren weist er darauf hin, daß Minakatas Initiative nicht allein aufgrund seiner bio- logischen Forschung mit Moosen, Algen und Pilzen, die in dem Forst der Tempel- und Schreinbezirke in einem besonderen Biotop wachsen, die Hauptmotivation darstelle, sondern mit der Zerstörung der Schrein- und Tempelkultur zugleich auch die Bräuche, als auch die religiöse Tradition und Heimatverbundenheit verloren ginge und dies zu einem Identitätsverlust der Bevölkerung führen müsse; in: FAKULTÄTSZEITSCHRIFT DER UNIVERSITÄT KYÔTO: Ningen kankyôgaku kenkyûka. 1997.6, S. 95–105. 3 Erschien in den Jahren 1913–1917. Laut Yanagita sei die „Heimatforschung“ eine For- schung, die sich auf alle Gebiete des Volkslebens bezieht. Ab der 2. Nummer des 2. Bandes redigierte Yanagita sie ohne Takaki Toshio und veröffentlichte dort zahlreiche Aufsätze unter dem Decknamen Yamamura; vgl. YANAGITA Kunio; „Die japanische Volkskunde. Ihre Vergangenheit, Entwicklung und gegenwärtige Lage“ (übersetzt von M. Eder), in: Folklore Studies 1944.3/2, Peking. 4 Auf der Rückseite des Deckblattes erschien der deutschsprachige Titel Zeitschrift für japanische Volks- und Landeskunde; herausgegeben vom Regierungsrat Dr. K. Yana- gita, Prof. T. Takaki; vgl. NISHINA Gorô: Minakata Kumagusu no shôgai. Shinjinbutsu ôraisha 1994. 28 Yanagita gewesen sein, der sich in keiner Weise mit Minakatas umfangrei- cher Bildung messen konnte. Gerade in dem Versuch Yanagitas, schließlich für die Konsolidierung seiner Volkskunde einen eigenwilligen völlig anderen methodischen Weg zu gehen, um damit zugleich dem Einfluß Minakatas kolossaler Gelehrsam- keit entgegen zu wirken, zeigte sich ganz offen die Dramatik in ihrer Be- ziehung. Dies verdeutlicht ferner ein späteres Geständnis, in dem es heißt: „Um das Jahr 1910 oder 1911 bot sich eine Gelegenheit mit dem verehrten Lehrer näher in Kontakt zu treten, aber durch eine wirklich idiotische Sache kam es schließlich zwischen uns zu einer unangenehmen Befremdung.“ Ich habe jedoch Zweifel, ob man dem ganzen Wortlaut Yanagitas Glauben schenken darf, denn er erhielt danach von Minakata wie er selbst an einer anderen Stelle schreibt, noch trotz „dieser unbedeutenden Bagatelle über sechs Jahre annähernd hundertfünfzig Briefe“. Aus heutiger Sicht könnte man beispielsweise fragen, wo wohl die ge- genwärtige japanische Geisteswissenschaft stünde, wenn es nicht zu einer Trennung zwischen den beiden gekommen wäre. Auf jeden Fall ist es aber so, daß gerade die Entfremdung und der darauffolgende Abbruch ihrer sich für beide Seiten stets als fruchtbar erwiesenen intellektuellen Kontroverse auch eine Tragödie für die japanische Wissenschaft ist. Näheres hierzu möchte ich, indem ich mich auf den Briefwechsel konzentriere, im folgen- den ein wenig ausführlicher erläutern. In Yanagitas Autobiographie Kokyô nanajû nen („Die letzten siebzig Jahre“) findet sich ein Kapitel mit dem Titel „Der Lehrer Minakata Kuma- gusu“.5 Meines Erachtens gibt es für die Exegese der Korrespondenz zwi- schen Minakata und Yanagita keinen prägnanteren Text und ich werde ihn deshalb, trotz der Länge des Zitats, an dieser Stelle zum besseren Verständ- nis des Lesers anführen. „Unter den zahlreichen Menschen, denen ich in meinem Leben begeg- nete, war Minakata Kumagusu aus Kii6 bestimmt der sonderbarste. Es war, wenn ich mich recht erinnere, zweifelsohne das Jahr 1910 in dem ich Ishi- gami mondô („Diskurse über die Steingötter“)7 herausbrachte; ein Buch, welches hauptsächlich aus einer Sammlung von Briefen bestand, die ich zu diesem Thema von zehn Persönlichkeiten erhalten hatte. Als ich ein 5 Es handelt sich hierbei um einen anderen Aufsatz als das gleichbetitelte Kapitel, wel- ches im 23. Band der Yanagita Werkausgabe unter der Rubrik „Sasayaka naru muka- shi“ angeführt wird. 6 Ehemalige Bezeichnung der heutigen Präfektur Wakayama. 7 Untersucht werden dort die Herkunft der Steingötter sowie jene Gottheiten, die häufig in Steinen verkörpert sind, wie z. B. shaguji (Name eines Steingottes), dôsojin (Gott des Weges), ubagami (Muttergottheit), yamagami (Berggötter) und aragami (wilde Götter), in: Folklore Studies, 1944 (s. Anm. 3). 29 Exemplar davon Herrn Dr. Tsuboi Shôgoro8 schenkte, wurde ich über ihn mit den Herrschaften der Anthropologischen Gesellschaft bekannt ge- macht. Dort empfahl man mir, auch Herrn Minakata Kumagusu ein Exem- plar zukommen zu lassen, was dann zum Beginn unserer Bekanntschaft führen sollte. Damals erhielt ich über eine Zeitspanne von etwa eineinhalb oder zwei Jahren nahezu jeden Tag einen Brief von ihm. Er war in der Tat ein solch eifriger Briefeschreiber, daß ich manchmal, je nach Wochentag, sogar drei bis viermal täglich Post von ihm bekam. Er hatte außerdem ein erstaunliches Erinnerungs- und Kombinationsvermögen und es kam nie vor, daß er sich in seinen Briefen wiederholte. Ferner konnte er in sieben oder acht Sprachen die speziellsten Bücher lesen, ohne jemals ihren ge- nauen Inhalt zu vergessen. Diese gewiß außergewöhnliche Persönlichkeit behauptete in einem seiner Briefe sogar von sich, nachts in der Fremdspra- che zu träumen, in der er zuvor ein Buch gelesen hätte. Seine hervorragen- den Englischkenntnisse hat er sicher während seiner Aufenthalte in Ame- rika und London erworben, wo er sich auch eine Zeitlang quasi für einen Hungerlohn als Hilfsassistent am britischen Nationalmuseum verdingte. Die vielen und überaus langen Briefe, die er mir sandte, waren bisweilen sogar vollgespickt mit Zitaten in Italienisch oder anderen Sprachen. Seine gesamte Korrespondenz