Minakata Kumagusu

Ein Blick auf den „gefesselten Riesen“

TANIGAWA Kenichi 谷川健一

Übersetzt von Peter Lutum, Hamburg*

Mit den nun vorliegenden Gesammelten Werken von Minakata Kumagusu 南方熊楠 und Yanagita Kunio 柳田国男, besteht jetzt die Gelegenheit, anhand ihres Briefwechsels einen Vergleich dieser beiden Persönlichkeiten vorzunehmen. Die Briefe Minakatas, die den umfangreicheren Teil der Werke ausma- chen und zudem eine größere Lebendigkeit aufweisen, lassen, wenn sie mit den Briefen Yanagitas an Minakata kontrastiert werden, eine Reihe interes- santer Dinge zutage treten. Vom ersten brieflichen Kontakt bis zum Abbruch ihrer Korrespondenz galt Yanagitas Interesse vor allem dem Ursprung und der Lebensweise der japanischen Bergbewohner, wobei er bei schwierigen Fragen und Unklar- heiten oftmals Minakata konsultierte, der ihm so dann mit vielen erläutern- den Beispielen antwortete. Zu jener Zeit konzentrierte sich Minakata unter großer Aufopferung auf seinen Widerstand1 gegen die Zusammenlegung der ländlichen Shintô-

* Für das Korrekturlesen danke ich Veit-Gunnar Schüttrumpf. 1 Die Meiji-Regierung veranlaßte 1906 eine Zusammenlegung der Schreine, um durch eine Zentrierung des religiösen Lebens und der Bräuche zum Staats-Shintô die Auto- rität des Meiji-Kaisers in seiner religiösen Position zu stärken. In der Zeit des Staats- Shintô, etwa 1871–1945, übernahm die japanische Regierung die Kontrolle über die Schreine und errichtete ein Rangsystem, bei dem die Schreine in Staats-Schreine (kansha) und sonstige Schreine (shôsha) eingeteilt wurden. Nachdem die Meiji-Regie- rung im Jahre 1906 die Zusammenlegung der Schreine angeordnet hatte, durfte pro Dorf nur noch ein Schrein existieren. Die übrigen Schreine des betreffenden Dorfes wurden zerstört und deren Gottheiten in andere Schreine inthronisiert. Mit der Ab- schaffung und Zusammenlegung der Schreine ging eine Vernichtung der schreineige- nen Forstbestände und deren ökologisches System einher; vgl. Horst HAMMITZSCH (Hg.): -Handbuch. 3. Auflage. Stuttgart: Franz Steiner Verlag 1990. In der Ta- geszeitung Muro shimbun (Muro ist ein kleines Dorf in der Präfektur ) übte KAGAMI – Heft 49 27 Schreine2 und bat hierbei Yanagita, der damals noch Regierungsbeamter und Parlamentsabgeordneter war, um Unterstützung. So entwickelte sich schließlich aus dieser anfänglichen Korrespondenz ein reger Briefwechsel, in dem sie sich nach und nach immer häufiger gegenseitig zu Rate zogen und einander förderten. Etwa seit der Phase, in der Yanagita seine Zeit- schrift Kyôdo kenkyû3 („Heimatforschung“)4 herauszugeben begann und zugleich Minakatas Kampagne gegen die Schreinzusammenlegung lang- sam an Intensität verlor, veränderte sich auf subtile Weise ihre bis dahin freundschaftliche Beziehung. Obgleich Yanagita dem enzyklopädischen Wissen Minakatas eine unge- heure Hochachtung und Bewunderung entgegenbrachte, trachtete er schon von Anfang an danach, sich mehr und mehr von dessen Kenntnissen unab- hängig zu machen, um eine eigene, nach seinen Vorstellungen ausgerichtete volkskundliche Methode zu formulieren. Allein in diesen wenigen Punkten kommt bereits ihr gänzlich unterschiedliches Charakterprofil zum Vor- schein. Wir können sicher davon ausgehen, daß sie sich ihrer Gegensätz- lichkeit bewußt waren und besonders eklatant muß dieses insbesondere für

Minakata am 27.09.1909 erstmals scharfe Kritik gegenüber der Abschaffung und Ver- einigung der Schreine und wurde im August des folgenden Jahres, als er den Präfek- turabgeordneten gegen dessen Willen sprechen wollte und sich darauf zu ihm unerlaubt Zutritt verschafft hatte, wegen Hausfriedensbruch für 18 Tage inhaftiert; vgl. TSURUMI Kazuko: Minakata Kumagusu. 1. Auflage 1981. Kôdansha gakujutsu bunko 1993. 2 In seinem Aufsatz „Minakata Kumagusu to ,Itoda-Sarugami-toshi‛ Gôshi-Jiken“ erör- tert Hashizume Hiroyuki die Motive Minakatas gegen die Zusammenlegung der Schreine. Er zeigt auf, daß die Vernichtung des Sarugami-Schreins in Tanabe der Aus- löser für Minakatas Kampagne gegen die Schreinzusammenlegung gewesen war. Des weiteren weist er darauf hin, daß Minakatas Initiative nicht allein aufgrund seiner bio- logischen Forschung mit Moosen, Algen und Pilzen, die in dem Forst der Tempel- und Schreinbezirke in einem besonderen Biotop wachsen, die Hauptmotivation darstelle, sondern mit der Zerstörung der Schrein- und Tempelkultur zugleich auch die Bräuche, als auch die religiöse Tradition und Heimatverbundenheit verloren ginge und dies zu einem Identitätsverlust der Bevölkerung führen müsse; in: FAKULTÄTSZEITSCHRIFT DER UNIVERSITÄT KYÔTO: Ningen kankyôgaku kenkyûka. 1997.6, S. 95–105. 3 Erschien in den Jahren 1913–1917. Laut Yanagita sei die „Heimatforschung“ eine For- schung, die sich auf alle Gebiete des Volkslebens bezieht. Ab der 2. Nummer des 2. Bandes redigierte Yanagita sie ohne Takaki Toshio und veröffentlichte dort zahlreiche Aufsätze unter dem Decknamen Yamamura; vgl. YANAGITA Kunio; „Die japanische Volkskunde. Ihre Vergangenheit, Entwicklung und gegenwärtige Lage“ (übersetzt von M. Eder), in: Folklore Studies 1944.3/2, Peking. 4 Auf der Rückseite des Deckblattes erschien der deutschsprachige Titel Zeitschrift für japanische Volks- und Landeskunde; herausgegeben vom Regierungsrat Dr. K. Yana- gita, Prof. T. Takaki; vgl. NISHINA Gorô: Minakata Kumagusu no shôgai. Shinjinbutsu ôraisha 1994. 28 Yanagita gewesen sein, der sich in keiner Weise mit Minakatas umfangrei- cher Bildung messen konnte. Gerade in dem Versuch Yanagitas, schließlich für die Konsolidierung seiner Volkskunde einen eigenwilligen völlig anderen methodischen Weg zu gehen, um damit zugleich dem Einfluß Minakatas kolossaler Gelehrsam- keit entgegen zu wirken, zeigte sich ganz offen die Dramatik in ihrer Be- ziehung. Dies verdeutlicht ferner ein späteres Geständnis, in dem es heißt: „Um das Jahr 1910 oder 1911 bot sich eine Gelegenheit mit dem verehrten Lehrer näher in Kontakt zu treten, aber durch eine wirklich idiotische Sache kam es schließlich zwischen uns zu einer unangenehmen Befremdung.“ Ich habe jedoch Zweifel, ob man dem ganzen Wortlaut Yanagitas Glauben schenken darf, denn er erhielt danach von Minakata wie er selbst an einer anderen Stelle schreibt, noch trotz „dieser unbedeutenden Bagatelle über sechs Jahre annähernd hundertfünfzig Briefe“. Aus heutiger Sicht könnte man beispielsweise fragen, wo wohl die ge- genwärtige japanische Geisteswissenschaft stünde, wenn es nicht zu einer Trennung zwischen den beiden gekommen wäre. Auf jeden Fall ist es aber so, daß gerade die Entfremdung und der darauffolgende Abbruch ihrer sich für beide Seiten stets als fruchtbar erwiesenen intellektuellen Kontroverse auch eine Tragödie für die japanische Wissenschaft ist. Näheres hierzu möchte ich, indem ich mich auf den Briefwechsel konzentriere, im folgen- den ein wenig ausführlicher erläutern. In Yanagitas Autobiographie Kokyô nanajû nen („Die letzten siebzig Jahre“) findet sich ein Kapitel mit dem Titel „Der Lehrer Minakata Kuma- gusu“.5 Meines Erachtens gibt es für die Exegese der Korrespondenz zwi- schen Minakata und Yanagita keinen prägnanteren Text und ich werde ihn deshalb, trotz der Länge des Zitats, an dieser Stelle zum besseren Verständ- nis des Lesers anführen. „Unter den zahlreichen Menschen, denen ich in meinem Leben begeg- nete, war Minakata Kumagusu aus Kii6 bestimmt der sonderbarste. Es war, wenn ich mich recht erinnere, zweifelsohne das Jahr 1910 in dem ich Ishi- gami mondô („Diskurse über die Steingötter“)7 herausbrachte; ein Buch, welches hauptsächlich aus einer Sammlung von Briefen bestand, die ich zu diesem Thema von zehn Persönlichkeiten erhalten hatte. Als ich ein

5 Es handelt sich hierbei um einen anderen Aufsatz als das gleichbetitelte Kapitel, wel- ches im 23. Band der Yanagita Werkausgabe unter der Rubrik „Sasayaka naru muka- shi“ angeführt wird. 6 Ehemalige Bezeichnung der heutigen Präfektur Wakayama. 7 Untersucht werden dort die Herkunft der Steingötter sowie jene Gottheiten, die häufig in Steinen verkörpert sind, wie z. B. shaguji (Name eines Steingottes), dôsojin (Gott des Weges), ubagami (Muttergottheit), yamagami (Berggötter) und aragami (wilde Götter), in: Folklore Studies, 1944 (s. Anm. 3).

29 Exemplar davon Herrn Dr. Tsuboi Shôgoro8 schenkte, wurde ich über ihn mit den Herrschaften der Anthropologischen Gesellschaft bekannt ge- macht. Dort empfahl man mir, auch Herrn Minakata Kumagusu ein Exem- plar zukommen zu lassen, was dann zum Beginn unserer Bekanntschaft führen sollte. Damals erhielt ich über eine Zeitspanne von etwa eineinhalb oder zwei Jahren nahezu jeden Tag einen Brief von ihm. Er war in der Tat ein solch eifriger Briefeschreiber, daß ich manchmal, je nach Wochentag, sogar drei bis viermal täglich Post von ihm bekam. Er hatte außerdem ein erstaunliches Erinnerungs- und Kombinationsvermögen und es kam nie vor, daß er sich in seinen Briefen wiederholte. Ferner konnte er in sieben oder acht Sprachen die speziellsten Bücher lesen, ohne jemals ihren ge- nauen Inhalt zu vergessen. Diese gewiß außergewöhnliche Persönlichkeit behauptete in einem seiner Briefe sogar von sich, nachts in der Fremdspra- che zu träumen, in der er zuvor ein Buch gelesen hätte. Seine hervorragen- den Englischkenntnisse hat er sicher während seiner Aufenthalte in Ame- rika und London erworben, wo er sich auch eine Zeitlang quasi für einen Hungerlohn als Hilfsassistent am britischen Nationalmuseum verdingte. Die vielen und überaus langen Briefe, die er mir sandte, waren bisweilen sogar vollgespickt mit Zitaten in Italienisch oder anderen Sprachen. Seine gesamte Korrespondenz aus den beinahe zwei Jahren habe ich dann später auf Kalligraphiepapier übertragen und sie als Hefte mit der Bezeichnung ,Minakata raisho‛ („Die Briefe des Minakata Kumagusu“) aufbewahrt.9 Da mein enger Freund Matsumoto Shôji zu Frühlingsbeginn 1912 den Vorschlag machte, mit mir irgendwohin eine kleine Reise zu unternehmen, entschlossen wir uns in die Gegend von Kishû 10 zu fahren, um Herrn Minakata einen Besuch abzustatten. Damals ließen die ländlichen Infrastrukturen noch ziemlich zu wün- schen übrig und so mieteten wir von Ôsaka nach Tanabe11 eine Rikscha. Dort angekommen, meldeten wir uns bei den Minakatas an und sagten, daß wir aus Tôkyô gekommen seien, um Herrn Minakata Kumagusu zu spre- chen. Anstatt von ihm begrüßt zu werden, ließ er uns über seine Frau aus- richten, daß er irgendwann einmal bei uns vorbeikäme. Nachdem wir in unserer Herberge das Abendessen eingenommen hatten und bereits eine ganze Weile verstrichen war, versuchten wir es erneut und erkundigten uns, ob er wohl vielleicht jetzt für uns zu sprechen wäre, doch das Hausmädchen bedauerte, uns nichts genaues sagen zu können, obgleich wir den Eindruck

8 Japanischer Anthropologe (1863–1913). 9 Der 12. Band der Minakata-Gesamtausgabe, erschienen im Kangensha Verlag, besteht bis zur Hälfte aus den nur an mich gerichteten Briefen. 10 Heutige Präfektur Wakayama. 11 Kleine Hafenstadt in der Präfektur Wakayama. 30 hatten, daß er zu Hause sei. Auf unsere drängenden Fragen, wann er denn ungefähr heimkäme, meinte sie schließlich, daß es ihrem Hausherrn in der Regel recht unangenehm sei, unerwartet in dieser Form Fremden zu begeg- nen und im übrigen sei er momentan außer Haus und säße vermutlich in der Rikscha-Station, um dort mit Freunden Sake zu trinken. Unterdessen kam er völlig betrunken angetorkelt. Mir schien, daß er zu jenen Typen von Men- schen zählte, bei denen schon eine kleine Menge Alkohol ausreicht, um die unangenehmen Seiten ihres Charakters hervortreten zu lassen. Als er uns dann sah und er den Namen meines Freundes Matsumoto hörte, sagte er unvermittelt mit einem gewissen Spott, daß er dessen Alten, Matsumoto Sôichirô, kenne und sich mit ihm früher einmal geprügelt habe, worauf Matsumoto nichts anderes übrig blieb, als nur bitter zu lächeln. Überhaupt machte er auf mich den Eindruck, daß er sich oft mit irgendwelchen Leuten schlug. Doch am beeindruckendsten war, daß er sich während unseres kur- zen Gespräches in seinem berauschten Zustand kein einziges Mal wieder- holte. Da ich damals nur für eine Nacht in Tanabe bleiben konnte, ging ich am folgenden Tag alleine auf einen Gruß zu ihm. Als seine Frau aus der Haustür trat und mich sah, machte sie ein sehr verlegenes Gesicht. Nach- dem wir beide einige Augenblicke etwa bedrückt und unschlüssig da ge- standen hatten, rief mir Minakata schließlich aus irgendeinem Zimmer des Hauses zu, daß er nach dem Saketrinken immer ziemlich schlecht sähe und er in Anbetracht seiner jetzigen Verfassung lediglich von seiner Matratze aus mit mir ein Gespräch führen könne. Während ich also die ganze Zeit hindurch draußen vor seinem Haus stand und ihn dabei auch nur selten zu Gesicht bekam, ergab sich an diesem Tage ebenfalls keine Gelegenheit, mit ihm über diverse wissenschaftliche Themen zu sprechen. In allem schien er mir ein äußerst kurioser Mensch gewesen zu sein und so sagt man ihm beispielsweise nach, daß er jahraus jahrein kaum Kleider getragen habe und zu Hause meist nackt herumgelaufen sei. In jenen Tagen also, als ich noch im regen Briefkontakt mit ihm stand, war er außeror- dentlich entrüstet über die Zusammenlegung der Schreine durch die Meiji- Regierung in der Gegend von Kishû und er wandte alle Kräfte auf seinen Widerstand, um zu verhindern, daß die alten Bäume innerhalb der aufge- lösten Schreinbezirke nicht nach und nach einem Kahlschlag zum Opfer fielen. In der Provinz Wakayama war sein Protest allerdings nicht allzu wir- kungsvoll gewesen, wohingegen sie beim Atawa-Schrein in der Provinz Mie großen Erfolg hatte. Aus Freude darüber und aus einer gewissen Dank- barkeit für meine politischen Vermittlungen, schrieb er mir dann folgendes

31 Gedicht: Ja, selbst einem Kampferbaum spendete die Weide gar reichlich Schatten.‛ “12 Wie bereits erwähnt, ergab sich ihr erster Kontakt dadurch, daß Yanagita sein Buch Ishigami-mondô („Diskurse über Steingötter“) Minakata schenkte. Besonders eigenartig erscheint mir in diesem Zusammenhang die Tatsache, daß allein die obenerwähnte Begegnung ihr erstes und einziges Treffen blieb. Denn in dem ersten Brief,13 den Yanagita an Minakata schrieb, weist dieser deutlich auf den Ort seines eigentlichen Interesses hin: Augenblicklich sammelt meine Wenigkeit allerlei Artikel über die sogenannten Bergbewohner und mich dünkt, daß gewiß auch zuhauf ähnliche Berichte und Geschichten in der Bevölkerung von Kuma- no 14 kursieren. Erlauben Sie mir daher gütigst diesbezüglich für meine Recherchen bei Ihnen um Beistand anfragen zu dürfen. […] Gewöhnlich pflege ich eine tiefe Bescheidenheit, aber da Sie freund- licherweise einst mein Buch Tôno-monogatari („Erzählungen aus der Umgebung von Tôno“)15 wohlwollend zur Kenntnis nahmen und daraus nicht nur in Ihren werten Aufsätzen zitierten, sondern ihm zudem auch mit Ihrer werten Abhandlung „okoze“16 abermals neuem Ausdruck verliehen, möchte ich mich hier mit Verlaub ganz unvermittelt brieflich an Sie wenden. (…) Aufbauend auf diesem Brief setzt Yanagita dieses Thema im weiteren wie folgt fort:

12 Eine Anspielung auf das Waka: oto ni kiku Kumano kusunoki hi no ôgami mo yanagi no kage wo tanomu bakari zo. („Wenn man die Kampferbäume von Kumano, in denen der Sonnengott wohnt, so erzählt man, fälle, bliebe dieser Gottheit wohl nichts anderes übrig, als Zuflucht zu nehmen bei den Weiden“.) Der Vers mit seiner Doppeldeutigkeit weist einerseits auf die Namen Kumagusu (楠 kusu: Kampferbaum) und Yanagita (柳 yanagi: Weide) hin, als auch auf die Kampferbäume des Hikizukuri- und des Atawa- Schreins in der Provinz Mie hin; vgl. MINAKATA Kumagusu / YANAGITA Kunio: Ôfuku shokan. Bd. 1, Heibonsha 1994, S. 68. 13 Aufgeführt in den Gesammelten Schriften Yanagitas. 14 Ort in der Präfektur Wakayama. 15 Ein Werk, das nach einer Besprechung mit einem Mann aus dem Dorf Tôno (Präfektur Iwate) und Sasaki Kizen entstanden ist. Es berichtet in 199 Kapiteln über die Dorfgöt- ter, Haus- und Berggötter, Berggeister, Blüte und Verfall von Familien, Tiergeschich- ten, Jahresbräuche und Märchen aus Tôno und der Umgebung. Laut Yanagita „gilt es heute als das Werk, das in unserem Lande der Volkskunde die Augen geöffnet hat“, in: Folklore Studies. 1944. (s. Anm. 3) 16 Hier bezieht sich Yanagita auf Minakatas Aufsatz „Über die Popularität der als Grop- penfisch verehrten Berggottheit“, in: Tôkyô jinrui gakkai zasshi, Februar 1912. Der Groppenfisch ist ein zur Familie der Knochenfische gehörender Meeresbewohner; ei- nige Arten leben auch im Süßwasser. Laut Minakata betrachten die Jäger in den Bergen von Kii die Süßwassergroppe als eine Berggottheit, die sie anbeten und beschwichtigen müssen, damit die Jagd erfolgreich wird. 32 Hinsichtlich der Bergbewohner glaube ich, daß diese die noch ge- genwärtig in Japan lebenden letzten Ureinwohner seien dürften, und bin zuversichtlich, hierzu in Kürze eine kleine Schrift veröffentli- chen zu können. Als Ergänzung möchte ich darin ferner an die zwei- hundert Geschichten und Erlebnisberichte über wildlebende Berg- menschen auch aus anderen Teilen der Welt, hinzufügen und ich hoffe, Sie sind so gnädig, mir zudem etwas Näheres über Ihre me- thodischen Ansätze aus Ihrer werten Forschung bezüglich der bei Ihnen existierenden Bergbewohner mitzuteilen, oder doch wenigs- tens geruhen, mich dieses nur fragmentarisch wissen zu lassen. Selbst wenn die geplanten Berichte nicht die gewünschte Zahl errei- chen sollten – augenblicklich sind es ungefähr einhundertdreißig -, gedenke ich, sie gleichwohl noch innerhalb dieses Jahres in Buch- form herauszugeben. Neben meinen Recherchen las ich mitunter ihre Anmerkungen zu den Shindarera-hanashi („Aschenputtel-Erzählun- gen“), und ohne bislang überhaupt irgendwie Kenntnis von Ihren be- eindruckenden Forschungen über ausländische Märchen gehabt zu haben, gefiel ich mir wahrlich in meiner Selbstgefälligkeit, daß ich mir sogar anmaßte, derlei volkskundliche Studien aus eigenen Kräf- ten leisten zu können; doch erlauben Sie mir, daß ich mich fortan ganz Ihrer werten Anleitung anvertrauen darf.17 Yanagita erniedrigte sich hier also als eine selbstgefällige Person und nahm gegenüber Minakata eine Schülerposition ein. Als Hintergrund des obigen Zitats, muß man anmerken, daß Minakata im März 1912 in der Tôkyô jinrui gakkai zasshi („Zeitschrift der Tôkyôter Anthropologischen Gesellschaft“) seinen Aufsatz „Seireki kuseiki no Shina-sho ni nosetaru Shindarera-monogatari“ („Die Aschenputtel-Geschichten in den chinesi- schen Schriften im 9. Jahrhundert n. Chr.“)18 veröffentlichte, in dem er zu- gleich auch seine universalen Kenntnisse durchschimmern ließ. Ein Jahr zuvor war Yanagitas Abhandlung „Yamagami to okoze“ („Der Groppenfisch und die Berggottheiten“) in der Gakusei bungei („Studenti- sche Zeitschrift für Kunst und Literatur“) erschienen und Minakata griff in einem seiner folgenden Aufsätze dieses Thema auf und verfaßte eine Ab- handlung mit dem Titel „Yamagamiokoze wo konomu to iu koto“ („Über die Popularität der als Groppenfisch verehrten Berggottheit“), die er dann in der obengenannten Zeitschrift der Tôkyôter Anthropologischen Gesell- schaft veröffentlichen ließ. In diesem Aufsatz findet sich die Zeile „… ob- gleich ich den Tadel eines Selbstgefälligen in Betracht ziehe…“, der Yana- gita seine Phrase von der selbstgefälligen Person vermutlich entlehnt hat. Hier zeigt sich deutlich, daß ihre Beziehung keineswegs spontan und unvermittelt begann, sondern daß es bereits zuvor schon mittels ihrer bei-

17 Brief vom 16. April 1912 an Minakata. 18 Aufgeführt im 2. Band der Minakata Gesamtausgabe des Heibonsha Verlages, 1991.

33 den Aufsätze zu einem ersten intellektuellen Kontakt gekommen war. Na- türlich war auch Yanagita der europäischen Wissenschaften nicht gänzlich unkundig, doch hätte er sich nicht mit den umfassenden ethnologischen Kenntnissen Minakatas vergleichen können. Daß Yanagita stets gut über die Fachliteratur seiner Zeit informiert war, mag folgendes Zitat aus einem Brief an Minakata vom 14. Juni 1912 bestätigen: Falls sich die Schriften Gommes19 in Ihrem werten Besitz befinden, würde ich sie gerne einmal kurz in Augenschein nehmen dürfen. Auch plädiert er darin für eine gemeinsame Erforschung der nationalen Sitten und Gebräuche: Hinsichtlich dessen, was man allgemein als die folkloristische Me- thode bezeichnet, entfloß meines Erachtens bisher noch nichts aus Ihrer geschätzten Feder und ich frage mich, ob es nicht der künftigen volkskundlichen Forschung zum Vorteil gereichte und sich nicht zugleich auch ein guter Anlaß böte, im Verbund mit Ihren wer- ten Studien, die Absicht der Volkskunde insbesondere der jüngeren Generation allerorts angedeihen zu lassen. An der Datentafel in den gesammelten Schriften Yanagitas kann man ablesen, daß auch Yanagita ausländische Originalquellen und insbesondere die Übersetzungsliteratur studierte. Dort wird beispielsweise angegeben, daß im Jahre 1913 das damalige fünfbändige Werk Frazers20 The Golden Bough 21 und im Jahre 1914 Gommes Ethnology in Folklore zu seiner Hauptlektüre zählte. Im selben Jahr gründete er in Zusammenarbeit mit Takaki Toshio22 die Zeitschrift Kyôdo kenkyû („Heimatforschung“), in der die diversen volks- und völkerkundlichen Forschungsansätze diskutiert wurden. Darüberhin- aus gab er im Jahre 1910 im Eigenverlag Nochi no karikotoba („Weitere

19 George Laurence GOMME (1853–1916). Begründer der britischen Volkskunde und Herausgeber der Zeitschrift Folklore Society und The Antiquary and the Archeologi- cal Review, Hauptwerke: Ethnology in Folklore, 1914; Folklore as an Historical Sci- ence, 1908. 20 James George FRAZER (1854–1941). Britischer Ethnologe; behauptet eine Stufenfolge menschlicher Denkformen, die von der Magie über die Religion bis zur Wissenschaft heraufführt. Hauptwerk: The Golden Bough, 1. Auflage 1890; dt. Der goldene Zweig, 1. Auflage 1928. 21 Ins Japanische als Kôkin no eda übersetzt. 22 1876–1922; Professor an der für Fremdsprachenuniversität Tôkyô. Forschte über My- thologie und orale Überlieferungen; von Kyôdo kenkyû war er bis zur 2. Nummer des 2. Bandes Mitherausgeber. 34 Sammlung von Jagdausdrücken“)23 sowie die schon erwähnten „Erzählun- gen aus der Gegend von Tôno“ (Tôno-monogatari) heraus. Auch in den Jahren 1912 und 1913 publizierte er weiterhin Aufsätze, wie beispielsweise „Itaka“ und „Sanka“24 in der Jinrui gakkai zasshi („Zeitschrift für Anthro- pologie“). Seine bereits erwähnten Studien über die Bergmenschen, mit der späteren Bezeichnung „Ergänzungsmaterial über die Bergbewohner“ („Sannin gaiden shiryô“), veröffentlichte er schließlich 1914 und 1918 in Kyôdo kenkyû, und die neuen Ergebnisse der Folgejahre präsentierte er 1926 in der Abhandlung „Yama no jinsei“ („Das Leben in den Bergen“). Trotz der vielen verschiedenen Aktivitäten Yanagitas standen für ihn in all den Jahren stets die Recherchen über das Leben der Bergbewohner im Mittelpunkt seines Interesses und er bekam hierzu während seiner Korres- pondenz mit Minakata bedeutende Anregungen und Informationen. Davon legen insbesondere die zahlreichen Briefe, die Minakata an Yanagita schrieb, ein beredtes Zeugnis ab. So sandte dieser zum Beispiel 1912, im Jahre ihrer Begegnung, 65 Briefe an Yanagita, im darauffolgenden Jahr wa- ren es nur noch 55, bis schließlich in den Jahren 1915 und 1916 die Zahl der Briefe rapide auf 17 beziehungsweise 21 sank. Die Zeit, in der sich Yanagitas Interesse auf den Ursprung und die Le- bensweise der Bergbewohner konzentrierte, fällt genau in die Korrespon- denzphase mit Minakata. Ihr Briefwechsel, der vor allem mit dem Diskurs über die Bergmenschen begonnen hatte, riß dann später eben aufgrund die- ses Themas wieder ab. In seinem letzten Brief an Yanagita kritisiert Minakata diesen ohne jegliche Schonung: Hinsichtlich Ihres vielen Aufhebens, als auch das auf Seiten Takakis um die Bergmenschen, das ich ständig in der Zeitschrift Kyôdo ken- kyû las, ist hingegen meine Wenigkeit sehr wohl vertraut mit der Wirklichkeit der Bergbewohner, will sagen, daß sie in Wahrheit keine echte Urbevölkerung darstellen, sondern lediglich weltent- rückte Männer und Frauen sind, welche durch spezielle Umstände nicht umhin können, in den Bergen und Wäldern ein äußerst hinter der Zeit zurückgebliebenes Leben zu fristen. […] Was wir hierzu- lande bis dato vom Hörensagen über die Bergbewohner wissen – in

23 Die in diesem Werk aufgeführten Jagdausdrücke beschreiben die Wildschweinjagd im Dorf Shiiba, wie der der Vorstand des Dorfes Nakase Jun sie Yanagita mündlich mit- geteilt hat. Ferner sind darin die Ortsnamen dieser Gegend, Jagdausdrücke, Jagdme- thoden, mündlich Erfahrenes und in alten Berichten Enthaltenes zusammengestellt so- wie der Wandel des Jagdbetriebes in der Umgebung von Tôno aufgeführt, vgl. Folklore Studies, 1944 (s. Anm. 3). 24 Die Sanka, Itaka sowie die Kugutsu gehörten laut Yanagita einst zum fahrenden Volk, die sich ihren Lebensunterhalt mit dem Verkauf von Korbflechtarbeiten, Bettelei und Wahrsagerei verdienten; in: Yanagita Kunio zenshû. Bd. 4, Chikuma bunko 1989, S. 454–482. Eine umfassende Studie über die Sanka, Sanka kenkyû, ist 1987 von Tanaka Katsuya im Shinsensha Verlag erschienen.

35 Kishû nennt man sie allgemein yamaoji oder nitta – entspricht nicht jenem von Ihnen dargestellten Menschenschlag, der seinen nackten Körper mit Fichtenharz bestreicht, denen überall Haare wachsen, die keine Sprache sprechen und von rohem Fleisch leben, so daß sie demzufolge auch zu keiner Affenart mit zwei Beinen zählen (Affen haben übrigens keine Beine, sondern nur Arme!). Völlig abwegig ist daher auch Ihr Vorschlag, sie wissenschaftlich auch als eine Art Ur- menschen zu bezeichnen, da sie ja sofort wegliefen, wenn sie spür- ten, daß man sie fangen oder töten wolle (Gerade deshalb haben sie ja Verstand und sind alles andere als Affen, sondern eben Men- schen!). Auch wenn bei den hiesigen Bergmenschen nicht die von Ihnen und Herrn Sasaki beschriebenen Häuser, Kleidungsstücke und dergleichen mehr vorkommen, so stellen sie nach meinem Dafürhal- ten weder eine ungewöhnliche Gattung von Bergwesen oder Wald- tieren dar, sondern sind lediglich Menschen, die scheu und zurück- gezogen in Bergen hausen. Wie wir hier deutlich sehen, widerspricht Minakata der Theorie Yanagi- tas auf das entschiedenste. Er räumt zwar später ein, daß die japanischen Urmenschen wie die heutigen Bergbewohner „in ferner Vergangenheit viel- leicht gelebt haben mögen“, schränkt aber ein, daß diese „gegenwärtig je- doch in keiner Weise mehr existieren.“ Aus einem Brief an Yanagita vom 13. September 1912 und aus seinen „Anmerkungen über die zwölf Tier- kreiszeichen“ (Jûni shikô)25, wird ersichtlich, daß sich Minakatas Interesse zu dieser Zeit vielmehr auf „Die Wolfskinder“ (ôkami ni yashinawareta ko) richtete. Dort schreibt Minakata, nachdem er eine Fülle von derartigen Fäl- len recherchiert hatte, an Yanagita: „Seltsam erscheint mir bei meinen Nachforschungen, daß die von den Wölfen gesäugten Kinder allesamt Kna- ben sind.“ Dies steht allerdings in Kontrast zu dem Buch Wolf Child and Human Child26 (Ôkami ni sodaterareta ko)27 von Arnold Gesell, in dem es heißt, daß ein Mädchen namens Kamala, welches wahrscheinlich um 1912 gebo- ren wurde, bis zum Jahr 1920, als man es mit einem anderen jüngeren Mäd- chen zusammen in einer Höhle südlich von Kalkutta entdeckte, von Wölfen

25 Minakatas Hauptwerk, daß er über einen Zeitraum von zehn Jahren (1914–1924) schrieb und in den Zeitschriften Taiyô, Shûko und Minzokugaku veröffentlichte. Darin vergleicht er anhand des Zyklus' der zwölf Tierkreiszeichen das Verhältnis der Volks- märchen und des Volksglaubens der Völker in Bezug auf deren Beziehung zu den bei ihnen vorkommenden Pflanzen- und Tierarten; vgl. TSURUMI (Anm. 1) 26 S. hierzu Arnold, L. GESELL: Wolf Child and Human Child. A Narrative Interpretation of the Life History. Kamala, the Wolf Girl. New York / London: Harper Brothers 1940. 27 Ins Japanische übersetzt von IKEZUKI Masako. 1. Auflage, Kasei kyôikusha Verlag 1967. 36 aufgezogen worden sei. Wie aber reagierte Yanagita schließlich auf Mina- katas scharfe Kritik? In seiner Antwort auf den vorhin genannten Brief Minakatas vom 23.12.1918 schreibt er: Nur mit wenigen Worten möchte ich erwähnen, daß die von mir an- geführten Bergbewohner oder Bergmenschen, die als Nachkommen der Urbevölkerung zerschlagen und in die Berge vertrieben wurden, in der Tat noch heute existieren. Denn da sie keine Sprache und Kul- tur besaßen, raubten sie die Kinder des eingewanderten Volkes (d.h. unseres Volkes), um dann durch eine Vermischung mit ihnen den Fortbestand der eigenen Nachkommenschaft zu sichern, wobei ein Teil von ihnen ausstarb; die anderen jedoch gründeten Dörfer und Städte, erwarben also familienrechtliche Wohnorte und verschwan- den durch jene Assimilierung allmählich als ein eigenständiges Volk. Eine andere Interpretation dieses grausamen Phänomens wäre eine grundlose Erdichtung, die auf einer selbstherrlichen Mißdeu- tung beruhte. Eingedenk dessen kann ich natürlich nicht genügend Beweise vorbringen und habe dazu vielmehr das Material zusam- mengetragen, dem ich dann eine erste provisorische Hypothese in Form eines eher ungezwungenen Kommentars beifügte. (Dabei gab ich natürlich Obacht, daß die volkskundliche Wissenschaft dabei keinen Schaden erleidet.) Übrigens ist es meines Erachtens nicht allzu widersprüchlich, wenn es unter den Bergbewohnern auch Be- völkerungsteile gab, die gemusterte Kleidung trugen und zum Reis- eintausch von den Bergen zu den Dörfern hinabstiegen. Schon in seinem Buch Tôno-monogatari bekundet Yanagita, es gebe „bei den Bergdörfern in unserem Lande, angefangen mit denen um Tôno, allerorts wohl noch zahlreiche Legenden über Berggötter und Bergmen- schen. Ich hoffe, daß ich hier mit diesem Buch den Leuten in den Städten und Dörfern ihre Abscheu gegenüber diesen Bergbewohnern nehmen und Interesse für sie gewinnen kann, wenn ich im folgenden von ihnen erzähle.“ Später war Yanagita sehr stolz darauf, dies mittels seiner Volkskunde er- reicht zu haben. Bis es jedoch soweit kam, daß sich Minakata und Yanagita einen solchen Schlagabtausch lieferten, waren derartige Meinungsverschiedenheiten noch von guten Hoffnungen getragen worden. Doch schon bald, gegen Ende Mai 1915, also kurz nachdem Yanagita seine Zeitschrift Kyôdo ken- kyû gegründet hatte, eskalierte der unterschwellige Konflikt durch einen Brief Minakatas28 an die Redaktion. Darin kritisiert er scharf, daß bei den Beiträgen über die mündlichen Überlieferungen der Tempel und Schreine, deren Sittenvorstellungen aus- gelassen worden waren. Außerdem erhob er den Vorwurf, daß nach der An- werbung volkskundlicher Aufsätze, diese doch letzten Endes nur dem Re- daktionsprinzip Yanagitas gehorchen müßten.

28 Aufgeführt im 3. Band der Minakata Gesamtausgabe.

37 Es braucht hier nicht mehr betont zu werden, daß diese Kritik Yanagita tief traf. Hierin spiegelt sich der Konflikt ihrer unterschiedlichen Denkan- sätze in allen Facetten wider: während Minakata über die damals herrschen- den politisch-ökonomischen und institutionellen Strukturen nicht hinweg- sehen konnte und sich gegen sie auflehnte, wollte Yanagita in erster Linie die Volkskunde als eine breite gesellschaftliche und eigenständige wissen- schaftliche Disziplin etablieren, die nicht als ein Neben- beziehungsweise Sekundärfach einer anderen Wissenschaft fungiert. Kommen wir nochmals auf die Sittenvorschriften zurück, die in dem obengenannten Brief Minakatas an Yanagita den zentralen Kritikpunkt dar- stellen. In diesem Brief erkennt man unschwer, wie sich Minakatas Unzu- friedenheit entlädt. Dort heißt es: Um die heimlichen Liebestreffen der Männer und Frauen in der Nacht zu unterbinden, erließ man im vergangenen Jahr hier, in der Nachbarschaft des Dorfes Ayukawa, diverse Gesetze, welche die er- wachsenen Männer bei ihren nächtlichen Ausgängen verpflichteten, stets eine brennende Handlaterne mit sich zu führen. Für die Leute in der Stadt mag dies ziemlich lächerlich und zugleich gewiß ent- setzlich erscheinen, doch zeigte ihr Spott hingegen nur, wie gering ihre Kenntnisse über die Sitten und Gebräuche der ländlichen Bevöl- kerung wären. In der Tat ist es aber so, daß es dennoch allenthalben des Nachts auf dem Lande zu einem solchen heimlichen Stelldichein kommt und dies wird hier sogar als eine Selbstverständlichkeit für den sittlichen Fortbestand der Heimat aufgefaßt. Bei den folgenden Sätzen mögen Sie vielleicht gänzlich an eine unzüchtige Ausschwei- fung denken, die jedoch von mir nicht erdichtet wurde. Übrigens geht es bei uns auf dem Lande keineswegs so unsittlich zu wie in den Städten, wo sich die vornehmen Herren mit irgendwelchen Kellne- rinnen abgeben; will sagen, daß sich hier die Ehepartner eben über dieses heimliche Fensterln in der Nacht finden, sofern es sich später nicht um eine eheliche Verbindung zu einer aristokratischen Familie handelt. Denn da sich die Brautleute aus dem einfachen Volk erst nach diversen Erfahrungen aus diesen nächtlichen Liebeleien für eine Hochzeit entscheiden, kommen anschließend auch weitaus we- niger Ehestreitigkeiten, Scheidungen und dergleichen vor. Ganz ähn- lich wie im alten Indien oder im heutigen Europa29, wo die Männer und Frauen alleine über ihre künftigen Ehepartner entscheiden, so fungiert auch die Sitte der heimlichen Liebestreffen hierzulande als eine sittliche Stütze zur Aufrechterhaltung von Sicherheit und Wohl- stand der Dörfer und Gemeinden. Ich beabsichtigte hiermit lediglich darauf hinzuweisen, daß die Klarstellung und die Erörterung auch jenes nächtlichen Stelldicheins für die entstehende wissenschaftliche Volkskunde ebenso bedeutsam ist, wie die Berichtigung einer feh- lerhaften Grammatik. Im weiteren erspare ich Ihnen indezente und

29 Vgl. Friedrich Christoph Jonathan FISCHER: Über die Probenächte der teutschen Bau- ernmädchen. Berlin / Leipzig: [s. n.] 1780. Reprint Berg am Starnberger See 1968. 38 unzüchtige Einzelheiten, um nunmehr im Detail die ländlichen Hei- ratssitten darzustellen, wie beispielsweise bei einer Eheschließung der Heiratsvermittler für bestimmte Zwecke und Personen einge- schaltet und die Trauung organisiert wird, welche Geschenke den Brautleuten gereicht werden oder in welcher Weise am Ende der Hochzeit die außerordentlich komplizierte Formalität, bei der alle Gäste der Reihe nach angehalten werden, ein paar Zeilen für das Brautpaar zu verfassen, vonstatten gehen soll. Eigentlich ist die Ver- mählung hierzulande bloß eine rein zeremonielle Angelegenheit und wichtiger als diese sind vielmehr die verschiedenen Klauseln des Ehevertrages, sowie die beiderseitig vertraglich festgelegte Billi- gung eventueller außerehelicher Liebschaften. Auch hier betont Minakata erneut, ob diese Sitten nicht vielleicht ein noch bedeutsameres Feld für die von Yanagita angestrebten Recherchen über das Leben in den Bauerndörfern darstellen könnten. In einem anderen Brief an Yanagita vom 14. Mai 1916 steigert sich dann Minakatas Unmut über dessen volkskundlichen Forschungsansatz, in dem er schreibt: Selbst Herr Takaki30 erwähnt am Schluß eines seiner ersten Briefe an mich, daß es sogar bis in die Bauernweiler hinein Prostitution gäbe und wie ich es zwischen den Zeilen Ihres letzten Schreibens heraus zu lesen meine, ist es dann auch kaum verwunderlich und ver- steht sich quasi von selbst, wenn in Anbetracht einer wissenschaftli- chen Konsolidierung der Volkskunde in Ihrer Zeitschrift weiterhin nichts über die obszönen Sitten und Gebräuche auf dem Lande er- scheint. Nun, was ich hier insbesondere anmerken möchte, ist, daß man wohl schwerlich die tieferliegenden Schichten einer Gesell- schaft ergründen kann, wenn bei der Erforschung der sozialen Ver- hältnisse die anstößig erscheinenden Gebräuche ausgeklammert werden. Auch in den auf den 16. Mai folgenden Tagen setzt Minakata in seinen Briefen diese scharfe Kritik fort: In einem Dorf erzählte mir ein alter Mann, daß man in seinem Wohn- orte noch bis kurz vor der Meiji-Restauration beim Fest für die Schutzgottheiten des Weges einen großen Phallus31 aufstellte und bevor ihn das Publikum zu Gesicht bekam, mimte eine junge verhei- ratete Frau dieser Gegend aus hohem aristokratischem Hause eine orale Lustszene, wonach mit allen Familien des Dorfes ein Wettren- nen um den begehrten Phallus veranstaltet wurde. Für die Menschen damals, die bei diesem Spiel keinerlei Hintergedanken hegten, sei

30 TAKAKI Toshio (vgl. Anm. 22). 31 Einen Kultglauben an einen Gott der Geschlechtsteile und phallische Darstellungen gibt es in Japan bereits seit alters her. Die aus Holz oder Stein angefertigten Phallus- statuen bitten die Gottheit um eine reiche Nachkommenschaft, geschäftlichen Erfolg oder fungieren als Fetisch für Schutz im Straßenverkehr; vgl. Nihon minzoku jiten, Stichwort: seishin shinkô. Kôbundô Verlag 1994.

39 solcherlei Vergnügen weder eine scherzhafte Belustigung, noch se- xuell üblich gewesen. Diese Geschichte habe ich hier eigentlich nur erwähnt, um den angeblichen gelehrten Volkskundlern in den Städ- ten zumindest soweit über die ländlichen Sitten und Gebräuche auf- zuklären, damit sie, wenn ihnen einmal derartiges zu Gehör kommt, nicht darüber zu lachen brauchen. Denn ohne einen gewissen volks- kundlichen Horizont, stuft man allzu leicht dieses oder jenes Brauch- tum als barbarisch oder unterentwickelt ein, in dessen Folge wohl eine eingehende Erforschung des sittlichen Wesens, unabhängig da- von, welcher Region oder Bevölkerungsgruppe sie sich auch an- nimmt, nicht zustande kommt. Wie wir an den obigen Briefauszügen erkennen können, enthält die Prosa Minakatas häufig laszive Parenthesen, die damals viele Leser und ge- wiß auch Yanagita äußerst ordinär fanden. Aber der eigentliche Grund, wa- rum Yanagita den Themenbereich der Sexualität in seiner Volkskunde aus- blendete, war sicher der, daß er sie als eine wissenschaftliche und gesell- schaftlich lautere Forschungsdisziplin anerkannt wissen wollte. Wenn- gleich es heutzutage selbstverständlich geworden ist, die Sexualität gleich- ermaßen als ein mögliches Untersuchungsfeld der Volkskunde aufzufassen, so soll jenes Beispiel nicht nur eine Rechtfertigung gegen den oftmals er- hobenen Vorwurf sein, daß Minakata lediglich zum eigenen Vergnügen sol- che unzüchtigen Beispiele in seinen Briefen anführte, sondern vielmehr steht die Absicht dahinter hinzuweisen, daß er ganz bewußt die vulgären Sitten und Gebräuche benutzte, um damit sowohl Yanagita die Grenzen sei- ner Volkskunde zu verdeutlichen, als auch provozierend sein Mißbehagen an den herrschenden Gesellschaftsschichten auszudrücken. Yanagitas Volkskunde entzog sich jedenfalls dem Thema der Sexualität und verlor dadurch zugleich ein gewisses Schockpotential, um das kaiser- liche System in Bedrängnis zu bringen. In diesem Zusammenhang scheint mir auch Herrn Masuda Katsumis Bemerkung von Bedeutung, was wohl Minakata in seinem Aufsatz „Hitobashira no hanashi“ („Berichte über Menschenopfer“)32 mit der Aussage meinte, daß sich die Volkskunde Yan-

32 Menschenopfer in Form des Bauopfers, die beim Damm- und Brückenbau die Sicher- heit dieses Bauwerks garantieren sollten; vgl. Bruno LEWIN: Kleines Wörterbuch der Japanologie. Wiesbaden: Harrassowitz 1981. Vom 30.06.–01.07.1925 veröffentlichte Minakata in der Tageszeitung Ôsaka Mainichi shinbun und im September des selben Jahres in der Zeitschrift Hentai shinri erstmals Artikel über Menschenopfer, die später als Minakata kanwa und Zoku Minakata zuihitsu herausgegeben wurden. Anlaß dieser Aufsätze waren die menschlichen Knochenfunde (insgesamt 16), die zufällig im Kai- serpalast bei den Brückenrestaurierungsarbeiten gefunden wurden und in der Öffent- lichkeit für Aufregung sorgten. In seinen Aufsätzen schreibt Minakata, daß man einst Menschenopfer für die Sicherung von Gebäuden und Erdarbeiten durchgeführt hat. 40 agitas hinsichtlich der Menschenopfer „zu einer undifferenzierten Opfer- theorie entwickelt hat, die lediglich nur noch die Art und Weise der Verbrei- tung von Volkslegenden thematisiert.“33 Wie sich in den späteren Jahren zeigte, konnte auch Yanagitas Volks- kunde nicht auf alle von Minakata formulierten Fragen und Probleme, Ant- worten finden. Die vielen fragmentarischen und oft unsystematischen Einzelerkennt- nisse aus den umfangreichen Forschungen Minakatas wandten sich stets der Frage zu, was den Menschen als kulturelles Wesen eigentlich ausmache, wohingegen Yanagita hauptsächlich das Wesen der Japaner zu erforschen versuchte, so daß seine Volkskunde zwar einfühlsam die Kultur der ländli- chen Bevölkerung darstellte und dieser auch zu einer breiten Anerkennung verhalf, sie sich aber nie ganz von dem Eindruck des Provinziellen befreien konnte. Andere ungelöste Fragen und Forschungsgebiete, mit denen man sich damals ausführlich beschäftigte, betrafen beispielsweise den Fragen- kreis, worin eigentlich die genauen Unterschiede und Gemeinsamkeiten von Japanern und den Völkern der Wüsten- und Polarzone zu bestünden. Dennoch konnte auch die Volkskunde in aller Welt angesichts solcher po- pulären Forschungsinteressen stets ihre wissenschaftliche Eigenständigkeit und Existenzberechtigung behaupten, ohne dabei mit der Anthropologie oder Ethnologie verwechselt zu werden. Daher bestimmte Yanagita in seiner Volkskunde ausschließlich nur jene japanische Lebenskultur als ihren eigentümlichen Forschungsgegenstand, der speziell nur solche Bevölkerungsgruppen beinhaltet, deren Brauchtum sich nicht auf tradierte schriftliche Quellen stützt. Und genau an diesem Punkt hat auch die Kritik Minakatas ihren Ursprung, der im Gegensatz dazu von Anfang an bei seinen vergleichenden Studien über die Sitten und Völ- ker in aller Welt meist nur die bis dahin noch ungeklärten Stellen im Visier hatte. Die Grenzen der Volkskunde Yanagitas wurden somit vielmehr durch ihre ausschließliche Orientierung auf das nationale Thema, was das Wesen

Nicht nur in Japan, sondern auch in anderen zivilisierten Ländern habe es solche Men- schenopfer gegeben, und es existierten dort ebenfalls Geschichten und Legenden über Menschenopfer. Denjenigen, die diese Opfer in Japan als Schande empfanden, erwi- derte er, daß es nahezu in jedem Land solche Opfer gegeben hätte. Yanagita hingegen behauptete, daß die Knochenfunde keine Menschenopfer gewesen seien. Das Kernmo- tiv der Menschenopferlegenden sei vielmehr ein Glaube, der durch die Beteiligung der Miko (Tempeltänzerin, Schamanin) beim Wassergottfest entstand und diese Legende wäre allerorts durch sie verbreitet worden. Für Yanagita gab es keine Menschenopfer in Japan; er interpretierte sie als einen Prozeß, bei dem sich der Mensch die Umwand- lung zu einem göttlichen Wesen vorstellt; vgl. MIYATA Noboru: Nihon no minzokugaku. Kôdansha gakujutsu bunko 1994 (1. Auflage 1985). 33 Vgl. Minzoku no shisô. Gendai Nihon shisô taikei. Chikuma shobô 1964, S. 7–61.

41 der Japaner sei, eingeengt, so daß seine Volkskunde deshalb kaum ihren Horizont auf eine globale Ebene erweitern konnte. Mit dieser volkskundlichen Prämisse steht Yanagitas Wissenschaft ge- rade jenen methodischen Ansätzen diametral gegenüber, die versuchen, über eine vergleichende Forschung einen unmittelbaren Einblick in die komplexe Lebensweise fremder Völker zu gewinnen. Erst in den reiferen Jahren, nachdem er wie Minakata eine innere Reife und einen breiteren Er- fahrungsschatz für eine differenziertere Absteckung seiner Ziele erlangt hatte, war Yanagita bereit, eine stärker vergleichende Forschungsmethode in seine Volkskunde zu integrieren. Wenn bislang mehrmals Minakatas erstaunliches Gedächtnis und sein Universalwissen erwähnt wurden, dann sollte damit zugleich auch ange- deutet werden, daß seine ungewöhnlichen Fähigkeiten stets in Beziehung zu seiner Persönlichkeit zu betrachten sind. Des öfteren wurde zudem von vielen Seiten wiederholt lobend auf Minakatas umfangreiche Kenntnisse über den Buddhismus hingewiesen, doch darf man hier ebenfalls nicht glau- ben, daß diese für ihn nur einen kalten und mechanischen Wissensapparat ausmachten, sondern sie stellen vielmehr einen lebendigen Organismus dar, der ebenso wie Minakata selbst, vor Energie glühte. Abgesehen davon, bie- tet sein schriftlicher Nachlaß sogar für unsere Generation noch viele inte- ressante und aktuelle Informationen. Dabei vermitteln uns die Bände seiner gesammelten Schriften zudem den Eindruck einer gewaltigen Schatzkam- mer, die voll von allerlei Hinweisen und Anmerkungen zu den verschie- densten Themenbereichen ist. Überhaupt findet man dort weder Unterscheidungen nach vornehm und gering noch zwischen heilig und profan. Der eigentliche Reiz an Minakatas Studien aber liegt vor allem darin, daß sie eine offene Neugierde ausstrah- len und in keiner Weise den Verstehensprozeß des Lesers einschränken oder reglementieren wollen. Dieses Anliegen spiegelt sich meines Erachtens auch deutlich in seinen Aktivitäten und dem Ausmaß seiner Schaffenskraft wider und so können wir heute anhand dieser umfangreichen Forschung, gleichsam wie an einer reich gedeckten Tafel, unmittelbar an seiner zentra- len Frage, was der Mensch im Wesen sei, Anteil nehmen. Auch Yanagita, der sich bei ähnlichen Fragestellungen nicht nur mit dem Wissen aus den importierten abendländischen Wissenschaften begnügte, gelangte dabei kaum zu überzeugenden Erkenntnissen, wohingegen es Minakata trotz mancherlei Unzulänglichkeiten verstand, neue Perspektiven und Einsichten zu eröffnen. Wie Yanagita einmal rückblickend äußerte, sei Minakata „ein gefessel- ter Riese“ gewesen. In ihm steckte in der Tat ein wahrhaftiger Riese, der vor Ungeduld danach brannte, sich aus den Beschränktheiten seiner Zeit zu befreien. Dennoch war zugleich dieser wissenschaftliche Kosmopolit, der

42 sein Leben lang auch in ständigem Briefwechsel mit einigen ausländischen Gelehrten stand,34 zugleich ein starrsinniger Patriot. Außerdem hatte er die Anlage, oft von einem Extrem ins andere zu fallen, was gewiß seinen Ent- schluß begünstigte, in jungen Jahren Japan zu verlassen, um zum Studium nach Amerika und England zu reisen. Dort lebte er unter armseligen Ver- hältnissen in verschiedenen Städten und studierte, nachdem er mehrere Fachschulen besucht und wieder abgebrochen hatte, ausschließlich autodi- daktisch in den Bibliotheken. Den zweiten Lebensabschnitt hingegen ver- brachte er, oft zurückgezogen am Rande eines abgelegenen Bauerndorfes, in der Provinz Kishû und führte in dieser Zeit ein enthaltsames und einfa- ches Leben, bis er mit vierzig Jahren heiratete.35 Wie wir am Beispiel der Begegnung mit Yanagita erkennen können, war er nicht nur ein hochmüti- ger, sondern auch ein scheuer und schüchterner Mensch. Gewiß hat sein zu Extremen neigender Charakter in Verbindung mit seiner Gelehrsamkeit auch dazu beigetragen, daß über ihn viele Anekdoten entstanden und er schon zu Lebzeiten zu einer Legende wurde. An mehreren Stellen wurde hier bereits sein Charakterprofil skizziert, doch bleiben noch zuviele Lücken in seiner Biographie, die es bislang un- möglich machten, seinen Lebenswandel vollständig aufzuklären. Aber in der folgenden Episode scheint mir Minakatas Wesen deutlich zum Vor- schein zu kommen. In einem Brief an Yanagita vom 14. Dezember 1914 berichtet Minakata von einer Geschichte aus seiner Vergangenheit, wobei er die Personen und Ortsnamen austauschte. Dort heißt es, daß in derselben Stadt, in der auch sein Freund wohnte, ein besonders intelligenter und schöner junger Mann gelebte habe. Mit dessen jüngerem Bruder sei auch Minakata befreundet gewesen, doch die beiden Brüder Haneyama seien schon früh verstorben. Viele Jahre danach hätte sich dann herausgestellt, daß genau in deren To- desjahr Minakatas spätere Ehefrau sich zufällig mit einem jüngeren Mäd- chen angefreundet hätte, das die jüngste Schwester der beiden Verstorbenen war. Über ihre Brüder hätte auch damals Minakata mit ihr Bekanntschaft gemacht und da er in den folgenden Jahren von ihr als ein „erstaunliches Talent“ gesprochen habe, hielt man sie wohl für ebenso intelligent wie ihren verstorbenen älteren Bruder. Im Jahre 1930 besuchte Minakata im Dorf

34 Gemeint ist hier die Korrespondenz mit den englischen Biologen und Pilzforschern Arthur Lister und dessen Tochter Gulielma von 1906–1931; vgl. MINAKATA KUMA- GUSU-TEI HOZON KENSHÔKAI (Hg.): Correspondence between K. Minakata and A. & G Lister. Asahi insatsusho 1995. 35 Er heiratete im August 1906 die vierte Tochter Matsue (1892–1955) des Shintô-Pries- ters Tamura Sôzô, der in der kleinen Hafenstadt Tanabe (Präfektur Wakayama), den Keitô-Schrein leitete; vgl. MATSU I R. / TSUKIKAWA K. / KIRIMOTO T.: Minakata Kuma- gusu wo shiru jiten. Kôdansha gendai shinshô 1993.

43 Shioya, das unweit der Stadt Gobô36 liegt, wieder einmal Yamada Eitarô und dessen mittlerweile schon vierundvierzigjährige Frau Nobue, welche eine der Schwestern der verstorbenen Brüder Haneyama war. Dort, so heißt es weiter, hätte er auch oft ihre jüngste Schwester, die häufig zu Besuch kam und mit zwanzig Jahren in die Familie Nakakawa eingeheiratet und zu der Zeit zwei Töchter hatte, getroffen. Eben von diesen beiden Schwestern sei er immer gern als Gast gesehen und herzlich aufgenommen worden. Nun, im selben Jahr kam es dazu, daß der japanische Kaiser Hirohito eine Reise nach Süd-Kishû unternahm und mit seinem Kriegsschiff auch die Bucht von Tanabe37 anlief. Der Kaiser, der selbst ausgiebige biologische Studien betrieb, hatte von Minakatas zahlreichen Entdeckungen bis dahin unbekannter Pilzarten gehört und bat ihn bei dieser Gelegenheit um einen Vortrag an Bord seines Schiffes. Für Minakata, der in seinem Leben kaum unmittelbaren Kontakt mit höheren gesellschaftlichen Kreisen pflegte und meist nur in den umliegenden Wäldern Pflanzenstudien betrieb, oder bei den dortigen Bauern, Handwerkern und Fischern seine volkskundlichen In- formationen einholte, war diese Bitte des Kaisers neben der großen Ehre, gewiß auch mit viel Angst verbunden. In einem Brief an den bereits oben erwähnten Yamada Eitarô bat Minakata diesen, er „möge doch seiner Frau Gemahlin ergebenst ausrich- ten, sie möchte bitte bis zum Ende des kaiserlichen Aufenthaltes für einen glücklichen Ausgang seiner Wenigkeit beten.“ Denn da er gerade aufgrund ihrer besonderen freundschaftlichen Beziehung fürchtete, daß ohne die see- lische Unterstützung der beiden geschätzten Schwestern der Vortrag vor dem Kaiser mit einer Niederlage enden und zugleich ihre möglichen Erwar- tungen in ihn enttäuschen könnte, erbat Minakata ihren Beistand, um den hohen Besuch ungetrübt vonstatten gehen zu lassen. Und es heißt weiter, daß damals Yamadas Frau mit ihren Töchtern und ihrer jüngsten Schwester am Strand von Tanabe gestanden und für ein glückliches Gelingen gebetet hätte, während Minakata seinen botanisch-zoologischen Vortrag vor dem Kaiser hielt. Anhand dieser Geschichte kann gewiß behauptet werden, daß sich hinter seiner vermeintlichen Vulgarität oft auch eine unbemerkte Pietät verbarg, die er übrigens bis ins hohe Alter hin bewahrte. Die Katastrophe und schließlich die Trennung zwischen Minakata und Yanagita, die sich bereits im Brief vom 27.12.1915 anbahnte, eskalierte dann vollends, nachdem Yanagita bald klar wurde, daß die Hoffnungen auf

36 Hafenstadt in der Präfektur Wakayama. 37 Die etwa drei Hektar große Insel Kashima, die in der Bucht von Tanabe liegt, wurde durch Minakatas Bewegung gegen die Schreinzusammenlegung 1911 zum ersten Na- turschutzgebiet Japans erklärt; vgl. TSURUMI 1993 (s. Anm. 1). 44 ein künftig verbessertes Verhältnis zu Minakata, die er noch mit der jungen Frau38 verband, die aufgrund Minakatas Empfehlung zu ihm nach Tôkyô reiste, enttäuscht wurden. Denn Minakata hatte ihm zuvor mehrere Male Bittschriften gesandt, worin er diese junge Frau als eine „in ihrem Betragen und in ihrer äußeren Erscheinung für die Provinz“ etwas ungewöhnliche Person beschrieb, die „sich mit ihrer vornehmen Art, gleichsam wie ein weißer Schwan in einer Hühnerschar, von den Leuten hier unterscheidet“. Minakata, der übrigens bis dahin noch nie für jemanden ein Empfehlungs- schreiben verfaßt hatte, tat dies vor allem angesichts seiner tiefen Besorgnis ihrer Zukunft gegenüber. Doch da sie aus einer armen Familie kam, konnte sie in Tôkyô auch keine höhere Schule besuchen und fand lediglich eine Beschäftigung als Verkäuferin. Wenngleich hier bislang anhand verschie- dener Briefauszüge immer wieder Minakatas außergewöhnliche Gelehr- samkeit und insbesondere seine scharfe Kritik an einem ideologisch gefärb- ten Dilettantismus in der Wissenschaft betont worden ist, so scheint doch gerade in diesen Bittschriften an Yanagita noch ein letztes Hoffen auf eine weiterhin mögliche und fruchtbare wissenschaftliche Kontroverse mit Yan- agita aufzuleuchten. Mit diesen Briefen riß schließlich die Korrespondenz ab und ihr bisheriges Vertrauen zueinander zerbrach. Auch über die junge Frau ist ferner nichts mehr zu erfahren und ihr Lebensweg, der sich ir- gendwo in den dunklen Gassen der Geschichte verliert, ist hier nicht son- derlich relevant. Weitaus bedeutsamer scheint mir hingegen, daß es nach einem zweijährigen Schweigen zwischen Minakata und Yanagita gegen Ende des Jahres 1917 plötzlich zu einem kurzen und erneuten Briefwechsel kam. Diese Briefe, in denen noch einmal sowohl über das alte Thema der Bergbewohner, als auch über die geweihten Schreinlichter und Mimizuka39

38 Sie war die Tochter des Hirohata Iwakichi, der sowohl ein enger Freund Minakatas, als auch als Ikebana-Meister wegen seiner Vielwisserei eine beliebte Anlaufstelle für allerlei Fragen war. Minakata nannte ihn eine „lebende Enzyklopädie komischer und seltsamer Geschichten“. Hirohatas Frau starb bereits in jungen Jahren und er mußte seine fünf Kinder alleine aufziehen. Da seine Tochter Kishie den Wunsch hatte nach Tôkyô zu gehen, schrieb Minakata an Yanagita und bat ihn um Unterstützung. Sie ar- beitete bei Yanagita drei Jahre als Sekretärin, jedoch gab sie diese Beschäftigung wie- der auf, weil sie die Arbeit bei ihm zu langweilig fand; vgl. TSURUMI 1993 (s. Anm. 1). 39 Wörtl. „Ohrenhügel“. Gemeint ist ein etwa sechs Meter hoher, von einem Grabmal überragender Erdhügel im Tempelbereich des Hôkôji in Kyôto nahe des dortigen gro- ßen Buddhas (Daibutsu). Hier sind die Nasen der im koreanischen Krieg (1592–1595) gefallenen Chinesen und Koreaner, die dem Shôgun Toyotomi Hideyoshi zum Beweis der Kampferfolge übersandt worden waren, vergraben. Ursprünglich gab es die Be- zeichnung Hanazuka (Nasenhügel) und erst später kam der jetzt gebräuchliche Aus- druck Mimizuka auf; vgl. Martin RAMMING (Hg.): Japan-Handbuch. Berlin: Steiniger Verlage 1941.

45 diskutiert wurde, dokumentieren faktisch, wie Minakata und Yanagita fron- tal zusammenstoßen und damit endgültig die Unvereinbarkeit ihrer For- schungsvorstellungen besiegeln. Von vielen Wissenschaftlern ist bisher diese Trennung oft als eine logische Folge ihrer Differenz in der wissen- schaftlichen Methodik gewertet worden, jedoch scheint mir, mal ganz ab- gesehen von Minakatas und Yanagitas wissenschaftlichem Diskurs, daß ge- rade dem zweijährigen Schweigen eine noch bislang unbekannte Bedeu- tung innewohnt. An dieser Stelle komme ich erneut auf die in diesem Essay zu Anfang aufgestellte Hypothese zurück, was wohl geschehen wäre, wenn die wis- senschaftliche Kontroverse zwischen Minakata und Yanagita nicht zum Ab- bruch geführt hätte. Noch in der Zeit ihres regen Briefwechsels äußerte Minakata einmal in einem Brief vom 17.10.1912 an Yanagita: Wenn Sie beispielsweise meine Aufsätze ,Footprints of the Gods“40 läsen, dann denken Sie aus japanischer Sicht vermutlich, daß die eu- ropäische Orientalistik mit mir einen Gelehrten mehr hat, aber ich zeichne mich eben dadurch aus, daß ich als Japaner nicht nur in den japanischen Wissenschaften, sondern überall auf der Welt zu Hause bin.41 Bestimmt hätte gerade in diesem Punkt Minakatas Selbstvertrauen auch stets ein positiver Ansporn für Yanagitas Volkskunde sein können.

Nachwort des Übersetzers Minakata Kumagusu wurde am 15. April 1867 im damaligen Lehenstum Ki (heute Präfektur Wakayama) geboren. Er war der Zweitälteste Sohn von neun Kindern eines ehemaligen Reis- und Metallwarenhändlers, der kurz vor der Meiji-Restauration im Jahre 1868 in das Kreditgeschäft überwech- selte und durch Geldwechsel und Geldverleih zu Reichtum und Wohlstand gelangte (NISHINA 1994).42 Kumagusu, der schon als Kind durch sein „ungewöhnliches Gedächtnis, seine Wißbegierde und seine Gründlichkeitsneigung“ auffiel (TANIGUCHI 1980)43, entdeckte in jungen Jahren sein botanisch-zoologisches Interesse und begann in der Natur Pflanzen und Tiere zu sammeln. Diese bestimmte

40 Vgl. Minakata zenshû. Bd. 10. Heibonsha 1991. Erschienen sind diese Aufsätze in der Zeitschrift Nature und Notes and Queries. 41 Vgl. Minakata Kumagusu zenshû. Bd. 8. Heibonsha 1991. 42 Siehe Anm. 4 43 TANIGUCHI Yukio: „Kumagusu Minakata als Volkskundler“, in: Deutsch-Japanische Freundschaft. Beiträge zum 25jährigen Bestehen der Deutsch-Japanischen Gesell- schaft Nordwest-Deutschland. 1980. Dieser Artikel ist vermutlich überhaupt die erste Publikation in deutscher Sprache über Minakata. 46 er anschließend anhand der zu dieser Zeit umfangreichsten japanischen En- zyklopädie, der Wakan sanzai zue44, die er im Hause seines Freundes las und im Alter von zehn bis fünfzehn Jahren komplett und großenteils aus dem Gedächtnis abschrieb.45 (TSURUMI 1993)46 Nachdem er 1883 die Wakayama-Mittelschule absolviert hatte, ging er 1884 mit achtzehn Jahren nach Tôkyô auf die Vorbereitungsschule der Tôkyô-Universität, die er zusammen mit Natsume Sôseki47 und Masaoka Shiki48 besuchte. Da er jedoch, anstatt regelmäßig am Unterricht teilzu- nehmen, überwiegend private naturkundliche Studien im Ueno-Museum in Tôkyô betrieb, fiel er bei den Versetzungsprüfungen durch. Körperlich und geistig angeschlagen verließ er schließlich 1886 aus eigenem Entschluß wieder die Schule und kehrte zu seiner Familie nach Wakayama zurück (NISHINA 1994). „Kumagusu, der das Studieren und Forschen liebte, aber die Schule haßte“ (TSURUMI 1993) scheiterte damit nicht nur endgültig im damaligen japanischen Schulsystem, sondern fand auch später nie wieder einen neuen Zugang zu einer möglichen ordentlichen akademischen Lauf- bahn. Um nicht als wehrtüchtig zum Militärdienst eingezogen zu werden und in der stillen Hoffnung, im Ausland, entgegen den familiären Erwartungen, einer Ausbildung zu agrartechnischen und insbesondere auch kaufmänni- schen Fertigkeiten für die neu erworbene Sake-Brauerei des Vaters,49 seine breiten Interessen vertiefen zu können, reiste er 1887 mit Erlaubnis und der finanziellen Unterstützung seines Vaters im Alter von zwanzig Jahren nach Amerika (NISHINA 1994).

44 Eine aus dem Chinesischen ins Japanische übertragene und überwiegend in Kambun geschriebene 105 Bände umfassende japanische Enzyklopädie, die das damalige asia- tische Gesamtwissen der Astronomie, Geographie, Pflanzen, Menschen, Tiere, Werk- zeuge und Geräte aufführt; 1. Auflage 1713; herausgegeben von TERASHIMA Ryôan. 45 Andere bedeutende Standardwerke, die auch schon früh zu seiner ständigen Lektüre zählten, waren laut Taniguchi: Honzô kômoku keimô (Ergänzende theoretische Schrif- ten zur traditionellen japanischen Kräuterkunde; 48 Bde.); Shokoku meisho zue (Sam- melwerke illustrierter Bücher mit Beschreibungen von Städten, Provinzen, Heer- und Pilgerstraßen); Nihon shoki (älteste japanische Historiographie aus dem Jahr 720) 46 Siehe Anm. 2. 47 1867–1916; bedeutendster japanischer Schriftsteller des 19. Jh. 48 1867–1902; berühmter japan. Dichter der Meiji-Zeit, der eine Reformbewegung in der Tanka- und Haiku-Dichtung auslöste. 49 1884 gelang Matsushita Sôjirô nach vielen Jahren die Herstellung von Mandarinen- Schnaps und erhielt von Kumagusus Vater, Minakata Yahe (1829–1892), einen Kredit zur Gründung einer Sake-Brauerei. Da er aber schon nach kurzer Zeit Konkurs anmel- den mußte, bekam Minakata Yahe die alleinigen Verkaufsrechte überschrieben und brachte den Sake unter seinem Namen in Vertrieb.

47 Am 7. Januar 1887 erreichte er mit dem Schiff und schrieb sich in das Pacific Business College ein, verließ es aber bald wieder und wechselte im August 1887 zum Michigan Agricultural College über. Aber auch dort blieb er nicht lange und ging 1889 nach Ann Arbor an die Michigan University. Statt an den Lehrveranstaltungen teilzunehmen, stu- dierte er, wie zuvor in Tôkyô, wieder autodidaktisch in den Bibliotheken oder unternahm Wanderungen, um Pflanzen und Tiere zu sammeln, die er anschließend präparierte und in Heften katalogisierte (TSURUMI 1993). In seiner Zeit an der Michigan-Universität las er unter anderem auch eine Biographie über den am Ende der Renaissance lebenden schweizer Ge- lehrten und Naturforscher Konrad Gesner,50 die in ihm die Vision wach- rief, gleichfalls eine bahnbrechende Forschung zu leisten, worauf er 1889 in seinem Tagebuch notierte: „Ware negawaku wa Nihon no Gesuneru to naran.“ („Was ich begehre, ist ein japanischer Gesner zu werden“) (NISHINA 1994). Die Lektüre aus dieser Zeit, die zweifellos entscheidend seinen weiteren Lebensweg mitbestimmte, führte auch zu dem Entschluß, sich künftig nur noch autodidaktisch der Wissenschaft zu widmen. Mit dem Wechsel zur Michigan-University hörten zugleich die regelmäßigen Geldsendungen sei- nes Vaters auf und er mußte fortan seinen Lebensunterhalt selbst bestreiten (MATSUI 1993).51 Im Jahre 1891 verließ er schließlich die Michigan-Universität und reiste über Florida zu weiteren botanischen Studien für eineinhalb Jahre nach Kuba. In Havanna machte er dann Bekanntschaft mit dem Auslandsjapaner Kawamura Komajirô, der in dem berühmten und sich damals auf einer Welttournee befindenden italienischen Zirkus Chiarini52 als Voltigeur ar- beitete. Dieser erreichte durch seine Fürsprache, daß Minakata dort eine Zeitlang als Sekretär und mit anderen Hilfstätigkeiten sein Studiengeld auf- bessern konnte (MATSUI 1993). Neben seinem Interesse an der Zirkuswelt mit ihren dressierten Tieren, widmete er sich in seiner Freizeit ausgiebigen botanischen Studien und ent- deckte in der Vegetation die unbekannte Flechtenart Gyalecta cubana, die

50 1516–1565; schweizer Polyhistor, Natur- und Sprachforscher, Prof. der griechischen Sprache in Lausanne, danach Prof. für Naturkunde und praktizierender Arzt; in seinem Hauptwerk Historia animalinum (5 Bde.), stellt er das zoologische Wissen von der Antike und des Mittelalters dar. 51 MATS UI R. / TSUKIKAWA K. / KIRIMOTO T. (Hg.): Minakata Kumagusu wo shiru jiten. Kôdansha gendai shinsho 1993. 52 Der Zirkus Chiarini kam auch im Jahre 1887 nach Japan und gastierte in , Tôkyô, Ôsaka und Kôbe. Aufgrund der großen Begeisterung des Publikums wurden später in Japan alle weiteren ausländischen Zirkusse in Abwandlung des Namens Chi- arini „Charine“ genannt, vgl. TSURUMI (s. Anm. 1). 48 er dem damaligen amerikanischen Flechten- und Pilzforscher W. W. Calkins (1842–1914) zusandte. In all den Jahren hatte sich aber auch bei Minakata eine mehr und mehr zunehmende Enttäuschung über das wissenschaftliche Niveau in den U.S.A. eingestellt, die zudem noch seine Abneigung gegen die amerikanische Kultur aufgrund ihres Mangels an Tradition verstärkte. In der Hoffnung, in Europa, insbesondere in England, im Milieu der tradi- tionellen und renommierten Wissenschaftskultur seine bisherigen privaten Studien ausweiten zu können, schiffte er sich im September 1892 von New York nach London ein (MATSUI 1993; TANIGUCHI 1980). Dort verbrachte er seine Tage überwiegend im Lesesaal des Britischen Museums und begann ab 1895 bis zu seiner Heimreise im Jahre 1900, na- hezu fünfhundert Bücher zu exzerpieren, deren Inhalt hauptsächlich frühe Reisebeschreibungen aus allen Teilen der Welt waren. Diese Abschriften, die ihm später bei seinen volks- und völkerkundlichen Essays als Basisma- terial dienten und die insgesamt 52 handgeschriebene Bände umfassen und später von ihm als Rondon nukigaki chô („Aufzeichnungen aus der Londo- ner Zeit“) betitelt wurden, stellten damals zugleich eine erste enzyklopädi- sche Gesamtschau der verschiedenen Sitten und Gebräuche der Völker dar (MATSUI 1993). 1893 veröffentlichte Minakata mit 27 Jahren in der Oktoberausgabe des Wissenschaftsjournals Nature seinen ersten wissenschaftlichen Aufsatz un- ter dem Titel The Constellation Of The Far East.53 Darin versucht er an- satzweise die komplexe Frage eines Lesers zu beantworten, ob die alten und neuen Kulturen der Asiaten, Ägypter, Griechen, Perser, Polynesien Afrika- ner und Indianer die Positionen der Sterne in ein allgemein gleiches oder jeweils eigenes Tierkreissystem anordnen und ob zudem aus den unter- schiedlichen Sternbildern konkrete Aussagen über den genauen Grad ihrer kulturellen und rassischen Verwandtschaft gemacht werden könnten. Ohne alle Teile der Frage zu behandeln, erörtert er auf knappstem Raum die Zu- sammenhänge zwischen den indischen und chinesischen Tierkreisbezeich- nungen (NISHINA 1994). Dieser Essay, der auch in der Times und in anderen Zeitschriften lobend rezensiert wurde, machte seine Person den beindruckten Lesern über Nacht bekannt und ermöglichte ihm zugleich die Aufmerksamkeit und nähere Be- kanntschaft mit dem Direktor des Britischen Museums Sir Wollaston Frank (1826–1897) und dem Präsidenten der Universität London, F. V. Dickins (1839–1915). Zusammen mit Dickins, der als junger Marineoffizier einige Jahre in China und Japan verbracht hatte und damals als einer der bedeutendsten Japankenner galt, übersetzte Minakata in den folgenden Jahren das

53 Nature, Bd. 48, Nr. 1249, zit. in: TANIGUCHI Yukio 1980 (Anm. 43).

49 Hôjôki54, das dann 1905 unter dem Titel Hôjôki. A Japanese Thoreau of the Twelfth Century, by Kamo no Chômei, translated by Kumagusu Minakata and F. V. Dickins erschien. In den Anmerkungen heißt es: ,My friend Mina- kata is the most erudite Japanese I have met with – equally learned in the science and literature of the East and of the West.“55 Im gleichen Jahr er- hielt Minakata auch eine gering dotierte Assistentenstelle im Britischen Museum und wirkte bei der Redaktion des Cataloque of Japanese Printed Books and Manuscripts in the Library of the mit (TANIGU- CHI 1980). Neben diesen Aktivitäten und dem Selbststudium in der Biblio- thek des Britischen Museums, publizierte er weiterhin zahlreiche Beiträge und Aufsätze über kulturhistorische Themen für die Wissenschaftsjournale Nature und Notes and Queries56 (MATSUI 1993). Über den Leiter und Sinologen der asiatischen Bibliothek im British Museum, Robert K. Douglas (1838–1913) lernte er dort im März 1897 den kurz zuvor nach England geflüchteten chinesischen Revolutionsführer Sun Yat-sen (1866–1925) kennen, der dann später im Dezember 1911 zum ers- ten Präsidenten der neuen Republik Chinas ernannt werden sollte. Sie schlossen schnell Freundschaft und trafen sich nahezu täglich zu ge- meinsamen Unternehmungen und Gesprächen, aber da Sun Yat-sen auch in England nicht lange bleiben konnte, exilierte er schließlich 1898 nach Japan und lebte dort in Yokohama unter dem Decknamen Nakamura Shô. Ein paar Jahre danach, im Februar 1901, als Minakata wieder nach Japan heimge- kehrt war, kam es zu einer erneuten Begegnung, bei der Sun Yat Sen ihn für zwei Tage in Wakayama besuchte (TSURUMI 1993). Eine andere bedeutende Persönlichkeit, mit der Minakata in London Be- kanntschaft machte und mit der er bis zu dessen Tod in freundschaftlicher Beziehung stand, war Toki Hôryû (1854–1922). Dieser hatte im Juni 1893 als Vertreter der japanischen Buddhisten an der religiösen Weltkonferenz in Chicago, U.S.A., teilgenommen und war danach zu einem Abstecher nach England gereist, um anschließend einem weiteren buddhistischen Treffen in Paris beizuwohnen. Mit ihm diskutierte Minakata vor allem über religi- onsphilosophische Fragen und Toki „war von diesem dreizehn Jahre jünge- ren, gelehrten, weitblickenden Freund so gefesselt, daß er ihn in seinem Essay „Kaigai Manpitsu“ („Literarische Skizzen meiner Auslandsreise“) ein hohes Lob aussprach“ (TANIGUCHI 1980).

54 Wörtl. „Aufzeichnung aus einer engen Klause“; zur Miszellenliteratur gehörendes Werk aus dem Jahre 1212, das vom Geist der Vergänglichkeit und Weltflucht getragen wird. 55 Von F. V. DICKINS erschien ebenfalls Primitive and Medieval Japanese Texts. Oxford 1906. 56 U. a.: Chinese Beliefs about Caves, 1894; The Antiquity of the Finger-Print-Method, 1894; The Wandering Jew, 1899; Indian Corn, 1900. 50 Toki Hôryû, zu dem Minakata zeitlebens einen regen Briefwechsel pflegte, wurde in späteren Jahren Abt und Oberhaupt der im Jahre 806 vom berühmten Religionsstifter und Kulturpionier Kukai57 (774–836) gegrün- deten Tempel- und Klostersiedlung auf dem Berg Kôyasan in Wakayama. Nachdem Minakata dreizehn Jahre im Ausland verbracht hatte, zwangen ihn schließlich seine finanziellen Umstände England zu verlassen. Er kehrte, ohne einen akademischen Titel oder Abschluß erworben zu haben, im Jahre 1900 nach Japan zurück. In Kumano, Süd-Wakayama, lebte er die nächsten Jahre zurückgezogen am Rande der damals noch kaum berührten Wälder und setzte mit der Erforschung von Kryptogamen58 seine ehema- ligen botanischen Studien fort. In dieser Zeit entdeckte er auch mehrere neue Arten von Pilzen und Süßwasseralgen, die er den damals berühmten englischen Pilzforschern Arthur Lister (1830–1908) und dessen Tochter Gulielma Lister (1860–1949), mit denen er zeit seines Lebens im wissen- schaftlichen Briefwechsel stand, sandte. Eine dieser Neuentdeckungen Minakatas beschrieb G. Lister 1925 in der naturwissenschaftlichen Zeitschrift des Britischen Museums in dem Beitrag A Monograph of the Mycetozoa. A Discriptive Cataloque of Speeles in the Herbarium of the British Museum, London unter der Bezeichnung Minaka- tella longifila Lister. Auch aus Japan lieferte Minakata für die wissenschaft- lichen Journale Nature und Notes and Queries weiterhin zahlreiche Bei- träge zu volks- und völkerkundlichen Themen und begann hierzu gleich- falls in vielen japanischen Zeitschriften zu publizieren (NAKASE 1994).59 Minakata Kumagusu starb am 29. Dezember 1941 in Tanabe. In seinem Leben, das stets von finanziellen Sorgen überschattet war, stand vor allem die Erforschung der kulturellen Vielfalt der Völker und deren Zusammen- hänge im Zentrum seiner Studien. Da Minakata Kumagusu zu Lebzeiten stets ein notable outsider60 in der japanischen Gelehrtenwelt war und nach seinem Tod rasch in Vergessenheit

57 Verfaßte mit 24 Jahren eine vergleichende Studie (Sangoshiki) der drei Religionssys- teme (Konfuzianismus, Buddhismus u. Taoismus); brachte nach seiner Rückkehr aus China eine große Anzahl heiliger Schriften, Bilder und Geräte mit; gründete die Shingon-Sekte und wirkte auch als Schriftsteller, Dichter und Kalligraph; der Legende zufolge habe er den Teesamen nach Japan eingeführt u. die Hiragana-Silbenschrift (das Iroha uta) erfunden. 921 wurde ihm postum der Ehrenname Kôbô Daishi gegeben; vgl. Bruno LEWIN (Hg.): Kleines Wörterbuch der Japanologie. Wiesbaden: Harrassowitz 1981, 2. unveränd. Auflage. 58 Bezeichnung für blütenlose Pflanzen, wie Farne, Moose, Algen und Pilze. 59 NAKASE Hisaharu / HASEGAWA Kôzô: Minakata Kumagusu arubamu. Yazaka Shobô 1994. 60 Vgl. Carmen BLACKER: „Minakata Kumagusu, 1867–1941: A Genius now Recog- nized“, in: Britain & Japan: Biographical Portraits. Japan Society Publications 1994;

51 geriet, wurde ihm postum, trotz seiner umfangreichen Forschungen und un- zähligen Beiträge, kaum eine breite Anerkennung und Bekanntheit in der wissenschaftlichen Welt zuteil. Erst viele Jahre nach seinem Tod setzte in Japan eine Neuentdeckung seiner Schriften ein, bei der es bisher sogar zu mehreren regelrechten Minakata-Booms kam.61 Diese in zeitlichen Abständen wiederholt auftauchende Neuerforschung und Befragung seines Werkes in Japan offenbart zumindest, daß Minakatas Schriften in der Tat kreatives Potential für neue Wege in aktuellen Fragen bereitstellen und zugleich jenen außergewöhnlichen Reiz zu besitzen schei- nen, den bereits Tanigawa Kenji in seinem Essay hervorgehoben hat. Nachdem der Lebensweg Minakatas hier nur in groben Zügen skizziert werden konnte, sollen abschließend noch einmal kurz die kontroversen Standpunkte, die zum Bruch des volkskundlichen Diskurses zwischen Minakata und Yanagita führten, angeschnitten werden. Yanagita Kunio (1875–1962) wurde in der europäischen Japanologie be- reits als Begründer der japanischen Volkskunde gewürdigt (s. auch NAU- MANN 1990)62, doch hat ihr Entstehungsprozeß in Bezug auf die Kontro- verse mit Minakata Kumagusu bislang keinerlei tiefere Auseinanderset- zung erfahren.63 Yanagitas Interesse am Leben und Denken des einfachen Volkes wurde auf seinen Reisen, die er als Beamter des Landwirtschaftsministeriums in alle Teile des Landes zu unternehmen hatte, geweckt. Die sozialen und ge- sellschaftlichen Probleme der ländlichen Bevölkerung führten ihn zu dem Entschluß, deren kulturelles Erbe, insbesondere die mündlichen Überliefe- rungen, konträr zu der offiziellen, von der Oberschicht getragenen Kultur- geschichte, neu zu werten. Er sah in der Volkskunde den eigentlichen

ferner diess.: „Minakata Kumagusu: A Neglected Japanese Genius“, in: Folklore, vol. 94:ii, 1983. 61 Nach KONDÔ Toshifumi: Tensai no tanjô, aruiwa Minakata Kumagusu no ningengaku. Iwanami shoten 1996, war der erste im Jahre 1952, der zweite 1968 und der dritte schließlich in den 90er Jahren; s. hierzu auch Carmen BLACKER, 1994. 62 Nelly NAUMANN, in: Japan-Handbuch (s. Anm. 1). 63 Beispielsweise vermerkt Ronald A. Morse über die Beziehung zwischen Minakata und Yanagita lediglich: „Minakata Kumagusa [sic!] (1867–1941), an expert on bacteriol- ogy, began research on Japanese society. Minakata was a major figure in this group […] and had a sound grasp of Western anthropology and folklore studies. […] Yanagita and Minakata were in close contact between 1911 and 1913 but the relationship, for unknown reasons, did not last. Minakata contributed to Yanagita's journals but he was often quite critical of Yanagita's approach. Yanagita's literary and somewhat psycho- logical approach proved too narrow for Minakata; in: Yanagita Kunio and the Folklore Movement. The Search for Japan 's National Character and Distinctiveness. New York / London: Garland Publishing, Inc. 1990. Detailliertere Angaben über deren Beziehung macht R. A. Morse in seinem Buch nicht. 52 Schlüssel zum Verständnis der originären japanischen Kultur. Schon früh betrachtete er die Volkskunde als eine nationale Wissenschaft, die er nicht nur aufgrund ihres tradierten Vorläufers, der alten Kokugaku, mit einem neuen Forschungsobjekt als eine „Neue Kokugaku“ (Shin-Kokugaku) ver- standen wissen wollte, sondern erhob mit ihr auch den Anspruch „Schule des Volkes“ zu sein (NAUMANN 1990). Minakata kritisierte diesen theoretischen Forschungsansatz, da er ledig- lich national beschränkt bleibt und Japan nicht als ein Bindeglied der Kultur Indiens, Chinas, Koreas und Europas integriert. Er vertrat daher kompro- mißlos den Standpunkt einer vergleichenden Volks- und Völkerkunde, die anhand analoger ethnologischer Beispielstrukturen parallele Gemeinsam- keiten der Völker aufzeigen und entdecken will (MIYATA 1994).64 Entgegen des damaligen Zeitgeistes der Meiji-Ära, des wakonyôsai65, sah er seine vordringlichste Aufgabe in der gegenseitigen kulturellen und wissenschaftlichen Durchdringung durch die Konfrontation, um zu einer bewußten Klärung des eigenen Denkens zu gelangen. Wie zuvor an Tani- gawas Essay dargestellt, führten ihre unterschiedlichen Paradigmen in den folgenden Jahren schließlich zum Abbruch ihrer wissenschaftlichen Kon- troverse und damit auch zum Ende ihrer Freundschaft. Obgleich Yanagita Minakatas Forschungsbestreben um eine globaleth- nologische Theorie als eine nationale Schande ablehnte, gestand er nach dessen Tod, daß ihm durch die zahlreichen Anregungen und Erklärungen vieles klarer geworden sei und ihn kein anderer so weit wie dieser gebracht habe (TSURUMI 1978).

Originaltitel: „ ,Shibarareta kyojin‛ no manazashi“, in: Minakata Kumagusuzenshû. Heibonsha. Bd. 8. 1991.「縛られた巨人」のまなざし 南方熊楠全集。平凡社

64 MIYATA Noboru (s. Anm. 32). 65 „Japanischer Geist verbunden mit europäischer Technologie“; ein politischer Slogan der Meiji-Ära meint die beiden Kräfte, die entgegen der offiziellen Losung zu keiner wirklichen Symbiose beziehungsweise zu keiner fruchtbaren Integrität gelangen.

53