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Literatur 6.6.06 „Ein bisschen was extra braucht man" Der Schriftsteller Hermann Kant Von Matthias Eckoldt Sprecherin

Sprecher

Zitator

Im O-Ton: Hermann Kant (1978 und 2006)

Regie: Applaus kurz frei, dann blenden

(1) O-Ton(DC003174/2 0:00): Ich will hier mit allem Ernst und mit aufrichtigem Dank sagen,

und ich weiß mich da der Zustimmung meiner Kollegen sicher, dass uns die

Unterredung, die einige Präsidiumsmitglieder mit Erich Honecker hatten, eine

große Hilfe und auch ein großes Vergnügen gewesen ist. Das konnte so sein, weil

uns da jemand wahrhaftig als Partner behandelt und vertrauensvoll ... (30’’)

Regie: Sprecher drauf und langsam wegblenden.

Sprecher: Hermann Kant. Im Mai 1978. Er steht auf dem Gipfel seines Ruhmes. Als

Nachfolger von wird er zum Präsidenten des DDR-

Schriftstellerverbandes gewählt. Er hat drei Romane veröffentlicht, die ihn weit

über die Landesgrenzen berühmt gemacht haben: „Die Aula“, „Das Impressum“ und „Der Aufenthalt“. Die Werke haben zusammengenommen eine

Millionenauflage. In dreiundzwanzig Sprachen kann man den Autor lesen, den die

DDR bereits mit dem Heinrich-Mann-Preis und dem Nationalpreis erster Klasse

ausgezeichnet hat.

Sprecherin: Kant, der sich selbst später als Aktivist der DDR bezeichnen wird, avanciert zum

Vorzeigeschriftsteller. Bei seinen zahllosen Lesungen im Ausland repräsentiert

und verteidigt der gebürtige Hamburger seine Wahlheimat DDR. In Europa, in

Amerika und in Asien. Kurz vor seinem 80. Geburtstag erinnert er sich an sein

enormes Reisepensum im Auftrag des Landes, das seine Bürger selbst nicht reisen

ließ:

(2) O-Ton(I/8:00): Eigentlich ist mir nur die Anstrengung besonders in Erinnerung geblieben,

die daran bestand, dass ich in Gegenden kam, in denen ich das erste Exemplar

eines DDR-Bürgers war. Und ich weiß noch genau in Utah - da hatte ich gedacht:

hier ist es am fremdesten, weil ich mich dort auch nicht auf die Religion verstand

– dann stellte sich aber heraus: die hatten einen relativ lockeren Umgang mit mir,

weil die DDR gerade zugestimmt hatte, dass eine Mormonengemeinde offiziell

zugelassen wurde. Und da habe ich dann die Freundlichkeiten voll abgekriegt. Ich

wurde dann zum Obersten Rat der Mormonenkirche eingeladen und habe dort mit

den Herren debattiert übers Leben und über Kultur. Also solche Geschichten gab

es auch, aber ich hatte auch eine Menge auszuhalten, da man meistens nicht die

Freundlichkeiten der DDR, sondern die Nichtfreundlichkeiten eher kannte, musste

ich nun das immer erklären, und manches konnte ich auch nicht erklären. (1,15’)

Sprecherin: Hermann Kant wird am 14. Juni 1926 in geboren. Als Sohn eines

Gärtners. Trotz seiner hohen Intelligenz bleiben ihm Abitur und Studium

verwehrt. Nach einer Elektrikerlehre wird er gegen Ende des Zweiten Weltkriegs

noch zum Militär eingezogen und gerät in polnische Kriegsgefangenschaft. Für vier Jahre muss er ins Arbeitslager Warschau. Die literarische Verarbeitung

dieser tief greifenden Erfahrung gelingt Kant erst fünfundzwanzig Jahre später. In

dem Roman „Der Aufenthalt“.

Sprecher: Als er 1949 nach Deutschland zurückkommt, tritt er sogleich der SED bei und

geht an die neu geschaffene Arbeiter- und Bauernfakultät nach Greifswald. Dort

macht Kant sein Abitur und studiert anschließend Germanistik in Berlin. Zunächst

bleibt er als Assistent an der Universität und promoviert. Dann wird er Redakteur

bei der Zeitschrift „Neue Deutsche Literatur“ und debütiert 1962 mit dem

schmalen Erzählungsband „Ein bisschen Südsee“. Nicht nur der Titel ist

ungewöhnlich für die DDR-Literatur in Zeiten des Mauerbaus. Auch der Ton, den

Kant hier anschlägt, ist neu. Überraschend. unverbraucht. Ironisch. Eine

überzeugende Talentprobe.

Zitator: In der Woche pfiff mein Vater in den Redepausen; am Sonntag aber sang er. Das

war noch schlimmer. Nach oben hin geriet ihm alles zu einem dünnen Krähen,

nach unten zu aber endete der Gesang immer mit einem bitterscharfen

Hustenanfall.

Sprecherin: Die autobiografisch gehaltene Titelerzählung „Ein bisschen Südsee“ spielt in der

norddeutschen Provinz. Mit liebevoller Ironie wird von einem Familienvater

erzählt, der im Alltagstrott seine Würde zu behaupten sucht, indem er sich immer

„ein bisschen was extra“ gönnt. Das sind anfangs Tottenhamer Edelzwerghühner

und Breitohr-Silberdamaszener-Kaninchen, dann eine Perserkatze, die Angst vor

Mäusen hat und schließlich ein ganzes Aquarium voller exotischer Fische.

Sprecher: Dieses „bisschen Südsee“ wird zur Attraktion des Dorfes und damit zur Pein des

Vaters. Bis in die Nacht hinein kommen die Nachbarn, um sich die Fische

anzuschauen. Der Vater muss schließlich sein „bisschen was extra“ nach Hamburger zurückbringen und kommt mit einem Hund wieder: „Struppig, scharf.

Und in jedem Dorf einen Ahnen“.

Regie: Musikakzent

Sprecherin: 1965 folgt Kants erster Roman „Die Aula“. Trotz aller akademischen und

literarischen Meriten bleibt er dem sozialen Milieu seiner Herkunft verbunden. Im

Herzen ist er Arbeiter – und lange Zeit auch noch im Pass:

(3) O-Ton(I/12:15): Ich hab noch zehn Jahre nach der Aula in meinem Ausweis und meinem

Pass immer noch Elektriker stehen gehabt und empfand mich nicht als

Schriftsteller. ... Das wäre mir zu verstiegen vorgekommen. ... Ich empfand mich

als jemand, der hin und wieder was schreibt. ... Da bin ich wegen des

„Impressums“ in Wien und Österreich überhaupt gewesen. Und da hat mich in

Wien ein kaiserlich-königlicher Hotelportier derartig niedergemacht, weil in

meinem Ausweis Elektriker stand und ihm ein Schriftsteller angekündigt worden,

und der hielt das für eine höchst verdächtige Angelegenheit und war auch etwas

beleidigt, weil einen Elektriker hätte er gar nicht genommen in seinem Hotel. Und

da habe ich das dann nachher geändert. Aber das war schon lange, lange in der

Literatur. (1’)

Sprecherin: Mit der „Aula“ findet Hermann Kant seinen literarischen Gegenstand. Die eigene

Biografie wird ihn sein Schriftstellerleben lang beschäftigen. Im Roman erhält der

Journalist Robert Iswall, ehemaliger Elektriker, der an der Arbeiter- und Bauern-

Fakultät – kurz ABF – sein Abitur abgelegt hat, eines Tages ein Telegramm:

Zitator: Mit Auslaufen Semester Schließung ABF vorgesehen Stop Abschlussfeier geplant

Stop Kannst du Rede halten

Sprecher: Iswall, unschwer als Alter Ego des Autors zu erkennen, willigt ein und geht auf

Erinnerungsreise. Geschickt webt Kant in der „Aula“ zwei Zeitebenen ineinander:

Die Vergangenheit des Freundschaftsbundes der ehemaligen Kommilitonen aus dem Zimmer „Roter Oktober“ und deren Gegenwart. Iswall macht sich auf die

Suche nach seinen Freunden von damals und erinnert sich zugleich an Episoden

aus einer bewegten, hoffnungsvollen Zeit.

(4) O-Ton(Kant I/ 02:22): Ich habe das Buch in einer polemischen Haltung geschrieben, weil

mir schien, diese für mich und nicht nur mich wichtigste Zeit sei nicht aufgehoben

in der Literatur. Und alles, was ich dazu kannte – es gibt ein paar Versuche von

Anna Seghers und Loest - das war alles nicht das Richtige. Das war alles

Hörensagen. Also habe ich das geschrieben aus meiner Erinnerung heraus und

habe es mit Lust getan. ... Das Buch habe ich ja fast noch ganz naiv geschrieben

nach dem Motto: Jetzt erzähle ich euch mal etwas. Aber es war ja dann nachher

ein ziemlich durchschlagender Vorgang. (1’)

Sprecher: Die Arbeiter- und Bauernfakultät war für Kant das Initiationserlebnis für den

DDR-Sozialismus. Der Arbeiter Kant erlebte dort etwas wirklich Neues, eine

geschichtliche Zäsur. Denn erstmals wurde Ernst gemacht mit der Parole „Bildung

für alle“. Plötzlich standen den Arbeitern die Universitäten und Bibliotheken

offen.

Sprecherin: Die Euphorie jener Aufbruchsjahre spiegelt sich in der furiosen, offensiven

Sprachhandhabung, die das Markenzeichen von Hermann Kant werden soll. Sein

gewandter, origineller Umgang mit dem Wort überzeugt. Hier geht einer mit

Lockerheit und Sprachwitz ans Werk, der optimistisch dem Aufbruch in eine neue

Zeit entgegen sieht.

Zitator: Nicht nur er war für unser Land wie geschaffen, auch das Land war es für ihn.

Kein schöner Land in dieser Zeit… ein Rechnerland, ein Organisatorenland, ein

Soll- und Haben-Land, ein Land für Plänemacher, Logarithmenland,

Perspektivenland, Tabelliererland, Programmiererland. (5) O-Ton(Kant I/ 15:30): Meine Begeisterung kam daher, dass mir ja jetzt etwas offen stand,

was mir bis dahin verschlossen gewesen war. Entweder durch soziale oder

politische Umstände während der Nazizeit. ... Ich habe das begriffen und mit mir

zu unserem höheren Ruhm, die mit mir in diesem ersten Durchgang waren, dass

dies eine tolle Chance war. Das war eine ganz besondere Sache und da sie sich

mit der DDR verknüpfte, konnte es ja überhaupt nicht ausbleiben, dass mir der

Gesamtvorgang sehr sympathisch war. ... Insofern klopfe ich mir hin und wieder

auf die Schulter und sage: Gut, die DDR verschwindet aus dem Bewusstsein, aber

dein Buch bleibt, das über einen ganz wichtigen Abschnitt in dieser Geschichte

berichtet. (1’)

Zitator: Wenn im Oktober des Jahres 2456 einer lesen wird, fünfhundertundsieben Jahre

zuvor sei eine Fakultät eröffnet worden, eigens für Arbeiter und Bauern und deren

Kinder und nur zu dem Zwecke, einen historisch längst überfälligen Gleichstand

herzustellen, wird er, der wahrscheinlich schon Mühe hat, sich klarzumachen, was

denn damals für ein Unterschied zwischen Arbeitern und Bauern gewesen sei und

warum sie denn, um Ärzte und Physiker zu werden, mehr Allgemeinbildung

haben erwerben müssen, als Arbeiter und Bauern sie besaßen, wird er begreifen

können, was das besagt?

Sprecherin: Hermann Kant kann tatsächlich für sich in Anspruch nehmen, dass sein Roman

die DDR überdauerte. Bis heute gibt es Neuauflagen der „Aula“ in verschiedenen

Sprachen. Und im Jahr 2000 war der Roman Examensstoff an Französischen

Universitäten. Alternativ übrigens zu Nietzsches „Also sprach Zarathustra“.

Regie: Musikakzent.

Sprecher: Kants zweiter Roman „Das Impressum“ beginnt mit einem Paukenschlag:

Zitator: Ich will aber nicht Minister werden. Sprecher: Allerdings wird es einige Zeit dauern, bis die Leser diesen Satz auch zu Gesicht

bekommen. Denn den Zensoren ist die laxe, ironische Art, in der Hermann Kant

die individuellen Entwicklungsmöglichkeiten in der DDR-Gesellschaft unter die

Lupe nimmt, ein Dorn im Auge. Und dann dieser erste Satz.

Sprecherin: Ein sozialistischer Roman, so heißt es in einem der vielen Gutachten, die zu dem

Manuskript angefertigt werden, ein sozialistischer Roman soll ja wohl nicht allen

Ernstes mit einer negativen Aussage beginnen. Einer negativen Aussage, die auch

noch politisch ist und sich auf den Staat bezieht.

Sprecher: Viele, viele Sätze folgen, bis am Schluss des Buches der Protagonist David Groth

von seiner bevorstehenden Individualisierung im Namen der Sache überzeugt ist

und sagt:

Zitator: Ich jedenfalls – das bleibt wohl noch zu sagen – ich käme.

Sprecherin: Die Provokation besteht vor allem darin, dass Kant mit der Person von David

Groth, der sich in der Neuen Berliner Rundschau vom Laufburschen zum

Chefredakteur, zum ersten Mann im Impressum also, hochgearbeitet hat, einen

Menschen voller Widersprüche gestaltet. Insbesondere zeigt sich natürlich das

Kulturministerium der DDR verschnupft.

(6) O-Ton(Kant 29:15): Ich hab mir ja ein paar Mal die Klage anhören müssen: Warum

sprichst du nicht so wie wir alle? Ja, weil ich ein Schriftsteller war, habe ich nicht

so gesprochen wie wir alle. Deshalb ist das Impressum drei Jahre wirklich nicht –

es ist ja gedruckt worden und lag in den Kellern des Verlages. Und das was man

mir als Begründung gegeben hat, das war alles Quatsch. Das konnte nicht sein.

Das habe ich als ein erfahrener Polemiker sofort begriffen, als der stellvertretende

Minister für Kultur, Bruno Haid, zu mir sagte: Das Buch kann nicht gedruckt

werden. Erstens ist es antisemitisch. Zweitens ist es philosemitisch. Drittens ist es

pornografisch. ... Als ich sagte, na Moment mal, hat der Haid dann auch gesagt: Wenn du das widerlegst, finden wir andere Gründe. Es war, ja, heute würde man

es als einen kleinen Terrorakt bezeichnen. (1,15)

Sprecher: 1972 wird „Das Impressum“ dann doch ausgeliefert. Das Ende der Ära Ulbricht

und der Aufbruch in eine offenere Gesellschaft unter Honecker war sicherlich für

die Publikationsentscheidung mitverantwortlich. Nun konnten die DDR-Bürger in

der typischen ironischen Überhöhung Kants von der Diktatur im eigenen Land

lesen:

Zitator: In diesem Land herrscht Diktatur. Wir stöhnen hier unter dem Zwangsregime der

Wissenschaft. Hier wird man mit der Leselampe gefoltert. Die Despotie preßt uns

in die Gelehrsamkeit. Der Druck bedient sich des Buchdrucks. Qualifizierung —

das Wort schon sagt es. Theorie ist die Praxis hiesigen Terrors. Forscher

zimmerten unser Joch. Lehrer bewachen unsere Schritte. Unser Profoß ist

Professor. Wir führen ein Hirnzellendasein. Für Denken gibt es ein Soll. Wir sind

die kybernetisch besetzte Zone. Wir sind ein einziges Schweigelager: Ruhe, Vater

muss lernen, und nochmals Ruhe, Mutter auch! Nun gut, ich habe mich gebeugt

und bin ein Chef mit Diplom, aber mein Argwohn spricht: Ein Minister geht nicht

mehr lange ohne Doktorhut.

Regie: Musikakzent

Sprecherin: Die Phase der Öffnung in der DDR hält jedoch nicht lange an. Spätestens mit der

Ausbürgerung von Wolf Biermann 1976 schlägt sie geradezu in ihr Gegenteil um.

Doch das wollen sich vor allem die Künstler und Intellektuellen nicht gefallen

lassen. Einige schreiben Petitionen, andere diskutieren mit den verantwortlichen

Funktionären und wieder andere kehren dem DDR-Sozialismus den Rücken.

Sprecher: Hermann Kant spielt niemals mit dem Gedanken, die DDR zu verlassen. Er hält

an dem Land fest, dem er so viel zu verdanken hat. Eine leise Kritik an der

Entscheidung der Obrigkeit, wie er die Regierenden gern nennt, bringt er dennoch an. Im Parteiblatt „Neues Deutschland“ schreibt er zur Biermann-Ausbürgerung,

dass man ihn vor dem Liedermacher nicht hätte schützen müssen.

Sprecherin: In diesen Jahren beginnt Kant seine janusköpfige Rolle in der DDR-Kulturpolitik

zu spielen, von der ihm in Wende-Zeiten vor allem die eine, staatstragende Seite

um die Ohren gehauen wird. Als Mitglied der SED-Bezirksleitung von Berlin,

später dann Volkskammerabgeordneter und Mitglied im Zentralkomitee der SED

versucht er, seine Genossen auf Schieflagen und Fehlentscheidungen in der

Kulturpolitik aufmerksam zu machen. Nach außen hin aber vertritt er diese

Entscheidungen.

Sprecher: Genau so verhält er sich als Präsident des Schriftstellerverbandes. Kant tritt für

Autoren, denen Unrecht widerfahren ist, ein und bringt zugleich die Mitglieder

seines Verbandes auf Partei-Linie.

(7) O-Ton(DC003174/2 14:15): Demokratie, auch Verbandsdemokratie, sozialistische

Demokratie lebt von Beteiligung. Wer sich ihr entzieht, wird an ganz und gar

anderem beteiligt. Da werden dann zehn Gründe genannt, warum es aber so sein

musste. Ich lasse die Gründe nicht gelten. Denn Literatur kommt nicht über den

Weg des geringsten Widerstandes voran. Auch bei uns – manchmal auch noch bei

uns. Emigrieren muss man vor dem Feind, mit dem nicht zu leben ist, aber nicht

vor dem Freund, mit dem sich manchmal nur anstrengend auskommen lässt.

Fortzulaufen, weil wir glauben, uns sei Unrecht geschehen, das wäre der Kunst

sehr schädlich, aber es wäre keine Kunst. (30’’)

Sprecherin: In dieser Rede von Kant auf dem 8. Schriftstellerkongress 1978, lässt er es trotz

der von ihm gewohnten rhetorischen und dialektischen Figuren nicht an Klarheit

fehlen: Wer hier nicht mit will, wird aus dem Schriftstellerverband

ausgeschlossen, was de facto einem Publikationsverbot gleichkommt. Sprecher: So ergeht es dann ein Jahr darauf einer Reihe von Autoren – unter ihnen Kurt

Bartsch, Adolf Endler, Stefan Heym, Karl-Heinz Jacobs, Klaus Schlesinger und

Rolf Schneider. Kant exekutiert ihren Rauswurf aus dem Verband, nachdem sie

unerlaubt im Westen publiziert hatten und in einem Brief an Honecker die

Lockerung der Zensurpraxis forderten. Bei Autoren, die nach dem

Wohnortwechsel in die Bundesrepublik nicht mehr der Verbandsräson

unterliegen, übt sich Kant in einer Praktik, die beim Fußball als Nachtreten

bezeichnet wird. So kommentiert er die Ausreise von Reiner Kunze mit den

Worten: „Kommt Zeit, vergeht Unrat!“

(8) O-Ton(Kant I 40:00): Das ist eine meiner absoluten Dämlichkeiten. Das habe ich im

Zusammenhang mit der Verleihung des Büchner-Preises an Kunze gesagt. Da war

Kunze längst im Westen, und die Darstellung, dass ich damit ein Signal gegeben

hätte, den armen Mann zu malträtieren, trifft es einfach nicht. ... Aber das war

eine Überreaktion von mir auf das lang anhaltende Geschrei und das total diskrete

Überhören der Tatsache, dass der gute Mann seines zum Konflikt beigetragen

hatte. ... Das ist so eine Unart des Autors. Inzwischen habe ich 7000 Mal gesagt,

hättst ja auch sagen können: Kommt Zeit, vergeht Unsinn. Das wäre milder

gewesen. ... Aber nein, der eitle Autor sieht, das haut mächtig auf den Scheitel

und nun sagt er das. Naja. Kunze hat die Zeit, die seither vergangen ist, weidlich

genutzt, entsprechende Sprüche zu mir zu finden. Insofern ist die Sache vor

Petrus’ Tor erledigt. (1,30’)

Regie: Musikakzent.

Sprecher: 1977 erscheint ein neuer Roman von Hermann Kant: „Der Aufenthalt“. Nach

mehr als zwei Jahrzehnten ist es ihm gelungen, die richtige Tonlage zu finden, um

seine Erfahrungen in der polnischen Kriegsgefangenschaft literarisch zu

verarbeiten. (9) O-Ton(Kant II/ 11:00): Ich wollte das immer schreiben, und Gott – oder zumindest der

Abteilungsgott für Literatur – hat dafür gesorgt, dass ich’s nicht hinbekommen

habe. Ich habe das immer und immer wieder versucht, und es geriet mir entweder

in eine weinerliche, demütige Entschuldigungs-Haltung oder es geriet mir in diese

Mann-waren-wir-doch-tolle-Burschen-Haltung. Das war beides absolut

unangemessen, und ich habe es dann immer wieder sein gelassen. ... Dann habe

ich das nachher wieder angefangen unter dem Motto: Jetzt musst du dich beeilen,

sonst wird das nicht geschrieben. Und das war eine Mischung: Einerseits wusste

ich, das ist eine Geschichte, die habe nur ich. Sie weicht von dem, was man so

kennt, entschieden ab. Und das Zweite ist, dass ich auch begriff: Jetzt ist die Zeit

gekommen, wo man das kann. ... Natürlich war das immer noch sehr kühn

gedacht. Denn als es an die polnische Übersetzung gehen sollte, hat es ja

insgesamt zehn Gutachten benötigt, bis dann ein Verlag das gemacht hatte. Nicht

mein alter Verlag, der Aula und Impressum gemacht hatte. Der hat sich nicht

getraut. (1,30’)

Sprecherin: Kant beschreitet auf dem Terrain der DDR-Literatur Neuland, in dem er vom Leid

des deutschen Kriegsgefangenen Mark Niebuhr erzählt. In der herrschenden

Ideologie ist die Trennlinie zwischen Opfern und Tätern scharf. Und ein

Wehrmachtsangehöriger gehört auf die Seite der Täter. Kant aber unterläuft diese

Schwarz-Weiss-Sicht mit literarischen Mitteln.

Sprecher: Das Alter Ego von Hermann Kant war wie sein Autor gerade neunzehn, als er am

Ende des Zweiten Weltkriegs fälschlicherweise in den Verdacht gerät, bei einer

SS-Razzia in Lublin ein polnisches Mädchen ermordet zu haben. Zunächst kommt

der Junge, den schreiendes Heimweh plagt, mit polnischen Gefangenen in eine

Zelle. Dann wird er mit deutschen - und SS-Angehörigen

zusammengesperrt. Zitator: Früher wurde man eingesperrt, wenn man unkriegerisch war, feige und nicht

gehorsam. Aber jetzt waren wir eingesperrt, weil wir kriegerisch gewesen waren.

Kriegsgefangen. Kriegsgefangener. Kriegsverbrecher. Morderca. Ein Mörder aus

Lublin. Aber wenn einer nicht in Lublin gewesen ist, kann er kein Mörder in

Lublin gewesen sein. Und wenn er ein Kriegsverbrecher sein soll, weil er ein

Mörder in Lublin gewesen sein soll, und er ist kein Mörder in Lublin gewesen,

weil er gar nicht in Lublin gewesen ist, dann ist er auch kein Kriegsverbrecher.

Sprecher: 1983 wird Kants Roman in der Regie von verfilmt. Der Streifen wird

sogar auf die Berlinale eingeladen und bereits als aussichtsreicher Kandidat für

einen Preis gehandelt. Nach dem Protest der polnischen Regierung entschließen

sich jedoch die DDR-Behörden, keine Ausfuhrerlaubnis für den Film zu erteilen,

der die liebgewordenen Feindbilder ins Wanken bringt.

Regie: Musikakzent

Sprecherin: Als 1989 die Mauer ins Wanken gerät, gibt sich Hermann Kant keinen Illusionen

hin: Das sozialistische Experiment, für das er wie kein anderer Schriftsteller steht,

ist zu Ende. Für ihn beginnen bittere Jahre. Autoren, denen zu DDR-Zeiten

Unrecht geschehen ist, machen Kant persönlich dafür verantwortlich. Der

Bürgerrechtler Friedrich Schorlemmer fordert ein öffentliches Tribunal gegen

Honecker, Mielke und Hermann Kant.

Sprecher: Mit der Öffnung der -Archive werden auch die Anschuldigungen gegen

Hermann Kant immer lauter, er sei inoffizieller Mitarbeiter der DDR-

Staatssicherheit gewesen. Kant strengt mehrere Unterlassungsklagen an.

Beispielsweise gegen den Schriftsteller Reiner Kunze, der aus seiner Stasi-Akte

eine Empfehlung Hermann Kants für seine Ausweisung veröffentlicht. Kant

gewinnt diesen Prozess mit der Begründung, dass dieses Schriftstück

möglicherweise gefälscht sein könnte. Sprecherin: Auch weitere Prozesse gewinnt er. Der große „Spiegel“-Artikel im Heft 41 des

Jahres 1992, der ausführlich über die Zitat „Spitzel-Karriere des Genossen

Hermann Kant alias IM Martin“ berichtet, bleibt jedoch von Kant

unwidersprochen. Der Spiegel stützt sich in seiner Berichterstattung auf die Akte

Kant, die unter der Registriernummer 5909/60 in stolzen neun Bänden und 2500

Blatt in der Behörde für die Unterlagen des Staatssicherheitsministeriums lagert.

Sprecher: Demnach geht Kants Zusammenarbeit mit der Stasi über fast zwanzig Jahre. Von

1958, wo er noch an der Universität ist, bis ins Jahr 1976, als er in die SED-

Bezirksleitung aufsteigt. Kant berichtet von Veranstaltungen des PEN, von der

Frankfurter Buchmesse und Schriftstellerkongressen im Westen.

(10) O-Ton(Kant II 34:40): Das war für mich anfänglich eigentlich eine ganz

selbstverständliche Sache, dass da diese Leute kamen und sagten: Hör mal zu, wir

schützen die Republik und euern Verein besonders. Das fand ich zunächst mal

sehr logisch. Ich konnte mich doch nicht für den Sozialismus und den

sozialistischen Staat erklären, und zugleich gegen die, die das – wie sie sagten –

schützen wollten. Das ging also nicht. Nur die Geschichte ist insofern

komplizierter – nur hört von da an ja kaum noch jemand zu - als mir das nachher

irgendwann furchtbar auf den Docht gegangen ist, weil diese Art von

Weltuntergangsbefürchtungen, mit der diese Jungs ausgestattet waren, das fand

ich lächerlich. Und ich habe irgendwann auch gesagt, nun lasst mich damit

zufrieden. Aber es ändert nichts daran. Es ändert nichts daran, dass ich absolut

verquickt bin mit dem, was man begreift als DDR. Und ich habe nichts dagegen.

(1,15’)

Sprecherin: Anfang der neunziger Jahre verabschiedet er sich vom Kulturbetrieb. Er tritt aus

dem PEN aus, gibt seine Mitgliedschaft in der Akademie der Künste auf. Seine

Frau ist den ständigen Rechtfertigungsdruck leid. Sie verlässt Deutschland mit den gemeinsamen Kindern Richtung USA. Kant löst die Berliner Wohnung auf

und zieht sich auf seine Datsche in ein einsames mecklenburgisches Dorf zurück.

Sprecher: 1994 erscheint wieder ein Roman von Hermann Kant. Die Story ist wie immer in

Kants Büchern rasch erzählt: Anläßlich seines 66.Geburtstages und 2. Jahrestages

seiner ihm neu eingesetzten Herzklappen empfängt der Publizist und Kritiker

Kormoran – so auch der Titel des Buches - im Juni 1992 seine Gäste. Dieser Tag

wird zugleich auch sein Todestag. Die Gespräche der Eingeladenen kreisen immer

wieder um das eine Thema: Die mehr oder weniger gelungene Anpassung an die

neuen Verhältnisse nach dem Fall der Mauer.

Sprecherin: Der Tod von Kormoran steht metaphorisch für die versunkene Gesellschaft. Ohne

das alte System scheint es für die "Übriggebliebenen" keine rechte Zukunft mehr

zu geben.

(11) O-Ton(Kant II 44:30): Kormoran ist ein Zeugnis meiner weitgehenden Verzweiflung.

Das ging gesellschaftlich, gesundheitlich, ökonomisch, familiär. Das ging ja alles

zu Bruch. Vor allem habe ich gedacht, ich werde nicht mehr lange leben. Also mal

schnell noch was machen. Das habe ich mit wütender Eile geschrieben. Und das

ist einfach nicht gut. (30’’)

Regie: Musikakzent

Sprecherin: Doch langsam erholt sich Hermann Kant. Die neuen Herzklappen leisten

hervorragende Dienste, seine Familie weiß er gut versorgt, und das Interesse an

Geschichtsaufarbeitung des SED-Staates ebbt immer mehr ab. Kant findet seine

Balance wieder und meldet sich im neuen Jahrtausend mit zwei Büchern zurück.

Sprecher: 2002 erscheint der knapp 500-seitige Roman „Okarina“, der mit funkelnder Ironie

und brillantem Sprachwitz beschreibt, wie ein junger Wehrmachtssoldat zum

Antifaschisten wird. Kant hat zu seiner Biografie als der Quelle seines

literarischen Schaffens zurück gefunden. Der Roman entwirft ein Nachkriegspanorama aus der Perspektive des überzeugten kommunistischen

Kaders.

Sprecherin: Auch wenn im Verlauf des Buches gewisse Defizite im persönlichen Handeln

eingeräumt werden, so besteht der Erzähler Kant darauf, dass er sich weder für

sein Leben noch sein Land, das ihm zur Heimat geworden ist, entschuldigen

muss. Die FAZ attestiert Kant, dass er ein „amüsanter Kapitalistenfresser ist, dem

auch nach all den Jahren der Appetit nicht vergangen ist.“

Zitator: Ich habe nicht gezählt, wie oft ich gefragt wurde, warum ich bei der Sache blieb,

ihr nicht einfach anhing, sondern ihr, wo nötig, voranging. Ich zähle auch

weiterhin die Antwort nicht; sie ist gegeben. In hohem Ton: Weil ich die Sache

nicht mit dem Makel verwechselte und meinte, ich könnte jene von diesem

befreien. Leiser Zusatz, nicht für jeden bestimmt: Und weil ich eine andere Sache

weder sah noch sehe.

Sprecher: Mit seinem Roman „Kino“, den Kant 2005 vorlegt, überrascht er noch einmal

Leser und Kritik. Der Romancier zieht alle Register. Im Roman legt sich ein

alternder Schriftsteller in einem wetterfesten Nylonschlafsack in die belebte

Hamburger Fußgängerzone und betrachtet die vorüber ziehende Gesellschaft.

Zitator: Nicht stören und nichts spenden.

Sprecherin: ... steht auf einem Schild, das der Ich-Erzähler vor sich hinstellt. Als Leute

trotzdem spenden wollen, fährt er sie an:

Zitator: Hau ab, es ist Kunst!

Sprecherin: In dieser Erzählsituation des ausgestellten Unbehaustseins entfaltet Kant noch

einmal seine ganze Sprachgewandtheit. Diesmal jedoch ohne den wehmütigen

Blick zurück. Kant bleibt ganz in der Gegenwart. Der moderne Diogenes

beobachtet, reflektiert, philosophiert, träumt und erdichtet: Zitator: Weil ich aber zuviel auf einmal hörte, hörte ich von keinem genug. So erdachte

ich mir, was ich erlauschen wollte, und erfand, was ich nicht sah. Ob er

wenigstens diesmal an die Briefmarken gedacht habe, ließ ich eine einen fragen

und weiß bis heute nicht - hat er oder hat er nicht? Es sei ein Scheißbefund, legte

ich einer anderen in den Mund. Von ihrem Tonfall her gab es keinen Zweifel: Es

war ein Scheißbefund. Nie und Nimmer musste laut meiner dringlichen

Einflüsterung ein mitteljunger Mann einem jungen Ding an seiner Seite beteuern.

Ob es dabei um Abschied oder Abseits ging, ließen wir offen.

Sprecherin: Hermann Kant lebt noch immer in seiner Datsche im Mecklenburgischen. Und er

schreibt weiter. Tag für Tag.

(12) O-Ton(Kant II / 47:29): Es ist mir längst klar, dass ich keine Romane mehr anfangen

kann. Ich hab schon bei den letzten Sachen schon Zettel an der Wand gehabt, weil

ich dachte: Wenn du jetzt blöde umfällst, ist es doch ganz dämlich, dann hast du

nur ein Fragment hinterlassen. ... Jetzt schreibe ich 20-Seiten-Geschichten und

sage mir: die wirst du ja wohl noch hinkriegen, diese zwanzig Seiten. Obwohl

man das nicht weiss. (52:15) Und dass ich jenseits von allem anderen Gut und

Böse hin und wieder gesagt kriege: Schuft magst du ja wohl sein, aber schreiben

kannst du ganz ordentlich! Das reicht mir!