Esoterik Verschleierte Wahrheit

Dank aufgeschlossener Römer, wissbegieriger Alchemisten, verschworener Freimaurer und verschrobener Esoteriker ist so mancher altägyptische Mythos bis heute überliefert.

Von Hakan Baykal und Sebastian Hollstein der Wahrheit im Gedächtnis der Menschen veran- kert ist? in junger Mann schleicht im fahlen Licht des Sie stellt sich selbst in einer Inschrift vor: »Ich E mitternächtlichen Monds zum Tempel der bin Isis, ich wache! Ich bin die Mutter des Horus, großen zaubermächtigen Göttin. Er klettert über ich bin die Schwester des Osiris, ich bin die Zauber- die Mauer, springt mutig in das Innere des Heilig- kräftige, ich bin die große Jungfrau. Siehe, ich bin tums und steht vor der Kultstatue. Nur noch ein an deiner Seite, ich bin es, die dein Herz liebt.« An- Handgriff trennt ihn von der Weisheit der Welt. fang des 3. vorchristlichen Jahrtausends erscheint Denn das Standbild verbirgt sich hinter einem sie zusammen mit ihrem Bruder und Ehemann Schleier. Wer unter ihn blickt, dem verkündet  Osiris im ägyptischen Pantheon. Ein Mythos, eine die Gottheit selbst die Wahrheit über das, was die himmlische Tragödie steht im Zentrum ihrer Ver- Welt im Innersten zusammenhält. Doch die Sta- ehrung: Die göttlichen Geschwister sind Kinder tue spricht zu ihm und warnt: »Kein Sterblicher von Nut und Geb, den Gottheiten von Himmel rückt diesen Schleier, bis ich selbst ihn hebe.« Von und Erde. Osiris macht die Ägypter als König zu unbändiger Neugier getrieben ignoriert der Jüng- einem kultivierten Volk, indem er sie Ackerbau ling die Mahnung und schaut entschlossen un- lehrt, ihnen Gesetze gibt und ihnen die Verehrung ter das Tuch. der Götter empfiehlt. Am nächsten Morgen finden ihn die Priester – verschreckt und kreidebleich. Er wird nie über Zauberkräftige heilerin das sprechen, was er gesehen hat in dieser Nacht, Ein drittes Kind aus göttlichem Schoß, der Bruder er wird nie mehr lachen und stirbt früh. Nur einen der beiden, Seth, der vor allem das Böse in der einzigen Satz sagt er über die Nacht im Tempel: ägyptischen Mythologie verkörpert, ist jedoch nei- »Weh dem, der zu der Wahrheit geht durch Schuld, disch auf diese Leistungen und die Vormachtstel- sie wird ihm nimmermehr erfreulich sein.« lung des Osiris. Er stellt dem Gemahl der Isis eine Die Geschichte kennen wir aus dem Gedicht Falle. Während eines Gastmahls lässt er eine Truhe BPK »Das verschleierte Bild zu Sais« von Friedrich aufstellen und verspricht sie demjenigen, der ganz Isis lactans Schiller, geschrieben 1795. »In der Morgenröte der hineinpasst. Osiris geht darauf ein und besiegelt Als »säugende Isis« wurde die modernen Wissenschaft warnt die Ballade vor ei- damit sein Schicksal: Kaum liegt er in der Kiste, Göttin in spätägyptischer und ner rücksichtslosen und übereilten Aufdeckung schlägt der Deckel über ihm zu und Seths Helfer ptolemäischer Zeit verehrt der Naturgeheimnisse, bevor der Mensch die nö­ vernageln ihn. Der gefangene Gott wird in den Nil (etwa ab dem 4. Jahrhundert v. Chr.). Die Kirche, die sich auch tige Reife erworben hat, von seinen Erkenntnissen geworfen und treibt Richtung Mittelmeer. Die sonst gerne heidnischer Vorbil- einen verantwortlichen, die Folgen abschätzenden Schwester und Gattin macht sich, nachdem sie er- der bediente, übernahm in die- Gebrauch zu machen«, erklärt der Heidelberger fahren hat, was geschehen war, auf die Suche nach sem Fall besonders auffällig die Ägyptologe Jan Assmann. ihrem Mann. Sie findet ihn schließlich nahe der antike Form bei Darstellungen Wer aber ist diese schreckliche Göttin, die seit Stadt Byblos, nördlich dem heutigen Beirut im Li- der Madonna mit dem Kind. mehr als 4000 Jahren sinnbildlich als Hüterin banon; Seth funkt jedoch auch bei der Rettung da-

60 epoc 01/2008 ??? nach Athen zu tragen ??? von Bundesgenossen ver­ langte, Tribut in Form von zu entrichten, beschleunigte er den Verschleierte Geldfluss in die Stadt.

Skulptur der isis aus hellenisti­ scher Zeit: Die ägyptische Göttin Wahrheit war auch bei Griechen und Römern hoch angesehen.

iraudon G

Bridgeman zwischen. Vor den Augen der Göttin zerreißt er Sohn Horus war Isis zudem auch Mutter des Pha- den leblosen Körper des Osiris und verstreut die raos, denn dieser stellte die symbolische Reinkar- Teile über das ganze Land. Isis findet aber fast alle nation des Gottes dar. Sie selbst war die Mutter des wieder und setzt den Leib ihres Gatten mit Hilfe Throns. ihrer Zauberkräfte und ihres treuen Begleiters All diese Eigenschaften und noch einige mehr Anubis erneut zusammen. Das wiedervereinte Ge- sorgten dafür, dass Isis nach und nach immer grö- schwisterpaar zeugt noch gemeinsam den Sohn ßere Bedeutung erlangte. Spätestens im helleni- Horus, doch dann muss Osiris sich in die Unter- sierten Ägypten unter den Ptolemäern (3. bis 1. welt zurückziehen – als Herrscher zwar, aber eben Jahrhundert v. Chr.) war sie die wichtigste Göttin; im Reich der Schatten. Isis jedoch, die ab diesem andere Gottheiten verschmolzen mit ihr und tra- Zeitpunkt auf der Erde allein regiert, widmet sich ten ihr dadurch Aufgabenbereiche ab. Bereits kur- ganz ihrer Mutterrolle. Sie muss Horus vor den ze Zeit vorher gelang der ägyptischen Göttin der Angriffen des Seth beschützen, bis schließlich ihr Sprung über das Mittelmeer: 333 v. Chr. wurde in erwachsener Sohn seinen Vater rächt. Piräus – dem Hafen von Athen – der erste Tempel Von diesem Mythos ausgehend, erklären sich für Isis auf europäischem Festland eingeweiht. Helena Petrovna alle Mächte und Zuständigkeitsbereiche der Isis. Blavatsky (1831 – 1891) Sie war es zum Beispiel, die dem ägyptischen Volk Hüterin der Wahrheit Die Begründerin der Theoso­ die Lebensgrundlage bot, denn ihre Tränen wäh- Die Griechen und Römer verehrten Isis sowohl in phie veröffentlichte 1871 ihr rend der Trauer um Osiris ließen den Nil über sei- täglichen Gottesdiensten und während verschie- Werk »Isis entschleiert«. Darin ne Ufer treten – ein Phänomen, das sich jährlich dener Feste – wie beispielsweise der Isia, bei der verkündete sie aber weniger wiederholte und Ägypten fruchtbares Ackerland die Auffindung des Osiris gefeiert wurde – als auch die verborgenen Weisheiten bescherte. Zwar gelang es ihr, den toten Bruder durch einen Mysterienkult, der in ganz Griechen- der großen Göttin, sondern durch Magie wiederzubeleben, zugleich musste land und in weiten Teilen des Römischen Reichs, vielmehr die Grundlagen ihrer esoterischen Geheimlehre. sie doch von ihm lassen. Sie bereitete ihn sogar auf sogar bis nach Britannien, verbreitet war. Solche Immerhin hatte und hat diese den Gang in die Unterwelt vor. Deshalb nahm sie geheimen Kulte waren in der Antike populär, bo- beträchtlichen Einfluss auf an­ bei den Ägyptern auch eine wichtige Rolle im To- ten sie doch eine besonders persönliche Gottes­ dere Bewegungen – von Rudolf tenkult ein. erfahrung. Über ihren Ablauf indes ist heute nur Steiners (1861 – 1921) Anthropo­ Außerdem machten ihre magischen Fähig- noch wenig bekannt, da es den Teilnehmern streng sophie über so manche rassis­ tische und antisemitische Sekte keiten sie zu einer großen Heilerin, was in einem verboten war, Einzelheiten an nicht Eingeweihte der Zwischenkriegszeit bis hin anderen Mythos aufgegriffen wird, in dem sie mit weiterzugeben. zu den New-Age-Jüngern und einer Zauberformel ein Kleinkind rettet, das von Die Verehrung der mächtigen Göttin hielt sich Esoterikern der Gegenwart. einem Skorpion gestochen worden war. Solche Le- selbst nach der Christianisierung noch lange Zeit genden bereicherten den Alltag der Ägypter. Auf im Römischen Reich. Erst im Jahr 535 ließ der from- Papyri oder Stelen, die in Heiligtümern der Göttin me Eiferer Kaiser Justinian (er regierte von 527 bis gefunden wurden, finden sich sowohl Sprüche ge- 565) den Haupttempel der Isis auf der Nilinsel gen Vergiftungen wie zur Heilung von alltäglichen Philae schließen. Ihre Mütterlichkeit und ihre Auf- Beschwerden wie Kopf- oder Magenschmerzen. gabe als Hüterin der Wahrheit, die sie in den Mys- Auch in Liebesdingen suchten die Ägypter Hilfe terien übernommen hatte, sicherten der Göttin  bei der großen Magierin: Die einen wünschten jedoch das Fortleben. Der Statuentypus der Isis sich, von einem bestimmten Menschen so geliebt lactans beispielsweise, bei dem sie ihren Sohn Ho- zu werden, wie Osiris von Isis. Andere allerdings rus auf dem Arm hält und ihm die Brust gibt, gilt hofften darauf, dass zwei Bekannte einander so als Vorbild für die künstlerischen Darstellungen sehr hassten, wie Seth seinen Bruder. Durch ihren der Maria mit dem Jesuskind. Vor allem aber war

1. Jh. v. Chr. 3. Jh. n. Chr. 4. Jh. Der römische - Die Kirchenväter Ein weiterer Kirchen- soph, Jurist und Clemens von Alexan­ vater, Laktanz (250 – Staatsmann dria (150 – 215) und 325), betont die Über- (106 – 43 v. Chr.) er- (150 – 230) einstimmungen der wähnt in seinem Werk erwähnen Hermes hermetischen Theo- »De natura Deorum« Trismegistos lobend. logie mit den Lehren (Über die Natur der Ersterer berichtet von des Christentums. Im Götter) fünf Götter 42 philosophischen Jahrhundert darauf und Heroen namens und medizinischen verdammt allerdings Hermes. Der letzte Schriften des Ägyp- Augustinus von Hippo in der Reihe sei der ters, Letzterer nennt (354 – 430) Hermes legendäre Ägypter ihn den Lehrmeister und seine Lehren als Hermes Trismegistos. aller Naturforscher. heidnisch.

62 epoc 01/2008 es ihre Funktion als Herrin der Natur und der Ele- iraudon mente, der Isis ihr langes Leben über die Antike G hinaus verdankte. Sie wurde als Inbegriff für gött- Bridgeman liche Erkenntnis erachtet. Von den mittelalterlichen Alchemisten, die den Ursprung ihrer Wissenschaft im alten Ägypten verorteten, über den Rosenkreuzer-Orden bis zu den Freimaurern stand Isis neben anderen mysti- schen Figuren im Zentrum geheimer Lehren. Ih- ren populärsten Ausdruck fand deren Ägyptenbild in der »Zauberflöte« des Freimaurers Wolfgang Amadeus Mozart (1756 – 1791). Und noch heute gibt es Logen mit dem Namen »Isis und Osiris«. Diese mögen sich zumeist der Vernunft im Sinn der Auf- klärung verschrieben haben: Die Struktur ihrer Lo- gen orientiert sich dennoch an antiken Mysterien. So müssen neue Mitglieder immer noch an traditi- onellen Einführungsritualen teilnehmen. Als Göttin der Vernunft wurde Isis während der Französischen gefeiert. Selbst den Na- men der Stadt Paris wollte man von ihrem ableiten, während andere schwärmerische Geister unter der Kathedrale Notre Dame die Fundamente eines Tempels der ägyptischen Göttin vermuteten. Nur wenig später hatten es die Zauberkräfte der Überirdischen den deutschen Romantikern ange- tan. Dichter wie (1772 – 1801), Ludwig Tieck (1773 – 1853) oder Joseph von Eichendorff (1788 – 1857) schickten in ihren Werken junge Helden nach Ägypten. Dort begegnete ihnen eine Welt aus ge- heimen Kulten und magischen Wesen. Eine bei (45 – 125) überlieferte Inschrift prägte da- bei das Bild der verschleierten Isis. Schiller ließ sich von ihm zu seinem eingangs genannten Ge- dicht inspirieren, Ludwig van Beethoven hatte es Hinter einem noch undurchlässigeren Schleier Hermes Trismegistos eingerahmt auf seinem Schreibtisch stehen. Und sind die Lehren eines anderen Ägypters versteckt: Der legendäre Magier gilt auch als selbst der sonst so abgeklärte Der legendäre Weise und Magier Hermes Trisme- Vater der Alchemie und der Stern­ ­äußerte sich schwärmerisch über die Worte: »Viel- gistos, der »dreimal größte Hermes«, gilt seit der deutung (Darstellung aus dem Jahr leicht ist nie ein Gedanke erhabener ausgedrückt Antike als Urheber diverser mystisch-magischer 1615). worden als in jener Aufschrift über dem Tempel Schriften (siehe Zeitleiste unten). Er beweist ein er- der Isis: ›Ich bin alles, was da ist, was da war und staunliches Stehvermögen im Bewusstsein seiner was da sein wird, und mein Schleier hat kein Sterb- Anhänger, obwohl er nie gelebt hat – umso mehr licher aufgedeckt.‹« aber scheint ihnen sein Werk von einer Aura gött-

8. Jh. 12. Jh. 15. Jh. 16. Jh. Der arabische Gelehr- Der zum Christentum Der Florentiner Hu- Der deutsche Mystiker In der dem Mediziner, te und Astronom Al- konvertierte jüdische manist Marsilio Ficino Sebastian Franck Alchemisten und Phi- buzar (787 – 886) er- Gelehrte Johannes (1433 – 1499) veröffent- (1499 – 1542) betrach- losophen Paracelsus zählt die Legende vom von Sevilla übersetzt licht 1463 »Mercurii tet die hermetischen (Theopratus Bombas- ersten Hermes, der neben anderen Trismegisti liber de Schriften als den bi- tus von Hohenheim, noch vor der Sintflut arabischen Schriften potestate et sapientia blischen ebenbürtig. 1493 – 1541) zuge- das Urwissen der auch die »Tabula dei« (Das Buch des Später wirbt der fran- schriebenen »Aurora Menschheit nieder- Smaragdina« ins Hermes Trismegistos zösische Staats- Philosophorum« (Mor- geschrieben, vom Lateinische. über die Macht und mann und Theologe genrot der Weisen) zweiten, der es nach Weisheit Gottes), Philippe de Mornay wird die arabische der Flut wiederbelebt die Übersetzung des (1549 – 1623), ein An- Hermeslegende auf- und dem dritten, der »Corpus Hermeticum« hänger der Reformati- genommen. alchemistische Werke ins Lateinische. on, mit den Lehren des verfasst habe. Hermes für religiöse Toleranz. epoc-magazin.de 63 iraudon G Bridgeman

Im Labor eines Alchemisten licher Weisheit beseelt. Zumindest der Ursprung Aus der Verschmelzung dieser beiden überir- fachsimpeln Anhänger des dieser Gestalt ist nicht von dieser Welt – er liegt in dischen Wesen entstand also Hermes Trismegis- Hermes Trismegistos (aus dem der Verschmelzung zweier Gottheiten des Alter- tos. Die Legende berichtet von über 30 000 mys­ »Museum Hermeticum«, 1625). tums: Thot und Hermes. Der erste, ursprünglich tischen, magischen und astrologischen Büchern, ägyptischer Gott der Schrift und Erfinder der Hie- die der sagenhafte Weise geschrieben haben soll. roglyphen, entwickelt sich in der Folge zur Gott- Für die jahrhundertelange Geschichte des Herme- heit der Wissenschaft, der Astrologie sowie der tismus, der Geheimlehre des Hermes, sind aber Magie. zwei Werke besonders bedeutend, die bis heute  Der andere, der griechische Götterbote Her- im Umlauf sind und mehr oder weniger regelmä- mes, ist zuständig für den Schutz der Wege und all ßig neu aufgelegt werden: das »Corpus Hermeti- jener, die sie benutzen – der Wanderer und Kauf- cum« und die »Tabula Smaragdina« (siehe Kasten leute, aber etwa auch der Diebe. Zudem ist der rechts). Olympier der psychopompos, der Seelenführer, Der Heidelberger Ägyptologe Florian Ebeling, Begleiter der Toten auf ihrem Weg in die Unter- führender Experte der Materie, unterscheidet zwei welt. Somit steht er den Menschen näher als ande- Traditionen in der Anhängerschaft des Hermes re Götter. Er kennt ihre Unzulänglichkeit und vor Trismegistos. Die eine folgt den Traktaten des Cor- allem ihr Leid. pus und verbreitete sich während der Renaissance

17. Jh. kirchlichen Dingen). 18. Jh. In krassem Gegen- Die Anhänger des Pa­ Darin beweist er unter Eine erste deutsch- satz dazu stehen die racelsus erklären ihn anderem, dass die sprachige Veröffent- esoterischen Logen zum »zweiten (oder: Traktate des »Corpus lichung des »Corpus der Rosenkreuzer (im deutschen) Hermes«, Hermeticum« Hermeticum« bein- Bild die Darstellung der die Urweisheit christliche und haltet auch die »Ta- des »Tempels vom Ro- wiederbelebt habe. platonische Vorstel- bula Smaragdina«. Sie senkranz« aus dem Jhr lungen vereine, also steht in der Tradition 1604) die Hermes als Im seinem Todesjahr keine authentischen des Paracelsismus. Der uralten Weisen feiern veröffentlicht der altägyptische Philologe Dieterich und mit ihm gegen Philologe Isaac Weisheiten, geschwei- Tiedemann (1748 – die moderne Wissen- Casaubon (1559 – 1614) ge denn vorsintflut- 1803) hingegen, dem gibt seiner Über- schaft auftreten. sein Werk »De Rebus liches Urwissen das alte Ägypten als setzung des Werks Sacris et Ecclesiaticis« beinhalten könne. ein Land »blindesten einen aufklärerischen (Von den heiligen und Aberglaubens« gilt, Anstrich.

64 epoc 01/2008 von Italien aus über ganz Europa. Sie ist eine phi- gepflegt, der das göttliche Wissen der Menschheit losophische Schule, die dem Neuplatonismus na- aus der Zeit vor der Sintflut für spätere Generati- Die wichtigsten hesteht. Die zweite basiert auf der Tabula, ist ori- onen gerettet habe. Erkennen könne es freilich nur hermetischen entalischen Ursprungs und konzentriert sich auf der Eingeweihte. Anfang des 19. Jahrhunderts ent- Schriften die naturwissenschaftlichen, alchemistischen und zifferte Jean-François Champollion (1790 – 1832) die Corpus Hermeticum magischen Aspekte der Lehre. Sie konnte haupt- Hieroglyphen (siehe Beitrag S. 50) Weder er noch Die Textsammlung entstand sächlich nördlich der Alpen Fuß fassen. Die beiden Forscher nach ihm fanden in den bis dahin so ge- zwischen dem 1. Jahrhundert Richtungen sind weit gehend verschieden – ge- heimnisvollen Texten der Ägypter eindeutige Hin- v. Chr. und dem 4. Jahrhundert n. Chr. Sie beinhaltet in 18 grie­ meinsam ist ihnen aber die Berufung auf den weise auf hermetisches Wissen. Die Schwärmer chischen Traktaten das Wissen ägyptischen Magier, der auch ein Religionsverkün- blieben bei ihrem Glauben. um die Welt, ihre Entstehung, der war. ihren und des Menschen Platz Denn auch dies ist ein gemeinsames Merkmal Rätselhafter Baumeister im Kosmos sowie in der gött­ hermetischer Schriften – sie sind Offenbarungen, Mehr noch: Gegen Ende des 19. Jahrhunderts lichen Ordnung. Erhalten sind die aus einer höheren Quelle gespeist werden, schossen »hermetische Bruderschaften« und an- byzantinische Manuskripte aus dem 14. bis 16. Jahrhundert. oder besser: aus der höchsten, nämlich von Gott dere Geheimorden wie Pilze aus dem abendlän- selbst. Freilich sind die Offenbarungen und Ver- dischen Boden – viele bestehen bis zum heutigen Tabula Smaragdina kündigungen des Hermes Trismegistos ganz an- Tag. Wie ein widerlegter Mythos in modernen Die »smaragdene Tafel« ist das ders als etwa die biblischen. Während das Alte und Zeiten noch immer Anhänger hinter sich scharen Fundament der Alchemie sowie Neue Testament Gottes Wort recht klar und ver- kann, wirkt nur bei flüchtigem Blick rätselhaft. hermetischer Magie – und für viele Esoteriker bis in die Ge- gleichsweise unmissverständlich darlegt, spricht »Offenbar befriedigt der Hermetismus das Bedürf- genwart die Essenz göttlicher Hermes fast ausschließlich in Rätseln und Ge- nis nach Transzendenz der Menschen«, sagt Flo- Wahrheit. In dem Zitat aus heimnissen. rian Ebeling. Die Verteidigung esoterischer Lehren dem heute verlorenen Werk Die Textoberfläche ist in dieser Tradition nicht gegen alle Wissenschaft war denkbar einfach. Sie »Geheimnis der Schöpfung« die Wahrheit, denn diese ist immer darunter, stets fußte auf dem Glauben an verborgene Worte hin- (Kitab al-Uluf) des arabischen hinter einem Schleier von Worten verborgen. Es ter den Texten. Genauso gebe es ein oberirdisches Gelehrten Albuzar (787 – 886) sollen alle Phasen des Opus gibt also einen eigentlichen Sinn, der hinter dem Ägypten, jenes der sichtbaren Pyramiden, Tempel Magnum der Alchemisten ent- Geschriebenen und Gesprochenen liegt. Dieser und Schriftzeichen, das sich selbst erkläre – sowie halten sein, also ihres »Großen Gedanke macht den Hermetismus ungeachtet des ein unterirdisches, geheimes, das nur die wirklich Werks«, das wahlweise die Offenbarungscharakters seiner grundlegenden Wissenden erkennen könnten. Herstellung von Gold oder die Texte zu einer Geheimlehre, die nur jenen offen- Da war sie wieder, die Unterscheidung zwi- Entdeckung des Steins der Weisen bedeuten kann. Ihr steht, die eingeweiht werden und den »verbor- schen dem profanen Augenschein und dem ver- erster Lehrsatz ist typisch für genen Pfad« voranschreiten. Diese (Sehn-)Sucht borgenen, wahren Sinn dahinter. Diese Argumen- die geheimnisvolle Hermetik: nach verstecktem Wissen kann mitunter seltsame tation bewies sich zwangsläufig als ziemlich kritik- »Das Untere ist wie das Obere.« Blüten treiben. So galt manchem Hermetiker des resistent. So kam es denn auch, dass Hermes im Eine mögliche Interpretati­ 18. Jahrhunderts Homers »Ilias« als eine geheime Lauf des 20. Jahrhunderts zu einer Art Ingenieur on besagt, dass der Mensch Anleitung zur Herstellung des Steins der Weisen, aus Atlantis wurde, der nicht allein die Pyramiden als Mikrokosmos Abbild der göttlichen Schöpfung ist, des die es nur richtig zu lesen gelte. und die Sphinx erbaut habe, sondern tief darunter Makrokosmos. Dass zu jener Zeit der Gelehrte auch Labyrinthe und Bibliotheken. Gefunden hat (1559 – 1614) bereits das »Corpus Hermeticum« als sie keiner. Ÿ Fälschung entlarvt hatte (siehe Zeitleiste), focht die Geheimniskrämer nicht an. Im 1756 gegründeten Hakan Baykal ist Redakteur bei epoc, esoterischen »Orden der Gold- und Rosenkreuzer« Sebastian Hollstein ist Archäologe und freier etwa wird das Bild von einem Hermes Trismegistos Journalist in Jena.

19. Jh. Order of the Golden 20. Jh. In den zahlreichen Dawn« (hier der Der italienische okkultistischen und Mitbegründer Samuel Philosoph, Esoteri- esoterischen Gruppen, Lidell 1887/88). Die Ab- ker und glühende die in dieser Zeit ent- leger dieser Logen und Faschist Julius Evola stehen, wird das Orden tun dies bis (1898 – 1974) versteht Hermesbild der An- heute ausgesprochen den Hermetismus hänger des Paracelsus kritikresistent. als ein Relikt der vor- und der Alchemisten modernen Welt, die gepflegt – etwa sich den rationalen in der »Hermetic Kriterien unserer Zeit Brotherhood of Luxor« entziehe. (gegründet 1884) oder dem »Hermetic (Quelle: Florian Ebeling, »Das Geheimnis des Hermes Trismegistos«) epoc-magazin.de 65