Feature / Hörspiel / Hintergrund Kultur

Das Feature

Der Alte Fritz

Meine Erinnerungen an Gisela May

Von Ed Stuhler

Produktion: Dlf 2017

Redaktion: Ulrike Bajohr

Sendung: Freitag, 07.07.2017, 20.10-21.00 Uhr

Regie: Anna Panknin

Sprecher

Nele Stuhler

Ed Stuhler

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- unkorrigiertes Exemplar -

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Ansage

Die Schauspielerin, Chansonsängerin und Brecht-Interpretin Gisela May galt ihren Anhängern in aller Welt als kongeniale Interpretin von Brecht-Weill- Songs. Schon 1968 überreichte ihr Maurice Chevalier in Paris dafür den Grand Prix du Disque.

Für andere war sie vor allem die DDR-Staatskünstlerin, die 30 Jahre lang dem angehörte und bis 1992 die „Mutter Courage“ spielte.

Nach der Wende wurde es still um Gisela May. Auch wenn man ihr 2004, zum 80. Geburtstag, noch das Bundesverdienstkreuz verlieh, konnte ein neues, gesamtdeutsches Publikum sie nur noch als „Muddi“ an der Seite Evelin Hamanns in „Adelheid und ihre Mörder“ erleben.

Es gibt viele Erzählungen über „die May“, die im Dezember 2016 starb.

Unser Autor erzählt seine Geschichte mit ihr.

Musik 1 : Gisela May "Der Alte Fritz" (Manfred Schmitz/Ed Stuhler) Refrain

"Es ist kein Witz, der Alte Fritz ist wieder da. Er steht ratz batz am alten Platz, hurra, hurra. Er sitzt verwirrt auf seinem Tier und denkt, was machen die mit mir - na, is egal, ich bin ja wieder hier.

Ansage Der Alte Fritz Meine Erinnerungen an Gisela May Von Ed Stuhler

Ed und Nele Stuhler Hallo Papa. Hallo Nele. Versuch doch erst mal ... wenn wir jetzt sprechen, nicht daran zu denken, was du alles abarbeiten musst, sondern auf meine Fragen zu antworten. 2

Ja. ... Also, woran denkst du denn als Erstes, wenn du an Gisela May denkst? Ich denke an eine Künstlerin, mit der ich fast 35 Jahre zusammengearbeitet habe, ... die ich ganz anders kennen gelernt habe, als sie so in der Öffentlichkeit oft empfunden wurde, nämlich als so die strenge Staatskünstlerin, die rote Soubrette, wie öfter gesagt wurde, die oft als kalt und unnahbar empfunden wurde. Für mich war sie ganz anders. - Sie wurde ja auch oft als schwierig und als kantig empfunden, wahrscheinlich auch von ihren Kollegen. Aber ich hatte ja ein anderes Verhältnis zu ihr; ich kam zu ihr als Autor und sie wollte was von mir und dadurch waren wir von Anfang an in einem sehr engen und freundschaftlichen Verhältnis. Wir haben uns auch sehr schnell geduzt. Bevor ihr euch kennen gelernt habt, wie hättest du so eingeschätzt, was das für ein Mensch ist? Du, ... darüber hab ich mir keine Gedanken gemacht, weil ich ja keine Berührung mit ihr hatte. Ich glaube auch nicht, dass ich je eine Konzert mit ihr gesehen oder gehört hätte. Ich habe sie bei unserer ersten Begegnung, und es blieb immer so, als ausgesprochen warmherzig, offen, klug, großherzig, großzügig empfunden. Und vor allen Dingen, sie hat mich nie hintergangen oder betrogen oder belogen - und das ist deshalb erwähnenswert, weil das in meiner Branche gang und gäbe war. Und dann muss man unbedingt sagen, dass sie sehr humorvoll war, dass sie ... zu Selbstironie imstande war. Sie konnte über sich selber wunderbar lachen.

Erzähler Freitag, den 6.März 1981 Soeben komme ich von Gisela May. Völlig beeindruckt. Eine wunderbare, kluge Frau - sehr natürlich, ohne Stargehabe. Meine Texte… fand sie zauberhaft. Alles richtige Geschichten, sagt sie. Sie hat herzhaft gelacht und alle Pointen verstanden. Hat mir sofort und in bar den "Alten Fritz" abgekauft.

Ed und Nele Stuhler Wie viel hast du dafür bekommen? 300 Ostmark. Das war damals meine Taxe. (lacht) Ist ja nicht so viel. Nee, mehr gab`s nicht. Es gab sicher Leute, die bekannter waren, ich war ... ein junger Autor, da waren 300 Ostmark für ´n Text, das war ansehnlich. Wie habt ihr euch denn kennen gelernt? Wir haben uns 1981 kennen gelernt, im März 1981, da war ich seit zwei Jahren freier Autor. Und es war für mich natürlich eine große Sache ... - es war für mich eine Chance natürlich auch. Sie hatte viele Veranstaltungen und konnte nicht immer wieder die 10 Brecht-Lieder und die 10 Kästner-Lieder und die 10 Tucholsky-Lieder singen. ... Sie brauchte einfach neues Repertoire und sie wollte sich mit dem Hier und Heute beschäftigen, inhaltlich. Und das gab Brecht natürlich nicht her, der war 56 gestorben.

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Musik Gisela May "Der Alte Fritz" (1. Strophe)

Wir könn 's uns leisen, wäre ja gelacht, und hab 'n ihn über Nacht hierher gebracht, Das wäre heutzutage nicht gerecht, denn was er machte, war zum Teil nicht schlecht.

Ed Stuhler Ein Jahr vorher, im Jahre 80, war in ja wieder der Alte Fritz aufgestellt worden, das Denkmal Unter den Linden und zwar im November, wenn ich mich nicht irre. Und ich hatte davon erfahren und hatte ... weil ich das ne ulkige Sache fand ... dass die DDR sich plötzlich auf preußische Traditionen besinnt, ... und hab ... diesen Text ... einfach aus der Tatsache heraus geschrieben, dass ich das bemerkenswert fand.

Musik : Gisela May "Der Alte Fritz" Es ist kein Witz, der Alte Fritz ist wieder da. Er steht ratz batz am alten Platz, hurra, hurra. Er sitzt verwirrt auf seinem Tier und denkt, was machen die mit mir - na, is egal, ich bin ja wieder hier.

Ed und Nele Stuhler Aber warum wurde das dann wieder aufgestellt? Das Berlin-Jubiläum stand vor der Tür, man wollte dem Westen nicht alles überlassen und man hat sich auf die sogenannten positiven Tendenzen des Preußentums besonnen. In Berlin ist ja das Schloss abgerissen worden. Und in dem Zusammenhang sollte auch der Alte Fritz verschwinden. ... Und da fanden sich kluge Leute, die das Ding abgebaut ... und in Potsdam in Sanssouci ... in Kisten verpackt im Park versteckt haben. ...Und dann war man allerdings ... Ende der 70er Jahre, 1980, heilfroh, dass das Ding noch da war und dass man es wieder aufstellen konnte. So ändern sich eben die Zeiten. . Musik : Gisela May "Der Alte Fritz" Und, ach wie schön, direkt vor seinem Bug, da findet statt der große Wachaufzug - und wenn sich dann die Blasmusik entfernt, denkt er, na, wenigstens das hamse nicht verlernt. Es ist kein Witz..

Erzähler Montag, den 22.Juni 1981

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Welturaufführung. Gisela hat den "Alten Fritz" herrlich gemacht, mit der einzigen möglichen Haltung, nämlich fröhlich. Keine Spur von Häme. Einer der seltenen und kurzen Glücksmomente, die dieser Beruf bringt, als sie, im Riesenapplaus nach dem Lied zu mir ins Publikum kam und mir die Hand drückte.

(Beifall) Absage Gisela: Danke schön. Bitte applaudieren sie diesem Herrn da mindestens ebenso wie mir, er hat den Text geschrieben, Ed Stuhler.

Erzähler Frau May zehn Jahre jünger als beim Heine-Abend vorige Woche und brillant im Umgang mit dem Publikum. Sie ist wirklich die Größte!

(Beifall Ende)

Ed und Nele Stuhler Wie waren denn die Reaktionen auf die Texte, die du für Gisela geschrieben hast? Im Gegensatz zu ihren Brecht-Interpretationen vielleicht? Also, sie hat, den "Alten Fritz" immer, viele Jahre, als Schlusslied ihrer Programme oder als Zugabe ...gesungen. Und der "Alte Fritz" war immer der absolute Hammer. Natürlich war sie gewohnt, dass die Leute sie gefeiert haben, das war für sie nichts Neues, in der Welt, überall. Natürlich gab's fast immer Standing Ovations. Aber das war zum Schluss, weißt du? Diese Brechtlieder, Seeräuber Jenny, das sind ja nicht Dinge, die sie jeden Tag erleben, das ist natürlich weit weg und das ist auch zeitlich weit weg gewesen. Aber das, was sie erlebt haben und wo sie drüber gelacht haben, das war natürlich in der verkrusteten DDR - auf einmal besinnen die sich auf das Preußentum! Das haben die Leute gejubelt. Da hat sie erlebt, dass Lieder auch ganz anders funktionieren können.

Musik : Gisela May "Dass man braucht, was ich tu" (Thomas Natschinski/Ed Stuhler) Natürlich, ich liebe das Leben. ich mach mir`s so schön wie es geht, ich habe doch nur dieses eine, und einmal ist alles zu spät. Ich kenne Erfolg und Enttäuschung, da geb ich die Hoffnung nie auf, ich kenne die Schöpferqualen und nehme sie gerne in Kauf, denn, was für mich wirklich zählt, ist, dass man braucht was ich tu… (unter folg. Text)

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Erzähler Donnerstag, den 28.Oktober 1982 Gestern Abend mit Thomas Natschinski bei Gisela May. Seine Vertonung von "Dass man braucht, was ich tu" entspricht genau unseren Vorstellungen. In ihrem kleinen gemütlichen Musik- und Probenzimmer unterm Dach am Klavier gearbeitet. Große Übereinstimmung. Text, Musik und die Stimme von Gisela harmonieren ideal.

(Musik oben aus)

Ed und Nele Stuhler Wie sah denn die Wohnung überhaupt aus? Gisela wohnte in der Friedrichstraße. Es gab eine Arbeitszimmer, ein Büro sozusagen, sie hatte ja immer eine Sekretärin, es gab ein wunderschönes Wohnzimmer, es gab eine Küche, es gab, glaub ich, noch ein Gästezimmer und ne Toilette natürlich, wo immer Kreuzworträtsel lagen. (lacht) Die hat sie da gelöst, auf Klo? Offensichtlich, ja. Als ich das erste Mal zu ihr kam, stand unten am Briefkasten zu meiner Verwunderung nicht May, ich musste mich orientieren, sondern da stand Honigmann. Sie hieß ja Gisela Honigmann und nicht Gisela May, das ist ja ihr Mädchenname, den sie als Künstlernamen beibehalten hat und alle amtliche Post kam natürlich unter ihrem Namen, der im Personalausweis stand.

(Musik)

Erzähler Dienstag, den 21.April 1981 Wieder bei Gisela May. Die Wohnung war wieder völlig überheizt, mir klebte das Hemd am Rücken. Sie hat eine Schilddrüsenunterfunktion und friert deshalb immer. Es gibt mehrere Katzen und so riecht es auch. Sie füttert auch die wilden Katzen vorm Haus, worüber die Nachbarn nicht begeistert sind. Die neuen Texte gefallen ihr. "Ich bin allein" hat sie wieder sofort bezahlt.

Ed Stuhler Ja, und dieses Zimmer, in dem wir immer saßen, da standen auch alle ihre Preise und Trophäen auf einem niedrigen Schrank, da stand ein Katzenbaum, ein Riesending, den sie aus `m Westen per Hand mitgeschleppt hatte - sowas gab`s im Osten nicht. Und dann standen da ihre Bücherregale und ihre Schallplattensammlungen. ... Ich saß immer auf dem Sofa, es gab immer Tee, und sie saß immer rechts von mir in ihrem Lieblingssessel. Und auf diesem Sofa haben ganz, ganz viele berühmte Leute gesessen im Laufe der Jahre: Da saß Kästner, da saß die Elisabeth Hauptmann, da saßen ihre berühmten BE-Schauspielerkollegen, da saßen ihre Komponisten und Pianisten, also da hat die halbe Welt stattgefunden auf diesem Sofa. (lacht)

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Musik Gisela May "Ich bin allein" (Thomas Natschinski/Ed Stuhler)

Der letzte Akt vom schlechten Stück, er ging davon, ich blieb zurück, seit diesem Tag bin ich allein, bin ich allein. Und keine Träne, die da floss, und keine Tür fiel hart ins Schloss, ich sagte nur endgültig nein und blieb allein.

Ed und Nele Stuhler Du hast ja die Wohnung beschrieben, das heißt, sie hat alleine gelebt, auf jeden Fall, seit du sie kennst. Hat sie denn nach dem Honigmann immer allein gelebt, oder? Nee, sie hatte dann nochmal ein jahrelanges Verhältnis mit Wolfgang Harich. Wolfgang Harich war ein, man würde heute sagen, Dissident, ein DDR-kritischer Mensch. Wolfgang Harich hat versucht Brecht zu beeinflussen, mit verschiedenen anderen Leuten zusammen, mit Walter Janka, und mit verschiedenen Künstlern und Intellektuellen, das war so `ne Art Verschwörung, um Walter Ulbricht zu stürzen. Und das ist ans Tageslicht gekommen, durch die Stasi. Und er war im Gefängnis, ... war eingesperrt viele Jahre.

(Knopfdruck für historische Aufnahme)

Gisela May und Ed Stuhler Kanntest du ihn vorher schon? Ich kannte ihn nicht. Persönlich nicht. Ich wusste nur von der ganzen Sache und las das ja auch in der Presse. ... Und nachdem er dann aus der Haft ... mit einer Amnestie entlassen war, kam er ins Berliner Ensemble, und Manfred Wekwerth machte eine Durchsage durch die Garderoben: Heute Abend ist Wolfgang Harich bei uns in der Vorstellung. Endlich ist er wieder frei und wir möchten alle nach der Vorstellung mit ihm unten in der Kantine zusammensitzen. Und das taten wir. Und es war ein sehr zauberhaftes Gespräch und sehr heiter und lustig und unbeschwert. Und dann kam ein erster Januar, an dem ich meiner Wohnungsnachbarin, Elisabeth Hauptmann, sie war ja auch Mitarbeiterin von Brecht, zeitweise Geliebte von Brecht, wollte ich ihr zum Neuen Jahr gratulieren, weil wir uns als Nachbarn hier im Haus sehr mochten. Und ich klingelte an der Tür und es öffnete Wolfgang Harich. Und als dann wieder die nächsten Gäste zum Gratulieren kamen, sagte ich dann zu Harich, aber wenn sie wollen, ich wohne ja direkt gegenüber, kommen sie noch einen Moment zu mir rüber, trinken wir noch einen Tee zusammen. Ja, gerne, gerne, Er kam, sah und blieb. Und das waren dann in etwa neun Jahre.

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Ed Stuhler Das war ihr zweiter Partner, der allerdings, wie sie erzählt, auch durch die Gefängnisjahre, das Gefühl hatte, sehr viel nachholen zu müssen und immer irgendwelche Weibergeschichten hatte. Sie hat das bis zu einem gewissen Grade ertragen, aber dann haben sie sich doch getrennt. Und von den Augenblick an hat sie allein gelebt. Und hat glücklich allein gelebt, so wie sie`s mir geschildert hat. Ich hab ja auch ein Lied für sie geschrieben, das heißt "Ich bin allein", das ist ja auf Grund ihrer Erzählungen entstanden.

Musik Gisela May: "Ich bin allein" Die Freunde haben wieder Zeit, die fortgeblieben waren, seit ich dich vor Jahren kühn gefreit, ich bin allein. Die Feste machen wieder Spaß, seitdem es nicht mehr vorkommt, dass mich einer nervt nach jedem Glas, ich bin allein.

(Knopfdruck für historische Aufnahme)

Gisela May und Ed Stuhler Ed: Ich habe neulich im Fernsehen ein Spiegelinterview gesehen mit Heidi Kabel, und da sagt sie, dass sie das Alleinsein sehr genießt. Ich glaube, da ist sie dir recht ähnlich, nicht?

Ja. ... Ich muss ehrlich sagen, zum Beginn, als Wolfgang Harich und ich, als wir uns getrennt hatten, hatte ich Bedenken und große Angst, allein zu sein. Aber dann hat es sich in kurzer Zeit ergeben, dass dieses Alleinsein auch große Vorteile hat. Man kann so wunderbar egoistisch mit sich umgehen. ... Also man kann seinen Tag so einteilen, wie es für einen selbst am besten ist. Langeweile kenne ich nicht, ich habe wahnsinnig viel zu tun. Und auch wenn ich dann meine berufliche Arbeit erledigt hab, habe ich zu lesen, habe ich Musik zu hören, habe ich meine Tiere, meine Katzen, mit denen ich mich beschäftige. Die Natur ist für mich ein ganz großer Moment, ein Kraftquell, denn im Beruf bin ich ja immer von Menschen umgeben, ich bin immer von Menschen umgeben und ich genieße es wenn ich dann wirklich stumm alleine sein kann.

Musik Gisela May: "Ich bin allein" Seit diesem Tag fehlt mir kein Mann. Ich ziehe was ich möchte an, ich lache wenn ich muss und kann, ich bin allein. Ich halte mir ein Katzentier, 8 ich spiele in der Nacht Klavier. Was mir gefällt, das leist`ich mir ich bin allein.

Ed Stuhler Gisela May, es wird viele verwundern, wenn ich das jetzt sage, war eigentlich nicht politisch. Sie war an Themen interessiert, die schon mit dem Hier und Heute zu tun haben, aber mit dem kleinen politischen Geschehen in der DDR hatte sie nicht viel am Hut. Sie stand mit beiden Beinen fest auf deutschem DDR-Boden, aber mit dem Kopf war sie in der Welt. Dieser ganze Klein-Klein-Kram hier, das war ihr eigentlich ziemlich egal. Es gab ein Thema, das sie brennend interessierte, und das war der Frieden in der Welt. Das kommt aus ihrem Erleben. Sie ist ja Jahrgang 24, sie hat den Krieg erlebt, sie hat ihren Bruder verloren, sie hätte fast ihren Vater verloren. Sie hat alle ihre Freunde im Krieg verloren und das war für sie so ein einschneidendes Erlebnis, dass ihr das Thema Frieden, Weltfrieden, Völkerverständigung, dass ihr das sehr, sehr, sehr am Herzen lag.

(Knopfdruck für historische Aufnahme)

Gisela May und Ed Stuhler Du hast mir mal erzählt, dass du zu der Zeit Tagebuch geführt hast. Dieses Tagebuchführen. war meistens doch mehr ein lyrischer Erguss, der aus einem jungen Mädchenherz kam als dass ich jetzt, z. B. wenn wir also mal ganz weit vorgreifen, an Brecht denken, in seinen Notaten, der ja viel mehr die einzelnen Fakten notiert hat, was passiert war an einem Tag, das war bei mir überhaupt nicht. Sondern ich habe eben nur Empfindungen und Gedanken und Wünsche oder auch Verletzungen da hineingeschrieben. Und dann höchstens mit einem ganz kleinen Kürzel dann noch den Namen, um den es sich dann drehte, hinzugefügt. Aber es ist schon… eine Seite, da steht, ich bin umgeben von Toten. Das war die Zeit, als mein Bruder 1942 im Krieg geblieben ist und wiederum sein Freundeskreis, das waren ja alles Gleichaltrige mit meinem Bruder, immer wieder eine neue Todesnachricht kam und noch eine.

(auf Musik)

Zitatorin Gisela 24.März 1943 Tod, was ist denn das überhaupt? Nicht mehr sein, nicht mehr atmen, nicht mehr sehen + denken + lachen + weinen + fühlen + nie wiederkommen. Tod. Nie wiederkommen, nie, nie. Wie soll ich das jemals fassen. So irrsinnig ist das alles. Du warst so jung, so überströmend von Leben. 9

23.März 1944 Das Rad ist weitergerollt. Nun ist auch unser Christian davon erfasst worden. Die Musik und seine Genialität haben ihn nicht zu schützen vermocht. Mitten in dem aufbrechenden Frühling kam der Tod zu Dir. Das Grauen wächst. Ich bin umgeben von Toten Freunden.

14.November 1944 Ulrichs Geburtstag. Mein lieber Ulrich, heute hast Du nun Geburtstag. Ich denke an diese Tage unserer gemeinsamen Kindheit und denke an Dich mit der ganzen Kraft meines Herzens. Aber auch das zaubert Dich nicht mehr zurück. - Ach, wenn es wenigstens noch einen Sinn gehabt hätte, dieses Sterben!

Musik Gisela May "Lasst uns die Warnungen erneuern" (Manfred Schmitz/Gisela May) Angeregt durch einen Ausspruch von Brecht möchte ich Ihnen meine Gedanken dazu sagen, unterstützt durch die Musik von Manfred Schmitz.

Lasst uns die Warnungen erneuern, mahnte vor Jahren der weise Bert Brecht,aber so machen Politikern passte das Dichterwort schlchet ... (im folgenden Text ausblenden)

Ed Stuhler Sie hat dann auch selber ... ein Lied geschrieben, das hieß. "Lass uns die Warnungen erneuern" ... es ist auch der einzige Text, den sie selbst geschrieben hat. Das hat sie mir gegeben, weil sie sich ... dessen bewusst war, dass sie keine große Texterin ist. Und ich hab dann auch das Werk bis zur Unkenntlichkeit verändert, neue Strophen geschrieben, neuen Refrain geschrieben, hab ´s aber unter ihrem Namen gelassen.

Musik: Gisela May "Lasst uns die Warnungen erneuern"

Wir sagen no, nein, njet, der Chor der Stimmen steigt, es ruft in allen Sprachen: Weg mit dem Teufelszeug! (Beifall)

Musik : Erkennungsmelodie Pfundgrube

Ed Stuhler Ja, und dann kam die Zeit der Pfundgrube, wo Gisela May eine eigene Sendung im Fernsehen kriegte, Pfundgrube, mit PF geschrieben.

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Das Konzept war so, dass es in jeder Sendung einen internationalen Star gab. In der ersten Sendung war Katja Epstein. Und Gisela May sang in jeder Sendung auch ein Lied, und zwar immer was Eigenes; was Neues. Und die Sachen habe ich zum Teil geschrieben. Da wurde auch das erste Mal dann tatsächlich "Der Alte Fritz" ... gesendet

(Musik „Pfundgrube“ hoch und weg)

20 Ed und Nele Stuhler Gabs denn auch bei Gisela manchmal Skrupel, Texte zu singen von Dir? Nee, Gisela stand über den Dingen. ... Skrupel waren bei den Medien. Der Alte Fritz lag 5/6 Jahre im Giftschrank und durfte nicht gesendet werden. Erst als sie die Pfundgrube, ihre ... eigene Sendung angefangen hat, hat sie`s durchgesetzt, also öffentlich hat sie`s ja immer gesungen. Da gab`s keinen in der DDR, der zu ihr gesagt hätte, Frau May, das dürfen sie nicht singen. Da war sie zu souverän, da war sie zu sehr Weltstar, zu sehr unabhängig. Überhaupt, was ihr Verhältnis zu den Mächtigen dieses Landes betraf, da hatte ich eine völlig falsche Vorstellung. Ich dachte, da sie ja so ein Weltstar ist und da sie über den Dingen stand und da sie ja offensichtlich ungehindert in den Westen fahren konnte, was wir ja alle nicht durften, dachte ich, sie würde im engen Kontakt stehen mit den Großkopfeten, mit Erich Honecker oder mit Margot Honecker oder mit den Leuten in der Kulturabteilung des ZK der SED oder im Kulturministerium. Später habe ich erfahren, dass das überhaupt nicht so war. Aber das heißt, ... wenn Gisela so über den Dingen stand, dass sie andere Sachen machen konnte, dass du für sie andere Texte schreiben konntest als für andere Leute? Ja, ich habe geschrieben, ... was ich glaubte, was die Leute interessiert, das war mir völlig egal, ob das produziert wird oder nicht. Natürlich hatte das finanzielle Folgen, es wurde ja erst interessant, finanziell interessant, wenn`s im Rundfunk produziert und gesendet wurde. Und möglichst oft.

Musik Ausschnitt „Pfundgrube“ vom 20.1.85 "Clärchens Ballhaus" (Manfred Schmitz/Ed Stuhler) Ansage Gisela: Vielleicht erinnert sich noch einer an mein Chanson vom Alten Fritz. ... Und derselbe Autor hat nun wieder ein altes Stück Berlin ausgekramt und zwar ein Tanzlokal, das gibt`s nur einmal. Komm`se doch mal mit in Clärchens Ballhaus.

Jeden Mittwoch bändigt Bärbel ihre Locken, und dann sieht man sie zur Auguststraße socken, denn da ist ein Lokal, das gibt es nur einmal. Sie trägt ein Kleid aus großgeblümter Seide, unternehmungslustig funkelt ihr Geschmeide,

11 denn heute ist der Tag, den sie am liebsten mag. In Clärchens Ballhaus ist heut verkehrter Ball, da sind die Damen das Wichtigste im Saal ... (ausblenden)

(Knopfdruck für historische Aufnahme)

Gisela May Das war eine Sendereihe, die ich sehr gerne hatte und die ich gern gemacht hab. Ich hatte kurz vorher eine Art Drehbuch bekommen für eine derartige Sendung und konnte es nicht fassen und las: die Fragen des Interviewers und die Antworten waren auch schon vorbereitet. Und meine Kollegen haben das wirklich auswendig gelernt, und ich habe gesagt: Ich kann es nur machen, wenn ich vollkommen freie Hand habe, sowohl was die Interpreten anbetrifft und was die Gespräche anbetrifft. Also, ich glaube, es war die erste Sendung des DDR-Fernsehens, in dem eine Art Talkshow ... ohne vorgeschriebenes Manuskript ablief.

Ed und Nele Stuhler Welche Projekte habt ihr denn zusammen entwickelt? Wir waren uns sehr schnell einig, dass wir ne Platte machen wollten und Amiga war damit auch einverstanden, sie hatte ja natürlich einen guten Stand bei Amiga. Und komponieren sollte Arndt Bause, der damals sehr bekannte, eigentlich Schlagerkomponist, der aber auch so in Richtung Chanson so einiges gemacht hatte. Und aus irgendeinem Grunde hat Bause sich dann zurückgezogen.

(auf Musik)

Erzähler Montag, 14.November 1983 Mit Gisela in Dresden. "Homage an Marlene" im Kulturpalast. Endlich ausreichend Zeit zu reden. Schlägt vor, die Schallplatte zusammen mit Michael Heltau zu machen.

Ed und Nele Stuhler Und da haben wir zwei oder drei Tage lang gequatscht - ich hab da noch die Aufzeichnungen, ich hab ja immer mitgeschrieben - was der Inhalt der Platte sein sollte, welche Lieder, welche Themen usw. Und. im Ergebnis dieses Treffens sind zehn oder elf Lieder entstanden. Und dann ist sie auf Heltau gekommen.

(Knopfdruck für historische Aufnahme)

Gisela May und Ed Stuhler Michael Heltau habe ich kennengelernt, weil er eine wiederum so ähnliche Sendung hatte wie ich die „Pfundgrube“, so hatte er eine Sendung, die hieß „Liederzirkus“. 12

Und da lud er sich immer dann bekannte Interpreten ein. Und unter anderem auch mich für eine Folge. Wir haben uns blendend verstanden. Dann lud ich ihn wieder ein in meine Sendung. Und immer wieder haben wir uns getroffen und.... standen sehr, sehr gut miteinander.

Ed Stuhler Und der Heltau kam auf die Idee, ach Mensch, nur Lieder, können wir da nicht Sketche zwischen machen oder irgendwas Verbindendes oder so was. ... Und dann kamen wir zusammen im Gespräch auf die Idee, als Rahmenhandlung einen Hochzeitstag zu nehmen, ...das letzte Kind hat das Haus verlassen - und es ist der erste Hochzeitstag, wo sie allein sind. So, und die Frage war nun, wer komponiert? Und da waren alle möglichen Leute ... im Gespräch. Und da war sie in Paris, hat da ein Konzert gemacht, und da kam hinterher ein Mann in ihre Garderobe, der sich vorstellte, er hieße Norbert Glanzberg, und er wäre ein deutscher Jude, ausgewandert, Komponist, und er würde gern, dass sie seine Lieder singt.

Musik : Edith Piaf "Padam" (Komponist: Glanzberg/unter den beiden folgenden Texten laufen lassen, dann aufblenden)

(Knopfdruck für historische Aufnahme)

Gisela May Als er da nach meinem Konzert zu mir an die Garderobe kam und wirklich so ganz schüchtern und sagte: Ich hab hier einige Texte, vielleicht interessiert Sie das. Und ich war auch verhältnismäßig, nicht zurückweisend, aber ich habe ja oft auch nach Konzerten Leute, die dann irgendwas wollen oder – da muss man auch vorsichtig sein, dass man da nicht sofort sich einlässt.

Ed Stuhler Aber es stellte sich sehr schnell heraus, dass dieser Norbert Glanzberg ein hochinteressanter Mann ist, einer dieser UFA-Komponisten, neben Holländer und was weeß ich, vielen Leuten. Und dann kam die Nazizeit und er kam aus Babelsberg nach Hause, ... von irgendwelchen Tonaufnahmen, und da stand seine Zimmerwirtin am Bahnhof und sagte, gehen sie nicht nach Hause, die Gestapo steht vor ihrer Tür. Und da ist er in den nächsten Zug gestiegen und nach Paris gefahren, ins Exil ... Und hat dort sich mühsam durchgeschlagen, bis er so es einigermaßen geschafft hatte. Und hat dann für viele, für Maurice Chevalier, und die Leute, damals bekannt waren, Chansons geschrieben, und auch für Edith Piaf. Und Edith Piaf hat ihn dann auch über die Nazizeit gebracht. Edith Piaf hat ihn versteckt und hat ihn mit Lebensmitteln und Lebensmittelmarken versorgt.

Musik (Padam) aufblenden und Schluss 13

Ed und Nele Stuhler Er hat das dann vertont, du warst auch in Paris dafür? Genau, ich war in Paris. Ich war zuerst in Wien, um mit Heltau zu sprechen, der sich mit mir über die Texte unterhalten wollte und ein paar Änderungswünsche hatte, ... das war für mich ne große Chance und dafür bin ich Gisela ewig dankbar, dass ich auf diese Art und Weise nach Wien und nach Paris gekommen bin - im Jahre 86!

Musik: Gisela May und Norbert Glanzberg "Weißt du noch?" (Norbert Glanzberg/Ed Stuhler)

Gisela (sagt an): Weißt du noch

(singt) Weißt du noch

Weißt du noch, weißt du noch, wie wir angefangen haben unser winzigkleines Zimmer, hoch unterm Dach.

Weißt du noch, weißt du noch, wie wir uns gestritten haben und wie wehrlos wir uns liebten, nach jedem Krach ...

Gisela May Leider ist es dann nicht zu einer ganz engen Zusammenarbeit gekommen, ein Werk von Norbert Glanzberg mit den Texten von Ed Stuhler, der mir gegenübersitzt. Und da waren auch schon viele Lieder geschrieben worden, wunderschöne Lieder. Und immer, wenn ich mit Norbert Glanzberg telefoniere, sagt er: Warum ist das damals nichts geworden?

Aber da waren eben die Grenzen dazwischen. Das wäre so kompliziert gewesen; er lebte in Wien, ich lebte in Berlin, schon zu Proben hätten wir uns kaum treffen können, wann , wo hätten wir probieren können? Einen Auftrittsort, wo hätten wir den finden können? Wir hatten dann, da wir beide auch solistisch noch immer so viel zu tun hatten, war es ja auch keine Notwendigkeit, das zu machen. Wir hätten es sehr gern getan, auch schon um dem Norbert Glanzberg ne Freude zu machen. Aber es ist eben nicht geworden.

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Ed und Nele Stuhler Was habt ihr denn noch zusammen gemacht? Mikis Theodorakis war sehr interessiert, mit ihr zusammenzuarbeiten, er wollte gern, dass sie seine Lieder singt.

Musik Mikis Theodorakis

Ed und Nele Stuhler Und er kam nach Berlin, das war 87/88: Da wurde eine Bühne aufgebaut auf dem Rosa-Luxemburg-Platz, da gab es ein Riesenkonzert, das er dirigierte. ... Und da gab es hinterher im Kino Babylon, da ist so `ne kleine Kantine drin, einen Empfang, da waren die ganzen Kulturfunktionäre der DDR versammelt, die auch alle mal Mikis Theodorakis kennen lernen wollten. Und da hatte ich von Gisela den Auftrag, mich mit ihm zu unterhalten, was die Rechte betrifft, was die Nachdichtungen betrifft, denn das sollte `ne Platte werden. Ich hatte einen guten Bekannten, einen Griechen, der hier in der DDR lebte, der hat die Rohübersetzungen gemacht und dann hab ich an Hand der Rohübersetzungen ... die Nachdichtungen gemacht.

Musik Gisela May "Anatolien" (Mikis Theodorakis/Ed Stuhler)

Flatterhafter Vogel, flogst in meinen Traum. kamst wohl aus dem Osten, aus dem dunklen Raum. Kamst wohl aus dem Osten, aus dem dunklen Raum, flatterhafter Vogel, flogst in keinen Traum. Anatoli, so hat man dich genannt, was warst du einst ein göttlich heit'res Land ...

Ed und Nele Stuhler Und das ist dann auch eine LP geworden, die leider nicht sehr toll ist, muss ich sagen, weil Gisela, ehrlich gesagt, mit den Liedern nichts anfangen konnte. Sie hat zu mir gesagt, Ed, ich kann die Dinger gar nicht auseinanderhalten. Da ist ja eins wie das andere! Sie konnte, diese Melodien, die sich wirklich ähnlich sind, Theodorakis, das ist immer ... dieses Syrtaki-Dingens - und sie konnte die nicht auseinanderhalten. Also es war nicht ihr Lieblingsprojekt.

Ed und Nele Stuhler Alles was du bis jetzt erzählt hast, war ja bis 89 ... Sozusagen, ja. Wie war denn euer Kontakt danach? Ja, 89 kam die Wende, und wie die meisten DDR-Künstler fielen wir in ein großes Loch, auch Gisela May, die aus dem Brecht-Theater 1992 entlassen wurde. Nach 30

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Jahren Brecht-Theater, nach 15 Jahren "Mutter Courage". Das hat sie sehr, sehr, sehr schwer getroffen.

(Knopfdruck für historische Aufnahme)

Gisela May und Ed Stuhler Welche beruflichen Auswirkungen hatte die Wende für dich? Dass das Berliner Ensemble Wekwerth absetzte als Intendant. Und es wurde dann ein Fünfergremium eingesetzt, fünf Intendanten, die sich alle untereinander eigentlich gar nicht mochten und auch gar nicht verstanden. Der erste ging dann bereits nach einem Jahr, trennte sich, das war Matthias Langhoff, zog sich nach Paris zurück. Und dann ging der nächste, das war dann der Zadek. Und so wurden das dann immer weniger. Und einer von den fünfen hat dann aber mir gesagt, sie hätten keine Verwendung mehr, sie hätten keine Aufgaben mehr für mich und man möchte das Engagement beenden. Zunächst erschien es nicht so schlimm, weil man mir sagte, sie wollen die „Dreigroschenoper“ herausbringen, und ich würde dann die Frau Peachum spielen. Und dann würde man mit mir einen Stückvertrag machen. ...Und da hab ich gesagt, ja, das ist mir sogar ganz recht, denn ich hab ja viele weitere Verpflichtungen. Aber sie wussten damals nicht, dass die „Dreigroschenoper“ bereits ans Deutsche Theater, die Rechte, vergeben waren und die „Dreigroschenoper“ gar nicht vom BE aufgeführt werden konnte. Und hatten sie gar keine Aufgabe mehr für mich. Und dann haben sie gesagt, also dann müssen wir uns jetzt trennen, sie sind ja inzwischen auch Rentnerin geworden. Ich dachte, das kann nicht sein. Sowas ist unmöglich. Aber nun waren die neuen Gesetze da und ich musste das akzeptieren. Und wenn mir nicht irgendein Kollege. aus dem Westen wenigstens den Tipp gegeben hätte, du kannst aber dann wenigstens eine Abfindung verlangen, wäre ich nicht mal auf die Idee gekommen. Denn das kannte man in der DDR nicht, Abfindung.

Musik : Gisela May "Lied der Mutter Courage" (/Paul Dessau)

Gisela May Ich hatte dann noch eine Abschiedsvorstellung. Und diese Aufführung war überwältigend, sowohl was das Publikum anbetraf, es war ein ausverkauftes Haus. Und wir auf der Bühne waren sehr bewegt am Ende der Vorstellung. ... Und es kam ein großer Jubel vom Publikum. Und dann kamen die ersten Taschentücher. Man sah unten im Zuschauerraum wie jemand ein Taschentuch nahm, wie die Leute aufstanden und uns stehend applaudierten. Und dann fingen wir auf der Bühne an bei dem ganzen Vorhang auf, Vorhang zu, Vorhang auf, Vorhang zu, plötzlich fing die eine an, liefen ihr Tränen runter und dann die andere. Es war also, es war unbeschreiblich. Aber es war ein Zusammensein zwischen Bühne und Publikum, was ich nie wieder erlebt habe. Als würde ich jeden einzelnen persönlich kennen, ... als 16 würde jeder da unten eigentlich ein Freund von mir sein. Und das war wunderbar. Und dann ging ich in die Garderobe, um mich abzuschminken. Und da stand die Maskenbildnerin und weinte, umarmte mich. Und dann die Ankleiderin weinte, umarmte mich. Und so waren wir alle sehr bewegt, glücklich bewegt. Und dann ging ich in die Kantine, in die berühmte Kantine, mit einem Arm voll Blumen, und es waren einige Freunde, die mich erwarteten. Und sie applaudierten. Und einer dieser fünf Herren saß an einem Tisch vor einem Glas Bier. Und ich ging an ihm vorbei. Und er hob nicht einmal den Kopf. Und ich ärgere mich heute noch, dass ich ihm keine geknallt habe. Das war der Abschied vom Berliner Ensemble.

(Musik)

Erzähler Mittwoch, 5.Oktober 1994 Mit Nele bei Gisela. Haben uns bestimmt drei Jahre nicht gesehen. Zauberhaft wie immer. Gealtert, klar. Kräftig geschminkt. Was könnte man zusammen machen? Lieder sinnlos. Will keiner. Theater, was, wo? Fernsehen? Was? Glanzberg ruft an, ist sehr krank. Patricia Kaas soll jetzt die Lieder singen.

Erzähler 27.Oktober 1994 Stückidee für Gisela: Monolog des alternden Stars, der von vorn anfangen muss. Die Karten werden neu gemischt - die Patience-Idee.

Erzähler 24.November 1994 Mit Nele bei Gisela. Erzählt, wie sie neulich bei Ekkehard Schall saß, der auf einen Anruf wartete. Einen Anruf aus Hollywood! Jedes Mal wenn das Telefon klingelt: Drück mir die Daumen, Gisela! Und dann war`s bloß: Ihr Auto ist fertig. Stückidee vorgestellt. Autobiografisches will sie nicht. Politische Ursache für den Neuanfang auch nicht. Eigentlich möchte sie gar nicht. Andererseits will sie ja doch und entwickelt Ideen. Aber unter mangelndem Selbstbewusstsein leidet sie nicht: Alle Genies sind Linkshänder, sagt sie ohne jeden ironischen Unterton.

(Musik)

Ed und Nele Stuhler Sie hatte auch den Mut verloren in dieser Zeit. Ich hatte ja damals zwei Monologstücke für Peter Bause geschrieben, die ja gut gelaufen sind, jahrelang, immer ausverkauft. Und ich hatte ihr angeboten, für sie ein Monologstück zu schreiben. Das hab ich auch teilweise geschrieben, das Stück hieß "Zwielicht".

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Aber sie hatte nicht den Mut, das auf die Bühne zu bringen. Sie hat gesagt, ah, da muss ich bei den Theatern betteln, und dann kommen die Leute nicht und dann hab ich diesen psychischen Druck, dass das nicht funktioniert. Und dann bin ich dir gegenüber so verpflichtet. Und Lieder, das interessiert doch keinen mehr. Es war tatsächlich so. Es interessierte keinen mehr! Es war die Zeit, wo sich die Grenzen geöffnet hatten und die Leute erst mal alle Westkünstler genießen wollten und alles, was bei uns ansässig war, hatte keinen Wert mehr.

(Musik)

Erzähler Freitag, 15.Januar 1999 Anruf Gisela. Ist bereit, das Feature für den Rundfunk zu machen. Mitte März, nach dem Urlaub, können wir anfangen. Soll schon zu ihrem 75. Geburtstag (am 31. Mai) gesendet werden.

Ed und Nele Stuhler Wie war das damals für Gisela, noch einmal ihr Leben mit dir zu reflektieren. Ist da viel wieder hochgekommen. Ja, sie war sehr, sehr ehrlich. Sie hat mir Dinge erzählt, die sie vorher nie erzählt hat. Zum Beispiel, wie ihre Ehe mit Georg Honigmann auseinandergegangen ist.

(Knopfdruck für historische Aufnahme)

Gisela May Das war eine große Liebe. Georg war 25 Jahre älter als ich. Aber es spielte gar keine Rolle. Ich reiste ja nun immer in die Länder, wo also der Luxus und die Lichtreklame, und ich wurde vergöttert und verehrt und bewundert. Und dann kam ich zurück, in den grauen Alltag. Alles war schwierig. Und so wurde das dann immer, immer trister zwischen uns. Und dann kamen andere Beziehungen, wo etwas neu aufflammte. Und man dachte, das ist es. Und so ging dann das leider, leider auseinander.

Ed Stuhler Sie hat auch das Interview an mehreren Stellen unterbrochen und hat gesagt, Ed, das kann ich jetzt nicht ins Mikrofon erzählen, mach mal das Gerät aus. Ich hab sie gefragt, wie der Wechsel war am BE, als Helene Weigel als Intendantin starb, wie der Übergang war, wie sie den erlebt hat: Also eigentlich war vorgesehen, dass Ekkehard Schall als Kronprinz die Nachfolge antreten sollte. Aber Ekkehard Schall war nicht in der Partei und das ging nicht. Also wurde Ruth Berghaus, die Gattin von Paul Dessau, als Intendantin installiert, weil man sie für eine schwache. leicht zu beeinflussende Person hielt. Weigel und Brecht ließen sich nichts sagen, ... die nahmen keine Befehle vom Politbüro entgegen. Und da hat man die Ruth Berghaus

18 installiert und es stellte sich dann aber sehr schnell heraus, dass das eine sehr starke Persönlichkeit war, die sich also auch nichts sagen ließ. Aber warum wollte sie das nicht ins Mikrofon sagen? Zu der Zeit wollte sie das nicht öffentlich haben. Sie hat`s auch so gesagt, du, die leben alle noch, das kann ich jetzt so nicht sagen.

(Musik)

Erzähler Freitag, 26.März 1999 Die Gespräche mit Gisela beendet. Bin sehr zufrieden. Sie hat mir Fragen beantwortet, für die sie jeden anderen zum Teufel gejagt hätte. Mein Konzept sollte sein, den Menschen, die Frau Gisela May zu zeigen Die Frau, die geliebt und gelitten hat, die nach zwei Fehlgeburten keine Kinder kriegen sollte.

Zitatorin Gisela 24.Januar 1947 Schon bis in meine Träume hinein verfolgt mich diese Sehnsucht, die ich nicht auszusprechen wage - dies Verlangen, das mich so süß durchdrungen hat - der Wunsch nach einem Kind. Nach einem süßen, kleinen Wesen, das ganz mein eigen ist.

Musik Gisela May "Das Lied von der Unzulänglichkeit menschlichen Strebens" (Bertolt Brecht/)

Ed und Nele Stuhler Sie war ja immer auf der Suche nach neuen Programmen, sie musste sich ja immer was Neues ausdenken. Und dann ist ein Buch herausgekommen der Briefwechsel zwischen Kurt Weill und Lotte Lenya. Und das hat sie in die Finger bekommen und hatte die Idee, daraus einen Weill-Abend zu machen, der bestehen sollte, aus den Liedern von Kurt Weill, aus Stellen aus dem Briefwechsel und aus persönlichen Erlebnissen aus ihrem Leben. Und hat sich drangemacht, dieses Programm zu schreiben. Und hat gemerkt, dass sie damit nicht klarkommt. Und da hat sie mich angerufen hat mich gebeten, ihr das zu schreiben. Und da hab ich sozusagen Dramaturgenarbeit gemacht, hab die Briefstellen rausgesucht und die Lieder und an welchen Stellen sie aus ihrem Leben erzählt und die Abfolge und die Lieder passend zu den Briefstellen., Das war ein sehr schönes Programm, die Premiere war in Düsseldorf.

Zitator Gisela März 2000 Lieber Ed,

19 die Premiere in der Tonhalle Düsseldorf war ein Riesenerfolg. Unser Konzept: "Song - Lesung - Eigenerlebtes" ging wunderbar auf. Ich war in glänzender Form, was man ja, was die Gesundheit anbetrifft, nie vorher genau voraussagen kann. Bin mit Weill immerzu unterwegs, gestern aus Bremen zurück. Ab morgen Dreharbeiten. Deshalb Schluss und liebe Grüße, Gisela

Ed Stuhler Und das war dann ihre triumphale Rückkehr ans Brecht-Theater. Nämlich mit diesem Weill-Abend. Den hat sie einmal im Monat dort gemacht, das Haus war immer ausverkauft, sie ist da gefeiert worden mit diesem Programm ohne Ende.

Erzähler Berliner Kurier, 10.Mai 2000 "Gisela May wieder auf den BE-Brettern Unglaublich, mit welcher Kraft die 75-Jährige für ihre begeisterten Zuhörer die Ohrwürmer singt."

Ed Stuhler Zu ihrem 80. Geburtstag war das, das war also 2004, da war sie großartig auf der Bühne. Sie war strahlend, sie war eigentlich wie immer. Sie hat ja eine Bühnenpräsenz gehabt, die war ungeheuer. Es war...das letzte Mal, dass sie da im Brechtheater auf der Bühne stand mit ihrem Weill-Abend. Nach dieser Vorstellung gab es einen Empfang, wo nur der engere Freundeskreis geladen war. Und da dauerte es lange, bis sie erschien, das hat sie offensichtlich dann doch schon sehr angestrengt. Und als sie dann reinkam und von ihren Verehrern umringt wurde, war sie so ganz klein und greisenhaft und ganz große dunkle Augen in diesem greisenhaften Gesicht - also ein völliger Gegensatz zu dieser strahlen, aufrechten Diseuse auf der Bühne.

Erzähler Montag, 31.Mai 2004 Sie ist immer noch absolut präsent, ein Bühnengaul, ein Planwagenschlepper, eine Mutter Courage bis zum Ende. Sie fragt mich, was sie sich für ein Auto kaufen soll - ihr "Franzose" tut`s nicht mehr so richtig. Sie braucht ein Auto, wo sie hinten ihr Fahrrad rein schmeißen kann. Kein Problem, es gibt doch jede Menge Kombis. Nein! Sie braucht eine elegante Limousine! Solche Sorgen möchte ich mit 80 haben!

Ed und Nele Stuhler Würdest du sagen, dass ihr auch befreundet wart tatsächlich? Oder ist es ein freundschaftliches Arbeitsverhältnis gewesen? Nee, es war eine Freundschaft. - Was ist Freundschaft? Wenn man aufeinander hört, einander vertraut, sich Privates erzählt, und so war das immer.

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(Musik)

Erzähler Dienstag, 16.August 2011 Ihr Augenlicht hat sich rapide verschlechtert: "So nah muss ich dir kommen, um dein Gesicht zu erkennen." Sie versuche alles, was man ihr empfiehlt, auch Akupunktur, aber keiner könne ihr helfen. Alles Quacksalber, sagt sie, kostet Tausende Euro. Erzählt, dass sie sehr verliebt ist, ein 16 Jahre jüngerer Bühnenbildner, der sich nicht genug um sie kümmert, nie Zeit hat und der genauso schlecht sieht wie sie.

Ed Stuhler Da war sie gleichzeitig glücklich und sehr, sehr unglücklich. Und hat aus dieser Erfahrung ein Hörspiel geschrieben - geschrieben kann man gar nicht mehr sagen, die konnte ja kaum noch sehen, also auf Band gesprochen. Und da verarbeitet sie diese unglückliche Liebe im Alter. Und das ist so rührend - und so herzergreifend, in so hohem Alter nach so langer Zeit Alleinleben sich noch mal so zu verlieben. Und da merkt man auch, dass diese lange Zeit des Alleinseins, doch nicht so leicht war für sie.

Erzähler Samstag, 31.Mai 2014 Noch spät Gisela zum 90. gratuliert. "Man sieht an den Anderen, wie alt man ist, nicht an sich selbst, an den Anderen!", sagt sie und meint ihre unglückliche Liebe. "Vor ein paar Jahren haben wir uns noch in den Armen gehalten und geliebt, und jetzt ist er ganz in sich zusammengefallen."

Nele: Am 2. Dezember 2016 stirbt Gisela Mai in Berlin. Ihr letzt Ruhestätte findet sie an der Seite von Bertolt Brecht und Helene Weigel auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof.

Gisela Naja, du kannst die Hälfte offheben, wenn ich dann dot bin, kannst du noch mal ein großes Dings ... machen.

Musik: Der Alte Fritz

Absage Der Alte Fritz

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Meine Erinnerungen an Gisela May Sie hörten ein Feature von Ed Stuhler Es sprachen Ed und Nele Stuhler Ton und Technik: Wolfgang Rixius und Oliver Dannert

Regie: Anna Panknin

Redaktion: Ulrike Bajohr

Eine Produktion des Deutschlandfunks 2017

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