Theorie und Praxis in der Boerhaave-Ara und in nach• boerhaavianischen Ausbildungssystemen an deutschen Hoch• schulen des 18. Jahrhunderts

WOLFRAM KAISER

Die Geschichte des klinischen und poliklinischen Hochschulunterrichts ist relativ jung. Die Zielvorstellung, praxisverwertbare Fertigkeiten ganzen Gruppen von angehenden, noch in Ausbildung befindlichen Medizinern in systematisierte Form zu vermitteln, war in der hier zur Analyse anstehenden Sakularperiode an die Einsichten und Aktivitaten von Arzt-Personlichkeiten gekniipft, deren Initiativen aber auch von einigen fiir die Sache gliickhaften Gegebenheiten begleitet sein muBten. Bestimmt wurde diese Entwicklung durch das diesbeziigliche Engagement von Hermann Boerhaave (1668-1738) in Leiden (46) und von Johann Juncker (1679-1759) in (21), der letzterenorts 1717, d.h. einige Jahre nach Boerhaave, das praxisorientierte Collegium clinicum Halense begriindete (26). In der medizinhistorischen Literatur wird diese Datenfixierung auf das friihe 18. Jahrhundert kaum bestritten (13,14), es sei denn, man wollte inkonstant gebliebene Vorlaufer• vorgange einbeziehen, bei denen dann Namen wie die von Giambattista da Monte (1498-1552) in Padua, Theophraste Renaudot (1586-1653) in Paris, Willem van der Straaten (1593-1681) in Utrecht und nicht zuletzt Ottho Heurnius (1577-1625) und Franciscus dele Boe, Sylvius (1614-1672) in Leiden zu nennen waren (54). Sicherlich haben auch noch andere Hochschullehrer einzelne SchUler an das Krankenbett von Patienten oder in eine ambulato• rische Sprechstunde mitgenommen. Derartige Moglichkeiten waren aber begrenzt: es ist kaum anzunehmen, daB ein die nicht gerade billige Konsulta• tion eines Professors sich leistende Klient einverstanden gewesen ware, gleichzeitig in persona als Demonstrationsobjekt fiir Lehre und Ausbildung bereitzustehen. So ist wohl die mit Unterrichtskontinuitat verbundene und fiir groBere Absolventengruppen nutzbar gemachte Systematisierung des klini• schen Unterrichts, wie sie von da Monte mit "Sermones in Nosocomiis aut alibi ab eo habiti" initiiert und auch von Johannes van Heurne (1543-1601) in Leiden angestrebt wurde (47), erst unter Boerhaave und Juncker voll zum Tragen gekommen. Ihre Ausbi1dungsmodelle haben beide offenbar aus eigener Konzeption hera us entwicke1t; es gibt jedenfalls keinen Anhaltspunkt

71 dafiir, daB sie miteinander in Verbindung standen bzw. iiber Fragen der Unterrichtsgestaltung korrespondierten. Freilich schlieBt das nicht aus, daB Juncker durch aus den Niederlanden heimkehrende junge Kollegen Informa• tionen iiber die Leidener Verhaltnisse erhielt, stellten doch die Absolventen aus deutschsprachigen Territorien bereits im 17. Jahrhundert das Gros der nicht-niederlandischen Horer in Leiden (6). Aber Juncker war, als Boerhaave sein klinisches Programm im Spital hinter der Leidener Vrouwen-Kerk mit dem Renommee eines iiberregional geachteten und vielseitig versierten Ordina• rius anlaufen lieB, ein in der medizinischen Welt weitgehend unbekannter Praktiker im Sayn-Wittgensteinschen Berleburg. Einer fiir ihn giinstigen Konstellation konnte er es zuschreiben, daB ihm einige Jahre spater in Halle, der Statte seiner friihen Studien, die Stelle eines Medicus ordinarius Orphano• trophei in den dort etablierten Schul- und Bildungsanstalten von ( 1663-1727) offeriert wurde, die mit Leitungsfunktionen im seit 1708 bestehenden anstaltseigenen Krankenhaus und in dem diesem angeschlossenen Ambulatorium verbunden war (22). Diese Position nutzte er binnen kurzem zum Aufbau des genannten Collegium c/inicum, das bei entsprechender Resonanz unter den Absolventen der seit 1694 bestehenden Academia Fridericiana Halensis recht schnell in das Hochschulprogramm inkorporiert wurde. Wie sehr die Junckerschen Ausbildungsmodalitaten den Wiinschen der akademischen Jugend entsprachen, zeigt sich am besten a us der Tatsache, daB sie Halle auf Jahrzehnte zur meistbesuchten medizinischen Lehrstatte der deutschen Territorialstaaten werden lieBen. Freilich batten schon vor Junckers Amtsantritt in Halle die weltweit bekannten medizinischen Systematiker (1660-1742) und (1659-1734) den friihen Flor der jungen Hochschule zu begriinden beigetragen, und der Trend, im Rahmen des Studiums eine Peregrinatio medica in die Niederlande durchzufiihren, riB zumindest zu Boerhaaves Lebzeiten nicht ab (42): von den Leidener Promoti der Jahre bis 1738 kam immerhin noch ein Drittel aus deutschsprachigen Gebieten (32) und dabei auch aus der Saalestadt. Auf• listungen des akademischen Werdeganges in den gedruckten Dissertationen dieser Jahre lassen aber erkennen, daB das Collegium clinicum Halense sich schnell zu einem zentralen Anlaufpunkt entwickelte. Spatestens seit den zwanziger Jahren des 18. Jahrhunderts muBten Landes• obrigkeiten und Hochschulbehorden eigentlich allerorts wissen, daB der dem allgemeinen Bediirfnis entsprechende praxisorientierte Unterricht sich in Leiden und in Halle regen Zuspruchs erfreute und man eigentlich gut daran tate, auf dieses Vorbild - in seiner Kontinuitat eine Art Studienreform - einzuscheren; schlieBlich wares fiir das Wirtschaftsgefiige einer Universitats• stadt nicht ganz unwichtig, wenn attraktive Lehrveranstaltungen der ein• zelnen Fakultaten fiir einen entsprechenden und Geld ins Land bringenden studentischen Zuzug sorgten (20). Unter einem derartigen Aspekt mag es

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