Jörg Böckem Und Christoph Dallach Fotos: Heidi Nikolaisen
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TEXT: JÖRG BÖCKEM UND CHRISTOPH DALLACH FOTOS: HEIDI NIKOLAISEN Melodie und Melancholie: Anne Lilia Berge Strand, Sondre Lerche, Erlend Øye und Eirik Glambek Bøe, Mikal Telle s ist noch nicht allzu lange her, war das Einzige, was den Leuten in 100 000 Alben verkaufen, gelten die da galt ein norwegischer Musi- London zu unserer Heimat einfiel.“ Norweger als Hoffnung der modernen Eker, der auf die verwegene Idee Seitdem hat sich ein Menge geändert. Popmusik. verfiel, bei einer englischen Platten- Talentscouts der Plattenfirmen pilgern Der Ursprung des ganzen Wirbels ist firma wegen eines Vertrags vorzuspre- seit vergangenem Jahr in Scharen in die kleine Hafenstadt Bergen, 60 Grad chen, automatisch als Witzfigur: die Heimat von a-ha und versuchen, 23 Minuten nördlicher Breite. So wie ãEgal, wo wir hinkamen, es war immer mit hoch dotierten Verträgen bewaff- in den letzten Jahrzehnten in Man- dasselbe“, erinnert sich Pål Waaktaar- net, auch einen Norweger für ihr chester, Seattle oder jüngst Paris ist Savoy, Gitarrist der norwegischen Pop- Unternehmen einzufangen. Seit junge hier eine Szene entstanden, deren Mu- Pioniere „a-ha“, an die Anfangstage norwegische Bands wie Röyksopp und sik das Potenzial hat, Norwegen nun seiner Karriere. „‚Ach, ihr seid aus Kings of Convenience mit ihren Alben zum Mittelpunkt der europäischen Norwegen? Wie lustig! Das ist doch nicht nur in Norwegen die Spitze der Popwelt zu erheben. das Land, das beim Grand Prix d’Eu- Charts erreichten, sondern auch Kri- Bergen ist mit 229 000 Einwohnern rovision null Punkte geholt hat!‘ Das tiker weltweit begeistern und rund die zweitgrößte Stadt Norwegens. Der Schlechtwetter- stimmung am Nordmeer: Party in einer ehemaligen Sardinenfabrik im Industriehafen Stadtkern, inmitten von Wohn- und sestadt schon von jeher zu den wohlha- treffen sie sich privat mit ihren Freun- Industriegebieten, sieht aus, als hätte bendsten Orten. Entsprechend extrem den und trinken sich mehr oder weni- ihn ein Ausstatter von Märklin-Eisen- sind die Preise: Wer sein Bier in Knei- ger ausgiebig in Stimmung. Diese Tra- bahnen erdacht: gepflegt gealterte pen oder Clubs trinken möchte, be- dition trägt merkwürdigerweise den Holzhäuser, blitzsaubere Stra§en und zahlt dafür ungefähr sieben Euro. Eine deutschen Namen ãVorspiel“. Wenn Vorgärten, enge, verwinkelte Gassen mittelgro§e Pizza in einem Schnell- gegen 3 Uhr im Nachtleben die Lichter und ein malerischer Marktplatz, um- restaurant kann schon mal 20 Euro ausgehen, folgt das entsprechende rahmt von Bergen auf der einen und kosten, eine kleine Wohnung im Stadt- ãNachspiel“, es wird gemeinsam ge- der Nordsee auf der anderen Seite. kern 1000 Euro. Weil das auch für Nor- kocht und gegessen, und die ganz Hart- Bergen ist anzusehen, dass die Stadt weger eine Menge Geld ist, bleiben vie- gesottenen trinken weiter. unter Krieg und Wirtschaftskrisen le junge Leute ungewöhnlich lange im Nicht nur die hohen Preise treiben die kaum gelitten hat. In Norwegen, dem Elternhaus wohnen. Und haben ganz Leute in die eigenen vier Wände; Ber- Land mit einem der höchsten Lebens- eigene Ausgehrituale entwickelt: Be- gen gehört zu den regenreichsten standards der Welt, gehört die alte Han- vor sie ins Nachtleben ausschwärmen, Städten der Welt, an den meisten Ta- Familienfeier: DJs Frk. Blytt und Annie legen auf Jahre lang an den Feinheiten ihrer Hit- Single „Eple“ feilten, gehört schon zu den Legenden der jungen Bergener Szene. Die besonderen Lebensumstände ma- chen die Schönheit der Musik aus. „So nah an der Natur zu leben berührt dich“, sagt Eirik Glambek Bøe, 26, die andere Hälfte der Kings of Con- venience, ãdie Tiefe und Zeitlosigkeit der Dinge wird dir bewusst. Und das macht dich schwermütig.“ Eine kulti- vierte Schwermut, die eher Genuss als gen türmen sich tief hängende Wol- Jahr Zeit Ð so lange, bis er seine Schul- Unglück bereitet. Die Verbindung von kengebirge über der Stadt. ausbildung abgeschlossen hatte. Melancholie und Melodie ist das Ele- ãBei schlechtem Wetter bleibe ich zu ãBergen bringt jetzt so viele Talente ment, das, bei aller Unterschiedlich- Hause, schreibe Lieder und spiele Gi- hervor, weil es so lange ignoriert wur- keit der Stile, die norwegische Pop- tarre“, sagt der 19-jährige Singer/ de“, sagt Erlend Øye, 26, eine Hälfte musik bestimmt Ð von a-ha über Songwriter Sondre Lerche, der gerade des für ihren poetischen Gitarrenpop Sondre Lerche, Kings of Convenience für sein versponnen-schönes Debüt- als moderne Simon and Garfunkel ge- und Röyksopp bis hin zum hymni- album mit einem norwegischen Gram- feierten Duos Kings of Convenience. schen Disco-Pop von Annie. my ausgezeichnet wurde, ãhier hat ãDie Musiker hier hatten alle Zeit der Die Erfolgsgeschichte des jungen nor- man Zeit, sich seinen Leidenschaften Welt, an ihren Werken zu basteln, bis wegischen Melancholie-Pop begann und Tagträumen hinzugeben.“ Mit der sie ihren ganz eigenen Ton getroffen damit, dass ein 18-jähriger Junge aus Veröffentlichung seines längst fertigen hatten.“ Dass die melodieverliebten Bergen Mitte der neunziger Jahre be- Albums lie§ sich Lerche auch fast ein Elektronikexzentriker Röyksopp zwei schloss, nicht mehr zur Schule zu ge- hen. Seit Jahren hatte er nur träu- Opera, räumten sie freitagnachts Ti- Zwei von Mikals Freunden konnten mend im Klassenzimmer gesessen, sche und Stühle in den Keller, und nicht dabei sein – Röyksopp kamen Plattencover, Bandnamen und Strate- Tellé-Mitstreiter wie die Elektro-DJs an dem Wochenende aus Paris und gien für eine eigene Plattenfirma ent- Bj¿rn Torske und Annie stellten ihre nahmen in Oslo zwei norwegische worfen. Irgendwann verstanden auch Plattenspieler auf. Grammys entgegen. ãEigentlich hat seine Eltern, dass Mikal Telle für „Es klingt zwar blöd, aber in erster hier kaum noch einer Zeit“, sagt nichts anderes als Popmusik zu be- Linie war Tellé immer ein Haufen Annie, die gerade, wie viele andere geistern war. Sie besorgten ihm einen Freunde, die eine gute Zeit zusam- Tellé-Künstler, mit mehreren Plat- Kredit über 100 000 Kronen (11 500 men hatten“, sagt Anne Lilia Berge tenfirmen verhandelt und deshalb ih- Euro). Mit diesem Geld eröffnete er Strand, alias Annie, eine 23-jährige re regelmäßigen DJ-Auftritte in den 1995 seinen Plattenladen. ãIch fing Schönheit, „eine Art Familienbetrieb, Clubs von Bergen aufgeben musste: an mit einem Sortiment von 40 Plat- wo es nie um Geld und Karriere ging.“ ãManchmal vermisse ich die ent- ten“, sagt der 25-Jährige, seine obli- Bis heute hat Telle mit keinem seiner spannte Zeit, als noch alle hier waren. gatorische Wollmütze tief ins Gesicht Künstler einen Vertrag aufgesetzt. Früher sind wir an den Wochenenden gezogen. ãNatürlich war der Laden, ãFreunde“, sagt der Idealist, „brau- oft in den Bergen wandern gewesen. kommerziell betrachtet, ein Desaster. chen so etwas nicht.“ Heute hat dazu nur noch meine Mut- Aber er wurde schnell zum Treffpunkt Den unerwarteten Erfolg feierte der ter Zeit.“ jener, die auf Partys die Platten auf- umtriebige Antialkoholiker Telle ge- legten oder im Schlafzimmer eigene rade mit einem zweitägigen Festival in Diverse: „Wall of Sound Presents Tellé“; Musik produzierten.“ einer ehemaligen Sardinenfabrik am Kings of Convenience: „Quiet Is the New Diese Musik war so gut, dass Mikal Industriehafen von Bergen. In fünf Loud“; Röyksopp: „Melody A.M.“ (alle: Labels/Virgin); Sondre Lerche: „Faces beschloss, sie zu veröffentlichen. Er Räumen spielten Bands wie die Kings Down“ (Virgin); Bjørn Torske: „Trøbbel“ startete sein Plattenlabel Tellé und of Convenience, legten DJs auf und (Tellé); Ai Phoenix: „Lean that Way brachte erste Platten von Röyksopp zeigten Videokünstler ihre Werke. Forever“ (Glitterhouse/Indigo, erscheint am und den Kings of Convenience her- Mehr als 1000 Gäste und Journalisten 20.5.); a-ha: „Lifelines“ (WEA, erscheint aus. In seinem Lieblingscafé, Café aus Europa kamen. am 29.4.)..