Innovation Und Radikale Theorie in Der Popmusik 1960-1980
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4 Einleitung 5 6 „1-2-3-4!“ A Als Joe Strummer am ersten Tag des neuen Jahres auf der Bühne des ROXY erscheint, hat er die Zeichen schon erkannt. Auf seiner Brust prangt die große Doppel-7, der Chiffre einer neuen Zeit, einer neuen Art Musik zu machen. Ich als Genau-da-Geborener habe davon naturgemäß wenig mitbekommen, und doch einiges aufgeschnappt, von dem ich erst jetzt weiß, woher es kommt. Ich kam erst über verschlungene Umwege zu dieser Musik. Die Gründe liegen zum Teil eben in meiner zeitlichen Umgebung, die von den Auswüchsen der Achtziger geprägt ist, aber auch dar- in, daß ich keinen Zugang fand. Punk? Das war Anfang der Neunziger, als ich bewußt Musik zu konsumieren begann, ein Schimpfwort. Und selbst als mit Nirvana die direkten Erben von Punk in mein Leben traten, war mir der Zusammenhang zwischen „heute“ und einem vermeintlichen „damals“ nicht bewußt. Der erste Schritt in die Richtung war wie so oft ein von jemand anderem getaner. Eine Freundin schenkte mir zum Geburtstag ein Buch, über das, aber nicht in dem ich schon gelesen hatte; es war die erste ernstzunehmende Aufarbeitung der deutschen Punkgeschichte mit dem Namen „Verschwende deine Jugend“. Dieses Buch eröffnete mir auf einmal den Weg in ein völlig neues Terrain, mit etwa 15 Jahren Verspätung. Reisen nach Berlin, Hamburg, Düsseldorf folgten, ich wollte einsaugen und aufnehmen, doch vom unmittelbaren Einfluß einer „Bewegung“ war nichts mehr zu spüren. Längst war er in die tieferen Schichten der Kultur eingesickert. Aber ich war „angezündet“. Seitdem reizte mich die Frage, welche Menschen diese Musik gemacht haben, woher sie kamen und wie sie die Popmusik verändert haben. Was ich nicht ahnen konnte, war die hohe Anste- ckungsgefahr, der ich mich aussetzte. Ich hatte mit vielen Schicksalen zu tun, denn Punk ist eine persönliche Musik; sie erlaubt in ihrer Ehrlichkeit keine Verallgemeinerung. Auf der anderen Seite habe ich mich dazu verpflichtet, nicht in den Chor der bereits existierenden Literatur einzu- fallen, sondern über das Wesen seiner Musik zu schreiben. Ich hoffe, das ist mir geglückt. 7 B zum Thema Es präsentiert sich also eine Geschichte, die an bestimmten Daten festzumachen ist und in sich geschlossen auftritt. Natürlich gibt es, wie bei jeder Kulturgeschichte, zahlreiche Seitenarme und Ausnahmen; Schlüsse zu ziehen ist daher auch nicht meine Absicht. Sie würden das, was ich her- ausarbeiten möchte – konzise Entwicklungslinien und ihre Bedeutung für die Gegenwart – nur pauschalisieren oder verwässern. Ein Wort in dieser Einleitung muß noch den Quellen gelten: Es gibt zahlreiche Literatur über das Thema, das meiste sehr interessant und für den Anhänger aufschlußreich; doch wissenschaftlich damit zu arbeiten ist schwierig, da es sich großteils um oral history handelt, die der Mythologisie- rung und ständigen Wiederholung unterworfen ist. Manche Erzähler scheinen aus der Tätigkeit, ihre Version von „Punk“ zum Besten zu Geben, einen Hauptberuf gemacht zu haben. Für die Autoren der Bücher war es aber naheliegend, Interviews zu sammeln, da die Geschichte eine höchstpersönliche ist. So ergibt sich bei der Lektüre ein Gesamtbild, bei dem sich manches über- lappt, aber vieles aus verschiedenen Blickwinkeln aus betrachtet wird, das man in seiner Summe objektiv nennen kann, zumindest im statistischen Mittel. Wie gesagt, ich bin ein „Genau-da- Geborener“ und somit frei von subjektiven Urteilen – fast. Die Einzelpersonen und ihre Schicksale entwickeln einen starken Sog; man möchte dabei gewe- sen sein, um besser zu begreifen, man möchte die beschriebene Energie am eigenen Leib erfah- ren. Aber das ist nur in Annäherung möglich. Man sieht die Ereignisse durch die Augen der An- deren. Die Arbeit ist in Abschnitte unterteilt, die den Gegebenheiten angemessen sind; es ist nur teilwei- se eine chronologische, vor allem aber eine inhaltliche Abfolge. Es war mir wichtig, keine weite- re „Punk“-Lektüre zu schreiben, deren es schon viele gibt, mein Fokus liegt auf der Musik, und dieser wiederum stark mit den sozialen Umständen verbunden; allerdings, und das ist ebenso hervorzuheben, anders als das bisher gemacht wurde: Wo andere die Soziologie immer wieder in den Vordergrund rücken (aus Gründen, die ich nur mutmaßen kann), zentrifugiere ich die Ge- schichte und trenne so die flüchtigen Bestandteile ab, wobei diejenigen übrigbleiben, die ich er- zählen möchte. Das ist vor allem die Musik, aber eben auch Anteile an Soziologie. Dabei ist es unerläßlich, die Musik mit in die Beurteilung einzubeziehen. Einstige Konzerte zu besuchen ist zwar unmöglich, also es bleibt die momentane Fixierung der Musik auf Tonträgern. Wo sich eine neue Schwierigkeit auftut: wie ist eine objektive Beurteilung des Materials möglich, bei einer Musik, die so subjektiv und innovativ mit den Begriffen von Können und Tradition um- geht? Ich entschied mich, diese Subjektivität in eine Stärke zu verwandeln und neben meinem eigenen auch dem Leser ein Urteil zu ermöglichen: es ist eine CD mit den Songs enthalten, die auch in der Arbeit vorkommen. Ich habe mir also vorgenommen, das Phänomen „Punk“ unter musikalischen Aspekten zu unter- suchen und dabei herauszufinden, welche Innovationen er der (Pop)musik gebracht hat, bzw. worin diese Innovationen, die das Gestern vom Heute scheiden, bestehen. Dazu haben sich zwar schon andere Autoren geäußert, aber es blieb oft bei der bloßen Erkenntnis der Existenz eines solchen Erbes. Punk wird trotzdem in sämtlichen Darstellungen der als Nebenschauplatz behan- delt. In den Gesamtwerken scheint erhält er nicht den Stellenwert, der ihm gebühren würde. Das ist mit der Tatsache zu erklären, daß Punk in nahezu jedem Genre der Popmusik Eingang gefun- 8 den hat, seinen Einfluß zu erwähnen also redundant wäre. Und vielleicht ist dieser Einfluß auch nicht auf dieses spezielle Genre zurückführbar. Aber das trifft den Kern der Sache. Punk ist kein Genre. Wie wir feststellen werden, verbirgt sich dahinter die wiederholt geäußerte Forderung einer unangepaßten Jugend nach kompromißloser Selbstverwirklichung. Das mag pathetisch klingen, aber angesichts des Gewinns, der der (Pop)kultur damit entstand, ist das ein ehrlicher Handel. Der Austritt von Velvet Underground aus den Tiefen der New Yorker Subkultur bedeutete nicht nur die Gründung einer Avantgarde innerhalb der Popmusik, einer „Gegenkultur zur Gegenkultur“, sondern gleichzeitig die Forde- rung nach Jugend als ebenbürtige Seinsweise, nicht nur als Lebensabschnitt. Mit der Trivialisie- rung seiner Inhalte Anfang der Achtziger war Punk als Prozeß der Emanzipation abgeschlossen. Das gilt nicht für seine Ideale. Sie trugen sich weiter bis in die heutige Zeit hinein, wo er als Ab- ziehbild einer Revolte dient, oben genannte Koryphäen Geschichten zum Besten geben und 14- jährige den radical Chic von Chelsea tragen – freilich ohne Sicherheitsnadel. Vielleicht kann diese Arbeit dazu beitragen, die Inhalte, die Punk für viele so wichtig gemacht hat, wieder in den Vordergrund stellen. Und vielleicht ist dazu gerade der Blick eines „Genau-dort-Geborenen“ nö- tig. 9 10 Erster Strang 11 12 Schauplatz 1: New York C 1. die New Yorker Avantgarde Nach dem Zweiten Weltkrieg war New York international zum unangefochtenen Spitzenreiter avanciert, was sowohl Produktion als auch Präsentation zeitgenössischer Kunst betrifft. Im Laufe der Sechziger Jahre bildeten sich in diesem kulturell aufgeladenen Milieu unterschiedlichste sub- kulturelle Szenen, die den Output an Kunst immer wieder in Frage stellten und mit neuen Ideen anreicherten. Die Musik erfuhr ihre wichtigsten Innovationen im Bereich des Jazz; in der Avant- garde war die integrative Person der Komponist John Cage. a) Indetermination Nachdem er sich im Jahr 1948 in New York niedergelassen hatte und dort bahnbrechende Kon- zepte wie das „Präparierte Klavier“ und zahlreiche Stücke für Percussion verwirklichte,1 gewann sein Werk ab den fünfziger Jahren zunehmend auch an theoretischer Schärfe und Brillanz. Das Konzept der „Parameter-Komposition“ wurde immer weiter ausgedehnt und schließlich so weit perfektioniert, bis eine homogene Methodik bereitstand, die musikalische Welt zu revolutionie- ren.2 Cages Ziel war es, den Verstand als Reglementierung von (musikalischen) Schaffensprozessen auszublenden („absence of mind as a ruling agent“) und das Werk gänzlich dem Zufall zu über- lassen.3 Der Werdegang dieses revolutionierenden Gedankens ist überaus interessant für die Re- zeption, denn Cage mußte selbst alte Denkmuster neu formulieren, damit sie dem neuen Stand der Dinge gerecht werden. Nachdem zufolge der Komposition „Music of Changes“ (1951) der Autor eines Stückes bereits dem Zufall unterworfen wurde, der Ausführende aber noch immer das spielen mußte, was vom Komponisten verlangt war, bezog 1958 das Werk „Fontana Mix“ auch den Ausführenden in die relativierende Macht der Unbestimmtheit ein: es ist ihm überlas- sen, wie und mit welchem Instrument er die Spielangaben umsetzt.4 Dem Autor des Stücks ist somit lediglich die Schaffung eines Anlasses gestattet und das Werk wird bei jedem dieser Anläs- se anders klingen. Dieser Methode liegt eine tiefgehende Ideologie zugrunde, ohne der Cages Schaffen an sich be- deutungs-, weil bezugslos ist. John Cage war Zeit seines Lebens von außermusikalischen Inspira- tionen fasziniert und dazu bereit, sie in sein Werk einzubeziehen. Einen großen Stellenwert neh- men einerseits die fernöstlichen Philosophien ein, andererseits die politischen Schriftsteller, und darunter besonders der Amerikaner Henry James Thoreau.5 Als Anarchist und überzeugter Be- kämpfer