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Werbeseite DAS DEUTSCHE NACHRICHTEN-MAGAZIN

Hausmitteilung 28. Juni 1999 Betr.: Sparpaket, Russen, SPIEGEL Spezial, Media-Studie

undeskanzler Gerhard Schröder hatte gehofft, die Reformpläne der Regierung Bgeheimhalten zu können – zumal es sich um die „größte Sparoperation in der Geschichte der Bundesrepublik“ (Schröder) handelte. Doch als der Regierungschef vergangene Woche den SPIEGEL in die Hand bekam, war ihm klar: Es hatte nicht geklappt. Exklusiv konnten nämlich Millionen SPIEGEL-Leser nachlesen, was bis dato nur wenige Eingeweihte in kannten – die Details des 30-Milliarden-Pakets von Finanzminister . Redakteur Christian Reiermann, 36, hatte das Papier auf verschlungenen Pfaden beschafft. Offenbar, so bekannte der verblüffte Kanzler, könne man „der Recherchierkunst“ mancher Journalisten „kaum Gren- zen setzen“. Die Fortsetzung von Schröders Kraftakten, seine Chancen und Risiken, beschreiben die Bonner SPIEGEL-Kollegen in der Titelgeschichte und porträtieren Sparkommissar Hans Eichel sowie den designierten EU-Balkanbeauf- tragten Bodo Hombach.

och immer ist der Flughafen von NPri∆tina im Kosovo so etwas wie exterritoriales Gebiet. Seit der hand- streichartigen Besetzung durch die Rus- sen vor zwei Wochen haben sich dort 200 Soldaten verschanzt und harren ei- ner Verstärkung aus der Heimat. Bisher gelang es noch keinem westlichen Jour- nalisten, das Gelände zu besichtigen. SPIEGEL-Redakteur Christian Neef, 47 – der russischen Sprache mächtig –, und Fotograf Pawel Kassin, 35, schafften es KASSIN P. vergangene Woche mit einer List: Kol- Neef (M.), russische Soldaten in Pri∆tina legen vom russischen Fernsehen schleusten die beiden in ihrem Gefolge auf den Flughafen. „Die Soldaten leben in quälender Ungewißheit“, hat Neef dort festge- stellt, „niemand weiß, wie es weitergehen soll“ (Seite 146).

m 11. August herrscht Finsternis am Tag – die Son- Ane versteckt sich in Süddeutschland für zwei Minu- ten hinter dem Mond. Passend zum Ereignis kommt das Titelthema in SPIEGEL Spezial: „Magie der Sonne“. Astronomen betrachten das Lebenslicht der Erde von Teneriffa aus, Reporter schreiben aus der sonnigsten Stadt und von der dunkelsten Insel. Außerdem im Heft: Berichte aus Kultur, Politik und Gesellschaft, etwa über die radikalislamische Herrschaft der Taliban in Afghani- stan oder über den Erfolgszug weiblicher Fantasy-Helden in Comics und Filmen. SPIEGEL Spezial, das Reportage- Magazin, ist ab Dienstag im Handel.

ehr als die Hälfte der Bevölkerung nutzt einen Computer, neun Millionen Men- Mschen pflügen bereits durchs Internet, jeder fünfte Bundesbürger telefoniert mit Handy – Tendenz rasant steigend. Das sind Ergebnisse der neuen Markt-Media-Stu- die „Online-Offline“, die SPIEGEL-Verlag und manager magazin Verlagsgesellschaft zum zweitenmal vorlegen. Die repräsentative Untersuchung beschreibt private und berufliche Nutzung der modernen Kommunikationstechnologien (siehe auch Seite 72), dokumentiert Nutzungsgewohnheiten und Vorlieben der Deutschen. Interes- senten können die Studie zum Preis von 250 Mark beim SPIEGEL-Verlag anfordern.

Im Internet: www.spiegel.de der spiegel 26/1999 3 Werbeseite

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Werbeseite In diesem Heft

Titel Kanzler Schröder räumt ab...... 22 Die stilvolle Abschiebung Bodo Hombachs .... 24 Das erste Ministerium zieht nach Berlin um ... 28 Interview mit Ex-Finanzminister Gerhard Stoltenberg über die rot-grünen Reformen..... 30 Hans Eichel – Schröders Vollstrecker...... 33

Deutschland Panorama: Eine Frau für die Gauck-Behörde / Schröder legt sich mit Prodi an ...... 17 Umweltpolitik: Wie VW die Regierung zur Blockade in Brüssel drängte ...... 36 CDU: Die respektable Nachwuchskraft Friedrich Merz ...... 38 Bundespräsident: übernimmt von Roman Herzog ...... 40 Reichstag: Die Graffiti der Rotarmisten...... 46 Justiz: Lotterleben im Frauengefängnis? ...... 50 AP (kl.) BOENING / ZENIT (gr.); J. FOTOS: Aufbau Ost: SPD-Abgeordnete rütteln Reichstag, Schröder, Eichel, Hombach an Hilfsprogrammen ...... 51 Ermittler: Mit Wanzen gegen Durchschnittsverbrecher...... 54 Seite 22 Kirche: SPIEGEL-Gespräch mit Besenrein nach Berlin Bischof Karl Lehmann über die Zukunft Gerade noch dem Chaos entronnen, will Gerhard Schröder in einem Kraftakt der Schwangeren-Beratung...... 58 besenrein Ordnung vor dem Umzug nach Berlin schaffen: Haushalt, Steuer- und Spionage: Verdächtigungen gegen Genscher... 63 Rentenreform sollen noch vor dem tückischen Sommerloch perfekt sein. Vor allem Schatzsucher: Jagd nach Sachsen-Gold ...... 66 die SPD-Ministerpräsidenten kündigen Widerstand gegen die Reformen an. Wirtschaft Trends: Ermittlungen gegen Dresdner-Bank- Vorstand / Freihandelszone Kosovo? / Rekordabfindung für Bankers-Trust-Chef ...... 71 Geld: Börsen-Highflyer sind selten / Chancen für Coca-Cola-Aktien ...... 73 Frieden mit Rom? Seite 58 Gewerkschaften: Suche nach der Zukunft.... 74 Mit ihrem Doppelbeschluß zur Schwangeren-Kon- Buchpreise: Ende der Preisbindung ...... 77 fliktberatung sind die deutschen Bischöfe in Rom Stromkonzerne: SPIEGEL-Gespräch mit RWE-Chef Dietmar Kuhnt über den aus dem Schneider – das glaubt zumindest ihr Vor- schwierigen Umbau des Unternehmens...... 80 sitzender Lehmann. Der Vatikan, so der Bischof im Internet: Die jungen Millionäre von Alando .. 85 SPIEGEL-Gespräch, habe bereits Zustimmung Erfinder: Kunststoff, der Geld vernichtet...... 88 signalisiert. Der vom Papst verlangte Zusatz zum Beratungsschein mache diesen Schein nicht ungül- Medien tig. Lehmann: „Auch der Vatikan ist klug genug zu

Trends: EM-TV steigt bei Constantin ein / REUTERS wissen, daß er nicht auf diese Art und Weise ein Schreinemakers macht Kasse ...... 91 Mainzer Bischof Lehmann staatliches Gesetz einfach unterlaufen kann.“ Fernsehen: „Tatort“-Kommissar Jochen Senf über seine Krimis ...... 92 Vorschau...... 93 Online: Der unaufhaltsame Aufstieg von AOL .. 94 TV-Serien: Zuschauer lieben „Tanja“ ...... 100 TV-Konzerne: Murdoch-Konzernchef Das Medienimperium von AOL Seite 94 Peter Chernin über die Champions League und seine Deutschland-Pläne ...... 102 In 14 Jahren hat Steve Case America Online zum mächtigsten Internet-Dienst der Welt gemacht. Verfolgt von mächtigen Konkurrenten wie Microsoft, will der Online- Gesellschaft Pionier AOL zum globalen Medium ausbauen, das in keinem Haushalt fehlen darf. Szene: Nasa-Look für Abendkleider / Roboterhund „Aibo“ ...... 107 Singles: Berlin lockt Alleinlebende ...... 108 Vier Jung-Kreative über ihr Leben jenseits der Kleinfamilie ...... 115 Napoleons Wracks Seite 206 Spiegel des 20. Jahrhunderts Das Jahrhundert des Kapitalismus: Kanonen, Menschenknochen und verrostete Die Ablösung der Massenproduktion Musketen: Meeresarchäologen haben vor durch eine neue Arbeitswelt des Lernens Alexandria die versunkene Mittelmeer-Armada und Wissens ...... 119 Napoleons entdeckt – die 200 Jahre alten Spuren der Seeschlacht von Abukir. Dort fügten Sport die Engländer dem französischen Eroberer sei- Radrennen: Interview mit dem früheren ne erste verheerende Niederlage zu. Weltmeister Rolf Wolfshohl über Doping, Jan Ullrich und die Tour de France...... 130 Tennis: Englands Sehnsucht nach Wrackteile der Napoleon-Flotte / DCI FOUNDATION GODDIO / HILTI F. einem Sieger ...... 133

6 der spiegel 26/1999 Ausland Panorama: Stopp bei der Suche nach dem Alexandergrab / Israel und Syrien auf Kosovo: Rachsucht der Albaner Seite 140 Versöhnungskurs ...... 137 Etwa 300000 albanische Ver- Balkan: Vergeltung an den Serben...... 140 triebene sind bisher ins Koso- Gefährliche Nato-Bomben ...... 142 Serbien: Interview mit Radikalen-Chef vo zurückgekehrt, und die Vojislav e∆elj über die Zukunft Jugoslawiens.. 143 antiserbische Stimmung kocht Kosovo: Die Russen-Enklave in Pri∆tina ...... 146 hoch. Die Heimkehrer wollen Das alte Jugoslawien überlebte in Vergeltung, die UÇK läßt sich einem psychiatrischen Krankenhaus ...... 149 nur widerwillig entwaffnen, Aufbauwirren im deutschen Sektor...... 150 die lange Zeit mundtote Belgien: Das Sizilien des Nordens ...... 151 Opposition macht gegen Türkei: Entgeht PKK-Chef Öcalan Milo∆eviƒ mobil. Der Westen dem Henker? ...... 155 Kaschmir: Eskalation im Gebirgskrieg ...... 158 zelebriert derweil seinen Er- Chile: Aufstand der Mapuche-Indianer ...... 160 folg: und seine Australien: Streit um das Ende Außenminister-Kollegen sowie der Monarchie...... 164

die Nato-Spitzen ließen sich in / GAMMA STUDIO X AVENTURIER P. Großbritannien: Schottlands Abschied Pri∆tina umjubeln. Entwaffnete UÇK-Kämpfer, US-Soldaten vom Mittelalter ...... 166 Kultur Szene: Pia Pera über ihren Lolita-Roman / Spätwerk Immanuel Kants wird neu ediert ... 169 Kino: Schriftsteller Leon de Winter über Sommer-Hit mit Julia Roberts Seite 172 Julia Roberts und ihren Film „Notting Hill“.. 172 Architekten: Interview mit Christoph Die britische Filmromanze „Notting Mäckler über seine Berliner Bauten ...... 176 Hill“ mit Julia Roberts und Hugh Autoren: „Die falsche Fährte“, ein neuer Grant verspricht ein Sommer-Hit zu Meisterkrimi von Henning Mankell ...... 179 werden – zu Unrecht, wie der nieder- Bestseller...... 180 ländische Schriftsteller Leon de Winter Kunst: Der „Blaue Reiter“ in München und Murnau...... 182 findet. Er kritisiert im SPIEGEL, daß Film: Frauen-Power im französischen Kino ... 184 die Liebesgeschichte zwischen einem Theater: Welt-Festival in Berlin ...... 185 Filmstar und einem Buchhändler Talkshows: SPIEGEL-Gespräch mit „ächzt und quietscht“; außerdem TV-Komiker Karl Dall über sein Comeback .. 186 vermißt er Sex-Appeal: „Julia Roberts

AP ist eine strahlende Erscheinung, aber Wissenschaft + Technik Filmstar Roberts verführerisch ist sie nicht.“ Prisma: Mehr Scheidungen durch flexible Arbeitszeiten / Hochklappbarer Bürgersteig... 191 Prisma Computer: Versteigerung des Ur-Apple / Billig-Rechner für E-Mails...... 192 Medizin: Impfstoffe gegen Zeckeninfektionen.. 194 Hirnforschung: Was machte Einstein Dienstleistung am einsamen Herzen Seite 108 zum Genie? ...... 197 Tiere: Virengefahr durch Flughunde ...... 202 Die Berliner Republik ist eine Single- Archäologie: Taucher bergen Gesellschaft. Die Hauptstadt lockt Napoleons Flotte...... 206 freiheitsliebende Abenteurer eben- Automobile: Eine neue Limousine so wie erfolgsorientierte Jung- soll Lancia retten ...... 209 manager und Kreative, die sich be- wußt gegen die Familie und für die Briefe ...... 8 Karriere entschieden haben. In der Impressum ...... 14, 212 Metropole ist das Solo besonders Leserservice...... 212 einfach: Ein ganzes Heer von Dienst- Chronik ...... 213 leistern verschafft einsamen Herzen Register...... 214

bei Bedarf zwischenmenschliche K. THIELKER Personalien ...... 216 Beziehungen. Alleinlebende Berliner Kreative Hohlspiegel/Rückspiegel...... 218

Genialer Verführer Wie gefährlich sind Zeckenstiche? Seite 194 Warum William Shakespeare der erfolgreichste Dichter der Viele Zecken übertragen Bakterien, die mit dem Syphiliserreger Gegenwart ist. Außerdem in verwandt sind. Werden die Infizierten zu spät behandelt, kulturSPIEGEL, dem Maga- drohen schwere Erkrankungen. Nun sind Impfstoffe in Sicht. zin für Abonnenten: Reisetips von Kulturschaffenden und

J. H. ROBINSON / AGENTUR FOCUS H. ROBINSON / AGENTUR J. Zecke vor und nach der Blutmahlzeit Fotos von Rockstar Lou Reed.

der spiegel 26/1999 7 Briefe

Maßstab für Journalisten sein.Wenn es für Sie ausreicht, daß jemand Verantwortung „Und was ist das Resultat? in der Selbstverwaltung eines Rentenver- sicherungsträgers ausübt, um in der Schub- Zur Abwechslung verlassen lade der „Traditionalisten“ und/oder „So- zialbürokratie der deutschen Rentenversi- jetzt alle serbischen Zivilisten cherung“ zu landen, spricht das für sich. Bonn das Kosovo, sie fliehen vor MdB/SPD

den Mörderbanden der UÇK.“ Solange bei der SPD, genau wie ehemals bei den Christsozialen, unter den deut- Marie-Thérèse Wagner-Hoschet aus Ehlerange (Luxemburg) zum Titel schen Senioren nur „Rentner“ geschröpft „Kosovo – Der Einmarsch“ werden und „Pensionäre“ ungeschoren da- SPIEGEL-Titel 24/1999 vonkommen (auch und gerade die Polit- pensionäre), können sich die hohen Herren ihre Pläne sonstwohin schieben. Und das einzige Bombe abgeworfen zu haben. Jetzt hat überhaupt nichts mit Neid zu tun. Wir malen eine neue Welt sehen die Nato-Soldaten zu, wie die UÇK Wenn schon Eingriffe in die Besitzstände, Nr. 24/1999, Titel: Kosovo – das Kommando übernommen hat und die dann aber gerecht. Ernstfall Frieden, der Einmarsch Serben durch Racheakte getötet werden. Helmbrechts (Bayern) Georg Riedel Der gesamte Kosovo-Einsatz, bei dem ein Herzlichen Glückwunsch! Die Nato – und bettelarmes Land in Schutt und Asche ge- „Vorwärts und vergessen – Der Dritte Weg mit ihr die USA – haben ihre Kriegsziele bombt wurde, hat nichts gebracht. Wie viel gegen die Geschichte“: Dies scheint mir voll und ganz erreicht. Kurzfristig: Das Ko- einfacher wäre es gewesen, Milo∆eviƒ fest- eine treffende Umschreibung für das tra- zusetzen und dem Spuk so ditionslose „Schröder-Blair-Manifest“ zu ein Ende zu setzen. sein. Der sozialdemokratische Weg in die Berlin Bruno Kugler Prinzipienlosigkeit und politische Belie- bigkeit nimmt seinen Lauf. Grundsatztreue Europa hat es wieder ge- wird in der Schröderschen und Blairschen schafft! Wäre doch gelacht, Logik einfach mal als antiquiert und linkes wenn sich 1945 nicht wieder- Teufelszeug abgetan.Wer wie der Kanzler, holen ließe. Endlich wieder sein Kanzleramtsminister und Blair die etwas zum Einmarschieren. weiter fortbestehenden Widersprüche des Endlich wieder mal richtige modernen Kapitalismus negiert, jegliche Trümmer. Kaputte Städte, Kapitalismuskritik vermissen läßt und sich zerbombtes Land. Keine vom ursprünglichen Anspruch der Sozial- Sanierung. Nein, Totalauf- demokratie, die Gesellschaft antikapitali- bau! Packen wir es wieder stisch von links zu verändern, program-

M. MATZEL / DAS FOTOARCHIV / DAS M. MATZEL (gem)einsam an. Wir haben matisch verabschiedet, verstümmelt end- Einmarsch der deutschen Kfor-Truppen im Kosovo doch aus Dresden, Hamburg, gültig den Demokratischen Sozialismus. Die Europäer nehmen ihre Probleme selbst in die Hand Coventry … gelernt, nach all Pfaffen-Schwabenheim (Rhld.-Pf.) dem (Aus)Radieren Bleistifte Michael Simon sovo ist nunmehr ethnisch gesäubert, es rauszuholen. Wir malen eine neue Welt. wird in Zukunft zu 100 Prozent albanisch Nie wieder Krieg! Bis zum nächstenmal. Was ich der SPD zum Vorwurf mache, ist, sein. Mittelfristig: Die militärische und po- Kaarßen (Nieders.) Maik Rücker daß sie in der Oppositionszeit kein durch- litische Präsenz der Nato in Jugoslawien dachtes Programm erarbeitet und nicht im (das heißt auf dem Balkan) ist gesichert Vorwege alle Widerstände abgeklopft hat. und kann während des langwierigen Auf- Genau auf dem richtigen Weg? Hamburg Helmut H.Pohl baus ausgebaut und modifiziert werden. Nr. 24/1999, SPD: Die Partei – Langfristig: Der politische Integrations- Schröders schwierigstes Reformprojekt Schröder und Blair vollziehen mit ihrem prozeß von Südosteuropa und Nordwest- Thesenpapier eine historische Wende in- europa kann kontrolliert und notfalls di- Ich habe ja nichts dagegen, wenn sich in nerhalb der Sozialdemokratie. Das erste rekt und quasi vor Ort beeinflußt werden. der SPD politisch denkende Menschen als Mal in der Geschichte der Sozialdemokra- Da kommt es optisch nicht schlecht, wenn „Modernisierer“ und „Traditionalisten“ tie erkennen führende Persönlichkeiten aus vorübergehend der Eindruck entsteht, die selbst etikettieren, aber das sollte kein ihren Reihen die Bedeutung des Marktes an Europäer nähmen jetzt ihre Probleme end- lich selbst in die Hand. Leipzig Prof. Dr. Uwe Hinrichs Vor 50 Jahren der spiegel vom 1. Juli 1949 Universität Leipzig Betriebsrat Theo Kögler auf der Suche nach der neuen Sozialordnung Alternative des Kapitalismus muß nicht der Sozialismus sein. Beschluß Im Grunde müßten die Nato-Befehlshaber der Kominform-Tagung Der abtrünnige jugoslawische „Trotzkist“ Tito über jedes neue serbische Massengrab, das soll liquidiert werden. England veröffentlicht Akten des Foreign Office gefunden wird, froh sein. Die wochenlange von 1919 bis 1939 Klärung der Schuldfrage des Zweiten Weltkriegs mög- lich? USA protestieren gegen britisch-argentinischen Handelsvertrag Bombardierung, die die serbische Armeee Aber England ist auf argentinische Fleischlieferungen angewiesen. Leih- nur minimal getroffen hat, endete nicht, wie häuser haben Hochkonjunktur Mitarbeiter als perfekte Warenkenner. gewünscht, mit einem triumphalen Ein- Diese Artikel sind im Internet abzurufen unter http://www.spiegel.de marsch der Befreier. Es waren die Russen, Titel: Michèle Morgan, französischer Filmstar die als Befreier gefeiert wurden, ohne eine

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dem Begriff „Neue Mit- te“ nichts anfangen kön- nen und ihn nicht selbst- bestimmt für die eigene Region ausfüllen, gibt es heute keine Arbeitsplät- ze und wird es sie in Zu- kunft auch nicht geben. Heidelberg-Schwetzingen Lothar Binding MdB/SPD

Wieso Schröder und Hombach sich so an das britische Modell von Mandelson und Blair an- lehnen, ist mir unklar. Die britische Wirtschaft pro- speriert längst nicht, das

AP Gesundheitssystem ist al- Parteichefs Blair, Schröder: Vorwärts und vergessen lenfalls entwicklungslän- dertauglich, die Arbeits- und sehen: Mit Rezepten des 19. kann man losigkeit ist nicht stark rückgängig, und die nicht das Süppchen des 21. Jahrhunderts Armut nimmt in dem Land atemberauben- kochen. Umwelt und Markt bedingen also de Ausmaße an. Selbständigkeit und Eigen- einander.Wenn die Sozialdemokratie noch verantwortung sind wichtige Standbeine im einsieht, daß auch Demokratie und wirt- Wettbewerb, aber man darf ihre Kraft nicht schaftliche Eigenverantwortung statt eines insoweit überschätzen, als daß man die So- protektionistischen sozialen Netzes einan- lidarität aufgibt. Man nimmt damit der Ge- der bedingen, ist sie auf dem richtigen Weg! sellschaft mehr Lebensqualität, als man ihr Viersen (Nrdrh.-Westf.) Marcus Hahn durch eine starke Wohlstandsvermehrungs- maschine geben könnte. Das Sparpaket der Bundesregierung kommt Frechen (Nrdrh.-Westf.) Stephan Dützmann zur Unzeit. Die SPD strampelt sich staats- tragend als Sparmeister ab, die Konservati- ven streichen bei den Wahlen den Profit Rückhaltlose Unterstützung ein. Was ist aus dem Vorsatz geworden, aus Nr. 25/1999, Regierung: Reformen im Zickzack-Kurs der Geschichte zu lernen? Köln Ingo Kolf Ihr dreiseitiger Beitrag wurde von sechs Autoren gezeichnet. Viele Köche. Ein Le- Wenn der SPD per Ukas die neue Moder- serbrief dazu birgt das Risiko, zu bestäti- nität vom Chef verordnet worden ist, gen, was nicht dementiert wird. Wollte ich braucht sie auch eine neue Identität, einen das vermeiden, benötigte auch ich drei Sei- neuen Namen, damit auch jeder im Lande ten. Eines kann aber wirklich nicht in der erkennt, daß der Sozialstaat eine virtuelle Welt bleiben. Frau Fischer und ich, wir sind Größe geworden ist. Deshalb sollte die nun ganz dicke. Menschlich bin ich von ihr ge- moderne Partei den Namen „Sozial-Kapi- radezu begeistert, und ihre Politik wird talistische Partei Deutschlands“ – SKD – vom gesamten Kabinett getragen. Das mir vom Kanzler verordnet bekommen. zugeschriebene Ereignis, ich hätte „ge- La Palma (Spanien) Irene und Paul Scheidt stänkert“ und den Satz gesagt, „im Herbst ist die Fischer fertig“, ist frei erfunden, wie Im Bericht wird die Einzelmeinung des andere Bösartigkeiten auch. So hat auch ehemaligen Europakandidaten Hans-Jür- meine rückhaltlose Unter- gen Moos, der mit Leerformeln und primi- stützung. Seine Rentenreform gibt den tiven Klischees, aber scharfen Worten auf Rentnern Sicherheit und den Jungen Zu- den Begriff der „Neuen Mitte“ und das versicht, daß auch für sie im Alter eine si- Blair-Schröder-Papier reagiert, breit dar- chere Versorgung gewährleistet ist. gestellt. Die Mitglieder des Ortsvereins Bonn Bodo Hombach Heidelberg-Pfaffengrund und die Bevöl- Chef des Bundeskanzleramtes kerung können mit diesem Begriff und in- novativen Ideen im Gegensatz dazu sehr viel anfangen: Von den industriellen Ar- Spürbar ans Portemonnaie beitsplätzen im Pfaffengrund wurden in Nr. 24/1999, Bildung: Wie Professoren sich die den letzten 20 Jahren über 80 Prozent al- Studenten vom Leib halten; Professor Hajo Schmidt ler Arbeitsplätze abgebaut. Und dort, wo und Professor Peter Martin Litfin wehren sich neue, zukunftsfähige Arbeitsplätze ent- standen sind oder der Mittelstand stabili- „Freiheit der Lehre und Forschung“ be- siert wurde, da ist die „Neue Mitte“ zu deutet im Klartext: Freiheit von Miet-, finden.Wenn allerdings selbst Politiker mit Kommunikations-, Einrichtungs- und Per-

12 der spiegel 26/1999 sonalkosten. Deswegen können Lehrstuhl- inhaber im Wettbewerb der freien Berufe unbeschwert kalkulieren.Allein im FB Psy- chologie werden jedes Jahr 15 bis 18 Um- satz-Millionen veranschlagt, die der „Herr Professor“ für Beurteilung, Schulung, Be- ratung oder Projekte einstreicht. Nur ein Narr würde auf so lukrativen Nebener- werb verzichten, der ohne jedes Risiko und praktisch zum Nulltarif zu haben ist. München Dipl.-Psych. Georg M. Sieber

Wie man sich Studenten vom Leib halten kann? Mein Rezept: Man braucht ein Mini- sterium beziehungsweise eine Universität, für die „Leistungsprinzip“ ein Fremdwort und das Universitätsgesetz ein Buch mit sie- ben Siegeln ist. Bieten Sie möglichst die be- ste Lehre an, und lassen Sie sich das be- stätigen, dann nehmen Ihnen die neidischen Kollegen bald die gesamte Lehre ab. Die Lehre im Grundstudium entzieht man Ihnen wegen angeblicher sexueller Belästigung von Studentinnen, was natürlich widerrufen wird. Im Hauptstudium erhalten Sie dann automatisch keine Mittel mehr für Ihre

Umstrittener Meeresbiologe Schmidt Fremdwort „Leistungsprinzip“

Praktika. Wenn Sie Pech haben, beteiligen sich die Studenten auch ohne Zuschuß an Ihren Praktika. Wenn Sie dann unglückli- cherweise in diesem Zusammenhang einen Prozeß gewinnen, wird die „Prüfungsrele- vanz“ Ihrer seit 27 Jahren abgehaltenen Lehrveranstaltungen verneint, und Sie er- halten wieder keine Gelder. Neckargemünd Prof. Hajo Schmidt

Das „Prof. Holiday-Syndrom“ wird sich wohl erst erfolgreich therapieren lassen, wenn es den Betreffenden deutlich spürbar ans Portemonnaie geht. Münster S. Westphal

Ich will Vorlesungen abhalten, doch „ver- kaufe“ ich nicht meine Klausuren im vorhinein als bekannt. Hier liegt der ei- gentliche Skandal in Worms, denn das ist Notendoping, ohne das aber unser Bil- dungssystem wohl nicht mehr auskommen kann – sonst hätte man aus dem Landtag von Rheinland-Pfalz auf meine drei Ein- gaben etwas gehört. Mutterstadt Prof. Peter Martin Litfin

der spiegel 26/1999 Briefe

und den dort Tätigen wird kenntnislos Un- Dahinter stecken Menschen fähigkeit vorgeworfen, als gebe es nur an Nr. 24/1999, Psychiatrie: Neue Konzepte im drei oder vier Orten adäquate Therapie- Umgang mit Sexualstraftätern verfahren. Tatsächlich gibt es in den letzten 15 Jahren im psychiatrischen Maßregelvoll- Der Artikel stellt einen wesentlichen Beitrag zug auf breiter Front überaus erfreuliche zur Beschreibung eines Dilemmas dar: den Verbesserungen in Richtung effektive The- „Umgang mit Sexualstraftätern“, ein Pro- rapie bei wirksamer Sicherung. blem, das im wesentlichen durch die kon- Berlin Prof. Dr. med. Hans-Ludwig Kröber kurrierende Wirkung von Emotionalität und Institut f. Forens. Psychiatrie der FU Berlin / SPORTIMAGE PRESSE SPORT Rationalität entsteht sowie durch die kom- Team Telekom auf der Tour de France 1998 plizierte Pflicht, potentielle Opfer zu schüt- Warum sollen hochgradig gefährliche Ein ganzes Leben hängt daran zen, (möglicherweise) kranke Täter zu the- Straftäter überhaupt wieder, wenn auch erst rapieren (unter anderem, um weitere Opfer nach 25 Jahren Sicherheitsverwahrung, in zu schützen), aber auch Kriminalität zu be- die Freiheit entlassen werden? – Damit sie Große Unruhe strafen. Man kann nur dann Opfer wirksam noch mal eine Chance in ihrem Leben be- Nr. 24/1999, Radsport: schützen, wenn man das Übel an der Wur- kommen? Die haben sie gehabt! Deren Op- Doping im Rennstall der Telekom? zel packt. Sie zeigen das große Engagement fer hingegen sind ihrer Chance meist auf an der therapeutischen Front, aber auch das brutale Weise beraubt worden. Ich kritisiere den Zeitpunkt der Veröffent- dringend Verbesserungsbedürftige. Manches Jesteburg (Nieders.) Alexander Sánchez lichung des Artikels. Dadurch wurde große Unruhe in das Team gebracht und dem Fan Ohne die Leiden der Op- letztendlich auch geschadet. fer zu vernachlässigen, ist Köln Terence Dörflinger es Ihnen gelungen, die vielschichtige Proble- Was erwarten Sie von einem jungen Sport- matik dieser Tätergruppe ler? Sollen die Fahrer sagen, ja, im Spit- zu verdeutlichen und zensport wird mit unerlaubten Substanzen ebenso die therapeuti- gearbeitet, solange diese nicht nachweisbar schen Bemühungen zu sind, oder sollen sie es verneinen? Eine beschreiben. Gerade die ganze Karriere und ein ganzes Leben hängt vielen Fallbeispiele ma- an so einer Aussage. chen klar, daß hinter den Tübingen Christoph Globas „Monstern“, wie sie oft dargestellt werden, Men- Was kann Godefroots Radlertruppe dafür, schen stecken, die ihren wenn von der Mär des „sauberen Erfolgs“ Perversionen und dem besoffene Werbetexter der Telekomiker daraus entstehenden weltfremde Glückwünsche annoncieren? Drang kaum etwas ent- Hockenheim (Bad.-Württ.) Jürgen Staudt

B. BEHNKE gegenzusetzen haben. Musik-Therapie: Auf der Ebene von Medizinmännern Bonn Prof. Anke Rohde Der großartige Erfolg eines deutschen Aus- nahmeathleten wird reduziert auf den Er- bei Ihnen klingt schlecht, aber in diesen Fäl- Warum bei der Behandlung von Sexual- folg der Pharmakonzerne. Dabei ist Erfolg, len ist die Realität schlecht. straftätern, trotz der Millionen, die zur basierend auf jahrelangem Training unter Halle Prof. Dr. med. Andreas Marneros Verfügung stehen, noch keine durchschla- Fachaufsicht, durchaus „nur mit Wasser“ genden Erfolge erzielt wurden, läßt sich möglich, wenn man dem Athleten die Zeit Zumeist liegt den wiederholten Taten eine vielleicht so erklären: E. Fuller Torrey, gibt. Das wird auch als hohe Kunst des ziel- schwere psychische Störung zugrunde, die Psychiater, sagte: „Die Techniken,die von orientierten Trainings bezeichnet. aus elementarem Ohnmachts- und Angst- westlichen Psychiatern benutzt werden, Wuppertal Thomas Sauer erleben resultiert. Gleich ob Straf- oder befinden sich bis auf wenige Ausnahmen Maßregelvollzug: Die heutigen Behand- auf genau der gleichen wissenschaftlichen Ich hatte den Eindruck bekommen, daß sich lungskonzepte genügen deshalb nicht, weil Ebene wie die von Medizinmännern.“ keiner der Kollegen aus der Fachpresse an sie nicht bis zur einsichts- und gefühlsgetra- Schlüsselfeld (Bayern) B. Sendner-Bayer die „heilige Kuh“ Telekom in Verbindung genen Bearbeitung des zentralen psychi- mit unerlaubten Dopingpraktiken heran- schen Konflikts vordringen, der abgespalte- traute. Gut, daß Sie nun versuchen, die nen destruktiven Wut. Dies kann nur in ei- Grauzone Doping zu beleuchten, den ner erst in jahrelanger Arbeit entstehenden VERANTWORTLICHER REDAKTEUR dieser Ausgabe für Panorama, Scheinheiligkeiten und Halbwahrheiten zu und von Schweigepflicht geschützten psy- Justiz, Aufbau Ost, Ermittler, Kirche, Spionage, Schatzsucher, Singles, diesem Thema Fakten entgegenzusetzen. Kosovo (S. 150): Clemens Höges; für Titel, CDU,Bundespräsident, Reichs- chotherapeutischen Vertrauensbeziehung tag: Dr. Gerhard Spörl; für Titel (S. 34), Umweltpolitik,Trends, Geld, Ge- Göttingen Holger Dirks geschehen, was Psychiater oft nicht so sehen. werkschaften, Buchpreise, Stromkonzerne, Internet, Erfinder, Online, Bremen Prof. Lorenz Böllinger TV-Konzerne: Armin Mahler; für Fernsehen, TV-Serien, Szene, Kino, Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe – bitte mit Architekten,Autoren, Bestseller, Kunst, Film, Theater, Talkshows, Chro- vollständiger Anschrift und Telefonnummer – gekürzt zu nik: Dr. Mathias Schreiber; für Spiegel des 20. Jahrhunderts: Dr. Dieter veröffentlichen. Der Artikel desinformiert über den psych- Wild; für Radrennen,Tennis: Alfred Weinzierl; für Panorama Ausland,Bal- iatrischen Maßregelvollzug, weil der Ver- kan, Serbien, Kosovo, Belgien,Türkei, Kaschmir, Chile,Australien, Groß- britannien: Dr. Olaf Ihlau; für Prisma, Prisma Computer, Medizin, Hirn- fasser das unüberwindliche Bedürfnis hat, Der Gesamtauflage dieser SPIEGEL-Ausgabe ist eine das Gruselbedürfnis seiner Leser zu bedie- forschung, Tiere, Archäologie, Automobile: Johann Grolle; für die übri- Postkarte der Dt. Steinzeug, Alfter, und einer Teilaufla- gen Beiträge: die Verfasser; für Briefe, Register, Personalien, Hohlspiegel, ge eine Postkarte der Deutschen Bank, Frankfurt, bei- nen und (sexuelle) Gewalttäter zu mystifi- Rückspiegel: Dr. Manfred Weber; für Titelbild: Stefan Kiefer; für Layout: geklebt. Einer Teilauflage dieser SPIEGEL-Ausgabe lie- zieren und zu dämonisieren. Entsprechend Rainer Sennewald; für Hausmitteilung: Hans-Ulrich Stoldt; Chef vom gen Beilagen von AOL Bertelsmann Online, Hamburg, werden die Maßregel-Kliniken in Bild und Dienst: Thomas Schäfer (sämtlich Brandstwiete 19, 20457 Hamburg) sowie die Verlegerbeilage kulturSPIEGEL/SPIEGEL-Ver- Text zu Horrorburgen, zur „Hölle“ stilisiert, TITELBILD: AKG; DPA lag, Hamburg, bei.

14 der spiegel 26/1999 Werbeseite

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Werbeseite Panorama Deutschland A. BASTIAN / CARO A. BASTIAN Gauck (im ehemaligen Zentralarchiv der Staatssicherheit in Berlin 1996)

STASI zeit zu ermöglichen. Gauck lehnte das ab: „Das widerspricht meinem De- mokratieverständnis.“ Birthler statt Chancenreichste Kandidatin für die Gauck-Nachfolge ist nach der Absage der früheren Bürgerrechtlerin Ulrike Gauck Poppe die Bündnisgrüne Marianne

Birthler, 51. Vor allem wegen ihrer A. SCHOELZEL oachim Gauck, der Bundesbeauftrag- Verwaltungserfahrung gilt sie in den Birthler Jte für die Stasi-Unterlagen, wird am Fraktionen der Regierungsparteien 2. Oktober nächsten Jahres aus seinem als geeignet: Von 1990 bis zu ihrem Rück- (SPD), der die Dienstaufsicht über die Amt ausscheiden. Nach eigenen Anga- tritt wegen der Stasi-Verstrickungen von Gauck-Behörde führt, haben sich intern ben strebt Gauck, 59, keine weitere Amts- Ministerpräsident Manfred Stolpe (SPD) bereits für Birthler ausgesprochen. Gün- zeit an. Der aus Rostock stammende Pfar- 1992 war die aus der ostdeutschen Bür- ter Nooke, Ex-Bürgerrechtler und CDU- rer war 1990 von der DDR-Volkskammer gerrechtsbewegung stammende Politike- Bundestagsabgeordneter, glaubt, „daß gewählt und dann 1995 vom Deutschen rin Bildungsministerin in Brandenburg, Marianne Birthler auch außerhalb der Bundestag im Amt bestätigt worden. Da danach Parteisprecherin der Grünen. Regierungsfraktionen Zustimmung fin- laut Stasi-Unterlagen-Gesetz der Bun- Derzeit leitet sie die Berliner Außenstel- den wird“. Damit würde sich der „dring- desbeauftragte nur einmal wiedergewählt le der grünen Bundestagsfraktion. lichste Wunsch“ Gaucks erfüllen: „Die werden darf, wäre eine Gesetzesänderung Sowohl deren Chef Rezzo Schlauch als Besetzung des Amtes sollten die Partei- nötig gewesen, um ihm eine dritte Amts- auch Bundesinnenminister en im Konsens regeln.“

WAFFENEXPORT glieder sitzen, hat die Entscheidung Das Auswärtige Amt beansprucht eine über den Waffen-Deal mit der Türkei Art Vetorecht bei Rüstungsexporten. Panzer für die Türkei? bisher vertagt. Begründet wird das Nein zum Waffen- geschäft mit dem Vorgehen as vom Grünen Joschka Fischer ge- der Armee gegen die Kur- Dführte Auswärtige Amt will ein um- den in der Türkei. fangreiches Waffengeschäft mit dem Nachdem man mit dem Nato-Partner Türkei verhindern. Das Hinweis auf schwerwiegen- vom Sozialdemokraten Rudolf Schar- de Menschenrechtsverlet- ping geführte Verteidigungsministerium zungen einen Kampfeinsatz und das Wirtschaftsministerium befür- in Jugoslawien befürwortet worten dagegen den Deal. habe, argumentiert die Eine deutsche Rüstungsfirma hat bei politische Führung des der Bundesregierung eine Voranfrage Außenministeriums, müsse für den Verkauf von 120 Panzern vom man der eigenen Glaubwür- Typ „Fuchs“ und die Vergabe für den digkeit wegen nun auch Lizenzbau von weiteren 1800 Stück in von der Türkei die Einhal-

der Türkei gestellt. Der Bundessicher- S. MÜLLER -JÄNSCH tung der Menschenrechte heitsrat, in dem mehrere Kabinettsmit- Bundeswehr-Panzer „Fuchs“ fordern.

der spiegel 26/1999 17 Panorama

EU-KOMMISSARE lance möge er den jeweiligen Staats- und Regierungschefs überlassen. Korb für die Ohne Prodis Einvernehmen indes kann Schröder keinen Kandidaten durchsetzen. Pro- Union di aber steht unter dem Druck der erstarkten Konservativen m Streit um die deutschen EU-Kom- im EU-Parlament. Dort macht Imissare bleibt Bundeskanzler Gerhard sich der Unionsabgeordnete Schröder hart. Er will nicht mit dem Elmar Brok Hoffnungen auf CDU-Vorsitzenden Wolfgang Schäuble einen Kommissions-Posten. über die Benennung zweier Kandidaten Die mit 230 Abgeordneten sprechen. „So, wie die sich aufführen, stärkste Fraktion will Prodi in sehe ich da keinen Sinn drin“, sagte er ei- einer Resolution auffordern, nem Vertrauten. bei den Kandidaten der Re- Schröders Kandidaten sind weiterhin die gierungen neben der Qualifi- Grüne Michaele Schreyer und der Staats- kation auch auf den Proporz minister im Auswärtigen Amt, der Sozial- zu achten. Das aber bedeute,

demokrat Günter Verheugen. Der soll, AFP / DPA daß Schröder einen Mann so Schröder am Montag letzter Woche, Prodi oder eine Frau der Opposition sogar einer der Stellvertreter von Kom- präsentieren müsse, sonst missions-Präsident Romano Prodi wer- Pflege der Beziehungen zum Europapar- würden die Parlamentarier womöglich den. Schröder hielt an Verheugen auch lament. einzelne Kandidaten ablehnen. Der SPD- gegen Einsprüche der Gewerkschaften Der Kanzler hat Prodi inzwischen wissen Parlamentarier Klaus Hänsch glaubt da- fest und lehnte deren Kandidaten ab.Ver- lassen, daß er sich keinen Unions-Kan- gegen nicht, daß die Konservativen aus heugen bringe geradezu ideale Voraus- didaten aufdrängen lasse. Er sei für eine anderen Ländern Prodi die Unterstüt- setzungen für die Aufgaben des Vizeprä- Art Arbeitsteilung. Prodis Aufgabe sei es, zung verweigern, um einen CDU-Kom- sidenten mit: die Osterweiterung, die die Qualifikation der Kandidaten zu be- missar durchzudrücken: „Das ist eine Reform der EU-Institutionen oder die werten. Fragen der innenpolitischen Ba- Drohkulisse mit viel Pappe.“

RECHTSEXTREME sen-Truppe, „kann selbst nicht multi- ASYLVERFAHREN kulturell sein“. Äußerst nordisches Die Kritik der Ex-Vorständler richtet Lästige Pflicht sich laut internem Rundschreiben vor Aussehen allem gegen den JN-Bundesvorsitzen- as Auswärtige Amt will sich einer den Sascha Roßmüller und den JN-Ak- Dlästigen Pflicht entledigen. Geprüft us Protest gegen die Aufnahme ei- tivisten Alexander von Webenau. wird, ob für die Entscheidung über Anes Bosniers in die NPD-Nach- Roßmüller hatte die Aufnahme des Bos- Asylanträge weiterhin Lageberichte aus wuchsorganisation Junge Nationalde- niers damit erklärt, man müsse bereit Krisengebieten erstellt werden sollen. mokraten (JN) ist der komplette sächsi- sein, „positive Elemente in die Volksge- Bisher orientieren sich die Behörden an sche JN-Landesvorstand aus dem meinschaft einzubinden“. Das neue den AA-Aufzeichnungen, wenn Flücht- rechtsradikalen Verband ausgetreten. Mitglied mit dem „äußerst nordischen linge wegen politischer Verfolgung in Wer die multikulturelle Gesellschaft Aussehen“, so von Webenau, sei „viel der Bundesrepublik Asyl beantragen. bekämpfe, so die Begründung der Sach- mehr Deutscher als einige von uns“. Häufig waren die AA-Papiere in der Die Sachsen, unterstützt Vergangenheit kritisiert worden, weil vom nordrhein-westfäli- humanitäre Organisationen die Verfol- schen JN-Landesverband, gung in Krisengebieten anders ein- sehen „das Prinzip der Ab- schätzten, so auch im Kosovo. Derzeit stammung“ verletzt. Wer werden Alternativen untersucht. So unter diesen Umständen könnten die Berichte des Flüchtlings- weiter bei der JN mitarbei- werks UNHCR als Grundlage für das te, begehe „Vaterlandsver- Asylverfahren herangezogen werden. rat“. Mit Verbündeten aus Nordrhein-Westfalen und Baden-Württemberg wollen Zitat die jungen ostdeutschen Rechtsradikalen mit einer »Die Korruptionsbekämp- „neuen Organisation“ den fung in Nordrhein-Westfa- „Kampf gegen das men- len läuft wie geschmiert.« schenverachtende kapital-

REUTERS imperialistische BRD-Sy- NRW-Innenminister Fritz Behrens Aufmarsch Junger Nationaldemokraten (in Leipzig) stem“ aufnehmen.

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CSU auch, den „Bayernkurier“ auszuglie- dern. Ein externer Verlag würde dann Tadel vom Berater sowohl die redaktionellen Mitarbeiter bezahlen als auch das Anzeigen- und ie CSU muß das Personal in ihrer Vertriebsgeschäft erledigen. Das Ber- DParteizentrale drastisch abbauen. ger-„Grobkonzept“ wird bis zum Som- Ein Großteil der Mitarbeiter im Münch- mer in den CSU-Gremien diskutiert, ner Franz-Josef-Strauß-Haus sei offen- bis zum Parteitag im Oktober soll ent- bar nicht ausgelastet, heißt es in einer schieden werden. Untersuchung der Unternehmensbera- tung Roland Berger, die Berger Partei- chef Edmund Stoiber vorgelegt hat. Bis zu 25 von insgesamt 75 Stellen, fürchtet man intern, stehen damit auf dem Spiel. Die Unternehmensberater bemängeln vor allem die Kommunikation und Ko- ordination unter den fünf Abteilungen sowie die unklare Aufgabenverteilung innerhalb der Doppelspitze des Hauses, Landesgeschäftsführer Erich Schmid und Generalsekretär Thomas Goppel. Positiv bewerten die externen Berater hingegen die Schlagkraft der Parteizen- trale bei politischen Kampagnen und Wahlkämpfen. Deutliche Veränderungen muß es dem „Grobkonzept“ Bergers zufolge auch beim Parteiorgan „Bayernkurier“ ge- ben, der die CSU jährlich mit einem Minus von rund vier Millionen Mark belastet. Als wahrscheinlichste Lösung gilt derzeit, daß die Wochenzeitung

künftig nur mehr 14täglich erscheint. EINBERGER / ARGUM T. Als denkbar gilt in der CSU-Spitze CSU-Zentrale in München

GRÜNE Bewegung“ pflege. Den Linken in der Partei fehle es an Machtwillen, die Rea- Geschichten von damals los sollten sich fragen, was darüber hin- aus geblieben sei. Die Führungskräfte ei den Grünen bahnt sich ein offe- „müssen ihren Hang zur eitlen Selbst- Bner Richtungsstreit an. 40 jüngere darstellung überwinden“. Der Appell an Funktionsträger, darunter die Bundes- die Alt-68er: „Hört auf, uns und die Re- tagsabgeordneten Katrin Göring- publik mit den Geschichten von damals Eckardt, Ekin Deligöz, Matthias Bernin- zu nerven.“ ger und Cem Özdemir, gehen mit der Die Autoren fordern eine konsequente Öko-Partei hart ins Gericht: „Als Teil Neuausrichtung. Die Grünen müßten der zweiten Generation sich zu „einer klaren wollen und können wir dem Kampfansage an die FDP“ Treiben der vielen morali- durchringen und das sierenden Besserwisser „brachliegende Erbe des nicht mehr tatenlos zuse- verantwortungsvollen Libe- hen.“ In acht Monaten Re- ralismus“ aufnehmen. gierungsverantwortung, so Dazu gehöre auch eine heißt es in einem fünfseiti- „Auswechslung der Mit- gen Papier, sei die „organi- gliedschaft“. Grüne, die sierte Verantwortungslosig- etwa bei der Europawahl keit zum Königsweg“ er- zum Boykott aufriefen klärt worden, kurz: „Die oder sich zusammenschlös- Grünen sind in der Krise, sen, „einzig mit dem Ziel, die Öffentlichkeit ist ver- Mehrheitsbeschlüsse der wirrt.“ Partei zu torpedieren, soll- Schuld daran, so die jungen ten sich überlegen, ob sie Autoren, habe vor allem nicht in einer linken Folk-

die Gründergeneration, die DPA loretruppe besser aufgeho- „das Ritual der alternativen Özdemir ben“ seien.

der spiegel 26/1999 Panorama Deutschland

Am Rande Glückliches Bonn n Bonn werden unangenehme INachrichten neuerdings mit einer solchen Freundlichkeit vor- getragen, daß man sich schon fragen muß, was für ein Zeug die am Kabinettstisch wohl C. AUGUSTIN rauchen. Beispiel eins: Eisenbahnbrücke über die Jeetzel Bodo Hombach. Der ATOMMÜLL errichten, kritisiert Peter Blaffert, ober- ließ sich erst von ster Denkmalschützer des Landkreises seinem Kanz- Marodes Nadelöhr Lüchow-Dannenberg. Blaffert besteht ler mit Lobes- darauf, daß „das äußere Erscheinungs- er umstrittene Castor-Transport bild der seltenen Stahlkonstruktion hymnen tee- Dvon der Atomanlage im französi- nicht beschädigt wird“. Ein Antrag ren und federn, um anschließend schen La Hague nach Gorleben, der von beim Eisenbahnbundesamt auf Aus- selig lächelnd in den Schluchten der Bundesregierung bis Ende dieses und Neubau werde daher „sicher nicht Jahres geplant ist, wird erst einmal am so einfach bewilligt, wie die Bahn sich des Balkans versenkt zu werden. Denkmalschutz scheitern. Eine „Fach- das vorstellt“. Beispiel zwei: Der Transrapid, werkbogenbrücke“ der Bundesbahn Die Verzögerung ist auch Niedersach- über den Fluß Jeetzel aus dem Jahre sens Ministerpräsident Gerhard Glo- auch so ein Exportschlager. Als 1874, über die alle Atommülltransporte gowski und seinem Umweltminister Anfang der Woche klar wurde, per Bahn in Richtung Zwischenlager Wolfgang Jüttner (SPD) recht: Wenn die daß die vom Bund zu finanzie- rollen müssen, ist altersschwach und Castor-Transporte schließlich wieder muß erneuert werden. Doch die Denk- durch das Nadelöhr über die Jeetzel rende Transrapid-Strecke nicht malschützer zögern. „Der Castor-Trans- rollen könnten, sei Weltausstellung in 6,1 Milliarden, sondern 9 Milliar- port ist zu schwer für die angeschlagene Hannover und es wären zuwenig Polizi- den Mark kosten würde, war der Bausubstanz“, so ein Bahnsprecher. Die sten für die Castor-Begleitung verfüg- Bahn will deshalb auf den denkmalge- bar. Der nächste Atomtransport nach Plan eigentlich tot. Das wäre im- schützten Pfeilern im Flußbett „eine Gorleben werde daher frühstens im merhin fast ein Drittel des Ei- völlig neue Brücke moderner Bauart“ Spätherbst 2000 stattfinden können. chelschen Blut- und Tränenpro- gramms. Schröder: „Das geht nicht, wir haben keine drei Mil- PDS liarden Mark.“ Doch vom Trans- Ohne Publikum Nachgefragt rapid lernen, heißt schweben lernen und so folgte ein Stück it dem Umzug des Bundestages in Widersetzt euch! Mden Berliner Reichstag möchte fröhlicher Kanzler-Pragmatik: Es sich die PDS-Fraktion eines basisdemo- Der Papst hat den werde, verkündete Schröder kratischen Relikts entledigen. Als einzi- deutschen katholi- vergnügt, daran festgehalten, daß ge Fraktion im Bundestag hält sie ihre schen Bischöfen die Sitzungen bislang öffentlich ab – eine Beteiligung an der der Fahrweg für 6,1 Milliarden ge- Form der Transparenz, die den Genos- Schwangerenbera- baut werde. Na, das hat Stil: Man sen Abgeordneten zunehmend mißfällt. tung mit Ausstellen muß nur lange genug versichern, Regelmäßig, so klagt ein Fraktionsmit- eines Beratungs- glied, würden die anwesenden Mitarbei- scheins verboten. daß man den Transrapid will, ter „die Diskussionen endlos in die Was meinen Sie? dann wird er in der Zwischenzeit Länge ziehen“. Der Umzug von Bonn nach Berlin bietet die Chance zum GESAMT FRAUEN MÄNNER so teuer, daß aus dem Projekt gar Wechsel: Der Sitzungsraum im Berliner Angaben in Prozent Die Bischöfe sollten nichts mehr werden kann, jeden- Reichstag, betonen PDS-Parlamentarier sich dem Verbot aus 76 78 74 falls nicht in Deutschland. gern, sei viel zu klein. Angenehmer Ne- Rom widersetzen beneffekt: Auch Medienvertreter könn- Aber vielleicht läßt sich das Ding Die Bischöfe sollten 7 6 9 ten nicht mehr uneingeschränkt inner- dem Papst gehorchen ja woanders verkaufen. Herr parteiliche Streitereien live verfolgen. Hombach, übernehmen Sie! Schon überlegt auch der Parteivorstand, Emnid-Umfrage für den SPIEGEL; rund 1000 Befragte; seine Sitzungen künftig in der Regel Befragungszeitraum: 22. und 23. Juni; an 100 fehlende ohne Publikum abzuhalten. Prozent: weiß nicht oder keine Meinung

20 der spiegel 26/1999 Werbeseite

Werbeseite JARDAI / MODUS Kanzler Schröder (am vergangenen Mittwoch in Bonn): Ein Versuch, den Reformstau zu durchbrechen Kraftmensch im Kanzleramt Gerhard Schröder als Abräumer: Die Reformprojekte sind auf dem Weg, der Unsicherheitsfaktor Hombach ist ehrenvoll abgeschoben, der Umzug nach Berlin beginnt. Der Kanzler gibt sich entschlossen, den Widerstand seiner Partei und der SPD-Ministerpräsidenten zu brechen.

as haben sie ihn verdroschen. Triumphgrinsen wie eine Deutschland- gramm der Macher gegen die Miesmacher“ „Mein lieber Schwan“, stöhnt flagge, als er das Sparpaket seines Kabi- –, signalisierte Schröders stolz geschürzte WGerhard Schröder. Daß er das netts als Entscheidung von historischer Oberlippe seine ganz persönliche Erfolgs- Sparpaket nicht hinkriegen würde, haben Tragweite vorstellte. botschaft: Das hättet ihr mir wohl nicht doch alle gedacht. Den Kosovo-Krieg wer- Während vor der Presse in Bonn die Ket- zugetraut. de er mit Sicherheit nicht durchhalten, die te der prunkenden Floskeln nicht abreißen Gerade noch war er als Maulheld und Rentenreform vergeigen. wollte – „Paradigmenwechsel in der deut- Versager von der Opposition und in den Und jetzt? In der vergangenen Woche schen Politik“, „größtes Reformprojekt in Leitartikeln verlacht worden, nun stand er hißte der Bundeskanzler sein schiefes der Geschichte der Bundesrepublik“, „Pro- da mit einem 30-Milliarden-Mark-Spar-

22 der spiegel 26/1999 Titel

haushalt, mit dem konzeptionellen Einstieg samtpaket zu bündeln. So nutzte er den das Holocaust-Mahnmal beim Branden- in Renten- und Gesundheitsreform und ei- Druck der verlorenen Europawahl, das burger Tor. Damit ist eine quälende De- nem achtbaren Ansatz für eine Unterneh- Angebot des programmatischen Schröder- batte, die elf Jahre währte, endlich beendet. mens- und eine Ökosteuer. Blair-Papiers, katastrophale Umfrage- Das Mahnmal soll nur der ermordeten Ju- Wieder einmal hatte es Gerhard Schrö- zahlen und die Aufbruchstimmung der den Europas gedenken; Sinti und Roma der seinen Kritikern gezeigt. Und diesmal letzten Sitzungstage am Rhein zu einem und Homosexuelle bleiben, wie Kritiker saß kein starker Mann mehr neben ihm, Versuch, den Bonner Reformstau zu durch- schon lange monieren, ausgespart. Neben der ahnen ließ, daß womöglich er die ent- brechen. dem Reichstag entsteht ein Betonstelen- scheidenden Fäden in der Hand gehalten Während im Regierungsviertel am Rhein feld nach dem Entwurf des amerikanischen hatte – schon lange kein für den großen Umzug gepackt Architekten Peter Eisenman, ergänzt um und nun auch nicht mehr Kanzleramtsmi- wurde, drängte sich das ein Informationszentrum und nicht um ein nister Bodo Hombach. Neue auch thematisch in 1504 Museum, wie es Staatsminister Michael Seit vergangener Woche ist Gerhard den Vordergrund. Am Naumann wollte. Baubeginn: der Ausch- Schröder seine eigene Chefsache. Freitag entschied der witz-Gedenktag 27. Januar 2000. Ein Kraftakt. Und mehr. „Vielleicht ist es Bundestag über Am Donnerstag dieser Woche wird Jo- kein Zufall, daß dieser Paradigmenwechsel geschätzt hannes Rau als Bundespräsident vereidigt, zu einem Zeitpunkt erfolgt, wo die Bun- seine Arbeit beginnt tags darauf im Schloß desregierung von Bonn nach Berlin um- Bellevue (siehe Seite 40). Kanzler Schröder zieht“, legte Schröder Bedeutung nach. 1299 und die Mehrheit seiner rot-grünen Regie- Ton, Zeitpunkt und Umstände machten rung ziehen nach und nach erleichtert in deutlich, daß dem Kanzler Größeres vor- die Hauptstadt um (siehe Seite 28). schwebte, als bloß das freilich überfällige Die Ära Bonn geht in dieser Woche zu Ende der rot-grünen Haushaltsstreitereien Ende. Die „keine Experimente“-Schonfrist per Machtwort. SCHULDEN DES BUNDES im Windschatten der Historie war ohnehin Dies war Kehraus und Umkehr zugleich. in Milliarden Mark; längst Vergangenheit. Geschichte ist die Mit dem Abschied von Bonn sollte auch die inklusive Sonderhaushalte ideologische Geborgenheit unter Konrad Wende kommen „vom fürsorglichen zum Quelle: BMF Adenauer im Kalten Krieg gegen das kom- aktivierenden Sozialstaat“, wie es Fi- munistische Moskau, vorbei die Gewißheit nanzminister Hans Eichel ausdrückt. wirtschaftlichen Wachstums wie zu Zeiten Schluß mit dem Rundum-Sorglos-Pa- Ludwig Erhards. Der idealistische Re- ket nach der traditionellen SPD-Be- formschwung unter Willy Brandt, das Ver- schlußlage. Statt dessen, so Eichel, eine trauen in das Management-Geschick „Neudefinition sozialer Politik“. Zu Helmut Schmidts, selbst der miefige den wichtigen politischen Fähigkeiten Trott unter Helmut Kohl – alles nicht Schröders gehört seine instinkt- mehr zukunftsfähig in den Augen gesteuerte Gabe, unterschied- der neuen Regierenden. lichste Tatbestände und Situa- Kanzler Schröder, der 1980 im Sog tionen zu einem politisch vagen, 802 der Franz-Josef-Strauß-Niederlage als aber emotional brisanten Ge- SPD-Abgeordneter in den Bundestag einzog, hat sich am Rhein nie sonder- 697 Finanzminister lich heimisch gefühlt. „Ich werde Bonn Hans Eichel ab 1990 nicht vermissen“, teilt er den gekränk- Langer Weg Gesamt- ten Rheinländern unumwunden deutsch- mit. Das war am vergangenen aus dem land Dienstag, als die Sozialde- Schulden- staat

435 Weiterentwicklung nach 70 der mittelfristigen REUTERS 60 Finanzplanung 46,7* 50 53,5 49,5 40 50,1 46,1 41,2 30 22,4 NETTOKREDITAUFNAHME 20 2000 30,4 in Milliarden Mark 10 2001 2002 2003 0 Quelle: BMF *ab 2. Halbjahr 1990 Gesamtdeutschland

1985 9091 95 99

der spiegel 26/1999 23 Titel Vom „Chef BK“ zu „Mr. Balkan“ Ungewöhnlich stilvoll trennt sich Gerhard Schröder von seinem Kanzleramtschef Bodo Hombach – ein Befreiungsschlag für alle Beteiligten.

rfolgreiche Politik, so do- ziert Gerhard Schröder Egern, die geht ganz einfach. „Die Leute dürfen keine Angst haben.“ Bodo Hombach, 46, hatte in seinem Job als Kanzleramtsmi- nister zuletzt ein gewaltiges Pro- blem: Viele Menschen fürchteten sich vor ihm. Für den Sozialdemokraten war Hombach der neoliberale Dämon. Die Minister mühten sich, ihre Vorgänge an ihm vorbei zum Kanzler zu schleusen. Der Koalitionspartner sah in ihm den Grünen-Fresser. Und allen schwante, daß das Rumoren über die Finanzierung seines Haus- baus das gesamte rot-grüne Pro- jekt lädieren könnte. Schließlich hatte die Furcht auch den Kanzler erreicht. Der Mann für die Chefsachen war selbst zur Chefsache geworden. Kühl analysierte Schröder das Verhältnis von Nutzen und Risi-

ko. Das war Hombachs Aus. DPA In einer bemerkenswert stil- Kanzler Schröder, Vertrauter Hombach: Posten von angemessener Großartigkeit vollen Operation hat sich der Bundeskanzler von einem zentralen Mit- schwärmte. So was Tolles, so der US-Prä- fer nützlich gewesen. „Bodo, ich brauch’ streiter getrennt. Schon diese Woche sol- sident, würde er auch gern mal machen. dich“, sagte Schröder oft. len die EU-Außenminister in Rio de Ja- Nun war klar: Der Posten hatte die Hom- Damit hatte der Kanzler ein Problem neiro beim europäisch-lateinamerikani- bach angemessene Großartigkeit. Im institutionalisiert. Denn die erfolgreich- schen Gipfel beschließen, daß Hombach Blitztempo organisierte Steiner mit Hilfe sten Manager der Macht waren stets ganz der Koordinator des Stabilitätspakts für von Fischers Außenamt Geld und einen andere Typen als der gelernte Fernmel- Südosteuropa wird, der „Mr. Balkan“. Stab exzellenter Mitarbeiter. detechniker. Ob Helmut Schmidts Man- Von Brüssel und Sarajevo aus kann der Kaum stand der Rahmen, brachen die fred Schüler oder bei Hel- große Kommunikator mit dem dicken Te- üblichen Bonner Verlogenheitsarien los. mut Kohl – immer war es ein uneitler, lefonbuch nun Politik und Wirtschaft, die Nur schweren Herzens, so tremolierte der fleißiger, diskreter Charakter mit integra- reichen EU-Länder und die schwer bere- Kanzler, opfere er seinen „besten Mann“ tivem Charme, der für den Chef den täg- chenbaren Staaten des Balkans in ein hi- für die gute Sache. lichen Regierungskram wegräumte. Der storisches Wirtschaftswunder begleiten. Tapfer freut sich Hombach nun auf den Diskret hatten Schröder und sein au- „tollen Job“ und auch darüber, daß „ich ßenpolitischer Berater Michael Steiner zum erstenmal seit langem wieder fröh- den Coup auf dem Kölner Gipfel ausge- lich aufstehe. Da unten ist ja so was wie lotet. Nur Außenminister Joschka Fischer ein Unternehmen aufzubauen“. und Hombach selbst wußten davon. Der Das ist nicht mal die halbe Wahrheit. ursprüngliche Plan, den angeschlagenen Hombachs Traum war immer der „Chef Minister als EU-Kommissar nach Brüssel BK“, wie der Kanzleramtsminister intern zu schicken, war geplatzt. Das Geraune heißt. Und Schröder konnte nach dem ums Haus in Mülheim war auch bis zum Wahlsieg kaum anders, als seinem dicken designierten Kommissionspräsidenten Kumpel und Helfer diesen Wunsch erfül-

Romano Prodi gedrungen. len. Schließlich war Hombach ein Jahr PRESS ACTION Der Durchbruch kam, als Bill Clinton lang als Stratege, Berater, Freund, Prell- Kanzleramts-Staatssekretär Steinmeier in Köln wie bestellt von dem Balkan-Job bock, als Zigarren- und Rotweinbeschaf- Integrativer Charme

24 der spiegel 26/1999 mokraten ihre im Streit erhitzten Gemüter bei einer Bonner Abschiedsparty mit viel Staatssekretär im Kanzleramt Frank-Wal- riglohnsektor künftig schuften soll. Und Kölsch zu kühlen versuchten. Gerade hat- ter Steinmeier, der Schröders Staatskanz- nichts macht ihn stolzer als das braune ten die Chaos-Tage der Koalition einen lei in Hannover in Schuß gehalten hatte, Streichholzheftchen mit der Aufschrift vorläufig letzten Höhepunkt erreicht: kommt diesem Profil ziemlich nahe. „Bundeskanzleramt“, das man bei Gele- Während der Kanzler im Fernsehen eine Die Qualität des Mülheimers dagegen, genheit mal fallen lassen konnte. Erhöhung der Vermögensteuer ausschloß, neue Themen in Windeseile auf ihr stra- Sein Talent, andere gegen sich aufzu- hatte sich kurz zuvor seine Fraktion für tegisches Potential hin zu durchdringen, bringen, wirkte auch im Kanzleramt. das Gegenteil entschieden. war als Chef BK weniger gefragt. Und Schröders kühle Hannoveraner Mann- Gleichwohl wirkte Schröder, den sein die Gabe des Demagogen, immer und schaft nahm mit mühsam unterdrücktem Fraktionsvorsitzender Peter Struck als ei- überall zu polarisieren, war in der chao- Zorn zur Kenntnis, daß Hombach nach nen Mann begrüßte, „der bis an die Gren- tischen Anfangszeit erst recht hinderlich. außen den Zampano machte und immer zen der physischen und psychischen Be- Der Politjunkie opfert sein Leben dem neue Chefsachen erfand. Nach innen aber lastbarkeit für unser Land gearbeitet hat“, Job. Als ihm ein Freund unlängst besorgt richtete die personifizierte Flipperkugel bemerkenswert aufgekratzt und zufrieden. mitteilte, daß er seine Gesundheit rui- täglich neues Durcheinander an. Die Trennung von Kanzleramtschef Hom- niere, soll er mit den Schultern gezuckt Mit den Monaten mauerte sich Hom- bach war zu diesem Zeitpunkt schon be- haben. Es blieb der Eindruck, daß er den bach im Kanzleramt immer mehr ein und siegelt (siehe Seite 24). Infarkt am Schreibtisch billigend in Kauf erwiderte Mißtrauen mit noch mehr Miß- Schröder hatte den Entschluß gefaßt, das nehmen würde. trauen – das Schicksal vieler Berater. Wie Heft jetzt endgültig selbst in die Hand zu Hombach gehört zu den raren Kräften Clintons einstiger Einflüsterer Dick Morris nehmen und dem Nachweis seiner Kom- im politischen Geschäft, die langfristig zog Hombach sich mit seinem direkten petenz in der Außenpolitik auch einen Be- strategisch denken und gleichzeitig einen Draht zum Kanzler Neid zu. Unaufhaltsam fähigungstest in der Innenpolitik folgen zu untrüglichen Instinkt für den Alltag ha- drehte sich die Abwärtsspirale. Ob die lassen. Denn nur so, behauptet er, sei si- ben. Er prägte für den nordrhein-westfä- Verhandlungen über die Entschädigungen cherzustellen, „daß unsere Regierung nicht lischen Ministerpräsidenten Johannes Rau für NS-Zwangsarbeiter stockten, klassische Slogans wie „Versöhnen statt Schröders Prestigeprojekt „Bünd- Spalten“ oder „Wir in NRW“, für Ger- nis für Arbeit“ stotterte oder der hard Schröder erfand er die „neue Mitte“. tägliche Abstimmungsmarathon Als die Preussag Stahl AG Anfang ver- im Amt holperte – immer schien gangenen Jahres an die österreichische Hombach beteiligt zu sein. Voest-Alpine AG verkauft werden sollte, „Ich war wohl die Projektions- inszenierte Hombach die Übernahme des fläche für das Böse“, sagt er ohne Stahlwerks durch die Landesregierung. Zorn. Daß er es vergangenen 12000 Beschäftigte jubelten dem Macher Freitag fertigbrachte, die von den Schröder zu und mit ihnen ganz Nieder- Amerikanern in der Wendezeit sachsen: 47,9 Prozent holte die SPD im aus Ost-Berlin in der „Operation März 1998 bei der Landtagswahl und Rosenholz“ erbeuteten HVA-Ak-

Schröder damit die Kanzlerkandidatur. ten zurückzuholen, ging unter. AFP / DPA Der hochsensible Hombach verfügt Erfolgreich hatte Hombach für Staatsmänner Clinton, Schröder*: Episode oder Epoche? über ein feines Radar für gesellschaftliche andere Mehrheiten und Sympa- Tendenzen. Jedes Gespräch gerät ihm thien organisiert – nur für sich selber nur eine Episode bleibt, sondern eine Epo- umgehend zu einem Check: Woher weht nicht. Er gab immer den bösen Buben. che währt“. der Wind, wie heißen die Themen, wie Er habe sich auf keine Hausmacht stüt- Nach der verheerenden Schlappe bei der lassen sie sich inszenieren? zen können, verbreitete Hombach und Europawahl hatten die harschen Kom- Hombach denkt und inszeniert Politik habe „auch zu wenig getan, eine eige- mentare in den Medien, von der Opposi- in Theaterkategorien. Immer gibt es einen ne aufzubauen“. Das sei ein Fehler tion und aus den eigenen Reihen den oft Bösewicht, vor allem aber einen strah- gewesen. zaudernden und nachgiebigen Schröder lenden Sieger – und das ist stets sein je- Genüßlich sahen die Genossen, daß aufgeschreckt. Er verstand wieder. Vor al- weiliger Chef. Blitzschnell ist Hombach Hombach nun selbst die Sorge hatte, die lem fand er ärgerlich, daß er den Kritikern zu begeistern, doch genauso rasch erlah- er anderen eigentlich zu bereiten pflegte: in manchem recht geben mußte. men seine Interessen. Nie ist man sicher, das Glaubwürdigkeitsproblem. Weil im Eigentlich ist Schröder ein großer und was er wirklich denkt. Fortwährend August das Landgericht Bochum auch geübter Verdränger, aber die Prügel emp- schiebt er Wortwolken und hängt seman- noch ein Verfahren gegen seinen einstigen fand er als schmerzhaft. Aushalten könne tische Schleier – es gibt kaum einmal rich- Bauleiter eröffnet, in dem Ungereimthei- man das nur, bekannte er in vertraulicher tig und falsch, wahr und unwahr. ten zum Hausbau zu befürchten sind, Runde im Kanzlerbungalow, wenn man Sicher ist nur eines: Er schätzt die große mußte Schröder rechtzeitig vor dem Som- das, was man mache, auch wirklich gern Geste. Für einen wie ihn durfte Geld nie merloch die Zeitbombe entschärfen. tue. Und daran hat er auch in seinen un- eine Rolle spielen. Nach zehn Jahren als Doch ein Abschied auf Dauer wird es glücklichen Phasen keinen Zweifel: Regie- Landesgeschäftsführer der SPD-NRW wohl nicht sein. Macht Hombach seinen ren macht ihm noch immer Spaß. hinterließ er der Partei etwa 18 Millionen hochbezahlten Job auf dem Balkan Die Kraft zum Neuansatz holte sich der Mark Schulden, die Kosten seiner Wahl- gut, ist die Rückkehr keinesfalls ausge- robuste Niedersachse aus den Erfolgen bei kämpfe gerieten stets außer Kontrolle. schlossen. Der neue Vertrag läuft zwei der Gipfeldiplomatie. Die strahlenden Au- Hombach gönnt sich edle Klamotten Jahre, mit jährlicher Option auf Verlän- genblicke im Kreise der Großen der Welt und feines . Er qualmt Zigarren, die gerung. Spätestens im Wahlkampf 2002 – ein Boris Jelzin, der sich auf ihn stützte, mehr kosten, als einer am Tag verdient, stünde der Mann für alle Fälle wieder ein Bill Clinton, der mit ihm hoch über der in dem von ihm angedachten Nied- bereit. Hajo Schumacher dem Rhein, dort, wo Siegfried den Dra-

* Am vergangenen Montag in Bonn.

der spiegel 26/1999 25 Titel AP Ursprünglicher Eisenman-Entwurf für das Berliner Holocaust-Mahnmal*: Elf Jahre quälende Debatten chen tötete, auf die Gesundheit anstieß – schieden ab: „Das ist emotional besetzt, lieferten dem gerade der Provinz entlau- das ist nicht zu machen.“ fenen Kanzler Energie für den Durchbruch Heidemarie Wieczorek-Zeul wollte die 128 122 im tristen Bonner Alltag. von der Not erzwungenen Reformen am 116 Er konnte sie gebrauchen. Ob am ver- Wohlfahrtsstaat nicht hinnehmen. Am 110 gangenen Montag im Parteipräsidium, im späten Abend, beim Essen mit dem Kanz- Kreis seiner Minister oder in der Koali- ler, wagte sich die 2000 2001 2002 2003 tionsrunde: Überall stieß er zunächst auf Entwicklungshilfemi- Steter Tropfen Widerstand. Aber erstmals demonstrierte nisterin als einzige der Bundeskanzler, was er bislang hatte von allen Ministern vermissen lassen: Richtlinienkompetenz. nochmals vor. „Ich MINERALÖLSTEUER 104 BENZINPREISE in Pfennig je Liter; 98 in ausgewählten Nervöse Anmerkungen der Länderchefs mach’ das nicht mit“, Normalbenzin bleifrei Ländern in Mark je Liter (Saarland) und Manfred rief sie vernehmlich. 82 bleifreies Eurosuper Stolpe (Brandenburg), denen Schlappen Vergebens. bei ihren Landtagswahlen im September Der Kanzler blieb Großbritannien 2,21 Dänemark 1,93 drohen, parierte er im SPD-Präsidium per- auch in der entschei- 60 sönlich: „Wir haben keine andere Wahl.“ denden Kabinettssit- Italien 1,86 49 Gegen die ätzende Kritik von Rudolf zung am vergangenen Niederlande 1,85 Dreßler am Rentenkonzept („Wählerbe- Mittwoch standhaft, Frankreich 1,83 trug“), der sich soweit mit CDU-Chef Wolf- als die Ministerrunde Österreich 1,69 gang Schäuble einig ist, ließ er Walter Rie- kollektiv einen letzten Deutschland 1,67 ster antreten. Belgien 1,66 Den Versuch des Arbeitsministers wie- * Vom revidierten Eisenman- Portugal 1,60 Entwurf mit weniger Stelen derum, das Sterbe- und Mutterschaftsgeld und einem Informationszen- Spanien 1,35 zu kürzen, blockte er höchstselbst ent- trum gibt es noch kein Modell. 1985 1990 1995 99 2003 Stand: Juni 1999

26 der spiegel 26/1999 Versuch unternahm, das schon geschnürte hoffentlich noch erkennen, daß sie ihren Paket noch einmal aufzudröseln. Dem Kopf nicht nur zum Haareschneiden hätten „Operation Sparschwein“ Wirtschaftsminister fielen plötzlich die Sor- –, fand er intern den richtigen Ton. Selbst Wie Eichels Coup gelang gen von Mittelstand und Handwerk wieder der Traditionslinke Konrad Gilges, latenter ein, dem Verkehrsminister sein geliebtes Kritiker des Schröder-Kurses, stimmte für 11. März Rücktritt Oskar Lafontaines; Hans Spielmobil Transrapid, der Innenminister Rentenreform und Sparpaket. Eichel wird zum neuen Finanz- protestierte gegen die gestrichene interna- Die geradezu schlafwandlerische Si- minister berufen. tionale Polizeiaufbauhilfe. cherheit des Kanzlers in diesen entschei- Dagegen mußte Schröder gar nicht mo- denden drei Tagen beeindruckte Freund 22. April bilisieren, das erledigte ein Gast: der schei- und Feind. Schröder, der oft extrem zu Eichel verschiebt die geplante dende Bundesbank-Präsident Hans Tiet- schwanken scheint zwischen Siegerpose Unternehmensteuerreform auf das Jahr 2001. meyer. Der lobte das Sparpaket und hob und Blick in den Abgrund, hielt in der ver- Lafontaine, Herzog die Signalfunktion für die internationalen gangenen Woche eine verblüffend stabile 4. Mai Finanzmärkte hervor. Die Minister verfie- und hochgemute Mittellage durch. Ent- Der Finanzminister kündigt len in andächtiges Schweigen. spannt gab er im ZDF („Was nun, Herr einen Sparkurs „ohne Tabus“ an... Am Ende gewährte Sparkommissar Ei- Schröder?“) den souveränen Medienkanz- 14. Mai chel lediglich dem Landwirtschaftsminister ler, beim Abschiedsfest der SPD-Fraktion ...und legt sich auf die Karl-Heinz Funke, seinen Gartenbauern den aufgedrehten Ehrengast und spät am Sparsumme von 30 Milliarden Mark fest. und Blumenhändlern wegen eines Re- Abend den entschiedenen Parteichef. 17. Mai chenfehlers noch eine be- Er hatte offenbar nicht Alle Minister sollen „solidarische Konsolidie- scheidene Zugabe. Anson- nur verstanden, er hatte rungsbeiträge“ vorbereiten. Jedes Ressort muß sten gab es keine Nachläs- auch gelernt, daß sich seinen Etat um 7,4 Prozent kürzen. Arbeitsmini- se. Für niemanden. Entschlossenheit bezahlt ster Walter Riester, der den größten Einzelbei- Schröder stand voll un- macht und daß die Einhal- trag erbringen soll, stimmt grundsätzlich zu. ter Dampf.Vor einer Grup- tung unerläßlicher Infor- 15. Juni pe von Automanagern,VW- mationsregeln dem Gelin- Eichel stößt in der SPD-Fraktion bei der Vorstel- Konzernchef Ferdinand gen der Reformen förder- lung seiner Sparpläne nach eigener Einschät- Piëch an der Spitze, brach- lich ist. In aller Eile und zung auf „großes Verständnis“. te er am Dienstag morgen höchst diskret ließ er am 16. Juni den grünen Umweltmini- Dienstag morgen für den „Er rasiert uns alle“, titelt die „Bild“-Zeitung. ster Jürgen Trittin auf Linie. gleichen Abend die Mini- Der Kanzler hat vor allem Bedenken gegen die Er solle eine „Blockier- sterpräsidenten und Fi- Riester-Vorschläge: „Man muß den Leuten ver- mehrheit“ gegen die Brüs- nanzminister der SPD-Län- mitteln, wofür die Rente gekürzt wird.“ seler Altauto-Richtlinie or- der nach Bonn bitten. Sie 17. Juni ganisieren, befahl Schröder. sollten von den Eichel-De- Eichel weiht die grüne Fraktionsspitze in die Eine demütigende Aufgabe tails erfahren, bevor sie tags Streichliste ein. Der Kabinettsbeschluß zur Spar- für den auf Renitenz gepol- darauf der Öffentlichkeit liste wird um eine Woche auf den 23. Juni vorge- ten Trittin – ein einmaliger präsentiert wurden. zogen. EU-unfreundlicher Akt der Harmonisch verlief die 18. Juni einstigen Europa-Muster- Runde nicht. Die geplagten Offene Differenzen in den Koalitionsparteien schüler in Bonn. Länderfürsten trugen noch über die obligatorische private Renten-

Stunden später, beim REUTERS einmal vor, daß sie neue Zusatzversicherung, die Riester plant. „Das Maß Tête-à-tête mit den mäch- Staatsminister Naumann Belastungen nicht aushiel- ist voll“, heißt es in der SPD-Fraktionsspitze. tigen Chefs der Stromkon- ten, weil ihre Etats ohnehin 21. Juni zerne, ersparte der Kanzler seinem Um- schon am Rande der Verfassungsmäßigkeit Die SPD-Fraktion läßt sich von Eichel und Riester weltressortchef großzügig den endgültigen lägen. Als der Hamburger Bürgermeister über die Details der Reform unterrichten. Schrö- Gesichtsverlust. Hätte er sich mit den Kon- Ortwin Runde und die Brandenburger Fi- der versucht, die SPD-Ministerpräsidenten für zernchefs über den langfristigen Ausstieg nanzministerin Wilma Simon den Kanzler die Operation zu gewinnen. In der Koalitionsrun- aus der Atomenergie sogleich geeinigt, mit allzu dick aufgetragener Larmoyanz de kommt es zum Streit über die Ökosteuer. In wäre der Grüne vollends zur absoluten Ne- nervten, riß ihm die Geduld. „Leute, ent- der anschließenden Ministerrunde wehrt sich benfigur erklärt worden, der kleine Koali- weder wir machen es, oder wir machen es vor allem Heidemarie Wieczorek-Zeul gegen die tionspartner unnötig in Rage geraten. nicht“, polterte er. „Ihr müßt endlich mal Einsparungen: „Das mache ich nicht mit.“ „Der Schröder“, so fiel Teilnehmern der sagen, was ihr wollt!“ Inständig be- 22. Juni Konsensrunde auf, „wollte keine Entschei- drängte er die Runde, „das große SPD und Grüne einigen sich dung.“ Ausdauernd ließ er sich Details des Paket bitte nicht zu zerreden“. auf die nächsten Ökosteu- Ausstiegskonzeptes erklären, das sein Wirt- Ein kleines Bonbon gab es dann er-Schritte. In der SPD- schaftsminister Werner Müller – vorbei an aber doch: Finanzminister Eichel Fraktion kann Schröder die Trittin – mit den Bossen ausgehandelt hat- machte den Ministerpräsidenten Abgeordneten für das te. Der Kanzler ist überzeugt, daß Müllers Hoffnung auf eine Änderung bei der Sparpaket und die Eck- zähe Verhandlungen am Ende den Kon- Erbschaftsteuer: „Wenn ihr das punkte der Rentenreform sens mit den Strommanagern bringen wird. wollt und braucht, müßt ihr das an gewinnen. Die Mehrheit ist Trittin muß zuschauen – aber lassen sich den Bund herantragen.“ Eine Bund- nach dem Auftritt des Ab- das die Grünen auf Dauer bieten? Länder-Arbeitsgruppe soll jetzt die geordneten Karl Hermann Nächste Station – die SPD-Fraktion. Möglichkeiten für eine Erhöhung Haack gesichert: „Wir dür- Energiegeladen stellte sich der Kanzler den der Erbensteuer und den Subven- fen nicht mehr rückwärts gehen. Es gibt nur eine zweifelnden und murrenden Genossen – tionsabbau ausloten. Eichel, Schröder und obsiegte. Denn während er öffentlich Am Ende dieser erstaunlichen Richtung: vorwärts!“ bisweilen äußerst abschätzig über die Ab- Bonner Woche, der eine Woche am 23. Juni geordneten zu reden pflegte – sie würden Rande des Zusammenbruchs vor- Das Kabinett verabschiedet das Sparpaket.

der spiegel 26/1999 27 Titel Akten per E-Mail Geteilte Ministerien, provisorische Büros, zu wenige Flüge für die Pendler: Der Umzug nach Berlin, der diese Woche beginnt, nervt schon jetzt die Beamten.

alter Riester schwant Übles. Wie seine Kabinettskollegen Wsoll der Arbeitsminister ab 6. September von Berlin aus regieren.Aber wie? In seinem Berliner Domizil, dem frühe- ren Nazi-Propagandaministerium an der Mauerstraße, werden die Handwerker noch mindestens ein Jahr lang die Ober- hoheit besitzen. Gleich neben der Bau- stelle, in einigen fertigen Räumen und in vielen Provisorien werden Beamte sit- zen, die wenig Ahnung von ihren Aufga- ben haben. Rund die Hälfte der 220 Stel- len, über die Riester in Berlin verfügen kann, ist mit neuem Personal besetzt. Der Großteil seines Ressorts, etwa 800 Kräf- te, bleibt dagegen in Bonn. Nach dem Hauptstadtbeschluß von 1991 teilen sich die 14 Ministerien zwi- schen Bonn und Berlin auf. Nur der Bun- destag zieht komplett um. Prinzipiell sol- len möglichst wenige Staatsdiener ihren Chefs in die Großstadt folgen müssen. Zwei Drittel der ministeriellen Arbeits- plätze, rund 12 000, bleiben Bonn er- halten. Überall müssen nun Stellen nach ei- nem komplizierten System getauscht, Or- ganisationseinheiten verändert und neue Kräfte geschult werden. Weit mehr als LUFTBILD LAUBNER BERLIN Regierungs- und Bundestagsbaustellen in Berlin: „Vorübergehende Kompetenzlücken“

6000 Bundesbedienstete rotieren in Mi- sogenannte Sozialpunkte nennen konnte, nisterien, anderen Behörden und Institu- muß nicht umziehen.“ ten an der größten Jobbörse der Repu- Wegen pflegebedürftiger Angehöriger blik. in Bonn etwa verlassen jetzt etliche Mit- Besonders arg trifft es das Haus Rie- arbeiter Heyes das Bundespresseamt ster. Der Leiter des Referates „Grund- (BPA) und wechseln zu einer anderen satzfragen des Arbeitsrechts“ beispiels- Behörde am Rhein. Dafür muß das BPA weise hat sich unlängst in den Ruhestand Berliner Beschäftigte vom künftig in verabschiedet. Seine Sachbearbeiter Bonn angesiedelten Bundesinstitut für ließen sich versetzen, um nicht mit nach Berufsbildung aufnehmen. Berlin zu müssen. Nur noch ein Referent Richtig gefrustet sind etliche Staats- versteht wirklich etwas vom Thema – diener in den sechs sogenannten Bonn- „vorübergehende Kompetenzlücken“ Ministerien. Der erste Dienstsitz der heißt das hübsch artig im Ministerial- Ressorts Verteidigung, Gesundheit, Um- jargon. welt, Forschung, Landwirtschaft sowie Jetzt rächt sich, daß die Parlamenta- Entwicklungshilfe liegt weiterhin am rier großzügiger als jeder private Arbeit- Rhein. Der Zweitsitz, intern „Kopfstelle“ geber die Wünsche der Staatsdiener genannt, befindet sich in Berlin. Das berücksichtigen wollten. Bei dem tau- Problem dabei: Mehr Beamte des hö-

C. BACH sendfachen Stellentausch zählten „nicht heren Dienstes drängen in die Haupt- Bundestagstransport (vor dem Reichstag) Eignung und Bedarf“, klagt Regierungs- stadt, als dort Planstellen vorgesehen Stellentausch mit Sozialpunkten sprecher Uwe-Karsten Heye: „Wer genug sind.

28 der spiegel 26/1999 ausgegangen war, sammelte der neue Kraft- mensch im Kanzleramt zufrieden die posi- Zwar hielt das rot-grüne Kabinett eine Peter von Kirchbach mit Teilen des tiven Rückmeldungen ein.Verschämt, aber „Aufstockung des Personals für die Führungsstabes untergebracht. Scharping, eilig, zollten die Wirtschaftsbosse Respekt. Dienststellen in Berlin bis zur Grö- der Leitungsbereich und der geteilte Pres- „Ein gutes Signal, ein überfälliges Signal“, ßenordnung von 25 Prozent für erforder- sestab residieren in einem vorübergehend ließ sich der krawallige BDI-Chef Hans- lich“. Aber so gut wie alle Versuche der angemieteten Bau im Bezirk Tiergarten. Olaf Henkel vernehmen. BDA-Kollege Die- Chefs, ihre Berliner Mannschaft offiziell Insgesamt sollen nicht mehr als 350 der ter Hundt erkannte eine „Trendwende“. von 10 auf 25 Prozent der Stammbe- 3500 Bediensteten Bonn verlassen. Doch Tief verunsichert, aber solidarisch, rea- legschaft zu vergrößern, scheiterten bis- auf der Hardthöhe arbeiten viele gegen gierten auch die Traditionsbataillone der diesen Plan. So drängen die Inspekteure Genossen. „Wir anerkennen das Bemühen von Heer, Luftwaffe und Marine mit von Minister Eichel“, verkündete DGB- Macht an die Spree. Sie befürchten, sonst Chef Dieter Schulte. Zu einem strammen ihren herausgehobenen Status als Abtei- „Ja, aber“ rang sich auch ÖTV-Kollege lungsleiter zu verlieren. Herbert Mai durch. Scharping wiederum sähe das Füh- Das versöhnliche Echo aus dem Land rungszentrum der Bundeswehr mit 70 reicht Schröder aber noch lange nicht. Mit Stabsoffizieren gern in seiner Nähe. Doch einem millionenschweren PR-Gewitter, so Staatssekretär Peter Wichert, Scharpings die Planung, soll soviel Volk wie möglich Statthalter auf der Hardthöhe, will auf das Prestige-Gremium nicht verzichten. Demnächst muß eine Telefon-Konfe- renz-Schaltung anberaumt, ein Treffen am Videobildschirm vereinbart oder eine elektronische Akte des Informationsver- bundes Berlin-Bonn (IVBB) geöffnet wer- den. „Die hocken den ganzen Tag bloß noch vor dem Computer und schicken sich E-Mails und Aktenvorgänge“, be- W. v. CAPPELLEN / REPORTERS CAPPELLEN v. W. schreibt ein Mitglied des Planungsstabes M. DARCHINGER die neue Arbeitsweise. Sozialdemokraten Wulf-Mathies, Müntefering Verkehrs- und Bauminister Franz Mün- Aufgaben zur Entlastung des Kanzlers tefering mag sich auf die elektronischen Segnungen des IVBB nicht verlassen. Der für das Spar- und Rentenpaket gewonnen SPD-Politiker, der am Montag dieser Wo- werden. 900000 Mark gibt allein das Bun- che mit einem Vorauskommando als er- despresseamt für eine Anzeigenkampagne ster Minister sein Berliner Provisorium aus. Ein Motiv zeigt einen Rosenstock, eine eröffnen will, hat einen nächtlichen „Ak- Gartenschere und die Zeile: „Kluge Schnit- ten-Pendelservice“ erfunden: Schrift- te fördern das Wachstum“. stücke, die bis 17 Uhr in der Bonner Post- Schon im September sind Kommunal- stelle eingehen, liegen am nächsten Mor- wahlen in Nordrhein-Westfalen und Land- gen auf dem Berliner Schreibtisch. Noch weniger allerdings wollen Schar- pings Leute vom IVBB Gebrauch ma- chen. Zu groß ist die Angst, Geheimes 20,3 Prozent her am Widerstand der Personalräte in über die Leitungen zu schicken. So wer- ab April 20 Bonn. den häufig Kuriere mit Geheimmaterial 1999 Forschungsministerin hin- und herjetten müssen – falls sie einen 19,5 halste sich ein zusätzliches Problem auf: Platz im Flugzeug bekommen, denn dort 19,2 Ihr Vorgänger Jürgen Rüttgers (CDU) woll- wird es künftig eng. 19 te die seit 1990 in der Berliner Außenstelle Wöchentlich 19 Flüge und 2 Sonderzü- 18,9 Beschäftigten versetzen, um ausreichend ge hat das Bundesamt für Güterverkehr 18,0 schrittweise Senkung bis 18 Fachleute in der Hauptstadt zu haben. Bul- dem Bundestag und den Ressorts ab der 2003 mahn jedoch sicherte den vorwiegend Ost- nächsten Woche angeboten. Bis zu zwei deutschen zu, sie müßten nicht in den We- Jahre lang können die Beschäftigten jedes sten umziehen. „Mit den Ossis, dem Lei- Wochenende kostenlos in die alte Hei- 17 tungsstab und den Fachreferenten“, stöhnt mat reisen. ein Referatsleiter, „haben wir unsere Zehn- Wer als erster bestellt oder den höch- Prozent-Quote ausgeschöpft und trotzdem sten Dienstrang bekleidet, hat Aussicht Leichte Entlastung viel zu wenig Leute in Berlin.“ auf das gewünschte, kostenlose Ticket. Arbeitgeber- und Arbeitnehmer- 16 Reibungsverluste beim Regieren pro- Der Dienstweg ist genau geregelt. Laut beitrag zur gesetzlichen phezeit Verteidigungsminister Rudolf „Umzugsinfo Nr. 70“ befragen im Fi- Rentenversicherung in Prozent Scharping. Dessen Riesenapparat mit 3500 nanzministerium derzeit elf „Abteilungs- des Bruttoeinkommens 15 Mitarbeitern wird bis zur Fertigstellung beauftragte“ ihre Kollegen, welches des Bendlerblocks im Januar 2001 sogar Transportmittel „Sie im Regelfall bevor- 14,0 dreigeteilt. In einer Kaserne am Berliner zugen würden“. 14 Stadtrand wird Generalinspekteur Hans Petra Bornhöft, Alexander Szandar

1960 70 80 90 99 2003

der spiegel 26/1999 29 Titel

tagsabstimmungen im Saarland, in Thürin- gen, Sachsen und Brandenburg. Da hält die SPD für rhetorisch ungelenke Funk- tionäre Argumentationshilfen und Muster- „Erst einmal abwarten“ reden bereit. Die Ministerien helfen mit Broschüren. Ex-Finanzminister Gerhard Stoltenberg (CDU) Die Großoffensive von Regierungsspre- über das Spar- und Reformpaket der rot-grünen Bundesregierung cher Uwe-Karsten Heye nach innen und außen ist verständlich: Das Sommerloch SPIEGEL: Ist das Sparpaket von Finanz- Stoltenberg: Der große Durchbruch ist steht an, jene verrückte Zeit, in der unge- minister Hans Eichel wirklich nötig? das bestimmt nicht. Bei aller Zustim- lenke politische Flügelschläge leicht tek- Stoltenberg: Es ist sicher richtig, den mung zu Einsparungen bezweifle ich, tonische Beben verursachen können. Die Haushalt durch weitere Einsparungen daß es richtig ist, erhebliche Investi- Frage lautet nun: Spielen die Adressaten zu entlasten; das war meine Politik tionsmittel zu streichen. Außerdem des Sparplans, die Arbeitnehmer und Stu- nach 1982, das war die Politik von Theo müssen wir erst einmal abwarten, was denten, die Arbeitslosen und Rentner, auch Waigel. Wegen der enormen Transfer- bis zum Jahresende von den Vorhaben mit? Tragen sie die Last geduldig? Ist der leistungen in die neuen Länder, aber überhaupt übrigbleibt. Zwang zum Sparen in ihr Bewußtsein ge- auch durch eine Wachstumsschwäche, SPIEGEL: Da spricht jemand aus Erfah- sickert? Oder marschieren die Betroffenen die die Staatseinnahmen gemindert hat, rung. demnächst auf Bonn und Berlin? besteht jetzt Handlungsbedarf. Aller- Stoltenberg: In den ersten Jahren nach Noch ist nichts entschieden, nicht einmal dings halte ich viele der Einzelmaß- 1982 habe ich meine Sparkonzepte fast die Frage, ob Gerhard Schröder genügend nahmen, die Finanzminister Eichel ohne Abstriche durchgesetzt. Bei der Kondition und Disziplin hat, seinen einar- plant, für sehr problematisch. dreistufigen Steuerreform gab es al- migen Handstand länger durchzuhalten. SPIEGEL: Welche meinen Sie? lerdings einige Änderungen, auch So eindrucksvoll der Kanzler vergangene Stoltenberg: Da gibt es Verlagerungen durch Widerstände unionsregierter Woche in Bonn auftrat, erst die Anfänge in vom Bund auf andere öffentliche Haus- Bundesländer. Trotzdem war sie ein Berlin werden zeigen, ob das in Hannover halte, die keine echten Einsparungen Erfolg. eingeübte System Schröder auch zur sind. Da werden mehr als fünf Milliar- SPIEGEL: Wie bewerten Sie den Auftritt Steuerung der drittgrößten Wirtschafts- den Mark den Sozialversicherungen Ihres Nachfolgers Hans Eichel? macht der Welt taugt. aufgebürdet, beim Wohngeld streicht Denn wie ein Schnek- er einen Milliardenbetrag, den die kenhaus will Schröder sei- Kommunen übernehmen sollen.Außer- ne vertraute Mannschaft dem werden in Höhe von etlichen Mil- aus dem niedersächsischen liarden Mark in einigen Etats nur glo- Flachland mitnehmen nach bale Minderausgaben genannt. Da weiß Berlin. Beim kurzen Zwi- die Regierung wohl noch nicht so ge- schenstopp in Bonn erwie- nau, was sie sparen will. sen sich dort vorgenom- SPIEGEL: War das zu Ihrer Zeit anders? mene Erweiterungen als Stoltenberg: Wir haben in den achtziger nicht sehr hilfreich. Jahren nicht nur beim Bund gespart, Keiner hat Schröders wir haben auch die Länder und Sozial- drei Dutzend Niedersach- versicherungen entlastet. Die heutige sen in Bonn in den vergan- Regierung macht das Gegenteil. genen acht Monaten der- SPIEGEL: Bundeskanzler Schröder hat art irritiert wie Kanzler- das Sparpaket und die anderen Refor- amtsminister Bodo Hom- men „Paradigmenwechsel“ und eine bach. Eifersüchtig notierte

Entscheidung von „historischer Trag- M. AUGUST die Leine-Gang, daß der weite“ genannt. Zu Recht? CDU-Politiker Stoltenberg: „In einigen Punkten Zustimmung“ Chef dem dicken Nord- Stoltenberg: Dafür sind die Gesetzge- rhein-Westfalen unge- bungsvorhaben zu zwiespältig. Ich hal- Stoltenberg: Er hat in wenigen Wochen wöhnlich schnell sein Ohr gewährte. Doch te nach wie vor die Ökosteuer für ver- ein Konzept vorgelegt, das in einigen Hombach blieb der neue Buddy, wollte fehlt. Da wird den Leuten genommen, Punkten Zustimmung verdient, in an- wohl auch eine singuläre Erscheinung im was ihnen an anderer Stelle, beispiels- deren entschiedene Kritik. Für ein ab- Kanzleramt sein, jedenfalls wurde er nicht weise beim Kindergeld, gegeben wird. schließendes Gesamturteil über die wirklich aufgenommen von der einge- Auch die Unternehmensteuerreform ist Wirkungen auf Wachstum und Be- schworenen Truppe um Schröders Büro- unausgegoren. Früher hatten wir mit schäftigung ist es noch zu früh. Erfolg leiterin Sigrid Krampitz, Frank-Walter der SPD die Übereinstimmung, daß wir oder Mißerfolg dieser Operation aber Steinmeier, Heye oder Wirtschaftsstaats- den ausgeschütteten Gewinn begünsti- werden erst in ein, zwei Jahren sichtbar. sekretär Alfred Tacke, die gemeinsam den gen; das erhöht die Kapitalmobilität. SPIEGEL: Welchen Rat geben Sie Ihrer zuweilen anstrengend launischen Schröder Jetzt will die Regierung den Gewinn eigenen Partei für den Umgang mit nun seit nahezu zehn Jahren ertragen. Un- bevorzugen, der im Unternehmen dem Sparpaket? ter Verzicht auf Freizeit, besser bezahlte bleibt. Außerdem ist der gespreizte Stoltenberg: Die Union ist gut bera- Jobs oder Lob haben die „Frogs“ (Friends Spitzensteuersatz für Unternehmen ten, mit dem Vorhaben differenziert of Gerd) das Projekt Schröder zu ihrem und Privatleute ein verfassungsrechtli- umzugehen. Was fragwürdig ist, sollte Lebenswerk gemacht. ches Problem. sie auch beanstanden; auf keinen Fall Hombach erregte ihr Mißtrauen, weil er SPIEGEL: Hilft das Reformpaket, die Ar- aber sollte sie alle Einsparungen ableh- allzu besitzergreifend im Wahljahr 1998 am beitslosigkeit zu beseitigen? nen. Interview: Christian Reiermann sich anbahnenden Triumph teilhaben woll- te. Unvergessen der Wahlsonntag am 1. März in Niedersachsen: Er machte sich auf

30 der spiegel 26/1999 und ist zudem für Europapo- litik zuständig. Im Kabinett steht in ab- sehbarer Zeit eine weitere Veränderung an. Franz Mün- tefering strebt als Generalse- kretär in die Parteizentrale; der entsprechende Parteitag, der den Posten erst förmlich schaffen soll, ist für Dezem- ber vorgesehen. Bis dahin wird ein neuer Verkehrsmi- nister gesucht. Die schwierigste Hom- bach-Erblast gibt das Kanz- leramt ab. Das Außenmini- sterium wird sich von jetzt an mit den verfahrenen Ver- handlungen über die Ent- schädigung für NS-Zwangs- arbeiter im Zweiten Welt- krieg befassen müssen. Wegen Hombachs Ab- schiebung ins Kosovo sind

DPA auch einige Rollen in Schrö- Koalitionäre Struck, Schlauch: Millionenschweres PR-Gewitter ders wöchentlicher Polit- Soap neu oder anders zu be- dem Sofa neben Schröder so breit, daß für mal als Ursache für das miserable Erst-Echo setzen. „Das ist ja immer wie bei ‚Gute keinen anderen mehr Platz war. auf die Reformprojekte ausführlich bemän- Zeiten – Schlechte Zeiten‘“, hat ein nie- Schon zu diesem Zeitpunkt war eigent- gelte, werden ab sofort Heyes Sorge. dersächsischer Parlamentarier festgestellt. lich klar, daß die Liaison Schröder/Hom- Steinmeier bleibt als Hombach-Nach- Bisher war Hombach der Maliziöse, Trit- bach im Kanzleramt nicht lange gutgehen folger vermutlich im Range eines Staatsse- tin der notorische Bösewicht. Riester über- würde. Franz Beckenbauer benötigte fürs kretärs, was den charmanten Nebeneffekt nahm den Part des tapsigen Onkels, Schar- körperlose Spiel ja auch den treuen Racke- hätte, daß der Posten Hombachs inklusive ping gab den entsagungsvoll Guten, Eichel rer Georg „Katsche“ Schwarzenbeck, der seiner noch immer halbfertigen neuen den korrekten Nachbarn, Rezzo Schlauch für den Chef durch den Matsch grätschte. Grundsatzabteilung ersatzlos wegfiele, wo- den Hausfreund, und Joschka Fischer gefiel Der Generalist und Medienstar Schröder mit auch Schröders Amt den Sparauflagen in der Rolle des wendigen Bankers. harmoniert am allerbesten mit peniblen, von Finanzminister Eichel ein Stück näher- Natürlich ist das nur Spiel, doch daß sol- effektiven und wenig irisierenden Malo- käme. che Rollenverteilungen dem Bedürfnis der chern vom Schlage Eichels, Riesters oder Auch auf Wirtschaftsminister Müller Bürger entgegenkommen, die seltsame, Scharpings. In Kombination mit anderen kommt mehr Arbeit zu. Hombach genoß komplizierte Welt der Politik mit den Mit- Stars jedoch herrscht fortwährender Flau- den Ruf, ein Mann der Wirtschaft zu sein. teln des Entertainments zu verstehen, ist senalarm, mit Lafontaine oder eben mit Diese Rolle soll nun der parteilose Minister den PR-Profis um Schröder geläufig. Um Hombach. übernehmen. Daneben tritt die ehemalige so schwieriger wird es für den Kanzler und Die Arrondierung der Machtverhältnis- EU-Kommissarin Monika Wulf-Mathies, seinen Strategen Heye, die Kräfte in Zu- se bedeutet für das alte System Schröder die künftig das Bündnis für Arbeit organi- kunft neu zu bündeln. Bleiben den Grünen einen sofortigen neuen Härtetest. Taugen sieren soll. Sie hat den Status einer Kanz- künftig alle Verlierer- und Bösewichtrol- die Mechanismen, die zwischen Ostfries- lerbeauftragten für besondere Aufgaben len? Wie lange läßt sich Trittin vor den land und Lüneburger Heide leidlich funk- Kopf schlagen? tionierten, auch am neuen Regierungssitz Über die Rolle des strahlenden Helden Berlin? gibt es vorläufig nicht die geringsten Zwei- Mit seinem Vertrauen zeichnet Schrö- fel. Diesmal hat Schröders Methode des der nur ganz wenige Mitarbeiter aus, und kalkulierten Chaos geklappt: Er läßt mög- nur die haben wirklich Einfluß, mei- lichst viele Handlungsmöglichkeiten vor- stens begrenzten. Dazu zählen Heye und bereiten, die er je nach Stimmungslage Steinmeier, vor allem aber die Kanzler- spontan ins Volk streut. Er läßt den Prozeß gattin Doris Schröder-Köpf. Die zierliche laufen, bis er zu entgleiten droht, und Blonde drängt sich nicht in den Vorder- spricht dann viele laute Machtworte. grund, aber als Minensucherin, Trend- Dabei müssen die Minister jederzeit auf forscherin und als eine Art permanente radikale Kurskorrekturen gefaßt sein. Ar- Standleitung zum wirklichen Leben und beitsminister Riester etwa muß in der Som- auch zu wichtigen Presseorganen wirkt sie merpause das Kunststück fertigbringen, ei- perfekt. Was immer sie hört und liest, nerseits die „Zwangsrente“ zu verhindern, meldet sie ihrem Ehemann. Gemeinsam sie aber dennoch irgendwie beizubehal- machen sie Politik daraus. ten, weil die gesamte Reform die Säule Nach dem Abschied Hombachs kommt „Kapitaldeckung“ braucht.

auf Regierungssprecher Heye wieder mehr IMO Herr über das Verfahren bei der Verab- Arbeit zu. Die Kommunikationsprobleme, Umweltminister Trittin schiedung des Haushalts sind nun, da die Schröder vergangene Woche noch ein- Zur Nebenfigur degradiert? das Kabinett entschieden hat, ausgerechnet

der spiegel 26/1999 31 Titel die Abgeordneten der Koalitionsfrak- ma“, stöhnt der grüne nordrhein-westfäli- ten Finanzvolumen – dann bekämen die tionen, die Schröder in der vergangenen sche Bauminister Michael Vesper, „daran Rentner weniger als den Inflationsaus- Woche gleich mehrfach düpierte. Nicht erinnern sich die Leute doch.“ Besonders gleich. alle sind gleichermaßen von Eichels Spar- lästig: Die eingeplante Gegenfinanzierung „Wir haben erst die erste Hürde ge- paket begeistert, und noch längst sind tritt schon im Jahre 2000 in Kraft – die Ein- nommen“, dämpfen Vertraute von Finanz- nicht alle vom Medienkanzler einge- kommensgrenzen für die Eigenheimzulage minister Hans Eichel die Erwartungen. schüchtert. werden gesenkt, Haus- und Wohnungsei- „Da steht uns in der Sommerpause noch Der weiß selbst: „Ich glaube zwar, wir gentümer können dann Kosten für Reno- einiges bevor.“ sind durch.“ Aber wenn nicht, dann will er vierungen oder Makler in weit geringerem Der allergrößte Widerstand, das weiß weiterkämpfen. „Durststrecken“ kalkuliert Umfang bei der Steuer absetzen. der Bundeskanzler, auch wenn vergangene Schröder ein. Seine typische Reaktion: „Es „Wie sollen wir in den Kommunalwah- Woche zunächst alle SPD-Ministerpräsi- zählt ja nicht, daß man das Richtige will, len bestehen, wenn Bonn beim Wohngeld- denten ergeben genickt haben, wird aus entscheidend ist, daß man es kriegt.“ streit keinen klaren Kurs hat“, monierte den Ländern erwachsen. Schon jetzt sind Schon immer fanden in den ereignisar- Saarbrückens Oberbürgermeister Hajo die Regierungschefs sicher, daß die Bun- men Urlaubswochen Zweifler und Kritiker Hoffmann (SPD) beim Treffen mit Finanz- desregierung den Haushalt auf ihre Kosten Beachtung. Das Sommerloch ist ein Hall- minister Eichel am vergangenen Freitag. saniert. raum für Unruhestifter. Und Eichels Etat- Jede klitzekleine Kommunalwahl ent- Ein Beispiel: Beamtenanwärter, die nicht Entwurf bietet so viele Gründe zum Pro- scheidet mit über das innenpolitische Kli- in den Öffentlichen Dienst übernommen werden, aber auch arbeitslose ehemalige Zeitsoldaten bekom- men, weil sie nicht in die Arbeits- losenversicherung eingezahlt ha- ben, Arbeitslosengeld vom Bund. Eichel will diese Sozialausgaben sparen. Deshalb sind die betroffe- nen Personen künftig auf Sozial- hilfe der Kommunen angewiesen. Mehrkosten für die Länder: eine Milliarde Mark im nächsten Jahr. Oder: Die Kürzungen beim Wohngeld bestehen nur auf dem Papier. 2,2 Milliarden Mark will Fi- nanzminister Eichel beim soge- nannten pauschalierten Wohngeld sparen, das an Sozialhilfe-Emp- fänger ausgezahlt wird. Doch durch das Bonner Sparpaket wird vorerst kein Mieter weniger Un- terstützung bekommen. Nur be- zahlen künftig die Kommunen dafür – ihnen bleibt nichts anderes übrig, weil die Ansprüche der So- zialhilfe-Empfänger gesetzlich ge- regelt sind und durch Schröders Kürzungsaktion nicht verändert werden. Eine Arbeitsgruppe soll jetzt

AP feststellen, ob die Länderkassen Ehepaar Schröder*: Standleitung zum wirklichen Leben belastet werden und wie sie entla- stet werden können. „Der Bund test, wie er Haushaltstitel enthält. Näm- ma, in dem Schröders Austeritätspolitik schuldet den Ländern ohnehin schon fünf lich etliche tausend. stattfindet. Milliarden Mark“, schimpft ein Länder- Bald wird – zumal in jenen Gegenden, in Größeres Ungemach droht auch noch Vertreter. Tatsächlich tragen die Bundes- denen gewählt wird – etlichen Abgeord- über Riesters Rentenzahlen. So ist keines- länder mehr als jene 26 Prozent aller neten unter den Grünen und Sozialdemo- wegs sicher, daß die Rentner in den kom- Kindergeldzahlungen, die im Gesetz fest- kraten aufgehen, was das abstrakte Zah- menden zwei Jahren tatsächlich einen geschrieben sind. Die nun versprochene lenwerk für sie bedeutet. Hier kann die kompletten Inflationsausgleich erhalten. Erhöhung um 20 Mark ist dabei noch nicht Ortsumgehung einer Bundesstraße nicht Einkalkuliert sind Preissteigerungen von einmal berücksichtigt. mehr gebaut werden, dort entfällt der Au- 0,7 und 1,6 Prozent. Die höhere Ökosteu- Was also wird am Ende bleiben von tobahnanschluß. er könnte jedoch stärker als bisher auf die Schröders Kraftakt? Alles, alles, alles, alles, Die Wohngeldpläne sind deshalb auch Preise durchschlagen. alles, sagt der Kanzler gleich fünfmal. Er bei Roten und Grünen umstritten: Die im „Wenn die Konjunktur anzieht, ist das pumpt sich auf, um Entschlossenheit zu be- Wahlkampf versprochene Erhöhung wahrscheinlich“, sagt der Darmstädter kräftigen. Aber gleich darauf bricht sich kommt erst im Jahr 2001 – zu spät für die Rentenexperte und Riester-Berater Bert sein Realitätssinn Bahn, der Kanzler feixt Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen. Rürup. Dann müßte die Regierung ent- – „bis auf ein paar realitätsbedingte De- „Das war für uns ein Top-Wahlkampf-The- weder mehr zahlen – ein halbes Pro- tailbereinigungen, natürlich“. zent mehr Rentenerhöhung bedeutet Horand Knaup, Jürgen Leinemann, Hendrik Munsberg, Elisabeth Niejahr, * Am 20. Juni mit dem Kölner Kardinal Joachim Meis- bereits Zusatzkosten von 1,75 Milliar- Christian Reiermann, Hajo Schumacher ner. den Mark. Oder es bleibt beim eingeplan-

32 der spiegel 26/1999 Beim Gezerre um den Etat profitiert der neue Finanzminister von einer Stärke, die er selbst „Beharrlichkeit bis zur Pene- tranz“ nennt. Verbissen versucht Eichel Codename „Herkules“ durchzusetzen, was er für richtig und nötig hält. Er ist ein Perfektionist, der sich weder In Hessen wurde Hans Eichel einst mit Spott überschüttet. durch Sturheit noch durch Weinerlichkeit seiner Kabinettskollegen erweichen läßt. Auch in Bonn hat man ihn zunächst unterschätzt. Ganz bekam das wie kein unverhofft stieg der Finanzminister zu Schröders Exekutor auf. anderer zu spüren. Anfangs tönten die Büchsenspanner des Vertei- m Tag des großen Sparens ist der Dennoch versauerte Ei- digungsministers noch: „Wir Finanzminister selber etwas ver- chel nicht als einsamer Klas- geben nichts.“ Doch immer Aschwenderisch. Hans Eichel gönnt senprimus. Seine Mitschüler wieder zitierte Eichel den sich ein paar Worte zuviel. kürten ihn zum Schulspre- Kollegen ins Finanzministe- 25 Minuten referiert er im Saal der Bun- cher. Dafür ließ er sie bei den rium. Am entscheidenden despressekonferenz über die „Zinssteuer- Klassenarbeiten abspicken. Spar-Sonntag mußte Schar- quote“ und den „Schuldenberg“, über die Lehrer Lehmann sagt: „Der ping dreimal in den „Beicht- „mittelfristige Finanzplanung“ und die Hans war nie das Hänschen. stuhl“: um 9 Uhr, um 16 Uhr „Dramatik der Lage“. Wer das denkt, liegt falsch.“ und um 19 Uhr. Dann war er Der gelernte Studienrat verschwafelt Bescheiden und zurück- weichgekocht. sich vor 300 Journalisten und 25 Fernseh- haltend wirkt der Muster- Auch mit Entwicklungs- kameras ins Seminaristische, er findet kein schüler noch heute. Der kor- hilfeministerin Heidemarie Ende. Hinten im Saal werden die Reporter rekte Hesse steht eben nicht Wieczorek-Zeul kannte Ei- unruhig, kaum einer schreibt noch mit. für Kaschmir und Cohiba, chel keine Pardon. Als Vor- Doch Hans Eichel kostet seinen Triumph sondern für kleinkarierte sitzende des linken Bezirks

aus. Im grauen Anzug, sauber gescheitelt, Sakkos aus dem Warenhaus. M. URBAN Hessen Süd verhalf sie dem sitzt er zur Rechten seines Regierungs- Er verkörpere, sagen Kabi- Sparkommissar Eichel Kasseler Oberbürgermeister chefs, und der läßt ihn gewähren. Nur ab nettskollegen, genau das, was 1990 noch zur Spitzenkandi- und zu rollt der Kanzler, fast unmerklich, der Wähler sich unter einem Finanzminister datur – der linke Eichel sollte einen rech- etwas ungeduldig mit den Augen. vorstelle: Ehrlichkeit, Gründlichkeit. Dem ten SPD-Mann verhindern, driftete aber Mittwoch, der 23. Juni 1999 – das ist in können die Leute „ihr Geld anvertrauen“, als Ministerpräsident in die Mitte ab. Die Bonn diesmal kein Gerhard-Schröder-Tag, sagt SPD-Fraktionschef Peter Struck. Denn rote Heidi habe das nie verziehen, heißt es das ist Hans-Eichel-Tag. Der Kanzler bie- Eichel demonstriert stets Volksnähe, so in Bonn. tet zwar die gewohnte Show, den wolkigen etwa auch im vorigen Sommer als Feuer- Und jetzt jagt Eichel sie auch noch mit Überbau, die Lyrik vom „Programm der spucker auf einem hessischen Volksfest. einer Rotstift-Politik, die manchen Ge- Macher gegen die Miesma- cher“. Eichel hingegen liefert die Essenz der Politik: harte, nüchterne Zahlen. 30 Milliarden Mark hat Schröders gewissenhafter Exe- kutor, so staunt die „Bild“- Zeitung, „wegrasiert“. Und keiner hat es dem Buchhal- tertyp aus Hessen wirklich zugetraut. In Bonn wurde er unterschätzt, wie so oft in sei- nem Leben. Und wie so oft ge- reichte ihm das zum Vorteil. „Über den Hans Eichel“, sagt an diesem Mittwoch ei- ner, der es wissen muß, „wer- den sich noch viele wun- dern.“ Walter Lehmann, 78, war Eichels Klassenlehrer in Kassel, er unterrichtete den Pennäler Hans in Geschichte und Latein, Gemeinschafts- und Sozialkunde. Und er hält ihn für „den besten Schüler, den ich je hatte“. Einer, der Einsen oder Zweien bekam, durch schnelle Auffassungsga- be glänzte – und nur auf dem Fußballplatz hinterherlief.

* 1998 als Feuerspucker auf einem hes- DPA sischen Volksfest. Ministerpräsident Eichel*: „Red Adair des Bonner Schulden-Desasters“

der spiegel 26/1999 33 Titel nossen fast schon neoliberal plötzliche Bürde zunächst als „Schockthe- erscheint. rapie“ empfand. Im Schnellkurs bereitete Doch seine Unnachgiebigkeit Eichel sich auf seine neue Aufgabe vor. Und bringt dem Sozialdemokraten er setzte dabei ganz andere Prioritäten als mehr positive Schlagzeilen ein sein Vorgänger. Sosehr Lafontaine sich in als je zuvor. Die „Woche“ feiert der Rolle des Weltverbesserers gefiel, so- ihn als „Red Adair des Schul- sehr stürzte Eichel sich aufs Handwerk: den-Desasters“. Und in den Haushalt und Steuern. Oskars geliebte Ma- Popularitätsumfragen liegt er, kroökonomie ließ er links liegen. Der Streit zumal als Finanzminister, er- zwischen Nachfrage- und Angebotspoliti- staunlich weit vorn. kern, sagt Eichel leicht abfällig, „findet Welch wohltuende Wendung doch im Wolkenkuckucksheim statt“. für einen, der immer um Aner- Auch sonst hält der Neue von ökonomi- kennung ringen mußte. Noch in schen Ideologien recht wenig. Der Mäpp- seinen ersten Jahren als Mini- chen-Mann spart aus schlichter Notwen- sterpräsident von Hessen wurde digkeit – und keineswegs, weil er sich als Eichel mit Spott überschüttet, visionärer Wegbereiter einer „Angebots- etwa als „bebrillte Büroklam- politik von links“ sieht. mer“. Der Frankfurter Joschka Gleichwohl ist die Wende, die der neue Fischer kriegte sich kaum noch Kassenwart vollzieht, brutal. Lafontaine ein über den seltsamen Sozi. hatte den Genossen noch das wohlige Ge- Dabei wäre Eichel schon da- fühl vermittelt, daß genug Geld für sozia- mals viel lieber der „Herkules“ le Wohltaten vorhanden sei – nun klingt gewesen. So lautete sein Code- das bei Eichel anders: „Deutschland ist, fi- name, wenn die Personenschüt- nanziell betrachtet, ein Sanierungsfall.“ zer der Polizei ihn durch Hessen Es ist aber nicht allein der Inhalt, es ist begleiteten – eine Anspielung vor allem der Stil, der sich im Ministerium auf die mächtige Herkules-Sta- an der Graurheindorfer Straße geändert tue, die oberhalb seiner Hei- hat. Eichel, erzählen Mitarbeiter, brause matstadt Kassel thront. nicht so auf wie sein Vorgänger, er trage So unscheinbar der Akten- seine Ideen ruhig vor; der Hesse sei auch mann Eichel auch wirken mag, kein Morgenmuffel wie Theo Waigel. so vergleichsweise merkwürdig Richtig wohltuend sei es auch, berichten

ist seine politische Entwicklung. PRESS R. UNKEL / ACTION Ministeriale, daß der neue Minister Vorla- Ganz am Anfang nämlich, da Ballgast Eichel, Ehefrau Karin*: Brutale Wende gen tatsächlich lese. Eichel ist ein Akten- fieberte der Schüler Hans noch fresser, selbst tief in der Nacht saugt er in mit Adenauer. Als Quintaner hielt er eine per von der Deutschen Bank, Martin Kohl- seiner Kammer in der nordrhein-westfäli- flammende Wahlrede für die CDU, weil haussen von der Commerzbank oder Jür- schen Landesvertretung noch Zahlen auf die Genossen in Kassel gegen den Wieder- gen Dormann von Hoechst. Die späte Nähe und hat am nächsten Tag alles parat. Der aufbau des wilhelminischen Staatstheaters zur Wirtschaft schlägt sich nun, wenn er die neue Hausherr gibt den Lernenden, nicht waren. Eichel: „Die Sozen hatten halt kei- Firmen mit niedrigeren Steuerlasten be- den Belehrenden. Lafontaine dagegen galt nen Sinn für Tradition.“ glückt, in seiner Finanzpolitik nieder. als „beratungsresistent“. Doch schon zum Abitur zog es Eichel Am liebsten wäre Eichel noch lange in Pluspunkte sammelte der neue Haus- nach ganz links. Als Student lauschte er Wiesbaden geblieben. Doch dann wurde er herr zudem durch seine beiden wichtig- den Vorlesungen des marxistischen Hoch- wegen der von der Bonner Regierung ver- sten Personalentscheidungen. So machte schullehrers Wolfgang Abendroth, und spä- siebten Debatte um die Staatsbürgerschaft er mit Caio Koch-Weser, einst Vizepräsi- ter, nachdem er mit 33 Jahren zum jüng- abgewählt und verdrückte sogar ein paar dent der Weltbank, und Heribert Zitzels- sten Oberbürgermeister einer deutschen berger, bisher Steuerabteilungsleiter des Großstadt gewählt wurde, erklärte er Kas- Um 16.15 Uhr rief der Bayer-Konzerns, zwei renommierte Quer- sel zur atomwaffenfreien Zone. Kanzler an: „Hans, du mußt einsteiger zu Staatssekretären. Vor allem Lange hat es gedauert, bis aus der linken Zitzelsberger genießt beim Kanzler höch- Lokalkraft ein selbstbewußter Bundes- sofort kommen“ stes Ansehen. Lafontaines Vertraute Claus politiker wurde. Seine erste Amtsperiode Noé und Heiner Flassbeck wurden gleich als Ministerpräsident sieht er noch als Tränen. „Das habt ihr mir eingebrockt“, geschaßt. Eichel: „Der eine hatte das ganze „verlorene Zeit“ an. Da häuften sich die machte er Lafontaine am Telefon klar. Ministerium gegen sich aufgebracht, der Affären, etwa um die Renovierung seiner Kanzler und SPD-Parteichef seien nun in andere den Rest der Welt.“ Dienstvilla oder den Lotto-Skandal. Hin- der Pflicht, für ihn zu sorgen.Aufs Frührent- Die erste Bewährungsprobe hat Eichel ter den Kulissen bastelten Genossen an ner-Dasein habe er „noch keine Lust“. überstanden: Der Haushalt ist geschnürt – Putschplänen: „Der kann’s nicht.“ Das war am Morgen des 11. März, ein doch die Lobbyisten und die eigenen Leu- Erst nach der Wiederwahl 1995 Donnerstag. Nachmittags gegen halb vier te werden versuchen, das Gesamtkunst- schwamm Eichel sich frei. Da wurde aus reichte Lafontaine seinen Rücktritt ein, um werk zu zerstören. Hier ein paar Kratzer, dem unsicheren Ministerpräsidenten ein 16.15 Uhr rief der Kanzler an: „Hans, du dort ein paar neue Farbtupfer – wenn der souveräner Landesvater, der mit Edmund mußt sofort kommen.“ Heute sagt Eichel Bundesrat im Dezember endgültig ent- Stoiber darum stritt, wer das wirtschaft- grinsend: „Daß der Oskar es so wörtlich scheidet, könnte alles anders aussehen. lich stärkste Bundesland regiert. meint, konnte ich ja auch nicht ahnen.“ Am Ende des Gezerres, ahnt der Spar- Eichel entdeckte seine Liebe zum Geld. Endlich hat er nun das Amt, das seinem kommissar, kann er auch schnell der Buh- Er förderte den Finanzplatz Frankfurt Naturell so gut entspricht, auch wenn er die mann sein. „In den nächsten Wochen“, und die hessische Wirtschaft, er pflegte Be- fürchtet Eichel, „wird das alles noch ganz kanntschaften mit Bossen wie Hilmar Kop- * Auf dem Bundespresseball in Bonn 1997. wunderlich werden.“ Ulrich Schäfer

34 der spiegel 26/1999 Werbeseite

Werbeseite Deutschland

Ohne eines der wichtigen Autoländer UMWELTPOLITIK Großbritannien, Italien oder Frankreich – jedes hat, wie die Deutschen, zehn Stim- men – wäre keine Blockade möglich. Alte Schätzchen Daß die Kampflust der deutschen Auto- bauer so plötzlich erwachte, ist erstaun- Volkswagen hat sich durchgesetzt: Der Kanzler lich. Bereits im Juli 1997 verabschiedete verhinderte, daß die Hersteller, wie von Brüssel geplant, die Kommission ihren Richtlinien-Vor- schlag. Seither ist klar, daß die Hersteller Altfahrzeuge zurücknehmen müssen. alle Altautos ihres Fabrikats zurückneh- men, zumindest aber die Kosten für die Allein VW, so die Konzernrechnung, Entsorgung tragen sollen. müßte drei Jahresgewinne vor Steuern für Dabei ist Fahrzeugrecycling kein reines die Schrottbeseitigung zurückstellen – und Minusgeschäft. Knapp 50 Prozent aller Alt- zwar gemessen „am besten Jahresgewinn, auto-Annahmestellen in Deutschland, so den wir je hatten“. ergab eine Branchenumfrage, nehmen die Schon im März mußte Trittin deshalb alten Schätzchen kostenlos ab. die Verabschiedung der Richtlinie von der Doch die Fahrzeugindustrie kalkuliert Tagesordnung streichen lassen. Ein Brand- anders: Knapp 350 Mark kostet danach die brief Piëchs hatte den Kanzler alarmiert. Entsorgung eines Autos – entsprechend Vor zwei Wochen jedoch informierte der teurer würden Neufahrzeuge werden. grüne Umweltminister seine Euro-Kolle- Selbstverständlich protestierten auch gen: Bonn habe nicht vor, die Entschei- Fiat, Peugeot und Renault, Rover und dung erneut zu vertagen oder den Richt- Vauxhall gegen die Richtlinie – aber weni-

J. GIRIBAS J. linientext zu ändern. ger lautstark als die Deutschen. Sie hofften Vertraute Schröder, Piëch „Diese Uneinsichtigkeit“, so Piëch-Ver- wohl, daß die größte Automobilnation Eu- „Blanke Katastrophe“ traute, habe den Konzernchef in Rage ge- ropas auch ihre Interessen durchsetzt. bracht. „Keinerlei Kompromißbereitschaft“ Tatsächlich sondierte der mächtige Aus- elbst in wichtigen Sitzungen ließ Fer- habe Trittin gezeigt. Empört ließ sich der schuß der Ständigen Vertreter bei einem dinand Piëch am vergangenen Don- VW-Lenker zu Schröder durchstellen. „Arbeitsessen“ am 16. Juni in Brüssel, wie Snerstag, ganz gegen seine Gewohn- Vorvergangene Woche wäre der Um- die Regelung doch noch zu kippen sei. heit, das Handy eingeschaltet: Der VW- weltminister beinahe gefallen. „Entweder Die Franzosen, so kabelten Bonns Emis- Chef wartete auf einen Anruf aus Brüssel. der nimmt das zurück, oder er fliegt“, tob- säre hernach in die Heimat, versprächen So erreichte ihn die erlösende Nachricht te Schröder. Trittin beugte sich. Unterstützung – falls die Deutschen be- auf direktem Weg. Ausgerechnet der Grü- Sicherheitshalber nutzte Piëch weitere hilflich wären, bei der anstehenden Libe- ne Jürgen Trittin hatte auf Weisung des Kanäle. In der Volkswagen-Zentrale herrsch- ralisierung der staatlichen Eisenbahnen Kanzlers Piëchs Wünsche durchgesetzt und te Kampfstimmung. „Wir sind dabei, ande- Sand ins Brüsseler Getriebe zu streuen. beim Umweltministerrat in Luxemburg re Länder rauszubrechen“, beschrieb ein Großbritannien, Heimat der Auktions- eine Öko-Blockadefront organisiert. Mitarbeiter das Vorgehen. So gerieten Spa- häuser Christie’s und Sotheby’s, versprach Mit Unterstützung von Briten und nien und Portugal, wo der Konzern Zweig- ebenfalls Nachbarschaftshilfe – wenn auch Spaniern verhinderte der Chef des Bon- werke betreibt, ins Visier der VW-Strategen. Bonn bereit sei, für den Kunsthandel lästi- ner Umweltressorts die seit langem ge- Aber mit Spaniern und Portugiesen al- ges EU-Recht abzuwehren. Sogar Belgien plante Verabschiedung der europäischen lein, das wußten die Volkswagen-Strate- war Allianzen gegenüber durchaus aufge- Altautorichtlinie. Die schreibt den Fahr- gen, würden die Deutschen wenig errei- schlossen. Einzige Bedingung: Bonn müs- zeugherstellern von 2003 an die Rücknah- chen. Die drei Nationen verfügen bei EU- se helfen, eine Entscheidung über die me ihrer Wagen und umweltschonendes Abstimmungen über 23 Stimmen, für eine „politisch sensible Schokoladen-Richtlinie“ Recycling vor. Sperrminorität sind 26 nötig. Fest stand: zu vertagen. Hendrik Munsberg Empört verfolgte ganz Europa den Autorecycling (in Bitterfeld): Durchaus kein reines Minusgeschäft Bremsweg der Deutschen. „Noch nie zu- vor“, zürnte Umweltkommissarin Ritt Bjerregaard, habe sie „so etwas erlebt“. Es war VW-Chef Ferdinand Piëch, der Gerhard Schröder, seinen langjährigen Ver- trauten aus Niedersachsen, lenkte. Bestens versorgt mit Horrorzahlen, fürchtete der Kanzler „erhebliche Folgen“ für die Ge- winne der heimischen Autoproduzenten. 83,5 Millionen Fahrzeuge deutscher Her- steller bevölkern derzeit Europas Straßen, klagten die Konzerne von Wolfsburg bis München. Auf ihre Kosten müsse die Schrottlawine recycelt werden, wenn die Brüsseler Richtlinie komme. Der Kanzler hatte verstanden: Durch die Rücknahme der „alten Schätzchen“ drohe branchenweit ein „Rückstellungsbedarf von 15 bis 20 Milliarden Mark“, das sei eine „blanke Katastrophe“ für die Kon-

zernbilanzen, mahnte Schröder. AP 36 Werbeseite

Werbeseite Deutschland

Fraktionschef Wolfgang Schäuble hatte steht er sich besser als mit den Funktiona- CDU ihn mit Bedacht als Spitzenredner der Op- rios der SPD. Der grüne Haushälter Os- position gegen Finanzminister Hans Eichel wald Metzger schätzt Merz in Finanzfragen aufgestellt, denn Merz bricht das bekann- als „kompetenten Kollegen und Kommu- Frische Kraft te Bild von der CDU. Er repräsentiert einen nikator“. Jung, redegewandt, Politikertypus, den es in der Union selten Auch Hierarchien kümmern den Famili- gibt: jung, wirtschafts- und finanzpolitisch envater mit der hohen Stirn nicht viel. Be- medientauglich: Der Finanzexperte versiert, redegewandt und medientauglich. herzt legte er sich mit seinem einstigen Friedrich Merz ist der Er ist fest verankert im konservativen Wer- Kanzler an, auch deswegen, weil er sich Nachwuchsstar der Union. Er soll tekorsett und weiß dennoch, was zur Zeit Kohls einseitiges Duzen verbat. bei der neuen Mitte punkten. im Kino läuft. Schnell wurde Schäuble auf die talen- Weil derlei frische Kräfte rar sind, hat die tierte Nachwuchskraft aufmerksam, die er junge Mann brauchte keine fünf CDU-Spitze ihn zügig zum neuen Jungstar ihre Karriere in Europa begonnen hatte. Minuten, um den Kanzler auf die aufgebaut. Schäubles Vize in der Fraktion 1989, mit 33 Jahren, zog Merz als jüngster DPalme zu bringen. Dem damaligen soll bei der hart umkämpften neuen Mitte Abgeordneter ins Europaparlament ein; Ministerpräsidenten Gerhard Schröder, so punkten, jener sprunghaften Klientel, die fünf Jahre später errang er im Hoch- trompetete Friedrich Merz am vergange- nicht Parteiprogramme, sondern Personen sauerland ein Direktmandat für den Bun- nen Donnerstag im Bundestag, sei die deut- wählt. destag. sche Einheit keine niedersächsische Steu- Merz steht für konservativen Main- Dort stieß er in ein Vakuum: Da war die ermark wert gewesen. stream, nicht aber für den Muff der Sieb- alte Kohl-CDU, da waren Schäubles Man- Der Kanzler, der im Plenum oft und ziger-Jahre-CDU. Anders als die jungen nen – und alle warteten wie gewohnt auf demonstrativ Desinteresse erkennen läßt, Wilden wie Norbert Röttgen oder Peter Befehle. Merz arbeitete sich in Windeseile merkte plötzlich auf, verlor die Conte- Altmaier gilt er in gesellschaftspolitischen in die Steuerpolitik ein und umgibt sich nance und zeigte dem geschickt pole- Fragen als Rechtskonservativer. seither mit der Aura des Experten. misierenden Redner einen Vogel. Die Ge- In der Abtreibungsdebatte zählte er Sein politisches Vorbild ist der frühere ste gefällt dem jungen Mann, denn inner- 1995 zu jenen 145 Abgeordneten, die ge- Finanzminister Gerhard Stoltenberg, bei dem Merz sich häufig Rat holt. Kühl ist dagegen das Verhältnis zu Theo Waigel und Teilen der CSU, die ihre Hoheit über die Finanzpolitik durch Merz bedroht sehen. Weil die CDU nach neuen Figuren giert, wird Merz schon jetzt mit seinem Mentor Schäuble verglichen. Daran stimmt, daß beide Juristen und präzise Analytiker sind, die Schwafelei verabscheuen. Während Schäuble häufig grüblerisch und intro- vertiert wirkt, strahlt der schlaksige, 1,98 Meter große Merz Frohsinn und Offen- heit aus. Der Sohn aus katholischem Bürger- haushalt galt in seinem Heimatort Brilon als Lehrerschreck, und in der zehnten Klas- se blieb er sogar sitzen. Heute joggt er und spielt Klarinette. Unbekümmert steht er für jede Kamera parat, versieht seine Re- den mit TV-kompatiblen Frechheiten und beherrscht das Rollenspiel: Mal gibt er den arglosen Lausbuben, dann wieder den grundsoliden CDU-Finanzer. Bei seiner demonstrativen Leichtigkeit weiß Merz genau, daß seine eigene Partei mit ihren Konzepten noch nicht wieder konkurrenzfähig ist. Mit der Blümschen Rentenreform „stehen wir erst am An- fang“, und ohnehin müsse man „das eine

DPA oder andere verbessern“. Christdemokraten Merz, Kohl: Konservativer Mainstream Eine erste Marke setzte Schäubles Ge- heimwaffe vor vier Wochen mit seinem Pa- halb des Bonner Politikkosmos bedeutet gen den Regierungskompromiß stimmten, pier „Steuern 21“, einer Weiterentwick- sie so etwas wie einen Ritterschlag, um die Staatsangehörigkeitsreform lehnte er lung der Petersberger Beschlüsse. Darin den mancher Oppositioneller oft und strikt ab, und daß „18jährige in der propagiert er mehr Einnahmen durch kräf- vergeblich gegen den Regierungschef an- Regel nach Jugendstrafrecht verurteilt“ tige Steuersenkungen. stänkert. werden, hält er für völlig falsch: „Man Soviel Glück soll schon in drei Jahren Schröder hat den Lulatsch wahrgenom- kann nicht jemandem das Wahlrecht ge- über die Deutschen kommen. „Ich will men und ihm Respekt erwiesen. Der CDU- ben und ihn dann wieder als Teenie be- spätestens 2002 mit einer guten Mann- Abgeordnete Merz, 43, hat insofern in der handeln.“ schaft in die Regierung.“ Als Finanzmini- Debatte um die Reformen der Regierung Zugleich ist der Sauerländer undogma- ster? Merz grinst: „Als was denn seine Aufgabe erfüllt. tisch. Mit Grünen wie Cem Özdemir ver- sonst?“ Tina Hildebrandt

38 der spiegel 26/1999 Werbeseite

Werbeseite A. ZWEYGARTH Sozialdemokrat Rau auf dem Stuttgarter Kirchentag: „Wir haben genug Zeichen des Aufbruchs“

BUNDESPRÄSIDENT „Den kennen wir doch“ Johannes Rau versteht sich als eine Art Leuchtturm für die Bürger, der aus der Vergangenheit in die unsichere Gegenwart hereinragt. An diesem Donnerstag tritt er sein Amt an, in dem er wie gewohnt versöhnen statt spalten will.

ie Christenmenschen in Stuttgart 68 Jahren nicht, das war sein politischer dem Amt des Ministerpräsidenten in Düs- wollten endlich anfangen, aber das Ziehvater Gustav Heinemann, gewählt seldorf erfuhren die Deutschen auf einmal DGedränge vor der Bühne ließ nicht 1969 mit knapp 70. Gleichwohl ist gegen in üppiger Fülle, was Johannes Rau alles nach. Bücher wurden dem Star zum Si- seine Kandidatur angeführt worden, daß er nicht ist: weder jung noch gesund, kein gnieren gereicht, Programmhefte, Lieder- ein Mann von gestern sei, eine Art Dino- Ossi und keine Frau; nicht mal kein So- texte, Fotos. Teenies rangelten mit Rent- saurier der verflossenen Bonner Republik zialdemokrat. nerinnen. und des ausgehenden Jahrtausends. Rau Rau trägt schwer an diesen Kränkungen. Vergebens versuchten am vorvergange- wendet den Vorwurf ins Positive. „Wir ha- Empfindlich war er von jeher. In seiner Öf- nen Wochenende die Veranstalter einer Po- ben genug Zeichen des Aufbruchs“, sagt er. fentlichkeitsroutine zitterte immer ein Un- diumsdiskussion auf dem Kirchentag den Gibt es nicht, fragt er,Veränderungen in terton von Nervosität und Anspannung Auflauf zu zerstreuen. „Johannes Rau ist der Gesellschaft, die den Leuten zu weit mit. Es war, als müsse der Autodidakt Rau doch noch länger da. Und er ist ja auch gehen? Die sie nicht verstehen? Die Dis- noch nach 47 Jahren in der Politik bewei- noch gar nicht Bundespräsident.“ kussion um den Abbau des Sozialstaats sen, daß er das kann, was er macht. Na und? Johannes Rau war schon immer beispielsweise. „Ich kann die zwar verste- Daß man ihn jetzt mit Jelzin verglich, da. Und als Bundespräsident gab er sich hen, aber zu weit geht mir manches auch.“ ihn schlaff und machtgierig nannte, brach- längst, bevor er Pfingsten im Berliner In dieser Situation sieht sich Johannes te ihn an den Rand des Verzichts. Mußte er Reichstag gewählt wurde. Ob noch „Bruder Rau als eine Art Leuchtturm der guten al- das haben? Es ist seine Frau Christina, 42, Johannes“ oder schon „Heinemann in ten Zeit.Wenn die Menschen, verstört über gewesen, die ihm den Rücken stärkte, als es Fröhlich“, wie er sich im neuen Amt sieht den unablässigen Wandel, der derzeit über „knüppeldick“ kam – jetzt gerade.An An- – Rau bleibt Rau, ein verläßliches Stück po- sie hereinbricht, hilfesuchend nach Ver- geboten für andere Aufgaben habe es nicht litischer Grundausstattung der Bundesre- trautem um sich blicken, dann soll – so gefehlt, sagt der designierte Präsident heu- publik Deutschland. Die Leute mögen ihn. hätte er es gern – ihr Blick getröstet am te, „ich hätte richtig Geld verdient“. Am Donnerstag dieser Woche wird Jo- neuen Präsidenten hängenbleiben: „Guck Fünf Jahre zuvor hatte er, nachdem er hannes Rau in Bonn als Nachfolger von mal, den kennen wir doch.“ Roman Herzog unterlegen war, in seiner Roman Herzog vereidigt. Jeder weiß, daß Freilich – ganz so sicher wie früher ist Enttäuschung das Wort vom „Lebens- er dann aussieht wie ein immerwährender sich Johannes Rau inzwischen nicht mehr. traum“ in die Welt gebracht, das ihn jetzt Staatsdiener, zeitlos gestrig: dunkler An- Denn nach über vier Jahrzehnten relativ einholte. Er hätte das Amt gern gehabt, ge- zug,Verdienstkreuz im Revers, korrekt von wohlmeinender öffentlicher Lobpreisun- stand er damals den Wahlleuten der SPD. den Schuhen bis zur Krawatte. Seine Rede gen des Wuppertaler Frohlockers und Stim- Die Beharrlichkeit, mit der Rau an diesem mag locker sein, der Binderknoten nie. menfängers war er vor der Kandidatur Traum festhielt, schien ihn in einen An- Der älteste Präsident der Bundesrepu- plötzlich auf Ablehnung gestoßen. Nach spruch zu verwandeln.Werden Staatsämter blik bei Amtsantritt ist Johannes Rau mit seinem widerstrebenden Ausscheiden aus als Prämien vergeben?

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Nun gab es gewiß gute Gründe, sich eine Polen begann, ist für zwei Drittel aller Bun- Botschaften unter die Leute zu bringen: Frau, einen Jüngeren oder jemanden aus desbürger ferne Geschichte. Für Rau ist 60 Jahre Zweiter Weltkrieg, 80 Jahre Wei- den ostdeutschen Ländern als ersten Prä- diese Geschichte Erinnerung. Und wie marer Verfassung, 250 Jahre Johann Wolf- sidenten der Berliner Republik zu wün- kaum ein zweiter vermag er sie im Ge- gang von Goethe, 1200 Jahre Kaiserdom schen – eine Figur, die jenen Ruck symbo- spräch mit Leben zu erfüllen. Johannes in Aachen: Johannes Rau hat alle Daten im lisiert, den sein Vorgänger Herzog in der Rau – das ist deutsche Nachkriegsge- Kopf. Sind die Anlässe zukunftsorientiert? deutschen Gesellschaft vermißt hat. Auch schichte in Anekdoten. Kann man aus der Geschichte für das näch- hat Johannes Rau mit seinen Behauptun- Immer wieder ist er in den vergangenen ste Jahrhundert lernen? gen, er habe „keinen Ehrgeiz, nie gehabt“, Wochen gefragt worden, welche großen Johannes Rau, der unermüdliche Versöh- seinem Anliegen gewiß nicht genutzt. Reden er denn plane. An Einladungen ner und Brückenbauer, ist ein Routinier Andererseits mußte ihm mancher Ein- fehlt es so wenig wie an historischen An- der symbolischen Ausdeutung von Bege- wand wohl zu Recht ziemlich heuchlerisch lässen. Aber stets hat er abgewiegelt: Er benheiten. Daß er sich in der letzten Sit- erscheinen. Hatte nicht Richard von Weiz- wolle mehr „bei den Menschen sein“ als zungswoche des Deutschen Bundestages in säcker genauso hartnäckig um das Amt Reden halten. Und ob die groß würden Bonn vereidigen läßt, um am nächsten Tag gekämpft wie er? Waren etwa Heinrich und im Gedächtnis blieben, entscheide in Berlin seine Amtsgeschäfte aufzuneh- Lübke, Walter Scheel oder sich ohnehin erst hinterher. „Reden ist men, ist Versöhnungskalkül, versteht sich. nicht auch nach kungeligen Fraktionsab- wichtig. Ich bin aber noch mehr ein Mann Auch daß er sich schon tags darauf in Jü- sprachen Präsidenten geworden? des Gesprächs.“ terborg zum „Brandenburg-Tag“ ange- Vom Amt des Bundespräsidenten, hat Johannes Rau ist ein dialogischer meldet hat, ist wohlüberlegt. Denn natür- der Bonner Historiker Hans-Peter Schwarz Mensch. Das prägt seinen politischen und lich betrachtet Rau die Verbesserung des unlängst gesagt, erwarte das Volk nicht nur persönlichen Stil, macht ihn zu einer un- Klimas zwischen Ost und West als eine sei- eine Art „Seelenführung“, sondern auch verwechselbaren Figur. Mit Menschen re- ner zentralen Aufgaben. Er sieht die Din- die „Versöhnung mit dem Mittelmaß“ der dend, nimmt er Information auf und ver- ge so: Zehn Jahre nach dem Fall der Mau- politischen Klasse. Das aber habe zur Vor- arbeitet sie. Im Dialog trifft er Entschei- er gibt es zu viel östliches Selbstmitleid, zu aussetzung, gibt Johannes Rau zu beden- dungen. Durch Rede und Gegenrede ge- viel westliche Herablassung und zu wenig ken, daß die Öffentlichkeit aufhöre, die Po- winnt er die Menschen für sich, lädt sie gegenseitigen Respekt. Was dagegen am litiker persönlich mit ihrer Arbeit gleich- zur emotionalen Identifikation ein. wenigsten hilft, glaubt der neue Präsident, zusetzen. „Erst wird den Politikern die Seine legendäre Erzählgabe ist bis heu- sind feierliche Beschwörungen der Einheit. Aufgabe zugewiesen, die Kanalisation des te ungebrochen. Wo immer Rau erscheint Also wird er zuhören und erzählen. Die Gemeinwesens sauberzuhalten. Und wenn – auf dem Weimarer Marktplatz oder in Botschaft, die er für die Ostdeutschen hat, sie dann von diesem Job zurück- ist dieselbe, die der Ministerpräsi- kommen, heißt es: Ihr stinkt ja so.“ dent und SPD-Präside seit Jahr- Tatsächlich ist wohl in 50 Jahren zehnten unter den Westdeutschen Nachkriegsrepublik keiner besser und die der „Bruder Johannes“ im vorbereitet Präsident geworden. Als Christenvolk verbreitet: „Wir brau- Rau sich vor zwei Wochen mit seiner chen die ausgestreckte Hand als Si- 701. Rede aus dem Düsseldorfer gnal, nicht den Ellenbogen.“ Landtag verabschiedete, hätte er al- Das ist es, was er von einer „Ber- lein mit der Aufzählung seiner ehe- liner Republik“ befürchtet, die sich maligen Ämter die Redezeit bestrei- allzu deutlich löste von den Werten, ten können: Oberbürgermeister von mit denen die alte Bundesrepublik Wuppertal, Landtagsabgeordneter gedieh, die er nicht die „Bonner seit 1958, Fraktionsvorsitzender, Mi- Republik“ nennen mag: die Über- nister und 20 Jahre lang Minister- tragung der Marktprinzipien auf alle präsident von Nordrhein-Westfalen, Lebensbereiche. dazu SPD-Kanzlerkandidat, stell- Um das deutlich zu machen, hat vertretender Parteivorsitzender und er sich in seiner Dankesrede nach vieles mehr. der Wahl im Reichstag für seine Ver- Was diese Biographie für seine hältnisse geradezu drastisch ausge- künftige Arbeit bedeutet, wurde drückt, indem er auf den Text des deutlich, als er in Stuttgart als Zeit- Grundgesetzes pochte. Das Echo gab zeuge über den evangelischen Theo- ihm recht. Zwar erhielt er mehrere

logen und Professor Ernst Lange be- / NRW LPA tausend zustimmende Briefe, aber richtete, einen verehrten Freund und Rau, Mentor Heinemann (1971): „Bei den Menschen sein“ auch eine Reihe überaus erregter früheren Weggefährten in Kirche und empörter Schreiben. und SPD. Im Radio hatte Rau 1955 gehört, Berlin Unter den Linden, auf Kirchen- oder Nicht nur sein Hinweis, daß vom Grund- wie der nur vier Jahre ältere Lange in der Parteitagen –, bilden sich Kreise um ihn. Er gesetz die Würde des Menschen allge- Paulskirche neben den Berühmtheiten saugt Menschen an. Anekdoten und Witze, mein und nicht die des deutschen Men- Martin Niemöller und Gustav Heinemann Sottisen und Epistel sind die Angeln, mit schen im besonderen geschützt werde, gegen die Wiederbewaffnung der Nach- denen der „Menschenfischer“ Rau Beute stieß auf Ablehnung. Befremdet hat kriegsrepublik wetterte – mit einer Be- macht. Früher fing er Wähler, jetzt Bürger. manchen Mitbürger auch der Hinweis auf gründung, die auch für ihn gilt: „Wir tragen Für einen Bundespräsidenten ist diese das Verfassungsgebot, daß „Eigentum die Spuren des letzten Krieges in unseren Fähigkeit ideal. Moderator muß er sein, verpflichtet“ – diese Art Sozialklimbim Herzen.“ andere Machtmittel als „die Kraft der Wor- hätten wir doch nun mit der DDR gerade Dieser Krieg, zu dessen Ausbruch vor te“ stehen Johannes Rau nicht zur Verfü- erledigt. 60 Jahren Johannes Rau am 1. September gung, die freilich reichlich. Und der achte Bundespräsident sagt als Staatsoberhaupt des geeinten Deutsch- Wie alle Präsidenten wird sich auch Jo- dazu halb amüsiert, halb befremdet: „Die land auf der Westerplatte in Danzig reden hannes Rau am Geländer der Gedenktage denken, ich wollte den Sozialismus wie- soll, wo damals der deutsche Angriff auf entlanghangeln, um seine symbolischen derbeleben.“ Jürgen Leinemann

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REICHSTAG Schweinkram mit blauer Kreide Was bedeuten die Graffiti, die von Rotarmisten 1945 auf die Wände des Reichstags gekritzelt wurden? Daß einige Sprüche jetzt im restaurierten Parlament zu sehen sind, erregt Unions- und Grünen-Abgeordnete gleichermaßen. AKG Sowjetsoldaten beim Beschriften des Reichstags 1945: „Wir waren in der Höhle Hitlers“ Konservierte Sprüche

olfgang Thierse war erst kurz kram ist entfernt worden. Ursprünglich schen Sprüche, für die sich der Architekt Bundestagspräsident, als er den hatten die Offiziere und Soldaten Stalins Norman Foster einsetzte. Motto: Müssen WBotschafter der Russischen Fö- die Wände in den letzten Kriegstagen über diese blöden, geschmacklosen Russen- deration zum gemeinsamen Rundgang und über vollgeschrieben. Angeblich gibt Sprüche denn wirklich noch sein? durch den Reichstag bat. Mit Sergej Bo- es auch Fotos und komplette Listen aller Eher kunstbeflissen möchte die Ab- rissowitsch Krylow begutachtete er die Graffiti, aber die sind tief in Moskauer Ar- geordnete Franziska Eichstädt-Bohlig, Sprüche, die Soldaten und Offiziere der chiven verschwunden. Architektin und grüne Umzugsexper- ruhmreichen Sowjetarmee an den Wän- Die restlichen restaurierten Inschriften tin, ihren Einwand gegen die „gestalteri- den, in den Treppenhäusern und Korrido- erregen aber immer noch Anstoß. Sie sche Beliebigkeit durch ein Übermaß an ren hinterließen. Am 30. April 1945 hatten sind für einige deutsche Abgeordnete sie den Reichstag erobert und ihn dann mit unerträglich. Ironischerweise hegen Kon- verkohltem Holz oder blauer Kreide voll- servative und Grüne in schöner Eintracht geschrieben. sowohl politische als auch ästhetische Vor einer Inschrift blieb Krylow stehen Bedenken. und meinte bedächtig: „Herr Präsident, Das Parlament sei kein „kyrillisches das hier sollten Sie entfernen lassen.“ Der Schriftenmuseum“, meint der Vorsitzen- Spruch in kyrillischen Buchstaben lautete: de der Baukommission, Dietmar Kansy „Tod den Deutschen“. Dieser Fluch, so (CDU).Wolfgang Zeitlmann (CSU) echauf- fand der diplomatische Vertreter Moskaus, fiert sich über den „Skandal, daß nicht sei doch „viel zu deutschfeindlich“. mehr genügend Platz für deutsche Bilder“ Wenn die Abgeordneten im September im Reichstag vorhanden sei. den Reichstag in Beschlag nehmen, werden Die grüne Bundestagsvizepräsidentin

sie von solchen Siegersprüchen verschont. Antje Vollmer kritisiert die „skurrile Über- C. BACH Politisch Anstößiges und auch Schwein- treibung“ bei der Restaurierung der russi- Berliner Reichstag: Graffiti hinter Büsten?

46 der spiegel 26/1999 Inschriften in der Osthalle“ verstanden nem Treppenhaus im Reichstag so über- schen immer geschlagen“. – „Einen Scheiß wissen. setzt: „Der russische Säbel steckt in der kriegt Ihr, Faschisten, nicht Rußland“. – Dabei war die Begeisterung groß, als der deutschen Scheide.“ „So geschieht es ihnen recht, den Hun- Architekt Foster seine Funde präsentierte. Auch Berlins oberster Denkmalschützer desöhnen“. Die Graffiti wurden 1995 hinter Verklei- Helmut Engel weiß nur von „einer einzigen Ein Hauptmann Kokljuschkin notierte dungen und Wänden entdeckt, die wäh- obszönen Inschrift“. Er weigert sich aber, am 15. Mai 1945: „Wir waren im Reichstag, rend des Umbaus in den sechziger Jahren sie zu zitieren: „Die Zeile ist längst ent- in der Höhle Hitlers“. Der Führer der eingezogen worden waren. Möglichst vie- fernt.“ Deutschen hat in diesem Gebäude zwar le Zeugnisse der Geschichte sollten kon- Die Fachleute hätten bei der Renovie- nie eine Rede gehalten, dennoch galt den serviert und dem staunenden Publikum rung des Reichstags keine Äußerungen Sowjets der Reichstag und nicht etwa Hit- präsentiert werden, darüber bestand konserviert, „an denen heute jemand An- lers Reichskanzlei als Symbol Nazi- schönste Einigkeit. stoß nehmen kann“, meint ein leitender Deutschlands. Denkmalschützer Engel und Bauhistori- ker Cullen haben sich mit Foster für das Konzept „Geschichtslesebuch Reichstag“ stark gemacht. Deshalb sollen die 159 Graf- fiti im schönen neuen Reichstag erhalten bleiben. Diese Absicht erachtet der CSU- Abgeordnete Zeitlmann als reichlich un- würdig: „Als wenn wir Parlamentarier noch etwas lernen müßten.“ Engel und Foster – ein Berliner und ein Brite! – stehen nun im Verdacht, sie hätten mehr russische Sprüche aus dem Jahr 1945 bewahrt, als 1996 zwischen der damaligen Bundestagspräsidentin Süssmuth und dem russischen Botschafter Krylow vereinbart worden sei. Engel verwahrt sich gegen diese Unter- stellung, und Foster hüllt sich in Schweigen. Die Bundestagsverwaltung konnte trotz in- tensiver Suche weder einen alten Beschluß auftreiben noch irgendein Protokoll fin- den, das Aufschluß über eine feste Verein- barung über die Zahl der zu restaurieren- den Sätze geben könnte. Wie viele Sprüche am Ende den Reichs- tag zieren werden, soll der Kunstbeirat des Bundestags im Herbst diskutieren. Haus- herr Thierse beschwört in bewährter Ma- nier die Kollegen, „auch die bitteren Sei- ten der deutschen Geschichte in unserem

P. LANGROCK / ZENIT P. Parlamentsgebäude auszuhalten“. im restaurierten Reichstag: „Eine einzige obszöne Inschrift“ Oder werden am Ende doch noch eini- ge der 159 Inschriften hinter alten Bronze- Etepetete war man allerdings von An- Beamter der Bundestagsverwaltung be- leuchtern oder hinter Büsten im Reichstag fang an. Die Liste mit den aus dem Russi- gütigend. versteckt? schen übersetzten Sätzen verschwand auf Weder ekelhaft noch besonders spekta- Eine neuerliche Provokation aus Rus- Geheiß der damaligen Bundestagspräsi- kulär fallen denn auch die 159 restaurier- senhand mußten die Bundestagsabgeord- dentin Rita Süssmuth (CDU) sofort im Pan- ten Rotarmisten-Graffiti aus, die in einer neten im übrigen schon klaglos erleiden. zerschrank. 15seitigen Dokumentation übersetzt wor- Auf Wunsch des Parlaments hatten Künst- Als Zumutung empfanden Unions-Ab- den sind. Mehr als die Hälfte der Inschrif- ler aus den Siegermächten Rußland, USA geordnete die restlichen Inschriften schon ten bestehen schlicht aus Namen wie „Iwa- und Frankreich Bilder für den renovierten bei der Besichtigung der Baustelle vor drei now“, „Pjotr“ oder „Pawlow“ und den Reichstag angefertigt. Die vierte Sieger- Jahren. „Sprüche wie auf jedem russischen weltweit üblichen Banalitäten wie „Hier macht Großbritannien schied aus, da Sir Männerklo“, hieß es damals, habe der Bri- war Nadja“. Norman für das Gesamtkunstwerk Reichs- te da freigelegt – an Beweisen für die Zo- Die zweite Gruppe Graffiti beschreibt tag verantwortlich ist. ten fehlte es allerdings. Wegstrecken der sowjetischen Soldaten, von Das Werk des Russen Grischa Bruskin, Wer die Graffiti degoutant fand, konnte der drohenden Niederlage bis nach Ber- der mittlerweile in New York lebt, hängt sich bisher auf den Reichstags-Historiker lin: „Moskau–Smolensk–Berlin“, „Marsch- jetzt im Clubraum der Bundestagsabge- Michael S. Cullen berufen. Der berichtete route Teheran–Nowosibirsk–Baku–Berlin“, ordneten hinter dem Tresen im Nordwest- von „Sprüchen, die sogar Matrosen die „Stalingrad–Berlin“ oder „Unser Weg Turm. Es zeigt Szenen aus russischen Re- Schamröte ins Gesicht treiben und jedem führte vom Kaukasus bis zum Reichstag gionen, Männer tragen politische Parolen Männerklo der Welt zur Ehre gereichen in Berlin, Moschkin. I. P“. wie etwa „Lang lebe der Sozialismus“ vor würden“. Die dritte Sorte demonstriert die Über- sich her. Mit eigenen Augen gesehen hat Cullen heblichkeit des Siegers, meint Denk- Einer aber hält eine Bombe im Arm. Der jedoch nur einen einzigen vulgären Spruch. malschützer Engel. Da steht: „Für Lenin- Adressat ist auf dem Rumpf deutlich ver- Ein Redakteur der „New York Times“ mit grad haben sie voll bezahlt“. Oder: „Wir merkt. In kyrillischen Buchstaben steht da: Russisch-Kenntnissen habe die Zeile in ei- Russen waren hier und haben die Deut- „Für den Reichstag“. Petra Bornhöft

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ins Zimmer zu platzen, um den JUSTIZ Chef in flagranti zu ertappen. Doch die Wachen trauten sich Luftig bekleidet nicht; der Anwalt der Frau, der sich ein „gutes Verhältnis“ zu In Baden-Baden steht K. bescheinigt, wollte den Fall nicht übernehmen. Als die De- der Leiter eines Frauengefäng- linquentin nach Schwäbisch nisses vor Gericht. Der Gmünd verlegt worden war, Vorwurf: Sex mit Häftlingen. nahm dort schließlich eine So- zialarbeiterin die Sache in die m Januar 1998 war er mal wieder als Hand. Helfer gefallener Mädchen gefragt: Als Dabei wurde beim Bühler Inämlich die Strafgefangene Burbuqe O. Personal nicht erst seit der An- im Aktenraum des badischen Frauenge- kunft der Gambierin getratscht, fängnisses Bühl von der Stehleiter rutsch- daß der Chef seine „Lieblinge“ te, rettete sie Anstaltsleiter Roland K. mit habe, deren „erotischer Versu- einem beherzten Griff zur Taille. chung er unterlegen“ sei, wie Genau so spielte sich der Zwischenfall sich die ehemalige Angestellte nach der Erinnerung des Amtsinspektors Kornelia Sch. erinnert. Mal be- ab und wäre damit aller Ehren und keiner hauptete eine Schließerin, ge- Erwähnung wert – würden nicht Details sehen zu haben, wie ein Häft- die ritterliche Tat in den Ruch der Un- ling dem Chef den Nacken mas- keuschheit ziehen. Denn eine Wärterin, die sierte, mal habe er in einer Ecke in diesem Moment die Tür zur Aktenkam- Tuchfühlung mit einer Gefan- mer aufzog, will die Hand der „leicht ge- genen aufgenommen, die nach- bückten“ Kosovarin O. vorn in der Hose her berichtete, er habe ihre Brü- des Knastvaters gesehen haben. Auch der ste als große „Kamele“ geprie- angebliche Fanggriff des sen. Eine andere Insassin schil-

Chefs kam ihr eher ver- B. MAGULL derte der Polizei, der Gefäng- fänglich vor: wie eine Um- Roland K., Strafgefangene: Erotische Versuchung? nisleiter habe im Sommer beim armung der erotischen Art. Hofgang der luftig bekleideten Von Donnerstag an muß will Experten aufbieten, die den definitiven Häftlinge „gegiert wie die Sau“ und sie nun das Landgericht Baden- Nachweis solcher Impotenz für unmöglich bei der Arbeit „angetatscht“. Der Beamte Baden nicht nur prüfen, ob halten. Außerdem dürften sich die Richter bestreitet, irgendwelche sexuellen Begeg- es sich bei der Darstellung auch dafür interessieren, warum die Gam- nungen mit Gefangenen gehabt zu haben. des Beamten um eine Aus- bierin die Machart der Unterhosen des An- „Wir hatten bisher keine Hinweise auf rede handelt. Neben der geklagten kennt („weiß, vorn zum Hinein- Unkorrektheiten“, wundert sich Kai Sonn- Episode im Aktenraum langen“) und wieso sie den Wärterinnen tag, Sprecher des baden-württembergi- wirft die Staatsanwaltschaft berichten konnte, der Chef sei zeugungs- schen Justizministeriums. Doch offenbar ihm vor allem vor, er habe unfähig, wenn auch keineswegs vollstän- sind die Ministerialen da nicht allzugut in- mit einer gambischen Ge- dig kraftlos. formiert: Bis zur vergangenen Woche hat- fangenen mindestens 20mal Glaubt man der Frau, dann hat sie der te sich im Haus ebenfalls noch nicht her- Zeugin L. Sex gehabt und ihr dafür 46 allseits beliebte SPD-Gemeinderat aus umgesprochen, daß auch gegen den Sozi- verbotene Anrufe aus der Achern nahezu allseitig und allerorten ge- alarbeiter des Frauengefängnisses ein Er- U-Haft ermöglicht. Und über allem schwebt liebt: vaginal, oral und anal, in der Akten- mittlungsverfahren läuft. Eine Angestellte noch der Verdacht, Hinweise auf ein Lot- kammer, im Freizeitraum, im Zimmer des will ihn 1994 erwischt haben, als er eine terleben in der Außenstelle der Justizvoll- JVA-Sozialarbeiters. Wegen der illegalen Gefangene küßte. zugsanstalt (JVA) Offenburg seien höheren Telefonate will sie alles hingenommen ha- Der Umgang mit diesem Vorfall, das be- Orts abgebügelt worden. ben, allerdings zunehmend widerstrebend. haupten mehrere Aufpasserinnen, habe sie Hauptzeugin der Anklage ist die Gam- Schließlich packte sie bei mehreren Ange- später bewogen, die Vorwürfe gegen den bierin Rohey L., 29 – für den Gefängnis- stellten über das angebliche „Ficki-ficki“ Anstaltsleiter erst gar nicht ins Haupthaus leiter eine „geschwätzige Intrigantin“, die mit dem Hausherrn aus, bettelte bei ihrem nach Offenburg zu melden. Denn 1994, das ihn mit „hanebüchenen“ Lügen zerstören Verteidiger um Rat, flehte Wärterinnen an, berichteten Wärterinnen, habe sie der dor- wolle. Tatsächlich müssen sich die Richter tige Chef Dieter Michaelis in mit der Frage auseinandersetzen, wie ein einer Dienstbesprechung re- Mann angeblich zum Sex-Maniac mutie- gelrecht „mundtot“ gemacht: ren kann, dem mehrere Ärzte eine „erek- „Wenn noch einer darüber tile Dysfunktion“ mit völliger Impotenz spricht, bekommt er es mit mir attestiert haben. Schon seit Jahren, be- zu tun“, soll er gedroht haben. hauptet K., 54, spüre er keinen Sextrieb Michaelis will dazu nichts mehr. Sein Anwalt Hans Ulrich Beust er- sagen. Unbestreitbar ist dage- wartet deshalb, daß sich die Vorwürfe gen, daß der Zeitvertrag der schon am ersten Prozeßtag erledigen. Me- damaligen Beschwerdeführerin diziner sollen dann aussagen, daß sein nicht mehr verlängert wur- Mandant wegen erwiesener Unfähigkeit de. Dabei hätten ihr Vorge- unschuldig sein müsse. setzte, so die Frau, zuvor noch

Doch wo Gutachter sind, gibt es auch M. RIEHLE / LAIF wiederholt eine Dauerstellung Gegengutachter: Die Staatsanwaltschaft Frauengefängnis Bühl: „Kamele“ im Knast avisiert. Jürgen Dahlkamp

50 der spiegel 26/1999 „Ohne jedes Tabu“, erklärt Schubert, gehörten nach zehn Jahren Aufbau Ost alle Förderprogramme überprüft: „Wenn der Finanzminister 30 Milliarden sparen will, muß auch der Osten seinen Teil dazu beitragen.“ Schuberts Mitstreiter Ste- phan Hilsberg formuliert es noch etwas drastischer: „In Zukunft darf es keinen Jam- mer-Bonus mehr geben.“ Be- wußt haben die Ost-SPDler auch den langjährigen Wirt- schaftspolitischen Sprecher der SPD-Fraktion, Ernst Schwanhold, in die Debatte einbezogen – einen Westdeut- schen. Noch im Januar, nach den Beratungen der neuen Regie- rung über den Haushalt 1999, hatte der Sachse Rolf Schwa- nitz, Schröders Mann im

DPA Kanzleramt für den Aufbau Aufbau-Ost-Projekt (in Sachsen): Nicht einfach den Wald harken Ost, stolz erklärt, die rot- grüne Regierung stelle dafür Stasi-Opfer bis zu den „Verkehrsprojek- noch mehr Geld als das abgewählte Kohl- AUFBAU OST ten Deutsche Einheit“. Ihre wichtigste Kabinett bereit – statt 91 Milliarden Mark Aufgabe bislang: die Probleme im Osten im Jahr 1998 nun knapp 100 Milliarden. Abschied vom beklagen und Fördermittel, Zuschüsse und Selbst noch vor wenigen Wochen, als Fi- Kredite nach Kräften erkämpfen und ver- nanzminister Hans Eichel (SPD) seinen teidigen. harten Sparkurs ankündigte, schien es, Jammer-Bonus Doch in der Rolle als „Jammerer vom als sei der Osten tabu. Bei den Aufbau- Dienst“ fühlen sich mehrere Ost-MdBs in- hilfen, erklärte Eichel, werde nicht ge- Die Bundesregierung wollte in den zwischen unwohl. Mit Wissen und aus- spart. drücklicher Billigung von Fraktionschef Pe- Das großzügige Versprechen des Fi- neuen Ländern nicht sparen. ter Struck arbeiten Schubert, die stellver- nanzministers, von ostdeutschen Landes- Jetzt verlangen Ost-SPD-Bundes- tretende Fraktionschefin Sabine Kaspereit politikern in trauter Eintracht begrüßt, tagsabgeordnete eine Über- und mehrere andere Genossen in einer ver- war den sparwilligen Ostfraktionären gar prüfung aller Hilfsprogramme. traulichen Runde an Vorschlägen für eine nicht recht. Die Zusage, so fürchten sie, radikale Roßkur der Osthilfen. könnte daheim die nötige kritische Dis- ls die Fördermittel noch wie Milch Ganz gegen die Rituale des Bonner Po- kussion über die Hilfe aus dem Westen und Honig flossen, war der Sozial- litikbetriebs wollen die Ostlobbyisten ihrer erschweren. Ademokrat Mathias Schubert Land- eigenen Klientel reinen Wein einschenken. Dabei ist die Debatte längst überfällig. rat im brandenburgischen Fürstenwalde. Erst vor wenigen Wochen forderten führen- „Nehmt, was ihr bekommen könnt“, hieß de Wirtschaftsinstitute, die finanziellen Hil- damals die Devise, die Sozialministerin fen für den Osten grundlegend zu ändern, und Landesmutter Regine Hildebrandt die rund 400 Förderprogramme von EU, (SPD) allen Ostpolitikern einbleute. Bund und Ländern zu durchforsten. Sie se- Natürlich mühte sich auch Schubert hen die Gefahr einer zunehmenden „Sub- nach Kräften, Fördermittel und Geld für ventionsmentalität“. Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen (ABM) Auch Wissenschaftler, die der SPD abzugreifen. Doch mochte er nicht wie an- durchaus nahestehen, warnen davor, es dernorts die Arbeiter „einfach den Wald beim Gießkannenprinzip zu belassen. So harken“ lassen. Er richtete eine „Umwelt- klagt Ulrich Hilpert, Professor an der streife“ ein, die Müllsünder aufspürte und Friedrich-Schiller-Universität in Jena, in ei- dann die Bußgeldstelle des Ordnungsamts ner Studie über die Osthilfen: „Mehr Geld einschaltete. „Am Ende“, freut sich Schu- ist nicht nötig, sondern eine konzeptionel- bert, „hat sich die Truppe fast selbst le Neuausrichtung der Förderprogramme.“ finanziert.“ Vor allem für SPD-regierte Ostländer kam Seit 1994 wirbt der gebürtige Sachse die Hilpert-Untersuchung zu einem ver- auch im Bundestag für originelle Lösun- heerenden Fazit: Weder Sachsen-Anhalt gen. Schubert, 46, wurde im November noch Brandenburg hätten ein klares För- vergangenen Jahres Vorsitzender der „Ar- derkonzept.

beitsgruppe Angelegenheiten der neuen M. DARCHINGER Aus den Analysen der Wirtschaftswis- Länder“, in der Sozis über Ostthemen be- Ost-SPD-Mann Schubert senschaftler und den Ergebnissen eigener raten – von den Entschädigungen für Böse Briefe aus der Heimat Recherchen wollen die Sozis um Vormann

der spiegel 26/1999 51 Werbeseite

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Werbeseite Schubert nun möglichst schnell Konse- quenzen ziehen. Noch arbeiten sie an dem Konzept für eine „Neuorientierung und Modernisierung“ beim Aufbau Ost, einer Aufgabe, die eigentlich Staatsminister Schwanitz erledigen sollte. Doch der gilt, wie Kollegen klagen, als „sehr kompetent, aber nie erreichbar“. Die Eckpunkte der Reform, mit der die Ostgenossen den Förderdschungel radikal lichten wollen, stehen aber schon fest. Da- nach soll künftig π Hauptziel der Wirtschaftsförderung sein, leistungsfähige Unternehmen zu stärken – und nicht, das Sterben schwacher Be- triebe hinauszuzögern; π eine Kreditvergabe Vorrang vor finan-

ziellen Beihilfen haben. Geborgtes Geld C. LEHSTEN / ARGUM werde sinnvoller ausgegeben als ge- Angeklagter Simsek (M.), Anwälte Jofer, Lehmbruck: „Das Recht völlig ausgehöhlt“ schenktes; π die Vergabe von Bundeshilfen davon ab- hängig gemacht werden, daß die Länder ERMITTLER ihre Förderprogramme aufeinander ab- stimmen und in länderübergreifenden Regionen wie der Lausitz verbindlich Pieps im Schlafzimmer kooperieren; π Fortbildung stärker an den Anforderun- Mit einem Großen Lauschangriff wollten gen der Wirtschaft ausgerichtet und das Geld statt für neue Fortbildungs-Institu- Fahnder einen Mord aufklären – und zeigten so, wie te für Weiterbildung in den Firmen ein- damit Bürgerrechte beschnitten werden. gesetzt werden. Schubert sieht ein Einsparpotential von ie Herren, die am 18. März mor- Die Entscheidung der Kammer zeigt bei- „mehreren Milliarden Mark“, da zudem gens um kurz nach neun Uhr vor spielhaft, welch rechtsstaatlich fragwürdiges manche Förderprogramme – wie die für Dder Wohnung im Münchner Stadt- Instrument die Politik den Fahndern durch Gewerbegebiete – ganz gestrichen werden teil Berg am Laim auftauchten, waren für den Großen Lauschangriff vor einem Jahr könnten. Andere Auf- eine normale Durchsuchung merkwürdig in die Hand gegeben hat. Ursprünglich als gaben wie etwa die gerüstet. Um drei Zimmer zu inspizie- Mittel im Kampf gegen Organisierte Kri- Sanierung ehemali- ren, kamen sie gleich zu siebt; einer von minalität propagiert, dient der Lauschan- ger Tagebaulandschaf- ihnen schleppte zudem ein Stativ sowie griff nach dem Willen des Gesetzgebers ten würden schon bald einen großen, silbernen Werkzeugkoffer mittlerweile in Wahrheit auch der Bekämp- erledigt sein. mit sich. fung von ganz ordinären Straftaten wie Be- Der geplante Kurs- Der Frau, die öffnete, legten sie einen stechung oder schwerem Raub. Mit rich- wechsel dürfte im drei Tage zuvor ergangenen Beschluß der terlicher Erlaubnis darf die Polizei Wanzen Osten angesichts der 1. Strafkammer des Landgerichts München in Schlafzimmern von Beschuldigten an- bevorstehenden Wah- I vor, dem zufolge sie die Wohnung nach bringen, die mit Organisierter Kriminalität len in Sachsen, Thürin- „Fernmelderechnungen der Deutschen Te- überhaupt nichts zu tun haben – und greift gen und Brandenburg lekom und der Firma Mobilcom“ durch- dabei massiv in deren Rechte ein.

DPA zu einem Sturm der suchen sollten. Rund anderthalb Stunden Schwanitz Entrüstung führen. später zogen die Polizisten wieder ab – mit Schon jetzt erreichen spärlicher Beute. Nur eine einzige Handy- Schubert in Bonn böse Briefe aus der Hei- Abrechnung stellten sie sicher. Die hatten mat: Er soll sich dafür einsetzen, daß Gel- sie im Schlafzimmer gefunden. der für mehrere tausend Arbeitsbeschaf- Doch als die Beamten weg waren, hatten fungsmaßnahmen weitergezahlt werden. die nicht nur etwas mitgenommen, son- Die ABM-Stellen hatte die Kohl-Regierung dern – unbemerkt – auch einiges dagelas- im vergangenen Jahr noch hastig als Wahl- sen: hochempfindliche Mini-Mikrofone, so- kampfschlager eingerichtet. Jetzt laufen genannte Wanzen, eingebaut vermutlich in die Verträge aus. Brandenburgs Sozialde- Steckdosen. Mit deren Hilfe sollten die mokraten üben sich schon in Drohgebär- Gespräche des Wohnungsmieters Ömer den: Schröder bekomme die Stimmen des Simsek und seiner Ehefrau Doris abgehört Landes im Bundesrat „nicht mehr zum werden. Nulltarif“. Was die Beamten Ehefrau Simsek be- Doch Schubert und seine Sparkommis- wußt nicht gezeigt hatten, war ein weiterer sare wollen sich davon nicht beirren lassen. Beschluß der 1. Strafkammer, ebenfalls Für den Fall, daß der Protest der eigenen vom 15. März, in dem diese einen Großen Landsleute zu heftig wird, haben sie noch Lauschangriff gebilligt hatte. Die Zielper- ein paar Trümpfe in der Hand: „Wir ken- son: Simsek. Der saß während der Durch- nen genug Projekte, in denen Geld ver- suchung mit seinem Anwalt in eigener Sa- sandete.“ Stefan Berg che im Gerichtssaal. Verlassene Simsek-Wohnung, Einbau einer

54 der spiegel 26/1999 Deutschland

So steht Simsek, 34, seit 1. Februar ist Hauptbelastungszeuge Hakan Öz je- wegen Anstiftung zum Mord vor Gericht. doch „absolut unglaubwürdig“. Der habe Die Anklage wirft ihm vor, Anfang ver- seine Aussagen bislang mehrfach geändert, gangenen Jahres in der Türkei für 80000 zum Teil widersprächen sich diese diame- Mark zwei Killer angeheuert zu haben – tral. Tatsächlich gab er unmittelbar nach im Auftrag der Mitangeklagten Sevil Öz, der Tat zunächst zu Protokoll, er wisse 39. Deren Ehemann Mehmet Öz wurde am nicht, wer seinen Vater umgebracht haben 7. Februar vergangenen Jahres nachts in könnte. Erst als die Polizei ihn selbst ver- seiner Münchner Wohnung von zwei Un- dächtigte, beschuldigte der Sohn plötzlich bekannten getötet. seine Mutter und Simsek. Schon bald nach dem Mord geriet die Beide Angeklagten bestreiten die Vor- Ehefrau des Opfers ins Visier der Kripo: würfe. Simsek äußerte sich erstmals am 10. Sevil Öz wurde am 12. Februar 1998 fest- März, dem 14. Verhandlungstag. Fünf Tage genommen und sitzt seitdem in Haft. Sim- später ordnete die Kammer den Großen sek, einst einer der engsten Freunde des Lauschangriff an. Getöteten, wurde im Juni vergangenen Zur Begründung schrieben die Richter, Jahres ebenfalls verhaftet, mußte jedoch der Verdacht gegen Simsek beruhe „auf

zwei Monate später wieder auf freien Fuß der eigenen widersprüchlichen Einlassung C. LEHSTEN / ARGUM gesetzt werden, weil sich der „dringende des Angeklagten und den Angaben des Staatsanwalt Boie Tatverdacht“ nicht aufrechterhalten ließ. Zeugen Hakan Öz, die nach derzeitiger Lauschangriff als „Ultima ratio“ Seitdem ist er nur mehr „hinreichend“ tat- Beurteilung glaubhaft erscheinen“. Im An- verdächtig, was für eine Anklageerhebung schluß an die erste Aussage Simseks vor kreten Umstände des Einzelfalles“ entge- reicht, nicht aber für die Anordnung von Gericht sei „zu erwarten, daß in der Woh- gen. Der Lauschangriff auf Simsek sei als Untersuchungshaft. nung des Angeklagten nunmehr tatrele- „Ultima ratio“ aufgrund der „besonderen, Bei Sevil Öz stießen die Beamten schnell vante Gespräche geführt werden“. problematischen Beweissituation“ not- auf ein mögliches Motiv: Den Ermittlungen Für Simseks Anwalt Jofer, der die Be- wendig gewesen, auch wenn er einen „ex- zufolge war sie von ihrem Ehemann be- weise gegen seinen Mandanten „außer- tremen Eingriff“ bedeute. trogen und immer wieder schwer mißhan- ordentlich dünn“ nennt, liegt der Eindruck Die frühere Bundesjustizministerin Sa- delt worden. Mehrfach mußte sie ins Frau- nahe, die Justiz habe für die Wohnungs- bine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP), enhaus fliehen. Dort war sie zusammen durchsuchung am 18. März einen Vorwand Ende 1995 wegen der Zustimmung ihrer mit ihrem heute 16jährigen Sohn Hakan gesucht, um dann bei dieser Gelegenheit Partei zum Großen Lauschangriff zurück- und ihrer 11jährigen Tochter auch zum die Wanzen installieren lassen zu können. getreten, sieht sich durch den Münchner Zeitpunkt des Mordes. Aus „Wut und Ei- Denn die Telefonrechnungen Simseks sei- Fall in ihren damaligen Bedenken „absolut fersucht“, glauben die Ermittler, sei zuvor en bei früheren Durchsuchungen bereits bestätigt“. Die Rechte von Verteidigung in Öz der Plan gereift, „ihren Ehemann tö- sichergestellt worden. und Angeklagten würden, so die bayeri- ten zu lassen“. Jofer sieht durch den Lauschangriff „die sche Bundestagsabgeordnete, „ad absur- Die Beweislage im laufenden Prozeß, Chancengleichheit von Verteidigung und dum geführt“. der noch Monate dauern könnte, ist aller- Anklage in der Hauptverhandlung massiv Für Leutheusser-Schnarrenberger, die dings, wie selbst die Staatsanwaltschaft ein- verletzt“. Wenn ein Angeklagter während mittlerweile gemeinsam mit Ex-Bundes- räumt, „schwierig“. Weder gibt es direkte des Prozesses in seiner Wohnung abgehört tagsvizepräsident Burkhard Hirsch in Tatzeugen noch eindeutige Spuren. Die werde, könne sich die Staatsanwaltschaft Karlsruhe Verfassungsbeschwerde gegen Mörder selbst sind unerkannt verschwun- auf diese Weise Wissen verschaffen, das den Lauschangriff eingereicht hat, belegt den. Die Anklage stützt sich deshalb im der Verteidigung nicht zur Verfügung das Beispiel Simsek auch, daß die ur- wesentlichen auf Angaben des Öz-Sohns stehe. sprüngliche Begründung für die Ein- Hakan. Zudem, so Jofer, werde durch den führung des Schnüffelparagraphen, die Für die Verteidiger der beiden Ange- Lauschangriff „das wichtigste Recht des Bekämpfung der Organisierten Krimina- klagten, Uwe Lehmbruck und Robert Jofer, Angeklagten unterlaufen: das Recht zu lität, „von Anfang an lediglich ein Vorwand schweigen“. Auch das war“. Statt dessen sollte Polizei und Justiz Zeugnisverweigerungs- „generell ein neues Mittel in die Hand ge- recht von Simseks Ehe- geben werden, um Straftaten anders ver- frau werde „völlig aus- folgen zu können“ – durch Eindringen in gehöhlt“, wenn im die verfassungsrechtlich geschützte Pri- Schlafzimmer während vatsphäre von Beschuldigten. des laufenden Prozes- Als wenig tröstlich empfinden es Anwalt ses Mikrofone plaziert Jofer und sein Mandant, daß der Lausch- würden. angriff auf Simsek am Ende scheiterte.Weil Man müsse befürch- dessen Wellensittich „Seda“ aufgrund einer ten, schimpft Öz-Anwalt Verletzung nicht mehr fliegen konnte, wan- Lehmbruck, daß Polizei derte er dauernd laut piepsend in der Woh- und Justiz mit dem neu- nung umher, aus der Simsek mittlerweile en Instrument Lausch- ausgezogen ist, und störte dadurch offen- angriff „schon bald ge- bar die empfindlichen Geräte. nauso inflationär umge- „Die Qualität der Aufzeichnungen war hen wie mit der Tele- so schlecht“, notierte der zuständige Fahn- fonüberwachung“. Dies der betrübt, „daß eine Auswertung nicht sei „rechtsstaatlich mehr möglich war.“ Im April rückte wieder ein als bedenklich“. Beamter mit einem silbernen Metallkof-

C. LEHSTEN / ARGUM Staatsanwalt Peter fer an – diesmal, um die Wanzen zu ent- Steckdosen-Wanze: Dünne Beweise Boie hält dem die „kon- fernen. Wolfgang Krach

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SPIEGEL-GESPRÄCH „Das kann der Papst gar nicht“ Der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz Karl Lehmann über die Zukunft der kirchlichen Schwangeren-Konfliktberatung

SPIEGEL: Herr Bischof, jahrhundertelang SPIEGEL: Aber der vom Papst verlangte liest dort den lapidaren Satz: „Diese Be- galt in der katholischen Kirche der kate- Zusatz macht den Beratungsschein doch scheinigung kann nicht zur Durchführung gorische Spruch: Roma locuta, causa fini- unwirksam. straffreier Abtreibung verwendet werden.“ ta – Rom hat gesprochen, die Sache ist er- Lehmann: Was heißt unwirksam? Das kann Lehmann: Der Arzt weiß doch ganz genau, ledigt. Gilt die Order nicht mehr? der Papst für den staatlichen Bereich gar daß diese kirchliche Bescheinigung, die von Lehmann: Doch. Wir haben das Votum des nicht. einer Beraterin unterschrieben ist, nicht Papstes angenommen – zugleich allerdings SPIEGEL: Eine Frau, die sich von der katho- ein staatliches Gesetz außer Kraft setzt unser Ziel erreicht, daß wir in der Kon- lischen Kirche hat beraten lassen, will oder aushebelt. Auch der Vatikan ist klug fliktberatung bleiben können. trotzdem ihr Kind abtreiben. Sie geht mit genug zu wissen, daß er nicht auf diese Art SPIEGEL: Glauben Sie, daß der Vatikan das dem Beratungsschein zum Arzt, und der und Weise ein staatliches Gesetz einfach auch so sieht? Lehmann: Ich bin mir ganz sicher. Ich habe bereits vom Apostolischen Nuntius ein ent- sprechendes Signal bekommen, daß der Va- tikan mit unserer Erklärung einverstanden ist, den Beratungsschein zwar weiter aus- zustellen, aber mit dem vom Papst gefor- derten Zusatz, er könne „nicht zur Durch- führung straffreier Abtreibungen verwen- det werden“. Im übrigen sprach ich am letz- ten Donnerstag in Rom mit Kardinalstaats- sekretär Sodano und wurde dabei bestätigt. SPIEGEL: Alle außer den deutschen Bi- schöfen haben den Papstbrief ganz anders verstanden – als definitive Aufforderung, endgültig aus dem deutschen Beratungs- system auszusteigen, um die Glaubwür- digkeit der Kirche zu sichern. Lehmann: Ich sehe das anders. Der Vatikan hat immer gesagt: Bleibt, wenn es irgend- wie geht, mit allen Möglichkeiten inner- halb der staatlichen Beratung, bloß nicht mit diesem Schein. Es hat nie eine direkte Aufforderung gegeben, das staatlich gere- gelte System zu verlassen. Es wurde nur gesagt: Ihr sollt „in einem konkreten Punkt vom Weg des Gesetzgebers abweichen“.

Der Aufforderung sind wir jetzt nachge- H. DARCHINGER J. kommen. Bischof Lehmann: „Extreme Form einer ethischen Aufforderung“

Mit einem Doppelbeschluß führung straffreier Abtreibungen ver- gen in Baden-Württemberg und Bayern, wendet werden.“ wo die meisten der bundesweit 270 ka- hat die Deutsche Bischofskonferenz in Damit ist das Thema nach Ansicht des tholischen Beratungsstellen arbeiten. Das der vergangenen Woche den jahrelangen Vorsitzenden der Bischofskonferenz, des niedersächsische Sozialministerium da- Streit mit dem Vatikan um ein Verbleiben Mainzer Bischofs Karl Lehmann, 63, er- gegen hegt „erhebliche juristische Zwei- der katholischen Kirche in der staatlichen ledigt – sowohl für den Vatikan als auch fel“ an dem katholischen Beratungs- Schwangeren-Konfliktberatung beigelegt für den Staat. Ob diese optimistische schein, Bundesfamilienministerin Chri- – zumindest aus ihrer Sicht: Die Ober- Sicht trägt, muß sich noch zeigen. Die stine Bergmann (SPD) kritisierte das Pa- hirten wollen zwar weiterhin im Rahmen Länder haben sich in ersten Stellung- pier als „unklar“.Verunsichert sind auch der staatlichen Beratung Schwangere be- nahmen unterschiedlich eingelassen. Die die Mediziner: Nach Meinung der Deut- treuen und den für eine Abtreibung vor- hessische Sozialministerin Marlies Mo- schen Gesellschaft für Gynäkologie und geschriebenen Beratungsschein ausstel- siek-Urbahn (CDU) etwa hofft, „daß die Geburtshilfe können Ärzte mit dem ver- len, das Dokument jedoch, wie von Rom Beratung in dieser Form anerkannt und änderten Schein nicht straffrei abtreiben. verlangt, mit dem Zusatz versehen: „Die- damit auch finanziell unterstützt werden Bergmann und ihre Länderkollegen wol- se Bescheinigung kann nicht zur Durch- kann“. Ähnlich äußerten sich ihre Kolle- len in dieser Woche beraten.

58 der spiegel 26/1999 EPD Papst Johannes Paul II.*, deutsche Bischöfe: „Es hat nie eine direkte Aufforderung gegeben, das staatlich geregelte System zu verlassen“ unterlaufen kann. Der Zusatz ist eine be- Schein.Was sonst auf dem Schein steht, in- Thema bei der Audienz mit keinem Wort sondere, extreme Form einer ethischen teressiert ihn nicht. Der Schein dokumen- erwähnt. Aufforderung ... tiert lediglich, daß die Beratung stattge- Lehmann: Ein wenig muß ich modifizieren, SPIEGEL: ... an die Frau? funden hat. Es gibt keine direkte Kausalität obgleich ich sonst nicht über Gespräche Lehmann: Nein. Diese Aufforderung ist vom Schein zur Abtreibung. Inzwischen mit dem Papst rede. Der Papst war durch zunächst einmal Ausdruck des Selbstver- haben nicht wenige Rechtspolitiker, sogar mehrere Schreiben und Berichte sowie ständnisses der Kirche. In zweiter Linie ist Generalstaatsanwälte, auch so reagiert. durch Besuche deutscher Bischöfe aus- es selbstverständlich auch ein dringender SPIEGEL: Und Sie glauben wirklich, der Va- führlich unterrichtet, so daß ich ihm nicht Aufruf an die betroffene Frau. Ich meine, tikan gibt sich mit Ihrer Interpretation zu- erst einen Vortrag halten mußte.Allerdings da machen wir uns seit Jahren etwas vor: frieden? hatte ich nochmals um eine Aussprache ge- Der Schein ist doch nicht die Ursache ei- Lehmann: Davon bin ich überzeugt. Wenn beten, bevor eine Entscheidung anstehe, ner Abtreibung, sondern die Ursache einer das nicht so ist, würden wir das mit Si- wobei es mir schon komisch vorkam, den Abtreibung ist die freie, verantwortliche cherheit schon bald hören. Papst selbst mit solchen Quisquilien zu be- Entscheidung der Frau selbst. Sie kann mit SPIEGEL: Und die betroffenen Frauen? lasten. Der Vatikan hat mir dann signali- dem Beratungsschein machen, was sie will. Fürchten Sie nicht, daß die künftig Rat lie- siert, ob ich um den 20. Mai kommen kön- Sie kann ihn zerreißen und in den nächsten ber woanders suchen? ne. Ich mußte am 20. Mai ohnehin nach Bach werfen. Sie kann aber auch zum ab- Rom, und dann kam es zu dieser Audienz. treibenden Arzt gehen. „Unser Weg hat uns in große Irritiert war ich zunächst, daß ich vorher SPIEGEL: Wenn Sie in der staatlichen Bera- Nähe zu den keine Unterlagen bekommen habe für die- tung bleiben wollen, müssen Sie dem Ge- ses Gespräch und, soweit ich sehen konn- setz gemäß beraten. Das aber verlangt eine betroffenen Frauen gebracht“ te, der Papst auch nichts vor sich liegen ergebnisoffene Beratung der Schwangeren. hatte. Ich sagte mir zunächst: Das muß eine Ergebnisoffen ist die kirchliche Beratung Lehmann: Das muß man abwarten. Ich glau- Panne gewesen sein. künftig wahrlich nicht. be, daß durch die Interpretation, die wir Ich habe nachgefragt, ob es denn einen Lehmann: Ich sehe das ganz anders. Das gegeben haben, die Angst unbegründet Vorentwurf einer Antwort oder noch kon- Erste und Entscheidende ist doch, daß die ist, der Schein könnte unwirksam sein und krete Fragen an uns oder auch ein Proto- Beratung auch nach dem Gesetz das Ziel gar nichts taugen. koll gibt, das man wenigstens teilweise ein- hat, das Leben des Kindes zu retten und SPIEGEL: Da hat der Staat auch noch ein sehen könnte. Da habe ich dann den Ein- Hilfen für die Frau anzubieten. Das wird Wort mitzureden.Was ist, wenn die Länder druck gehabt, daß der Papst über die Funk- oft unterschlagen. die kirchlichen Beratungsstellen aus dem tion dieses Gespräches mit mir nicht so un- SPIEGEL: Spielen Sie und Ihre Mitbrüder Beratungssystem ausschließen? terrichtet war, wie ich das eigentlich ange- mit dem Papst nicht Till Eulenspiegel? Lehmann: Der Staat hat zunächst einmal nommen hatte. Ich hatte mich auf die Lehmann: Ach, ich habe ein bißchen ge- nicht weniger die Pflicht zum Lebens- Unterredung sehr genau vorbereitet. lernt, mit Texten umzugehen. Auch ich schutz. Das hat das Bundesverfassungsge- SPIEGEL: Er hat mit Ihnen an diesem Tag habe gegen unsere Lösung zunächst er- richt eindeutig klargestellt. Davon kann er kein Wort über das Thema gesprochen? hebliche Bedenken gehabt: Sieht das nicht sich so schnell nicht dispensieren. Notfalls Lehmann: Ich habe das Thema angespro- nach Winkeladvokatenverhalten aus? Beim lassen wir eine Nicht-Anerkennung ge- chen, aber wir konnten es nicht vertiefen, näheren Nachdenken und nach Konsulta- richtlich klären. Ich habe allerdings die in diesem Sinne: nein. tion von fachkundigen Juristen bin ich größere Sorge, daß es ein Nord-Süd-Ge- SPIEGEL: Knapp zwei Wochen später hat langsam darauf gekommen, daß wir es fälle bei der Anerkennung der kirchlichen der Papst den Brief an die deutschen doch so machen könnten. Die Experten Beratungsstellen geben könnte. Bischöfe unterschrieben. Stammt er über- haben mir versichert: Den Staat interes- SPIEGEL: Herr Bischof, wie zu hören ist, haupt von ihm? siert das Faktum, daß die Beratung statt- hat der Papst Sie in Sachen Schwange- Lehmann: Ich habe keine Zweifel, daß der gefunden hat, und das steht auf dem renkonfliktberatung ganz persönlich dü- Papst sich mindestens nach Ostern noch ein- piert. Sie waren am 20. Mai in Rom, um mal selbst mit der Sache befaßt hat. Ich weiß dem Heiligen Vater noch einmal die Po- nicht, wer da noch hinzugezogen worden ist. * Beim Deutschlandbesuch 1996 in Paderborn; hinter dem Papst Bundespräsident Roman Herzog, links Bi- sition der deutschen Bischöfe vorzu- Sicher haben ihn Kardinal Ratzinger und schof Lehmann. tragen. Doch Johannes Paul II. hat das Kardinalstaatssekretär Sodano beraten.

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Stütze der Beratung ist auch dabei, das schließe ich nicht aus. Schwangerschafts- 130000 Um so wichtiger ist es, daß wir unser Knapp ein Drittel der bundesweiten Schwan- abbrüche in 120000 eigenes unverwechselbares Profil der gerenberatungsstellen wurden 1998 von der Deutschland 110000 Beratung innerhalb des Systems schär- katholischen Kirche getragen. ab 1993 Gesamt- ab 1996 deutschland neue 100000 fen. Erhebungs- katholische Beratungsstellen andere 90000 SPIEGEL: Konservative Bischöfe wie der Caritas-Verband, Sozialdienst Beratungsstellen methode katholischer Frauen (SkF) zur Schwangerschafts- 80000 Fuldaer Erzbischof Johannes Dyba plädie- beratung ermächtigte 70000 ren für ein Gegenmodell – eine größere Ärzte nicht eingerechnet 1990 1992 1994 1996 1998 Distanz der Kirche insgesamt zum Staat. Ist 54 das für Sie keine Alternative? 42 SCHLESWIG- 6 140 7 könne in anderen Ländern Schule ma- Lehmann: Es gibt ja eine Trennung von Kir- HOLSTEIN chen. che und Staat bei uns. Aber wichtig und HAMBURG MECKLENBURG- SPIEGEL: Sie selbst haben grundsätzli- richtig ist im Interesse beider eine be- 2 2 VORPOMMERN che Bedenken gegen das deutsche Sy- grenzte Kooperation auf bestimmten Fel- 3 5 stem nie gehabt? dern, etwa bei Krankenhäusern oder in der 104 6 30 BREMEN Lehmann: Doch. Ich bin auch nie ganz Schule, in der Caritas oder bei der Bun- 52 47 37 BERLIN ruhig gewesen, ob dieses System wirk- deswehrseelsorge – und zwar im Interesse 61 3 4 lich bedenkenlos ist. Aber ich glaube des einen und ganzen Menschen, der bei- NIEDERSACHSEN SACHSEN- BRANDENBURG eines ganz sicher: Unser Weg hat uns in spielsweise Bürger und Christ ist. Daran ANHALT große Nähe zu den betroffenen Frau- halte ich fest. 58 NORDRHEIN- en gebracht. Ich habe Ende 1989 auf SPIEGEL: Haben sich mit dem Doppelbe- WESTFALEN 41 72 23 6 dem Flughafen in Zürich das Buch Ih- schluß der Bischofskonferenz Rücktritts- rer Mitarbeiterin Gisela Friedrichsen drohungen einzelner Bischöfe, von denen 31 36 HESSEN THÜRINGEN 8 „Abtreibung. Der Kreuzzug von Memmin- gemunkelt wurde, erledigt? RHEINLAND- SACHSEN gen“ gekauft. Das hat mich erschüttert: die Lehmann: Ich kenne keinen einzigen, der PFALZ soziale Lage der dort beschriebenen Frau- mir gesagt hat, daß er zurücktreten will. 6 11 en und das, was da steht über die Schich- SPIEGEL: Und auch der Konflikt mit Dyba, SAARLAND 52 ten, aus denen die Frauen kamen und un- der sich als einziger Oberhirte schon vor 43 ter was für einem unglaublichen Druck sie sechs Jahren aus der staatlichen Beratung 24 14 standen. Da habe ich begriffen: Diese Men- verabschiedet hat, ist beigelegt? BADEN- BAYERN schen kenne ich so gar nicht – leider. WÜRTTEMBERG Das war wirklich zum Erbarmen, wenn man das gelesen hat. Das war für mich ein sehr aufklärendes Buch, ich habe nur gesagt: ,Mein Gott!‘ SPIEGEL: Um so unerklärlicher ist, daß er Ähnliche Erfahrungen machte Bi- mit Ihnen am 20. Mai darüber überhaupt schof Franz Kamphaus von Limburg. nicht gesprochen hat. Für mich und mein Bild von Kir- Lehmann: Ich kann das auch nicht auf- che ist das Verbleiben in der staatli- klären. Aber es waren viele Probleme der chen Schwangeren-Beratung theo- Welt auf der Tagesordnung, vor allem Ko- logisch und geistlich lebensnotwen- sovo. Wir sind nicht der Nabel der Welt. dig. Sich hier in bequeme Nischen SPIEGEL: Der Vorsitzende der Glaubens- zurückzuziehen und zu sagen: ,Laß kongregation Kardinal Ratzinger hat nie doch diese Welt kaputtgehen. Was

einen Hehl daraus gemacht, daß er aus kümmert mich der Pfuhl?‘ – das ist H. DARCHINGER J. Gründen der Glaubwürdigkeit der Kirche für jeden, der wirklich Seelsorger Lehmann, SPIEGEL-Redakteure* jede noch so indirekte Beteiligung an ist, unerlaubt. Für die Stellung der „Es entscheidet der Souverän“ Schwangerschaftsabbrüchen ablehnt. Ist Kirche in der Gesellschaft ist ent- dieses radikale Nein nicht weitaus klarer scheidend, ob wir auf solchen vorgescho- Lehmann: Das muß er in den nächsten Mo- als die Position der deutschen Bischöfe? benen Posten mit dabei sind, oder ob wir naten selbst entscheiden, vor allem, ob Lehmann: Dieses radikale Nein hat es, wenn nicht dabei sind. Hier geht es in einem viel- er unter den veränderten Bedingun- man genauer hinsieht, auch bei Kardinal fachen Sinne um das Leben. gen wieder in das Boot zurückkommt. Ratzinger nicht gegeben. Im Vatikan ha- SPIEGEL: Herr Bischof, die gesellschaftliche Wir werden ihm da Brücken bauen, wenn ben die Argumentationsweisen im Laufe Bedeutung der Kirche nimmt kontinuier- das nötig ist. Zunächst fühlt er sich vom der Jahre gewechselt. Am Anfang stand die lich ab: In der Sozialpolitik verhallen die Brief gar nicht betroffen, da er ja keine Frage: Ist das Mitmachen bei der staatli- Mahnungen ebenso ungehört wie bei der Scheine ausgibt. chen Schwangeren-Konfliktberatung eine Abtreibungspille. Die Zahl der Gläubigen SPIEGEL: Und Sie? Im Herbst steht Ihre Wie- unzulässige Kooperation? Das haben wir nimmt weiter ab. Bloß bei der Schwange- derwahl zum Vorsitzenden der Bischofs- immer heftig bestritten. Es gibt dafür ge- ren-Konfliktberatung wollen Politiker al- konferenz an. Haben Sie noch Lust auf den nauere ethische Unterscheidungen. Dann ler Couleur, auch solche, die sonst mit der Job? hat der Vatikan plötzlich argumentiert, das Religion wenig am Hut haben, daß die Lehmann: Bei diesen kirchlichen Wahlen Mitmachen bei der staatlichen Beratung Kirche mit im Boot bleibt, sozusagen als wird einfach gewählt, es gibt keine Kandi- verdunkle die Klarheit und Entschieden- moralische Stütze für das eigene Gewis- daturen. Also muß ich mich auch nicht be- heit des christlichen Zeugnisses. Diese all- sen. Macht Sie das nicht stutzig? werben. Und ich brauche mich vorher nicht gemein ethische Kategorie, das haben sie in Lehmann: Daß einige Politiker etwas beru- zu äußern, auch jetzt nicht. Im übrigen gilt: Rom freilich auch gesehen, ist nicht so higter sind bei dem Gedanken, die Kirche Es entscheidet der Souverän.Alle Bischöfe leicht in Ge- oder Verbote zu fassen. Ich sollen meine Arbeit beurteilen. glaube, daß den Apostolischen Stuhl auch * Peter Wensierski, Martin Doerry, Ulrich Schwarz in SPIEGEL: Herr Bischof, wir danken Ihnen für die Sorge umtreibt, das deutsche Verfahren Bonn. dieses Gespräch.

62 der spiegel 26/1999 entdeckt – allerdings saßen die nach bis- herigen Erkenntnissen nicht direkt im Mi- SPIONAGE nisterium in Bonn. Als Spitzenquellen in Sachen AA ran- gieren in Sira zwei bisher nicht enttarnte Notorische Aufregung Agenten (Decknamen: „Ahmed“ und „Ta- fel“), die wahrscheinlich aus der deutschen Aus dem Auswärtigen Amt wurden mehr Geheimnisse verraten Botschaft in Syriens Hauptstadt Damas- kus Geheimnisse verrieten. „Ahmed“ als bisher bekannt. Doch die Staatsschützer bezweifeln, brachte es auf mehr als 1700 Lieferungen daß es in Genschers Nähe einen weiteren Stasi-Maulwurf gab. und gehört damit zu den Top ten der DDR- Spionage. „Tafel“ ist mit rund 300 Mel- dungen im System. Der Generalbundesan- walt müht sich um ihre Identifizierung. Daß es sich um deutsche Diplomaten handelt, gilt als unwahrscheinlich. Vermutlich re- krutierte die Stasi sogenannte Ortskräfte, einheimisches Personal einer Botschaft. Neben „Ahmed“ und „Tafel“ sprudelten noch vier weitere Quellen. Drei von ihnen sind mittlerweile identifiziert: ein DDR- Diplomat und zwei verdeckt operierende HVA-Offiziere. Sie beschafften sich – wie auch immer – Interna aus dem AA. Über den vierten Spitzel weiß man noch nicht viel, nur, daß er irgendwo im Ausland saß und vor allem über die USA berichtete. Die systematische Sira-Auswertung er- gab auch, daß Genscher als Urheber etli- cher vertraulicher Informationen registriert ist – allerdings unfreiwillig. Die Stasi, die in S. BIDDLE / WHITE HOUSE Unterhändler Kohl, Bush, Baker in Camp David (1990): Großes Mißtrauen

isweilen war er Freund und Feind schen Herkunft: Die Amerikaner würden suspekt. Schon 1984 fauchte ihn der doch „jedem mißtrauen, der von drüben Bsowjetische Außenminister Andrej kommt“. Gromyko bei einer Abrüstungskonferenz Grundlos war der Argwohn allerdings an: „Sie wollen ein Loch in unseren Zaun nicht: Für alle Verdächtigungen gegen Gen- bohren. Ich nenne das Spionage.“ scher selbst gibt es bisher keinen Beleg, Der amerikanische Botschafter in Bonn, doch sein Auswärtiges Amt (AA) war kein Richard Burt, sprach 1986 aus, was damals sonderlich sicherer Ort für Geheimnisse. Washington über den „Genscherismus“, Seit Jahresbeginn quält sich die Bun- die weiche Politik der Deutschen gegen- desanwaltschaft durch den Datenwust der über der Sowjetunion, dachte. Burt höhn- von der Berliner Gauck-Behörde ent-

te über den ewigen Außenminister: „A slip- schlüsselten Magnetbänder der DDR-Spio- REUTERS pery man“ (ein aalglatter Typ). nageabteilung HVA.Die sogenannten Sira- Gesprächspartner Horn, Genscher (1989) Um Hans-Dietrich Genscher, 72, ranken Dateien sind eine Art Inventarliste der an Protokoll nach Budapest sich seit einem Jahrzehnt Beschuldigun- die HVA verratenen Dokumente und In- gen und wilde Spekulationen. Mal soll er formationen (SPIEGEL 3/1999). Sira nennt Westdeutschland gezielt Telefone anzapf- für den russischen Ge- zwar nur die Decknamen te, schrieb die reiche Ernte aller Abhör- heimdienst KGB gearbei- der Spitzel. Doch ist peni- aktionen einem Informanten namens tet haben, vielleicht aber bel registriert, welche Quel- „Friedrich“ zu. Da nicht nur viele von auch für eine seiner Ost- le wo was und wann an Genschers Gesprächen, sondern auch die blockfilialen. Die Stasi Ost-Berlin verriet.Anhand anderer Politiker mitgeschnitten wurden, nährte den Verdacht, in- der Kurzbeschreibungen war Friedrich die ergiebigste Quelle. dem sie Genscher als der Geheimdossiers ver- Der neue, aber etwas komplizierte Sach- „Inoffiziellen Mitarbeiter suchen die Fahnder zu verhalt facht die Diskussion um Genscher Tulpe“ in ihrer Kartei führ- rekonstruieren, welche In- wieder an. Seit Wochen spekuliert das Ma- te – angeblich, um den formationen aus dem gazin „Focus“, in Genschers unmittelbarer Politiker bei Bedarf im Genscher-Ministerium in Nähe müsse noch ein weiterer Maulwurf Zuge einer Desinforma- den Osten geflossen sind. gearbeitet haben. Der US-Geheimdienst tionskampagne als IM dis- Erstes Ergebnis: Zum ei- CIA habe 1990 dringend um entsprechende kreditieren zu können. nen haben manche der be- Ermittlungen gebeten und den deutschen Für den in Reideburg reits bekannten und verur- Außenminister sogar von den Einheits-Ge- an der Saale geborenen teilten AA-Spione weit sprächen in Camp David ferngehalten. Genscher war der Arg- mehr verraten als bisher Doch Bonn habe die Sachem geheimge-

wohn der Amerikaner stets K. MEHNER bekannt. Aber auch zu- halten und die Fahndung nur halbherzig Spätfolge seiner ostdeut- Sira-Bänder sätzliche Quellen wurden vorangetrieben. Die US-Intervention sei

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1992 wohl der eigentliche Grund für Gen- schers überraschende Demission gewesen. Tatsächlich wurden die Ermittlungen aus SCHATZSUCHER Angst vor einem politischen Imagescha- den von der Kohl-Regierung ungewöhn- lich diskret gehandhabt. „Genscher ist ei- „Vier Ellen tief beim Altar“ ner, der viel für das Land getan hat und deshalb Schutz verdiente“, beschreibt ei- Eine angebliche Schatzakte aus der Zeit August des Starken ner, der dabei war, den Common. Doch das Bundesamt für Verfassungsschutz be- läßt Glücksritter in Sachsen von verbuddelten Millionenwerten streitet mangelnden Einsatz. Man habe träumen. Archäologen fürchten um ihre Ausgrabungsstätten. nach „intensiven Ermittlungen“ keine „ausreichenden Anhaltspunkte für einen as Papier ist in mehr als zwei Jahr- laufen, denn wenn da jemand gräbt, so Wo- konkreten Spionageverdacht“ gefunden. hunderten vergilbt, die Einbände chatz, „dann ist das die ABM-Brigade der Das habe auch die CIA „ausdrücklich ein- Dum die uralten Register sind reich- Stadt“. geräumt“. lich lädiert. Doch was dort in sauber ge- Die Hoffnung auf gewaltige Schatzfunde Die Bundesanwaltschaft glaubt ebenfalls zirkelter Handschrift über versteckte Taler im gesamten Territorium der einstigen nicht so recht an einen weiteren Spion bei in der südbrandenburgischen Kleinstadt Sachsenfürsten nährt vor allem „Bild“: Seit Genscher, sie hat nicht einmal ein Ermitt- Spremberg steht, klingt präzise: „aufm Anfang vergangener Woche blies das Blatt lungsverfahren eingeleitet. Die „Akte Gen- Georgenberge unter einer Linde 2 Ellen in einer Artikelserie zur Jagd auf Sachsens scher“ enthält nur die Auswertungen aus tief 21000 Thlr., hinter der Kirche 3 Ellen „verborgene Schätze“. Nun sind Glücks- Sira – solche Mappen werden schon seit tief 20000 Thlr., in 4 Gewölben da, 7 Ellen ritter und Hobby-Archäologen losgelassen, Monaten im Rahmen der Datenauswer- tief 50000 Thlr., beim Altar in 3 Kasten, 4 Sachsens Denkmalschützer bangen um tung auch zu anderen Personen oder Mi- Ellen tief 50000 Thlr.“. ihre alten Gemäuer und Grabungsstätten. nisterien angelegt. Sprembergs Bürgermeister Egon Wo- Dabei ist das von „Bild“ vorgelegte Ma- Selbst für die nach Überzeugung der chatz hat denn auch schon eine Ahnung, terial allenfalls dürftig. Eine angebliche Amerikaner in der Wendezeit verratenen welches Versteck mittelalterlicher Schätze „Schatzkarte von August dem Starken“ Geheimnisse kann es auch andere, relativ unspektakuläre Erklärungen geben. In- formationen aus Gesprächsrunden mit EU-Kollegen oder dem damaligen US- Außenminister James Baker können auch von einer der bereits enttarnten und verurteilten Quellen geliefert worden sein. Die Protokolle, sagt ein hoher AA- Beamter, seien „praktisch jedem zugäng- lich“ gewesen. So ergab die Sira-Sichtung auch, daß die ehemalige AA-Schreibkraft Christine B. („Jasmina“) zusammen mit ihrem Ehe- mann Mario weit mehr an Ost-Berlin lie- ferte, als 1998 beim Prozeß gegen sie vor dem Oberlandesgericht in Düsseldorf be- kannt wurde. Beide wurden nur zu kurzen Bewährungsstrafen verurteilt – dabei brachten sie es, so steht heute fest, bis 1987 immerhin auf 136 Lieferungen. Das Agentenduo ist nach Ermittlungen der Bundesanwaltschaft wohl auch für einen Verrat verantwortlich, den der un- garische Reformer Gyula Horn in seinen Memoiren schildert: Kurz nach seiner Rückkehr von einem vertraulichen Ge- dankenaustausch mit Genscher im Sep- tember 1988 wurde dem damaligen Staats-

sekretär des ungarischen Außenministeri- M. JEHNICHEN / TRANSIT ums in Budapest das Protokoll der Bonner Geborgener Wettiner-Schatz: 20 Millionen im Moritzburger Forst Unterredung vorgehalten – beschafft von der Stasi. da gemeint sein könnte. Auf dem Geor- entpuppt sich bei näherer Betrachtung als Letzte Sicherheit über den Informanten genberg des Spree-Städtchens stand einst Straßenkarte des Freistaats von heute. Und gibt es nicht – die Sira-Einträge enden 1987. eine Kapelle, im Mittelalter von einer Edel- auch die Schatzakte ist nicht wirklich ge- Aber das Muster des Verrats, glauben die frau gestiftet. 1974 machte die Nationale heimnisumwittert, sondern seit Jahrzehn- Fahnder, paßt ziemlich genau auf die Agen- Volksarmee das Kirchlein dem Erdboden ten frei zugänglich – im Dresdner Haupt- tenarbeit des Ehepaars B. gleich. Nur noch der Stumpf einer ver- staatsarchiv. Dem notorisch aufgeregten Bonn mel- dorrten Linde ragt aus dem Boden. Nach Ansicht von Experten des Archivs dete Generalbundesanwalt Kay Nehm Jetzt will der Bürgermeister dafür sor- handelt es sich dabei auch nicht um denn auch kühl, er gedenke „bei der ge- gen, daß Glücksritter und Schwarzgraber eine detaillierte Auflistung verborgener genwärtigen Verdachtslage nichts weiteres von dem möglichen Schatzversteck fern- Reichtümer. Das 100 Seiten starke Kon- zu veranlassen“. Georg Mascolo gehalten werden. Die Polizei soll Streife volut gibt wahllos Gerüchte und Spin-

66 der spiegel 26/1999 nereien wieder, die Land- adligen, Abenteurern und Tunichtguten bis Mitte des 18. Jahrhunderts so zu Gehör kamen. Ein Prunkstück der Samm- lung gibt Zeugnis von der Se- riosität der zeitgenössischen Quellen. In den Unterlagen befindet sich ein Blatt, das die Erkenntnisse eines Wünschel- rutengängers der Nachwelt überliefert. Immer wenn die Rute ganz leicht ausschlug, vermerkte der Übersinnliche einen Schatzfund von 600 Ta- S. DÖRING / PLUS 49 VISUM lern, bei starkem Ausschlag S. DÖRING / PLUS 49 VISUM notierte er freihändig 29000 Bürgermeister Wochatz, Schatzakte von 1736: Hoffnung auf gewaltige Funde Taler. Doch so zweifelhaft derartige Methoden buntschillernde Gemeinde der Schatzgrä- aus dem Barock, auf über 20 Millionen auch sein mögen – Schatzsuche hatte schon ber kaum. Abnehmer für illegal beschaff- Mark. immer etwas höchst Faszinierendes, da tes Kulturgut, weiß die Dresdner Archäo- Die Preziosen, die der Kraftfahrer allein bleiben Bedenken schnell auf der Strecke. login, gibt es genug: „Der graue Kunst- mit einem erst kurz zuvor gebraucht ge- „Wenn Heinrich Schliemann nur auf seine markt ist gigantisch.“ kauften Metalldetektor aufgespürt haben Ratio gehört hätte“, macht sich Bürger- Noch bedeutender für die Archäolo- will, hatten die Nachfahren der sächsischen meister Wochatz Mut, „hätte er Troja nie gen sind die Kollateralschäden, die Son- Könige im Februar 1945 vor der anrücken- gefunden.“ dengänger und Schwarzgraber in ihrer den Sowjetarmee vergraben. Die heute in Da stört auch nicht, daß Schatzgräber Gier anrichten. Bei der Suche nach Mün- Kanada lebenden Wettiner-Prinzen Dedo bereits mehrmals in den vergangenen Jahr- zen, Geschmeide und wertvollen Waffen und Gero von Sachsen wußten, wo die Ki- hunderten den Hinweisen der Schatzakte werden auch unerschlossene Ausgra- sten versteckt waren. mit dem Spaten nachgingen, stets vergeb- bungsstätten regelrecht umgepflügt. Man- Sie konnten aber schlecht selbst Hand lich. „Kein Gramm Gold und weder Mün- che Schatzsucher rücken gar mit Klein- anlegen, befand sich doch das sächsische zen noch Edelsteine sind bisher gefunden baggern an. Den Archäologen gehen so Adelsgeschlecht damals in einem kom- worden“, sagt Hans Brichzin, stellvertre- oftmals wertvolle Informationen verlo- plizierten Vermögensstreit mit dem Frei- tender Direktor des sächsischen Staats- ren. „Das ist, als ob jemand aus einem staat Sachsen. Um eine Buddel-Erlaubnis archivs. einmaligen Buch Seiten rausreißt und zu bekommen, hätten sie verraten müs- Es sei kein Wunder, hält Dieter Dirks sie anschließend verbrennt“, schimpft sen, daß eine Liste ihres einstigen Eigen- dagegen, „daß man damals nichts fand. Es Oexle. tums nicht ganz vollständig war. Die gab ja keine Metalldetektoren“. Der Novizen werden via Internet in die Wettiner beteuerten außerdem, daß ih- Dresdner Schatzsucher bezeichnet sich als Tricks des rabiaten Treibens eingeführt. rer Meinung nach die vergrabenen Kunst- „Profi“ und will jetzt im sächsisch-thürin- So gibt ein alter Fahrensmann im Web schätze alle von den Russen gehoben wor- gischen Grenzgebiet, in dem Dorf Berga, Tips, wie Anfänger etwa bei Grabungen den seien. sein Glück machen. Dort hat sich bereits nach mittelalterlichen Stadt- Landesarchäologin Oexle ein weiterer Experte angekündigt: ein resten gefahrlos fündig wer- machte bei Marschners Zu- Wünschelrutengänger aus dem Ostharz, den können. Man müsse nur fallsfund eine Reihe von der bereits mehrere verrostete Hufeisen den Lastwagen, die Abraum Ungereimtheiten aus. In ei- im Boden aufgespürt hat. transportieren, folgen und ner vertraulichen Expertise Seit Mitte der vergangenen Woche ner- dann mit dem Metalldetek- für die sächsische Staatsre- ven täglich Dutzende von Anrufern die tor die abgekippte Erde gierung hatte sie wenige Dresdner Archivare mit immer neuen Fra- durchsuchen. Leichter sei es, Tage nach dem Fund Zwei- gen zu den vergrabenen Preziosen und den Lkw-Fahrer anzuspre- fel an dessen Version an- ihren Fundstellen.Vorsorglich zog Archiv- chen: „Gegebenenfalls wirkt gemeldet. „Die Auskünfte Vizedirektor Brichzin die Schatzakte einst- hier ein Zwanzigmarkschein erscheinen zum jetzigen weilen aus dem Verkehr. Er fürchtet um Wunder.“ Zeitpunkt unglaubwürdig, den Erhalt der fragilen Handschriften. Einer dieser Amateurfor- da Erdmaterial vom Aus- Auch die oberste Landesarchäologin Ju- scher, den die sächsische hub im Umfeld der Grube dith Oexle betrachtet mit Sorge das plötz- Landesarchäologin seit län- Schatzsucher Marschner nicht mehr sichtbar war und liche Interesse an den Schreibseleien aus gerem auf dem Kieker hat, daher die Vermutung be- dem sächsischen Barock. „Die naiven Dig- dient „Bild“ jetzt als Experte für das auf- steht, daß die Auffindung schon länger zu- ger“, fürchtet sie, würden nun zuhauf mit regende Hobby. Hanno Marschner, dem rückliegt.“ Doch konnten Staatsanwälte ihren Metalldetektoren durch verlassene Blatt zufolge „Deutschlands erfolgreich- Marschner nichts Illegales nachweisen. Das Klöster und Burgruinen „trampeln“ – egal ster Schatzsucher“, gibt Tips, was beim Adelsgeschlecht dankte dem Schatzsucher ob sie mit ihren Nachforschungen „ar- Suchen und Graben zu beachten ist. die Grabung mit einem stattlichen Finder- chäologische Befunde oder Kulturgüter Marschner hatte im Oktober 1996 im lohn von mehr als 100000 Mark. zerstören“. Eine Genehmigung beantragen Moritzburger Forst, ungefähr zehn Ki- Diesmal möchte er freilich keineswegs diese grabenden Schnäppchenjäger in der lometer nördlich von Dresden, tatsäch- auf Schatzpirsch gehen. Er sei „viel zu be- Regel nicht. lich einen Schatz gehoben. Experten ta- schäftigt“, sagt der Digger, und außerdem Auch die Angst vor Strafe, im Extremfall xierten den Wert des Fundes, darunter seien „die sagenhafte Schätze wohl nur Le- bis zu zwei Jahren Gefängnis, schreckt die mehrere einmalige Goldschmiedearbeiten gende“. Annett Conrad, Andreas Wassermann

der spiegel 26/1999 67 Werbeseite

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INVESTITIONEN BANKEN „Phantastische Aufgabe“ Ermittlungen BDI-Präsident Hans-Olaf Henkel, 59, über die Hilfe für den Balkan gegen Vorstand SPIEGEL: Wo nützt Ihr Lieblings-Sozial- demokrat Bodo Hombach Ihnen mehr – egen des Ver- im Kanzleramt oder als Aufbau-Koor- Wdachts der dinator in Südosteuropa? Beihilfe zur Steuer- Henkel: Ohne Hombach hätte es die hinterziehung er- überfällige Kurskorrektur in der Wirt- mittelt die Staats- schafts- und Finanzpolitik nicht gege- anwaltschaft Frank- ben. Aber nun übernimmt er eine phan- furt gegen das Vor- tastische Aufgabe, und die deutsche standsmitglied der Industrie wird künftig in Südosteuropa Dresdner Bank einen überaus kompetenten Ansprech- Joachim von Har- partner haben. Deshalb verbietet es bou, 44. Der en- sich, lange über seinen Abschied aus

ge Vertraute von D. HOPPE / NETZHAUT Bonn zu lamen- Bankchef Bern- Harbou tieren. hard Walter leitete SPIEGEL: Am Wie- die Niederlassung Frankfurt des Konzerns deraufbau in Bos- zu der Zeit, als zahlreiche Kunden Vermö- nien hat sich die genswerte nach Luxemburg und in die deutsche Industrie Schweiz transferierten, um fällige Steuern kaum beteiligt. auf Kapitalerträge zu vermeiden. Er ist seit Warum sollte das

Anfang des Jahres für den Privatkunden- BRAUCHITSCH v. W. jetzt im Kosovo bereich verantwortlich. Noch im März die- Dresdner-Bank-Zentrale in Frankfurt anders ablaufen? ses Jahres hatte die Dresdner Bank eine Henkel: Deutsch- „Verständigungslösung“ mit der Düsseldorfer Staatsanwaltschaft akzeptiert. Das land hat zum Wie- Kreditinstitut zahlte ein Bußgeld in Höhe von 37 Millionen Mark, vier leitende An- deraufbau in Bos-

gestellte erhielten Geldbußen von je 500000 Mark. Ex-Vorstandschef Jürgen Sarra- nien erheblich bei- AP zin und der damalige Leiter der Dresdner Bank Luxemburg, Friedrich Otto Wendt, getragen, nur bei Henkel erhielten per Strafbefehl ein Jahr Freiheitsstrafe auf Bewährung und mußten eine der Auftragsverga- Geldstrafe zahlen. Als Gegenleistung, so hieß es damals, seien die Ermittlungsver- be vor Ort kamen unsere Firmen kaum fahren gegen aktive und frühere Spitzenmanager beendet worden. Die Bank erwar- zum Zuge. Außerdem galt die Region tet deshalb, so eine Sprecherin, daß das Verfahren bald eingestellt wird. vor einem Jahr noch als Konfliktherd. Das hat viele abgeschreckt. Jetzt ist das Gebiet befriedet, und es gibt keine Aus- reden mehr, dort nicht zu investieren. SPIEGEL: Wie attraktiv ist die Region für BRIEFZUSTELLUNG deutsche Investoren? Henkel: Ich halte ganz Ex-Jugoslawien Post pocht auf Monopol für genauso interessant wie Rußland, obwohl es kleiner ist und weniger Ein- ie Deutsche Post AG will sich unliebsame Konkur- wohner hat. Entsprechend wird auch Drenz vom Halse schaffen. Über 140 private Wettbe- das Interesse der Wirtschaft sein. Aller- werber bieten inzwischen, versehen mit einer Lizenz dings brauchen wir die Unterstützung der Regulierungsbehörde für Telekommunikation und der Politik. Die Bundesregierung sollte Post, die Zustellung von Briefen (unter 200 Gramm) an. sich deshalb in der Europäischen Union Gegen die Lizenzpraxis der Regulierungsbehörde klagt dafür einsetzen, daß eine Freihandels- nun die Post; an diesem Dienstag ist Verhandlung vor zone geschaffen wird, zu der neben dem Verwaltungsgericht Köln. Die Post pocht auf ihr dem Kosovo, Bosnien-Herzegowina, Monopol bei der Briefzustellung; das Postgesetz werde Mazedonien und Kroatien irgendwann von der Regulierungsbehörde unterlaufen, so ein Spre- sogar Serbien gehören könnte – voraus- cher. Die betroffenen Privatfirmen setzen dagegen auf gesetzt, Milo∆eviƒ wird entmachtet.

besondere Leistungen im Sinne der Lizenz – gemeint FOTOARCHIV R. OBERHÄUSER / DAS SPIEGEL: Soll diese Freihandelszone ist die Zustellung von Briefen noch am selben Tag. Be- Briefträgerin nicht bloß der Industrie ungehinderten kommt die Post recht, sind bundesweit 3000 Arbeits- Absatz in der Krisenregion sichern? plätze in Gefahr, so Rechtsanwalt Ralf Wojtek, der die Privatfirmen und den Bundes- Henkel: Wir haben immer Interesse an verband Internationaler Express- und Kurierdienste (BIEK) vertritt. Während die Exporten, aber darum geht es in diesem Post im Klagen schnell ist, brauchen ihre Briefe länger als offiziell bekannt – so Mes- Fall nicht. Ich schlage eine asymmetri- sungen des BIEK: Nur 55,3 Prozent aller Briefe kamen danach am ersten Tag nach sche Regelung vor, in der Brüssel den Einwurf ans Ziel. Nach Postangaben erreichten 1998 95 Prozent aller Briefe am näch- Balkanstaaten einseitig günstigere Zoll- sten Tag den Empfänger. sätze einräumt.

der spiegel 26/1999 71 Trends

TELEFON die im März zu einer Strafzahlung von 60 Millionen Dollar führte. Zwar kam Treue Kunden Newman erst danach zu der US-Invest- mentbank, doch die amerikanische Auf- ut ein Jahr nach der Freigabe des sichtsbehörde prüft zur Zeit, ob die GTelefonmarkts stehen die meisten bankinternen Untersuchungen adäquat Bundesbürger den neuen Anbietern im- gewesen sind. Auch Newman ist offen- mer noch skeptisch gegenüber. Für fast sichtlich nicht sonderlich darauf er- zwei Drittel aller Deutschen kommt ein picht, den Vertrag zu erfüllen, obwohl Wechsel der Telefongesellschaft nicht ihm die Deutsche Bank 55 Millionen in Frage. Besonders ausgeprägt ist die Dollar innerhalb von fünf Jahren ga- Treue zur Telekom bei den Älteren, rantiert hat. „Durch gezielte Indiskre-

77 Prozent der über 50jährigen lehnen AP tionen hat er 100 Millionen Dollar als einen Wechsel ab. Das ist eines der Er- Breuer, Newman Preis für seinen Ausstieg lanciert“, wer- gebnisse der zweiten SPIEGEL-Studie fen ihm Führungskräfte bei der Deut- „Online-Offline“, bei der mehr als DEUTSCHE BANK schen Bank vor. In der Tat waren im 10000 Personen im Alter von 14 bis 64 „Wall Street Journal“ in der vergange- Jahren befragt wurden. Der Studie zu- Abfindung nen Woche Berechnungen erschienen, folge hat sich bislang gerade mal ein wonach Newman 100 Millionen Dollar Prozent der Befragten vom Bonner Ex- in Millionenhöhe bei einem vorzeitigen Ausstieg zuste- Monopolisten getrennt. Auch andere hen. Diese Summe will die Deutsche neue Möglichkeiten beim Telefonieren ankers-Trust-Chef Frank Newman Bank auf keinen Fall zahlen. „Da wür- werden erst zaghaft genutzt. Zwar ha- Bwird nicht, wie in den Übernahme- den einige Vorstände an die Decke ge- ben 64 Prozent schon von Call-by-call verhandlungen mit der Deutschen hen“, sagt ein Insider über „diese gehört, doch erst 26 Prozent haben die Bank vereinbart, in den Vorstand der Wahnsinnssumme“. Trotzdem wird der Netzkennzahl eines privaten Anbieters Deutschen Bank aufrücken. Am ver- Ausstieg Newmans alle bisher in der gewählt, um dadurch ihre Telefonko- gangenen Donnerstag haben Newman deutschen Industrie üblichen Abfin- sten zu senken. Üppige Summen dürf- und Deutsche-Bank-Vorstandssprecher dungen weit übertreffen. In New York Rolf-E. Breuer in Paris bereits über die gibt es T-Shirts mit dem Konterfei des „Telefongespräche können heute Konditionen für einen Ausstieg New- Bankers-Trust-Chefs Newman und über das Netz verschiedener mans verhandelt. Die Deutsche Bank dem aufgedruckten Spruch: „Frank Gesellschaften geführt werden. fühlte sich von Newman unzureichend got 55 million $ and all I got, is this Welches der drei Verfahren zur über Unterschlagungen von herrenlo- T-shirt“.Wahrscheinlich muß die Sum- Netzwahl haben Sie schon sen Kundengeldern bei Bankers Trust me auf dem T-Shirt nach oben korri- genutzt?“ in den Jahren 1994 bis 1996 informiert, giert werden. Call-by-call Preselection 3% KREDITKARTEN der Londoner Barclays Bank und Ma- 26% kompletter ster Card – mitverdienen. Sie ist mit Wechsel Boom bei Meilenjagd rund 100 Mark deutlich billiger als das 1% Konkurrenzprodukt. Außerdem sollen ach der Deutschen Lufthansa wol- die Kunden schon mit deutlich weniger Nlen nun auch British Airways und Meilen durchstarten können. Allerdings ihr Ableger Deutsche BA eine neuartige hat die Bad Homburger Wettbewerbs- Keines Kreditkarte herausgeben und den Kun- zentrale erst kürzlich die Lufthansa ver- 70% den für jede Mark Umsatz Freimeilen klagt, weil deren Karte gegen das ge- gutschreiben. Schon seit Februar erhal- setzliche Zugabeverbot verstoße. Ent- ten Lufthansa-Kunden für jede Rech- scheiden die Richter Ende August gegen Angaben in Prozent; Umfrage des SPIEGEL-Verlags von nung, die sie mit der blauen Lufthansa- die deutsche Airline, müssen auch die Oktober 1998 bis Februar 1999; 10025 Befragte Kreditkarte bezahlen, pro ausgegebe- Briten ihre Karte zurückziehen oder nem Euro eine Gratismeile gutgeschrie- modifizieren. ten da ohnehin nicht zusammenkom- ben. Die Schnäppchenjä- men, denn die durchschnittliche Tele- gerei hat allerdings ihren fonrechnung der Bundesbürger beläuft Preis. Für die normale sich auf 103 Mark. Ausgeprägter ist Rabattkarte ist eine Jah- dagegen der Wunsch, per Handy zu resgebühr von 125 Mark telefonieren und überall erreichbar zu fällig, die Goldversion sein. In den kommenden zwei Jahren, kostet sogar 190 Mark. so das Ergebnis der Studie, steigt die Trotzdem orderten in Zahl der Handy-Nutzer in Deutschland den vergangenen fünf auf etwa 21 Millionen. Die besten Aus- Monaten schon mehr als sichten dürften dabei die Mobilfunk- 60000 Kunden die neue betreiber Mannesmann (D2) und E-Plus Plastikwährung. Die Bri- haben, deren Bekanntheitsgrad deut- ten wollen nun an dem

lich über dem des Telekom-Netzes Boom mit einer eigenen LINDBERGH T-D1 liegt. Karte – zusammen mit British-Airways-Passagiere

72 der spiegel 26/1999 Geld

Wackelkandidaten ...... und Gewinnbringer Aktienkurse in Euro 400 200 140 70 STRABAG KLÖCKNER- 180 SCHERING BEIERSDORF 350 120 60 WERKE 160 300 140 100 50 250 120 80 40 200 100 60 30 150 80 60 Quelle: Datastream 100 40 20 40 20 10 50 20

19801990 1999 19801990 1999 19801990 1999 19801990 1999

DEUTSCHE AKTIEN RWE, Viag und Veba. Die diversifizierenden Konzerne Preus- sag und Mannesmann haben erst in den letzten Jahren einen Seltene Highflyer Aufwärtstrend gefunden. Die meisten Werte hingegen schwank- ten heftig, wie KSB,Varta, Rheinmetall oder Kali und Salz.Wer angfristig, so eine alte Börsenregel, schlagen Aktien alle 1985 Aktien von Porsche oder der Deutschen Bank geordert Landeren Anlagen. Doch das stimmt nur bedingt: In den hatte, mußte elf Jahre lang ausharren, bis die Kaufkurse wie- vergangenen 20 Jahren haben nur ganz wenige deutsche Stan- der erreicht waren. Viele Aktionäre wurden richtig gestreßt. dardwerte ihre Aktionäre dauerhaft erfreut. Geringe Kurs- Noch heute liegen die Kurse der Metallgesellschaft, von Her- schwankungen (Volatilität) und zugleich ein starkes Wachstum litz, Gildemeister sowie Brau und Brunnen auf dem Niveau von (Performance), wie bei Beiersdorf und Schering, gab es bisher 1980. Manche Aktionäre haben in den vergangenen 20 Jahren eher selten. Zu den dauerhaften Highflyern gehörten bis 1998 sogar herbe Verluste eingefahren: mit Deutz und Strabag, Bab- auch der Pharmahändler Gehe sowie die Stromriesen VEW und cock Borsig und den Klöckner-Werken.

GETRÄNKE-HERSTELLER NEUEMISSIONEN Cola sprudelt weiter Börsengang für alle Der kalifornische Investmentbanker er Skandal um die vergifteten Coca-Cola-Dosen in Belgien Bill Hambrecht, 63, über sein Kon- Dund Frankreich wird den langfristigen Aufwärtstrend der zept, Neuemissionen im Internet zu Aktie des weltgrößten Limonadenherstellers nicht stoppen. versteigern Diese Meinung vertreten Analysten in London und New York, obwohl die Aktie zunächst über zehn Prozent verloren hatte. SPIEGEL: Kleinanleger werden grün vor Mark Cohen von Goldman Sachs beispielsweise prognostiziert Neid, wenn sie bei Neuemissionen leer einen durch die Gesundheitsgefahr bedingten Umsatzrückgang ausgehen, der Kurs aber alsbald stark

von maximal 0,1 Prozent. Und Skip Carpenter von Donaldson, steigt. Wie wollen Sie das ändern? M. TANAKA Lufkin & Jenrette kann sich „keine dramatische Verschiebung Hambrecht: Traditionell werden so- Hambrecht der Marktanteile“ zwischen Coca-Cola und dessen Hauptkon- wohl der Preis der Aktien als auch de- kurrenten Pepsi vorstellen, noch nicht einmal in den Ländern, ren Verteilung von einer Investmentbank festgelegt. Nach mei- in denen der Coke-Verkauf zunächst gestoppt wurde. Dem nem Konzept Open IPO entscheidet darüber eine unpartei- Branchenblatt „Beverage Digest“ zufolge hat Coca-Cola in Bel- ische, blinde Versteigerung im Internet – und damit der Markt. gien einen Marktan- SPIEGEL: Wie läuft die Auktion ab? teil von 64 Prozent, Hambrecht: Ziemlich einfach. Auf unserer Web-Seite (www. Aktienkurse Pepsi dagegen nur openipo.com) informiert sich der potentielle Investor, gibt sein Wert 1990 = 100 900 von etwa 2 Prozent. Gebot ab und wartet auf den Auktionsschluß. Er bekommt Einige Geldhäuser, dann Aktien zugeteilt, wenn sein Gebot dem Marktschlußpreis Coca-Cola darunter die Zürcher entspricht oder darüber liegt. Dieser Schlußpreis ist der nied- 700 Kantonalbank, emp- rigste Preis, zu dem die Firma alle Anteile loswerden kann. fehlen ihren Kunden SPIEGEL: Der endgültige Verkaufspreis für alle Gebote wird also das Papier sogar durch das niedrigste Gebot bestimmt, das gerade noch ange- 500 zum Kauf. Denn nommen wird? nach einer schwieri- Hambrecht: Genau. Allerdings bekommt niemand mehr als gen Zeit mit niedri- zehn Prozent der Aktien. 300 gen Gewinnmargen SPIEGEL: Wie kamen Sie auf die Idee mit der „holländischen PepsiCo könne der Erlös im Versteigerung“? 100 nächsten Jahr um 15, Hambrecht: Ich war vor einigen Jahren in Amsterdam und habe Quelle: Datastream im übernächsten so- dort zugesehen, wie Händler auf den Blumenmärkten ihre gar um 20 Prozent Ware versteigerten. Da kam mir sofort die Frage: Wieso sollte 1990 91 93 95 97 99 wachsen. das nicht auch auf den Finanzmärkten funktionieren?

der spiegel 26/1999 73 Wirtschaft

GEWERKSCHAFTEN Ohne Köpfe und Konzepte Traditionalisten und Modernisierer streiten um den künftigen Kurs der IG Metall: Soll sie das Erreichte verteidigen oder den Umbau mitgestalten? Die Metall-Gewerkschaft ist auf der Suche nach ihrer eigenen Zukunft – und nach einer Strategie.

er solche Freunde hat, braucht listen wie Schmitthenner das Mikrofon. Im Aufklärer der Arbeitgeber, für die Funk- keine Feinde. Kaum waren die Vorstand sind die Bewahrer mit Jürgen Pe- tionäre sei die IG Metall „vor allem ein WRentenpläne von Arbeitsminister ters lautstark vertreten. Er folgte als IGM- antikapitalistischer Interessenverband mit Walter Riester an die Öffentlichkeit ge- Vize auf Walter Riester und läßt seitdem politischem Auftrag aus der Tradition der sickert, meldete sich die IG Metall zu Wort. keine Gelegenheit aus, seinen Vorgänger zu Arbeiterklasse“. Doch statt solidarischer Kritik gab es für ärgern. Daß sich bei der größten – und noch im- den ehemaligen Spitzenfunktionär der Me- Gelegentlich brüskiert er ihn auch ganz mer mächtigsten – Industriegewerkschaft tall-Gewerkschaft von den alten Kollegen offen. Als Riester in einer Arbeitsgruppe der Welt Traditionalisten und Modernisie- die heftigsten Prügel aus dem Lager der des Bündnisses für Arbeit Peters um des- rer um die Vorherrschaft streiten, ist bei- Reformgegner. „Riester betreibt ein schlim- sen Meinung bat, antwortete der: „Wenn leibe nichts Neues. Neu dagegen ist, daß meres Spiel mit den Rentnern als sein Vor- ich etwas zu sagen habe, dann sage ich es, von den Reformern nichts zu hören und zu gänger Norbert Blüm“, ballerte der IG- wann ich will.“ sehen ist: Ihre Köpfe und Konzepte sind Metall-Sozialexperte Horst Schmitthenner Auch auf den Gewerkschaftskonferen- nicht sichtbar. gegen den Arbeitsminister. zen führen derzeit vor allem die Vertreter Die Traditionalisten wollen seit jeher das So klingt es in diesen Tagen öfter.Wenn der alten IGM das Wort. Als Anfang Juni Erreichte mit allen Mitteln verteidigen: den die Lautsprecher der IG Metall sich zu das gesellschaftspolitische Forum der IG Flächentarifvertrag, hohe Lohnzuwächse Wort melden, halten vor allem Traditiona- Metall in Bad Orb diskutierte, notierte ein für alle, generelle Arbeitszeitverkürzung.

Demonstrierende Metaller: „Gegenmacht, aber keine Kampfmaschine“ DPA Daß die Welt sich verändert, kann sie nicht beirren. Die Reformer dagegen wollen sich dem unvermeidlichen Strukturwandel nicht ent- gegenstemmen, sie wollen ihn mitgestal- ten: Flexiblere Arbeitszeiten und differen- zierte Löhne sind für sie kein Tabu. In der Vergangenheit waren stets beide Pole in der Spitze der Gewerkschaft ver- treten. Zuletzt verkörperte IGM-Chef Klaus Zwickel den Traditionalisten mit Schiebermütze,Vize Riester gab den nach- denklichen Reformer. Doch Riester ging, er hinterließ ein Vakuum. Seitdem geben die Bewahrer, obwohl nicht in der Mehrheit, den Ton an, kritische Beobachter fürchten sogar eine „Rolle DPA rückwärts“. Längst befinden sich die Funk- DARCHINGER F. tionäre in der Vorbereitung für den Ge- Gewerkschafter Riester, Zwickel, Peters: „Wenn ich etwas zu sagen habe, dann, wann ich will“ werkschaftstag Anfang Oktober in Ham- burg. Innerhalb der Organisation werden men. Dort emanzipiert sich eine neue, un- rung und Arbeitszeitkonten, Ausweitung Positionen bezogen und hinter den Kulis- dogmatische Generation von der Frank- befristeter Arbeitsverträge und neue sen Strippen im Kampf um Ämter und Ein- furter Gängelei der vergangenen Jahr- Schichtmodelle sind betrieblicher Alltag. fluß gezogen. zehnte. In der Zentrale haben noch immer Doch noch immer fällt es vielen Funk- Tatsächlich ist die Metall-Gewerkschaft die alten Apparatschiks das Sagen. tionären schwer, die Realität anzuerken- auf der Suche nach ihrer eigenen Zukunft. Vergangene Woche verkündete der ba- nen.Vergangene Woche schloß die IG Me- Seit Jahren steckt die mächtige Industrie- den-württembergische Metall-Chef Bert- tall erstmals einen Tarifvertrag mit einem gewerkschaft in der Krise. Die Mitglieder- hold Huber auf der Bezirkskonferenz seines Zeitarbeitsunternehmen ab; bis dato wa- zahlen schwinden, die Organisation ist Verbandes, daß die Arbeitszeitverkürzung ren Leiharbeitsfirmen für die Gewerk- überaltert. Die Wirklichkeit in den Betrie- in naher Zukunft nicht mehr im Mittel- schaft Schmuddelbuden, die es zu be- ben ändert sich schneller als die Tarifver- punkt der Bemühungen stehe. Statt dessen kämpfen galt. Nun haben die Leiharbeiter träge. In den Wirtschaftszweigen, in denen wollen die Metaller im Südwesten lieber von Adecco für die Zeit der Expo in – wie in der Stahl- oder in der Automo- für gleichen Lohn bei gleicher Arbeit kämp- Hannover einen Tarifvertrag mit garan- bilindustrie – die Metall-Gewerkschaft tra- fen – in der modernen Arbeitswelt ist die tierten Stundenlöhnen zwischen 13,50 ditionell stark organisiert ist, sinkt die Zahl Trennung von Arbeitern und Angestellten Mark und 26 Mark, geregelten Urlaubsan- der Arbeitsplätze beständig. In den neuen oftmals nur noch eine Fiktion in den Tarif- sprüchen, Arbeitszeitkonten und Arbeit- Wachstumsindustrien kann sie nicht Fuß verträgen.Auf dem Gewerkschaftskongreß nehmervertretung. fassen. will Huber bei den anderen Bezirken für Da die Leiharbeit weiter steige, erklärt Bereits im vergangenen November seine Vorstellungen werben, obwohl die der niedersächsische Bezirkschef Hartmut zeichnete Zwickel ein schonungsloses Bild Vorsitzenden Zwickel und Peters als Ver- Meine, müsse man zur Kenntnis nehmen, der Lage: Jahr für Jahr verliert die IG Me- treter der 32-Stunden-Woche gelten. „daß die Realität anders aussieht, als wir tall rund drei Prozent ihrer Mitglieder. Hat- In den Unternehmen fordern selbstbe- uns das wünschen“. Daher habe man sich te die Gewerkschaft 1991 rund 3,6 Millio- wußte Betriebsräte mehr Bewegungsraum. zu einer „Kurskorrektur entschlossen“. So nen, sind es derzeit noch knapp 2,6 Mil- Viele von ihnen haben in schwierigen Zei- wird der Abschluß zum „Experimentier- lionen Mitglieder – Tendenz abnehmend. ten in ihren Firmen eigene Lösungen ge- feld für mögliche spätere Flächentarif- Wenn der Trend von Beitragseinnahmen funden, weil die Zentrale lieber an alten verträge“. und Ausgaben weiter wie bisher anhalte, so Dogmen festhielt. Die Erklärung ist symptomatisch, denn der Vorsitzende, klaffe bereits 2002 in der In der Tat hat sich in den vergangenen die neue Vielfalt hat einen Schönheitsfeh- Kasse ein Loch von 150 Millionen Mark. Jahren in Tarifverträgen und Betriebsver- ler – fast alle Änderungen kamen auf Die IG Metall bedarf einer grundlegen- einbarungen vieles geändert: Flexibilisie- Druck der Realität zustande, als die alten den Reform. Auch Zwickel weiß, daß er Regelungen nicht mehr zu halten waren die Gewerkschaft öffnen muß, wenn sie 3,6 Millionen und in den Betrieben längst unterlaufen nicht als unaufhaltsam schrumpfende wurden. Ein Ausdruck gewerkschaftlicher Großsekte in ihrer traditionellen Nische Gestaltungsmacht sind sie nicht. verkümmern soll. 3 2,6 Auch wenn die Wiederwahl Zwickels im Doch mit dem hergebrachten Gewerk- Millionen Herbst außer Zweifel steht – der Gewerk- schaftsimage lassen sich Mitglieder in den schaftschef weiß, daß er in Hamburg be- zukunftsträchtigen Dienstleistungsberei- reits seinen Abgang im Jahr 2003 vor- chen nicht ködern. An klassischen Arbei- bereiten muß. Er muß den Generatio- terführern mangelt es nicht, wohl aber an 2 nenwechsel einleiten und sicherstellen, daß Identifikationsfiguren für den neuen Ar- die Modernisierer im Vorstand wieder beitnehmertypus, der an Zahl gewinnt. vertreten sind. Mit einer professionellen Image- und Kein leichtes Unterfangen: Als sein Vize Werbekampagne, die jährlich bis zu 40 Mil- 1 Von der Fahne gegangen Riester vergangenen Herbst ins Arbeitsmi- lionen Mark kostet, sollen neue Mitglieder Mitgliederzahlen der nisterium wechselte, scheiterte Zwickel mit geworben werden. Mit Marketing allein Industriegewerkschaft Metall seinem Personalvorschlag, statt dessen sind die Probleme aber nicht zu lösen. rückte der Hardliner Peters in den Vor- Am ehesten kann die Erneuerung aus 0 stand. Der Metall-Chef hatte auf seinen den Bezirken und aus den Betrieben kom- 1991 1992 1993 1994 1995 1996 1997 1998 Hauptkassierer Bertin Eichler gesetzt – und

der spiegel 26/1999 75 die Gemengelage in seiner Gewerkschaft falsch eingeschätzt. Auch diesmal wollen die Traditionali- sten die Gunst des Gewerkschaftstags nut- zen. Schon jetzt werden Personalvorschlä- ge diskutiert, Mehrheiten ausgelotet – zum Beispiel für den Berliner Bezirkschef Has- so Düwel oder den Chemnitzer Bevoll- mächtigten Sieghard Bender. Außerhalb der Funktionärskader haben die Ränkespiele noch keine Bedeutung. „Für meine Leute“, sagt der Duisburger Bevollmächtigte Peter Gasse, „ist der Ge- werkschaftstag noch ganz weit weg.“ In den Betrieben sei IG Metall, was die Gewerk- schaft vor Ort für die Arbeitnehmer leiste. Für die Basis, so Gasse, bestehe die Frankfurter IG Metall aus Klaus Zwickel. Und der steckt in der Bredouille. Er selbst sieht sich als Vater des Bünd- nisses für Arbeit, weil er es war, der ein sol- ches Bündnis schon zu Kohl-Zeiten ins Ge- spräch brachte. Doch wenn die nächste große Runde am 6. Juli keine konkreten Er- gebnisse vorlegen kann, wird es eng für die Zukunft des Bündnisses. Die IG Metall will noch einmal Druck machen. Seit zwei Wochen bereitet sie eine „Bündnis für Arbeit-Mobilisierungskam- pagne“ in den Betrieben vor. Die Haupt- amtlichen werden mit Plakaten, Faltblät- tern und Redebausteinen zum Thema „Vier Trümpfe zum Bündnis für Arbeit“ ver- sorgt. Die Gewerkschaft will einen „öf- fentlichen Handlungs- und Erwartungs- druck“ aufbauen, die „Blockadehaltung“ der Arbeitgeber angreifen und deren „Ei- nigungsbereitschaft austesten“. Bisher hat es die IG Metall allerdings versäumt, die Mitglieder über die eigenen Ziele aufzuklären – und klarzumachen, welchen Preis sie zu zahlen bereit ist. Nach dem Wahlsieg über Kohl, den vie- le Gewerkschafter als ihren Sieg betrach- ten, reift die Erkenntnis, daß auch der Re- gierungswechsel ihnen die Last der Verän- derung nicht nimmt. In solch unsicheren Umbruchzeiten ist die Versuchung groß, in den bewährten Abwehrritualen Halt und Geschlossenheit zu suchen: der Kampf ge- gen die Feinde aus Politik und Kapital als identitätsstiftende Aufgabe. Gern berufen sich die Traditionalisten auf eine Studie des Meinungsforschungs- instituts Polis, in der die befragten Mit- glieder und Nichtmitglieder der IG Metall hohe Zufriedenheit in den klassischen Fel- dern wie Tarifpolitik bescheinigen. Die Funktionäre ignorieren, daß der Gewerk- schaft zugleich Defizite in bezug auf Mo- dernität, Dynamik, Flexibilität und Offen- heit für neue Ideen angelastet werden. Die Arbeitnehmer fordern von der IG Metall für die Zukunft nicht Bewahrung, sondern Gestaltung. Klaus Zwickel hat seine Schlüsse aus der Studie gezogen: „Die Befragten wollen die IG Metall als Gegenmacht, nicht als Kampfma- schine.“ Markus Dettmer

der spiegel 26/1999 Wirtschaft

dete ein Fax auf dem Schreibtisch Nau- die Verteidiger des Kulturgutes Buch gegen BUCHPREISE manns, in dem die Bedingungen für den ge- den angeblichen Marktfanatiker Van Miert. wünschten Verzicht auf das Verbot der Es sei eine Provokation, „praktisch in letz- Letztes Buchpreisbindung notiert sind. ter Minute“ noch eine Entscheidung „von Bis zum 6. Juli, so Van Miert, müßten die so herausragender kulturpolitischer Be- deutschen und österreichischen Verleger deutung“ erzwingen zu wollen, erregte Aufbäumen alle bisher geltenden Vereinbarungen über sich der Börsenverein. die Preisbindung in beiden Ländern kip- Tatsächlich hat sich die Kommission EU-Kommissar Van Miert will pen. Anschließend stände es ihnen frei, zwar verpflichtet, keine „neuen politischen „der Kommission neue, getrennte Verein- Initiativen“ mehr zu starten, um ihre Nach- die Preisbindung für Bücher barungen für Deutschland bzw.Österreich folger nicht zu fesseln. Das sich ewig da- noch vor der Sommerpause ver- zu unterbreiten“. Es freue ihn, heißt es hinschleppende Verfahren über die Zuläs- bieten. Der notwendigen weiter, „daß wir durch Ihr Schreiben einer sigkeit der Buchpreisbindung fällt aber ge- Mehrheit ist er sich sicher. solchen Lösung näher gekommen sind“. wiß nicht in diese Kategorie: Verleger und Buchhändler haben den Antrag gestellt, ihre Branche wie gewohnt vom Verbot der Preisbindung freizustellen. Darüber muß die Behörde entscheiden, zumal sich ein Mitbewerber gegen die Preisbindung ge- wehrt hat. Während all der Jahre, schiebt der Bör- senverein nach, habe Van Miert immer be- schwichtigt, es gehe nicht um die nationa- W. SCHUERING W. DPA len Festpreise für Bücher, sondern nur um Van Miert Naumann die internationalen grenzüberschreitenden Wettbewerbsbehinderungen. Heimtückisch wolle er nun in seinem Verbotsentwurf „unter Ausschluß der Öffentlichkeit“ und entgegen allen früheren Zusagen plötzlich doch auch die nationalen Preisbindungs- systeme für nichtig erklären. Zuständigkeit hat Van Miert tatsächlich nur, wenn nationale Preisbindungen grenz- überschreitend wirksam werden. So wie in Deutschland und Österreich, wo sich die Buchhändler mit nur einer Unterschrift verpflichten, Bücher nur zu den von den Verlegern bestimmten Endpreisen zu ver- kaufen. Sie dürfen in das Nachbarland ex- portierte Bücher auch nicht zurückschaffen und dann unter Preis verkaufen. In Van Mierts Brief an Naumann heißt es, alle geltenden Regelungen hätten un- trennbar zur Folge, daß österreichische

F. ZANETTINI / LAIF F. Buchhändler deutsche Bücher in Öster- Preisbindungskontrahenten, Buchhandlung: „Unter Ausschluß der Öffentlichkeit“ reich nicht billiger anbieten dürften als in Deutschland und umgekehrt. Sei dies ge- er Bonner Kulturminister Michael Das war reiner Hohn. Das Diktat des fallen, könnten die Verbände durchaus eine Naumann unternahm einen letzten Kommissars ist kein Kompromißangebot, neue Preisbindung für Bücher beschließen, DVersuch, die über hundert Jahre es wäre die Durchsetzung seiner in Brüs- ein jeglicher nur in seinem Land. Aller- alte hehre Institution der Buchpreisbin- sel als Entwurf bereitliegenden Verbots- dings: Sie müßten zusätzlich „klarstellen, dung in Deutschland zu retten. Ob der verfügung im Gewand der freiwilligen Ver- daß die nationale Preisbindung auf Re- Wettbewerbskommissar Karel Van Miert einbarung. Verleger und Buchhändler er- importe keine Anwendung findet“. bereit sei, fragte der Ex-Verleger am 17. kannten das mit einem Blick. Die knappe Würden die deutschen Verleger sich dar- Juni bei dem Flamen an, unter gewissen Frist bis zum 6. Juli läßt keine Zeit mehr für auf einlassen, hätte Van Miert alles erreicht, Voraussetzungen „den Topos der Laden- neue Verhandlungen. Van Miert ist dazu was er wollte, auch ohne Verbot. Sofort preisbindung von der Tagesordnung der auch nicht mehr bereit. würden sich, wie im Kfz-Sektor oder bei Kommission verbindlich zu streichen“. Um den Kommissar ins Unrecht zu set- den Arzneimitteln vorgeführt, Preisbrecher In diesem Fall, so Naumann, werde er zen und das Verbot doch noch abzuwen- finden, die mit billigen Reimporten Kauf- den deutschen Verlegern empfehlen, aus den, hatte der Börsenverein sich während häuser und Buchhandlungen füllten. Kein ihren Preisbindungsverträgen alle Passa- der vergangenen Wochen in einem letzten Konkurrent könnte sich noch länger an die gen zu streichen, die den grenzüberschrei- Aufbäumen auf zwei juristisch spitzfindig Festpreise halten. tenden Wettbewerb zwischen den beiden untermauerte Vorwürfe gegen den Kom- Wenn nichts geschieht, will Van Miert deutschsprachigen Ländern behindern. missar konzentriert: Verleger und Buch- spätestens am 14. Juli, acht Tage nach Ab- Auf diese Weise könnten die nationalen händler hielten Van Miert mangelnde Kom- lauf der Frist, die Kommission zum Schwur Festpreise, die Europa ohnehin nichts an- petenz und „Täuschung“ vor. bitten. Nach vielen Gesprächen mit sei- gingen, gerettet werden. Die Kommission sei im März kollektiv nen Kollegen ist er zuversichtlich, die nö- Van Miert reagierte unmittelbar. Bereits zurückgetreten, führe seither also nur noch tige Mehrheit für dieses Verbot zu be- am Mittwoch der vergangenen Woche lan- die laufenden Geschäfte, argumentierten kommen. Winfried Didzoleit

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SPIEGEL-GESPRÄCH „Nichts beim alten lassen“ RWE-Chef Dietmar Kuhnt über den Umbau des Energiekonzerns, den Wettbewerb auf dem Strommarkt und den Ausstieg aus der Atomkraft

SPIEGEL: Herr Kuhnt, Sie wollen den riesi- mit dem Verkauf von Otelo gen RWE-Konzern auf die Geschäftsberei- Gestrafftes Geschäft aber noch rechtzeitig ausgestie- che Strom, Öl, Kohle, Gas und Wasser kon- Die neue Struktur des RWE-Konzerns gen. In der Umwelt AG haben zentrieren. Ist das nicht eher eine Rolle wir nach ernsten Problemen je- rückwärts als eine Zukunftsstrategie? doch erfolgreich saniert und Kuhnt: Im Gegenteil – unser Blick richtet werden 1999 schwarze Zahlen sich klar in die Zukunft. Die Stärke des schreiben. Ich denke, daß der Konzerns liegt eindeutig im Geschäft mit Konzern auf festen Füßen steht. der Energie. Rund zwei Drittel des Um- SPIEGEL: Große Wettbewerber satzes und über fünf Milliarden Mark des wie die Viag oder die Veba ha- Konzernergebnisses machen wir heute neu gegliederte Energie-Bereiche ben bereits vor Wochen ähnli- schon in diesen Bereichen. Dort wollen che Konzepte verkündet. Kup- wir noch stärker werden, um im harten fern Sie deren Strategie nicht europäischen Wettbewerb eine führende einfach ab? Position einzunehmen. Strom Kohle ÖlWasser Gas Kuhnt: RWE ist Vorreiter – und SPIEGEL: Sind solche Zahlen nicht der ich werde mir diese Position Beweis dafür, daß Sie mit Ihrer alten weitere Beteiligungen auch nicht nehmen lassen. Wir Strategie, nämlich weg vom Strom und hin sind in einer unvergleichlich zum Aufbau neuer Geschäftsfelder, ge- 100% 97,1% guten Ausgangslage. Wie kein scheitert sind? RWE Telliance Lahmeyer AG anderes Unternehmen besitzt Kuhnt: Nein, die Strategie ist nicht ge- RWE die Stärke, um im Ener- 56,1% 56,1% scheitert. Man muß alles zu seiner Zeit se- giemarkt zu wachsen.Aber, das hen. Solange wir in Deutschland keine frei- Hochtief AG Heidelberger Druckmaschinen AG gestehe ich ein, um diese Kräf- en Energiemärkte hatten, gab es für RWE te zu heben, können wir nichts beim alten lassen. SPIEGEL: Das klingt nach harten Schnitten. Werden Sie den Konzern mit seinen heute sieben Töchtern zerschlagen, wie es bei- spielsweise Jürgen Dormann bei Hoechst vorgemacht hat? Kuhnt: Jeder muß seinen eigenen Weg ge- hen. Deshalb wird bei RWE auch nichts zerschlagen. Ganz im Gegenteil, wir bün- deln unsere Kräfte, um den Konzern mit dem Schwerpunkt Energie und energie- nahen Services konsequent am Kunden und an seinen Bedürfnissen auszurichten. Das ist wie im Formel-1-Rennen: Wenn man zu den Gewinnern zählen will, muß man seine Kräfte konzentrieren und von

P. HAHN / LAIF P. der Pole-position aus starten. RWE-Zentrale in Essen „Wir sind kein statischer Konzern“ Als Justitiar auch keine Expansionsmöglichkeiten.Also begann Dietmar Kuhnt, 61, vor 31 Jah- bot es sich an, unser Geld in neue Ge- ren seine Karriere bei der Rheinisch- schäftsfelder zu investieren, von denen wir Westfälischen Elektrizitätswerke AG heute profitieren. (RWE). Bevor er 1995 zum Chef des SPIEGEL: Wieso profitieren? Der Aufbau Konzerns ernannt wurde, hatte der des Umweltbereichs oder der Milliarden- Jurist drei Jahre die wichtigste RWE- Flop mit Otelo in der Telekommunikation Tochter, die Energie AG, geleitet. Zu sind doch keine Aushängeschilder für eine den Verdiensten des Konzernchefs erfolgreiche Diversifizierung. Kuhnt gehört die Abschaffung des Kuhnt: Sie haben recht. Die Telekommuni- Mehrfachstimmrechts der kommuna- kation war nicht der große Renner.Wir sind len Aktionäre. Sein bisher größter Flop

R. OBERHÄUSER / DAS FOTOARCHIV R. OBERHÄUSER / DAS war der Aufbau der glücklosen Tele- Das Gespräch führten die Redakteure Frank Dohmen Firmenlenker Kuhnt kommunikationssparte. und Armin Mahler. „Gnadenloser Konkurrenzkampf“

80 der spiegel 26/1999 SPIEGEL: Die Liberalisierung des Strom- markts hat längst begonnen. Rennen Sie mit Ihrer Strategie nicht lediglich den ver- änderten Marktbedingungen hinterher? Kuhnt: Tatsache ist, wir haben die Zeichen der Zeit erkannt und richten uns konse- quent darauf aus. Wir haben bereits heute einen enormen Wettbewerb im Strom- markt, und er wird jeden Tag härter. Die Si- tuation ist vergleichbar mit dem gnaden- losen Konkurrenzkampf auf dem Telefon- markt nach dessen Freigabe. SPIEGEL: Dort sind die Preise in nur einem Jahr um mehr als 50 Prozent gefallen. Er- warten Sie auf dem Energiemarkt ähnli- che Entwicklungen? Kuhnt: Man kann die Reaktion der Märkte nie genau abschätzen. Aber unmöglich ist das nicht. Immerhin haben wir auf dem deutschen und auf dem europäischen Markt hohe Überkapazitäten beim Strom. Allein dadurch wird es zu einem harten Preiskampf kommen … SPIEGEL: … von dem die Privatkunden je- doch noch auf lange Zeit ausgeschlossen bleiben. Kuhnt: Nein, das sehe ich nicht so.Was heu- te schon für unsere Großabnehmer eine Selbstverständlichkeit ist, wird in kürze- ster Zeit auch für private Haushalte mög- lich sein.Auch sie werden sich ihren Strom- lieferanten und damit den günstigsten Preis aussuchen können. SPIEGEL: Wie soll das gehen? Wie bekommt ein Berliner Haushalt RWE-Strom aus Essen? Kuhnt: Wir werden alle uns zur Verfügung stehenden Vertriebskanäle nutzen, um in ganz Deutschland und in Europa Kunden zu gewinnen, und dies unter Einsatz er- heblicher Mittel. Neben den Stromkunden haben wir viele Millionen Kunden, die bei- spielsweise ihr Trinkwasser von uns bezie- hen oder an unseren Dea-Tankstellen ihre Autos betanken. Denen werden wir in Zu- kunft auch Energieprodukte wie Strom, Gas oder Öl anbieten, im Paket und zu äußerst günstigen Preisen. Das ist der ei- gentliche Hintergrund für die Umgestal- tung des Konzerns. SPIEGEL: Wann wird denn richtig umge- baut? Kuhnt: Ich bin dabei. Erste Beschlüsse sind bereits gefaßt. Gerade werden aus allen Bereichen hochkarätige Manager in ein neues Haus abgezogen. Sie sollen für den Konzern dann eine einheitliche Marke- tingstrategie entwickeln. Außerdem sollen dort bereits bestehende Projekte einge- bracht und neue diskutiert und geplant werden. Wir haben uns vorgenommen, zehn europäische Metropolen mit unseren Dienstleistungen aufzuschließen, um von dort aus weiter in Europa zu expandieren. SPIEGEL: Planen, entwickeln, diskutieren – das hört sich nicht nach einem großen Ruck an, der jetzt durch den Konzern geht. Kuhnt: Wir wollen auch keine Revolution, wir wollen eine Evolution. Ein neues Kon-

der spiegel 26/1999 Wirtschaft zept muß von allen Seiten getragen wer- Kernbereich behalten. Vorausgesetzt, sie Kuhnt: Auch das ist möglich. Immerhin den. Das ist bei uns der Fall.Arbeitnehmer, erwirtschaften die Renditeziele. drängen Multis wie Shell oder Total zu- Aufsichtsrat und Vorstand stehen hinter SPIEGEL: Damit bleibt doch so ziemlich nehmend in den Energiemarkt. Da kön- den neuen Zielen. Das wird uns den Erfolg alles beim alten. Oder? nen wir uns vornehme Zurückhaltung bringen. Kuhnt: Nein, wir sind kein statischer Kon- nicht leisten. SPIEGEL: Trotzdem könnte es nicht scha- zern. Wir entwickeln uns ständig weiter. SPIEGEL: Zunächst richten sich Ihre Begehr- den, wenn auch Sie etwas Druck machen. Und jetzt ist das Ziel klar vorgegeben: Wir lichkeiten aber auf einen Ruhrgebiets- Kuhnt: Der Markt wird den Druck machen wollen einer der führenden Energiever- nachbarn. Oder ist es nur ein Gerücht, daß und uns dazu zwingen, ganz schnell die sorger Europas werden. Dazu brauchen Sie die Vereinigten Elektrizitäts-Werke optimale Organisation zu finden. wir alle Kraft. Denn der Energiebranche in (VEW) in Dortmund übernehmen wollen? SPIEGEL: Wie soll Ihnen der Markt dabei Europa wird eine gewaltige Konsolidie- Kuhnt: Wir haben eine Beteiligung an VEW helfen? Konzentration auf den Energiebe- rungswelle bevorstehen, die vielleicht nur und eine gut funktionierende Kooperation reich heißt doch konkret, daß Sie wesent- vier oder fünf wirklich große Unterneh- bei unseren Kraftwerken. Darum ranken liche Teile des Gemischtwarenladens RWE men überleben werden. sich allerlei Phantasien.Aber zur Zeit steht veräußern müssen. SPIEGEL: Und RWE wird dazugehören? das deutsche Kartellrecht allen Bemühun- Kuhnt: Welche denn? Kuhnt: Ja, wir haben die besten Voraus- gen entgegen, größere Beteiligungen in SPIEGEL: Wollen Sie sagen, daß Töchter wie setzungen.Wir sind, um das Bild der Formel Deutschland zu kaufen. das Bauunternehmen Hochtief, die Tele- 1 noch mal zu bemühen, früh an den Start SPIEGEL: Das wird sich jedoch voraussicht- kommunikation oder große Teile des Um- gegangen und geben jetzt auch richtig Gas. lich Ende des Jahres ändern. weltbereichs noch in den neuen Energie- SPIEGEL: Müssen Sie zum Überleben ande- Kuhnt: Ich hoffe es. Die engen Vorschriften konzern passen? re Unternehmen zukaufen? des Kartellrechts in Deutschland sind bei Kuhnt: Von der Telekommunikation haben Kuhnt: Ein klares Ja. Wenn man zu den dem zunehmenden europäischen Wett- wir uns ja bereits zu einem großen Teil ge- großen Playern gehören will, wird es ohne bewerb geradezu anachronistisch. Es kann trennt. Und wir haben in den vergangenen Zukäufe nicht gehen. In den Kernberei- nicht sein, daß wir die rote Karte bekom- zwei Jahren weitreichende Desinvestments chen Strom, Öl, Gas,Wasser und Kohle ha- men, wenn wir mehr als 24,9 Prozent an verabschiedet. Insgesamt wurden Unter- ben wir in Deutschland heute einen Markt- einem Stadtwerk kaufen wollen, die fran- nehmensbereiche im Wert von über 2,7 anteil von rund 15 Prozent. In Europa sind zösische EDF aber 25,1 Prozent an dem Milliarden Mark verkauft. Jetzt werden es gerade einmal 2,4 Prozent. Dort wollen Energieversorger Baden-Württemberg er- noch einmal alle Bereiche auf den Prüf- wir eine ähnliche Stellung erreichen, und werben darf. Hier muß der Gesetzgeber stand gestellt. Das heißt jedoch nicht un- das geht nur über Akquisitionen. tätig werden. bedingt, daß wir sie verkaufen. Es wird SPIEGEL: Denken Sie dabei auch an die SPIEGEL: Wären Sie im Gegenzug bereit, auch Tochterunternehmen geben, die wir feindliche Übernahme großer ausländi- Ihre starre Haltung in der Frage des Aus- als ergänzende Geschäftsfelder neben dem scher Konkurrenten? stiegs aus der Atomenergie aufzugeben? Kuhnt: Als Umweltminister Jürgen Trittin beispielsweise im Januar erklärte, daß Ende des Jahres mit der Wiederaufarbei- tung von Brennelementen Schluß sein müsse, war das ein klarer Bruch der Ver- einbarung. Im Moment können wir kei- ne Transporte von abgebrannten Brenn- elementen durchführen, weil die Ge- nehmigungen nicht erteilt werden. Wenn da nichts passiert, müssen wir späte- stens Ende des Jahres Kernkraftwerke stillegen, weil keine Zwischenlager mehr frei sind. Das werden wir uns nicht gefal- len lassen. SPIEGEL: Werden Sie die Bundesregierung verklagen? Kuhnt: Wir wollen diesen Krieg mit dem Bundesumweltminister nicht. Aber wir wären dann gezwungen, sämtliche rechtli- chen Möglichkeiten bis hin zu Regreßfor- derungen auszuschöpfen. SPIEGEL: Gehört das nicht zum unterneh- RWE-Werbung: „Nur vier oder fünf wirklich große Unternehmen werden überleben“ merischen Risiko? Wenn die Transporte durch höhere Gewalt wie Demonstrationen Kuhnt: Ein Energiekonsens ist kein orien- Kuhnt: Das ist so nicht richtig.Wir hatten im verhindert würden, könnten Sie doch auch talischer Teppichhandel. Obwohl die Kon- Vorfeld der Konsensverhandlungen mit keine Regreßansprüche stellen. sens-Gespräche am vergangenen Dienstag dem Bundeskanzler vereinbart, daß wäh- Kuhnt: Richtig, gegen höhere Gewalt kann zu keinem Ergebnis geführt haben, sind rend der Gespräche eine Art Friedens- man nichts machen. Es darf nur nicht so wir weiterhin an einer konstruktiven Lö- pflicht herrscht. Dieses Versprechen ist von sein, daß eine einzige Person in der Bun- sung interessiert. der Bundesregierung mehrfach gebrochen desregierung für uns die höhere Gewalt SPIEGEL: Aber nur zu Ihren Bedingungen. worden. darstellt. Sobald es Ihnen nicht mehr paßt, brechen SPIEGEL: Ein schwerer Vorwurf.Wodurch ist SPIEGEL: Herr Kuhnt, wir danken Ihnen für Sie die Gespräche ab. der gerechtfertigt? dieses Gespräch. Werbeseite

Werbeseite INTERNET Reich mit Schnäppchen Sechs Jungunternehmer gründeten in Berlin ein Online- Auktionshaus – und wurden im Handumdrehen zu Millionären.

s gibt eine Faustformel dafür, wie schnell sich das Internet entwickelt, Esie lautet: Drei Monate in der Netz- welt entsprechen einem Jahr in der rea- len Welt. Über diese Gleichung können sich sechs junge Gründer in Berlin nur wundern. Sie

haben in drei Monaten geschafft, wofür A. NEUMANN / LAIF selbst die dynamischsten Firmen der elek- Alando-Gründer*: Aktiengesellschaft mit Sitz in der elterlichen Wohnung tronischen Wirtschaft Jahre brauchen. Am 10. März starteten die Brüder Alex- Daß sie Unternehmer werden wollten, siert. Seit fünf Wochen ist das Angebot im ander, Oliver und Marc Samwer gemein- stand für die Samwer-Brüder schon von Netz, die Zugriffszahl steige täglich um sam mit drei Freunden das Online-Auk- Kindesbeinen an fest, nicht aber, in wel- 50 Prozent, sagt Robert Stangenberg von tionshaus Alando; schon gut 100 Tage spä- chem Gewerbe – bis sie während der Uni Freebid: „Wir werden völlig überrollt.“ ter, am vergangenen Dienstag, hat sie der das ökonomische Potential des Internet Auch etablierte Unternehmen nutzen weltgrößte Netz-Versteigerer, das kalifor- entdeckten. „Hier bot sich eine Chance, Online-Auktionen als Vertriebskanal, die nische Unternehmen eBay, komplett über- die wir uns nicht entgehen lassen wollten“, Lufthansa etwa oder Sixt. Karstadt zögert nommen. So etwas gab es noch nie: Wirt- sagt Alexander Samwer. noch, in seinem Internet-Shop My-world schaft in Warp-Geschwindigkeit. Keiner der Gründer ist älter als 30, und zu versteigern. Denn dann könnten Kun- Noch im Winter waren die Brüder auf doch verfügen sie über mehr Know-how den das gleiche Produkt online womöglich der Suche nach einer Geschäftsidee. Als als so mancher Vorstand etablierter Me- günstiger bekommen als in der Filiale. sie im Internet auf www.ebay.com stie- dienkonzerne: Drei haben bei McKinsey Schon verkünden Fachleute das Ende ßen, erzählt Alexander Samwer, 24, sei Erfahrung gesammelt, vier ein Wirt- fester Preise. „Listenpreise sind ein Phä- ihnen sofort klargewesen: „Das wird die schaftsstudium im Ausland hinter sich, drei nomen“, sagt George Colony, Chef der US- Revolution.“ absolvierten Praktika im Silicon Valley. Marktforschungsfirma Forrester Research, Dort hat der eBay-Gründer Pierre Omi- Seit die Überflieger ihre Seite ins Netz „das nur 150 bis 175 Jahre alt ist.“ Nun dyar, 31, eine Plattform installiert, auf der gestellt haben, feilschen bei Alando mehr gehe die Entwicklung wieder zurück in die Sammler und Schnäppchenjäger rund um als 50000 Leute, die sich nie getroffen ha- Zukunft, erwartet er. die Uhr Waren anbieten und selbst erstei- ben, und wetteifern um 90000 Produkte, Dann dürften sich die Preise nur noch in gern können. Per Mausklick wird um die die sie nie angefaßt haben: einen Ferrari eine Richtung bewegen: nach unten. Denn Wette geboten, bis für den Meistbietenden zum Beispiel oder einen Brief von Fried- in den unendlichen Weiten des Internet der Hammer fällt. Verkäufer und Käufer rich Schiller. Ein Informatiker versteigerte findet sich fast immer jemand, der eine Sa- machen Bezahlung und Versand meist un- sogar für eine Woche seine Arbeitskraft. che noch billiger anbietet. Der deflationä- ter sich aus, eBay kassiert eine Provision In Kalifornien blieb der Senkrechtstart re Trend schlägt so richtig durch, wenn von bis zu fünf Prozent – eine „Killer- von Alando nicht unbemerkt. Nach drei demnächst Firmen auf elektronischen Idee“, wie sich bald herausstellte. Wochen Verhandlungen mit ihrem Vorbild Plattformen um Waren wie Strom oder Te- Was früher im Keller verstaubte oder eBay hatten die Alando-Gründer die Über- lefonminuten feilschen. Das Hamburger auf dem Sperrmüll landete, kommt nun nahme perfekt gemacht – und sich zu Mil- Online-Auktionshaus Ricardo beispiels- auf den elektronischen Flohmarkt: Teddy- lionären. Wieviel genau sie am Deal ver- weise will neben seinen Auktionen für Pri- bären, Briefmarken, Kaffeerahmdeckel. In- dient haben, dazu schweigen die Gründer. vatleute nun auch eine Halbleiter-Verstei- zwischen steigern fast vier Millionen bei Sie sind längst nicht die einzigen in gerung allein für die Industrie einführen. eBay mit, sie können unter mehr als zwei Deutschland, die als Betreiber von Aukti- Ricardo gehört zu den ernsthaftesten Millionen Objekten wählen – sofern das onsseiten im Internet Geld verdienen wol- Konkurrenten von Alando/eBay. Nachdem System nicht abstürzt, was zuletzt häufiger len. Detleff Hasse von Auktionsindex.de ist die Berliner derart vorgeprescht sind, strebt passierte.An der Börse ist die Internet-Fir- dabei, eine Liste der Top 500 deutschspra- Ricardo an, den Börsengang an den Neu- ma bereits mehr wert als BMW. chiger Anbieter zusammenzustellen, so groß en Markt in dieses Jahr vorzuziehen. Ein solcher virtueller Basar in Deutsch- ist bereits das Angebot. „Die ersten strecken Außerdem will es sein Auktionsgeschäft land – das war das Geschäftsmodell, nach schon wieder die Flügel“, beobachtet er. auf ganz Europa ausdehnen. dem die Samwer-Brüder suchten. Sie über- Mit Fachauktionen hätten Newcomer Das hat auch eBay vor. Die sechs Alan- zeugten drei Freunde mitzumachen, tüf- noch Chancen, meint er. Freebid etwa hat do-Gründer sind von den Amerikanern mit telten einen Business-Plan aus, organisier- sich auf Kunst und Antiquitäten speziali- der Geschäftsführung für Europa betraut ten Wagniskapital in Millionenhöhe, be- worden. „Dieser Markt ist noch größer als sorgten sich Software, gründeten eine Ak- der amerikanische“, schwärmt Alexander * Hinten: Karel Dörner, Oliver Samwer,Alexander Sam- tiengesellschaft mit Sitz in der Wohnung wer; vorn: Marc Samwer, Max Finger, Jörg Rheinboldt Samwer. „In Europa hat Sammeln eine der Eltern. Und das alles in sechs Wochen. in den Geschäftsräumen in Berlin-Kreuzberg. ganz andere Tradition.“ Alexander Jung

der spiegel 26/1999 85 Werbeseite

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Auch der Kölner Volkswirtschaftspro- fessor Carl Christian von Weizsäcker, ein ERFINDER Neffe des ehemaligen Bundespräsidenten, schickte einen guten Teil seiner Ersparnisse nach Solothurn – wie viele andere Geld- Bluff oder Geniestreich? geber, denen Belz und Bahlsen „die Zu- kunft der Firma in den rosigsten Farben Eine Minifirma will mit einem Wunderkunststoff große Geschäfte geschildert“ haben, so ein enttäuschter Kleinaktionär aus Stuttgart. Den Wert der machen. Bisher erlebten die Geldgeber – darunter Belland-Aktien kennt keiner, die Papiere McDonald’s und Popstar Phil Collins – nur Enttäuschungen. werden nicht an der Börse gehandelt. Großunternehmen wie BMW haben eit vielen Jahren haben Wirtschafts- Kirchentags warfen ihr Plastikgeschirr aus Millionenbeträge in das Belland-Produkt prüfer an den Bilanzen der Gesell- Belland-Material in Recycling-Tonnen. investiert, und Manager der Metro, Euro- Sschaft aus dem schweizerischen So- Das, so versprach Belz, werde sich in al- pas größtem Handelskonzern, fördern seit lothurn etwas auszusetzen. Beispielsweise kalischem Wasser auflösen; der Kunststoff Jahren die Firma, die in Biberist bei mißfällt ihnen die „äußerst knappe Kassa- würde dann herausgefiltert und später zu Solothurn rund zwei Dutzend Mitarbeiter liquidität“. Die Firma, rüffelten die Prüfer Plastikgabeln oder Joghurtbechern verar- beschäftigt. in ihrem jüngsten Testat, sei „bereits in den beitet werden. Die Investitionen haben sich bislang Vorjahren“ ziemlich klamm gewesen. Beim Recycling großer Mengen gab es nicht ausgezahlt. Belland liefere nur Doch die Belland AG hat zwei Chefs mit immer wieder Probleme. „An der tech- „große Projekte nach dem Prinzip Hoff- beträchtlicher Überzeugungskraft: Roland nischen Machbarkeit“, sagt Belz, „haben nung“, beklagte sich der Verpackungsher- Belz und Hubertus Bahlsen – ein Sproß wir sehr lange arbeiten müssen.“ Doch steller Schmalbach-Lubeca, der einst als aus der hannoverschen Keksdynastie – ha- bisher erging es den Tüftlern aus Solo- Geldgeber ein-, mittlerweile aber wieder ben es immer wieder geschafft, frisches thurn wie dem Comic-Ingenieur Daniel ausgestiegen ist. Das Unternehmen, Welt- Geld zu besorgen, von wohlhabenden An- Düsentrieb aus Entenhausen, dessen ge- marktführer bei den wiederverwertbaren legern wie Phil Collins oder Firmen wie nialische Erfindungen sich im Alltag nicht Pet-Verpackungen, hatte geglaubt, der McDonald’s. so recht bewährten. Rund 180 Millionen neue Kunststoff sei das Verpackungsmate- Seit 15 Jahren wirbt Belz für seine Idee, Mark flossen in das Belland-Projekt – rial der Zukunft. die einem ökologischen Traum gleicht: bisher ohne jede Aussicht auf gewinnbrin- Schon lange beobachten Staatsanwälte einen Kunststoff, der sich in Wasser und gende Geschäfte. die Firma mit Argwohn. Die Solothurner etwas Lauge auflöst und problemlos zu Die Idee aber klingt gut, vielleicht zu Justiz ermittelt gegen Belz, 50, und Bahl- recyceln ist. Müllberge, oder zumindest gut: Das Belland-Produkt verspricht enor- sen, 41, wegen des Verdachts der Urkun- deren problematischer Plastikteil, würden me Gewinne in einem riesigen Markt. Dar- denfälschung sowie des Erschleichens einer verschwinden, wertvolle Rohstoffe ein- um beteiligte sich beispielsweise die Lon- Falschbeurkundung und ungetreuer Ge- gespart. Die bisherige Recycling-Technik doner Investmentgesellschaft Hit and run. schäftsführung. In Deutschland blieben stünde vor einer Revolution. Die Firma verwaltet das Vermögen des Belz und Bahlsen 1996 nur dank hoher Ende vorvergangener Woche demon- Rockstars Phil Collins, der nach Belz, Bahl- Kautionen vom Gefängnisaufenthalt in strierte Belland einen Großversuch in sen und der Pharma-Familie Merck viert- Stuttgart verschont: Belz zahlte 500 000 Stuttgart: Die Besucher des Evangelischen größter Belland-Aktionär ist. Mark, Kekserbe Bahlsen 3,5 Millionen.

Belland-Recycling auf dem Evangelischen Kirchentag in Stuttgart: „Große Projekte nach dem Prinzip Hoffnung“ T. BARTH / ZEITENSPIEGEL BARTH T. der schweizerische Multimillionär Hans- Dieter Cleven, Finanzvorstand der Metro- Holding. Landbell will bundesweit „den Aufbau, die Entsorgung und die Verwertung von Abfällen in geschlossenen, abfallwirt- schaftlichen Kreisläufen“ übernehmen. Das ist bislang Aufgabe des Dualen Sy- stems („Der grüne Punkt“), das überall in Deutschland den Abfall sortiert und – so- fern möglich – zur Wiederverwendung transportieren läßt. Für die Entsorgung zahlen Industrie und Handel rund 4,2 Milliarden Mark jährlich an das Duale System. Da die Kosten für

KEYSTONE PRESS ZÜRICH /KEYSTONE DPA den grünen Punkt auf den Verbraucher ab- BMW-Präsentation: 50 Millionen Mark für die Entwicklung der Wunderchemikalie gewälzt werden, ist jeder Deutsche im Schnitt mit 50 Mark jährlich dabei. Voraussichtlich im Herbst wird das hinterließ. Die Lösung, so die Hoffnung Als Konkurrenz zu dem bisherigen Dua- Landgericht Stuttgart entscheiden, ob die der Manager, könnte aus Solothurn kom- len System verspricht das kleine Unter- beiden Kapitalanlagebetrug begangen ha- men: Teller und Becher aus dem neuen nehmen, den Müll billiger und umwelt- ben: Obwohl nach Überzeugung der Kunststoff, Wasser drauf, und das Problem freundlicher zu entsorgen. Das ist vermut- Staatsanwaltschaft die Firma Anfang der ist ökologisch korrekt vom Tisch. lich möglich – wenn die Firmen nur endlich neunziger Jahre überschuldet war, hatte Verhältnismäßig schnell merkten die Mc- ihre Joghurt-Becher, Milchtüten und an- Belland damals frische Aktien ausgegeben. Donald’s-Manager, daß das Recycling nicht dere Verpackungen aus dem wundersamen Weil Geld chronisch knapp war, wurde so recht klappte. Um über zwei Millionen Belland-Material herstellen könnten. es für Belz und Bahlsen zuweilen sehr eng, Mark ärmer, brachen sie die Kontakte zu Im Dualen System setzte sich die Metro, beispielsweise als Belland einen Fünf-Mil- Belland ab. der mächtigste Beitragszahler, für das lionen-Franken-Kredit von Schmalbach- Ganz schnell endete auch eine geplante Landbell-Verfahren ein. Als eifrigster Be- Lubeca nicht zurückzahlen konnte und der Kooperation mit dem Ludwigshafener fürworter fiel Metro-Vorstand Hans-Die- Verpackungshersteller einen Konkursan- Chemiekonzern BASF. „Die trag androhte. waren hier und haben ihren Belland überstand das Fiasko, weil Kon- Wunderkunststoff präsentiert“, sul Hermann Bahlsen, der Vater von Hu- erinnert sich ein BASF-Mann; bertus, persönlich den Schmalbach-Lube- die Ludwigshafener Chemiker ca-Chef zu einer Stundung der Schulden rieten ab. In den USA gab der überredete – „händeringend“, wie der Kleenex-Hersteller Kimberley- Geldgeber in einer Aktennotiz festhielt. Clark den Versuch auf,Windeln Der Konsul selbst linderte mit einem zu entwickeln, die mit dem 170000-Franken-Kredit die Finanznöte in wasserlöslichen Belland-Kunst- Solothurn. stoff beschichtet werden soll- Roland Belz ist, wie Kenner meinen, ten. General Electric Plastic E. GURIAN vom Erfolg seiner Erfindung fest über- zog sich zurück, der japani- / GRAFITTI M. STORZ zeugt. Sein Partner ist es offenbar auch: sche Mischkonzern Mitsubishi Belland-Chefs Belz, Bahlsen: Ärger mit Staatsanwälten Hubertus Bahlsen hat bislang rund 23 Mil- ebenfalls. lionen Mark eigenes Geld in das Projekt Weil kein Chemieunternehmen den ter Cleven auf, für den nötigen Druck auf gesteckt. Kunststoff herstellen mochte, kündigten den Vorstand des Dualen Systems sorgte Der erste Großkunde, der das 1983 von Belz und Bahlsen schließlich die Eigen- der Aufsichtsratsvorsitzende Karl-Josef Belz gegründete Unternehmen finanzierte, produktion an. In Sachsen-Anhalt sollte Baum, im Hauptberuf Generalbevoll- war der Autokonzern BMW.Die Münchner eine Fabrik mit einem Ausstoß von 200 000 mächtigter der Metro AG. haben ein lästiges Problem: Wenn ein Auto Tonnen jährlich gebaut werden. Baum, so ein Aufsichtsratsmitglied, habe das Werk verläßt, wird es mit einer spe- Aus dem Projekt ist nichts geworden. sogar damit gedroht, die Metro würde aus ziellen Wachsschicht vor Witterungsein- Mit kräftiger Unterstützung der Belland- dem Dualen System ausscheren und mit flüssen und Kratzern geschützt; beim Chefs entstand die Innocycling, die als Li- Landbell ein eigenes Entsorgungssystem Händler muß das Wachs dann mühsam von zenznehmer Kunststoffartikel im thüringi- aufbauen. In einer turbulenten Sitzung – Hand entfernt werden. Eine Schutzschicht schen Rudolstadt-Schwarza produzieren laut Protokoll eine „engagiert geführte Dis- aus dem Belland-Kunststoff ließe sich ein- soll. „Das Werk steht“, sagt Belz und hofft, kussion“ – räumte Baum schließlich ein, fach mit dem Wasserschlauch abspritzen. daß in diesem Jahr dort 20 Beschäftigte das ausgeprägte Interesse des Handels- Im Labor hat der Versuch geklappt, 500 bis 800 Tonnen jährlich herstellen. konzerns an dem innovativen Müllsystem BMW beteiligte sich an Belland. 1990 stieg Die schweizerische Minifirma ließ in sei auf die „privaten Interessen von Herrn der Autokonzern aus, nachdem er rund 50 ihrem Umfeld viele Firmen entstehen: Cat- Cleven“ und einem weiteren Metro-Ma- Millionen Mark für die Entwicklung der land, BellandVision, Beltec, RMH-Folien nager zurückzuführen. Wunderchemikalie ausgegeben hatte. und die Landbell AG für Rückhohlsyste- Ob der seit vielen Jahren angekündig- Gleich darauf fand Belland einen neuen me, die „eine exklusive Lizenz für die Nut- te Durchbruch gelingt oder das Ganze Finanzier in München: die Deutschland- zung der Patente von Belland“ erwarb. als große Geldvernichtung endet, ist un- Zentrale von McDonald’s. Die Fast-food- Prominentester Mitgründer der Recycling- gewiß. Mit Recht kann Firmengründer Kette stand damals unter heftigem Druck Firma ist Ludwig Erbprinz zu Löwenstein- Belz zumindest behaupten: „Unsere Tech- von Umweltschützern, weil sie mit ihrem Wertheim-Freudenberg; als wichtigster nologie hat weltweit Beachtung gefun- Einweg-Geschirr Berge von Plastikmüll Förderer der Landbell wirkt ganz im stillen den.“ Hermann Bott

der spiegel 26/1999 89 Werbeseite

Werbeseite Trends Medien

KINDERFERNSEHEN „Nachsicht KIRCH/EM-TV mit dem Elefanten“ Constantin an die Börse? Der gerade pensionierte Erfinder der WDR-„Sen- dung mit der Maus“ Gert K. Müntefering, 63, über Kinderneugier, Tausend-

G. WINKLER / WDR füßler und Jumbo-Jets

SPIEGEL: Warum kann die Maus eigent- lich nicht sprechen? Müntefering: Sie spricht doch durch ihre Körpersprache. Sie klappert mit den Augen, man hört schon an der Art, wie sie auftritt, ob sie gut drauf ist, ob sie müde angeschlichen kommt oder ob sie sich ärgert. Kinder kriegen sehr schnell

mit, welche Stimmung die Maus hat. FILM / NEUE CONSTANTIN R. KONOW SPIEGEL: Was ist ihr Hauptcharakterzug? Eichinger-Film „Das Geisterhaus“, Haffa Müntefering: Neugier. Und Nachsicht mit dem Elefanten. m Umfeld des Münchner Medienunternehmers Leo Kirch wird SPIEGEL: Was sind die schwierigsten Zu- Iein spektakulärer Börsengang vorbereitet. Zur Diskussion steht schauerfragen für die Lach- und Sach- die Constantin-Gruppe, die im Besitz von Kirch und dem Produ- M. WEBER W. geschichten? zenten Bernd Eichinger ist. Die Constantin-Gruppe, die Kinofilme Müntefering: Die scheinbar einfachsten: wie „Das Geisterhaus“ und für den Kirch-Sender Sat 1 Fernseherfolge wie „Opern- Wie kriecht ein Wurm? Wieviel Beine ball“ produzierte, soll schon bald mit der Münchner Filmhandelsgruppe EM-TV von hat ein Tausendfüßler? Thomas Haffa einen neuen Großgesellschafter bekommen. Kirch (49 Prozent) und SPIEGEL: Und wie finden Sie die Ant- Eichinger (48,5 Prozent) würden ihre Anteile reduzieren. Haffa soll nach dem Ein- wort? stieg sogar Aufsichtsratschef werden. Wenn die neue Formation steht, ist vorgese- Müntefering: Durch wissenschaftliche hen, rund 25 Prozent der Aktien der Constantin AG freien Aktionären anzubieten. Recherche und aufwendige Methoden – Angesichts des derzeitigen Booms von Medienaktien dürfte der Börsengang leicht bis hin zu High-Speed-Kameras. Wir ha- über 100 Millionen Mark einspielen. Der durch massive Investitionen ins Pay-TV ben zum Beispiel gerade die Entstehung belastete Kirch bekäme so einen bedeutenden Finanzzufluß. Haffa hat in den ver- eines Jumbo-Jets in fünf Fortsetzungen gangenen Monaten, nicht zuletzt durch eine Allianz mit Kirch bei Kinder- und Jugendfilmen, am Neuen Markt einen fulminanten Aufstieg geschafft. Mit dem Kirch-Eichinger-Imperium sind gemeinsame Produktionen und forcierte Marke- tingaktivitäten angedacht, auch für den Verkauf von Filmen in den USA.

TV-STARS erhinterziehung eingestellt. Auch im Rechtsstreit mit ihrem Ex-Auftraggeber Geld zurück RTL scheint eine Einigung bevorzuste- hen. Das Landgericht Köln urteilte Mit-

WDR argarethe Schreinemakers hat weit te Juni, der Sender habe ihr die fristlose Mmehr Geld von den Finanzbehör- Kündigung zu Unrecht ausgesprochen. gemacht. So eine Recherche unterschei- den zurückbekommen als bisher be- Schreinemakers hatte RTL auf 40 Mil- det sich nicht von Erwachsenen-Sen- kannt. So mußte ihr das Bundesamt für lionen Mark Schadensersatz für nicht dungen. Vielleicht ist es bei uns etwas Finanzen nicht 20 Millionen, sondern mehr produzierte Sendungen verklagt. genauer. etwa 30 Millionen Mark Quellensteuer Einen 18-Millionen-Mark-Vergleich hat- SPIEGEL: Wie hat sich die Sendung in erstatten, die zu Un- te sie abgelehnt. Nun drei Jahrzehnten verändert? recht einbehalten wur- signalisiert sie Kom- Müntefering: Die Maus hat über die Jah- den. Zudem erhielt die promißbereitschaft: re ein Bilderbuch unserer Zeitgeschich- Ex-Moderatorin deut- „Nachdem ich recht te entwickelt. Überhöht gesagt: Sie lie- lich über zehn Millio- bekommen habe, kann fert eine Gebrauchsästhetik der Gegen- nen Mark Mehrwert- man jetzt vernünftig wart. In ihren frühen Filmen dokumen- steuer zurück, die sie über alles reden.“ Ein tiert die Maus ein industrielles Zeitalter, fälschlicherweise ab- RTL-Sprecher kündigt das es heute gar nicht mehr gibt. Inzwi- führen mußte. Bereits zwar an, man wolle in schen haben wir mit unserem Maus-An- 1998 hatte die Staats- Berufung gehen, aber:

gebot die erfolgreichsten WDR-Seiten anwaltschaft Köln ein DPA „Gesprächsbereit sind im Internet. Verfahren wegen Steu- Schreinemakers wir immer.“

der spiegel 26/1999 91 Medien

LEUTE falls spielen die in Ihren Büchern höch- Versöhnliche Beine „Ein Kommissar stens Nebenrollen. Senf: Bruno ist ein önche, Mäuse, Ratten, Maden, würde stören“ unangepaßter As- Mscheiden selten ohne Scha- phalt-Nomade, ein den“ (Deutsches Sprichwort), „Ab- Jochen Senf, 56, Tatort-Kommissar Alt-68er. Als Rechts- schiedsworte müssen kurz sein wie und Krimi-Autor, über sein neues Buch anwalt darf er eige-

Liebeserklärungen“ (Fontane), „Je- „Die Baby-Fabrik“ PRESS ACTION ne Entscheidungen der Abschied ist betäubend“ (Her- Senf treffen und krumme der) – frustriert bricht der Chro- SPIEGEL: Was gefällt Ihnen am Verbre- Dinger drehen – als nist die Durchsicht geflügelter Wor- chen? Als Fernseh-Kommissar „Palü“ Polizist dürfte er das nicht. Ein Kom- te ab. haben Sie dauernd mit Mord und Tot- missar würde da einfach nur stören. Denn für den, dem sie gelten sollen, schlag zu tun – und jetzt ist wieder ein SPIEGEL: So wie Sie im Fernsehen im- sind sie zu klein: Johannes Gross. Krimi von Ihnen erschienen, Ihr vierter. mer die Ganoven stören. Möchten Sie 310mal seit 1985 hat der Glosseur Senf: Tragödien lassen sich am besten sich nicht auch selbst Drehbücher Krauses, Kaustisches und Faustisches im Krimi erzählen. Bruno, die Haupt- schreiben? über die Leser des nun eingestellten person meiner Krimis, gerät immer in Senf: Nein. Aber Drehbücher schreibe „FAZ“-Magazins ausgegossen, mit Situationen, die er sich nicht ausgesucht ich schon, unter anderem habe ich den dem Ende der Hochglanz-Beilage er- hat. Aber mit Hilfe starker Frauen mei- Plot für einen „Tatort“ geschrieben, der lischt dieser Kandelaber der Bildung stert er das Leben doch. Unterwegs vor drei Jahren gedreht wurde. Am lieb- namens Notizbuch – die Erinnerung, trifft er so groteske Leute, wie ich sie sten schreibe ich aber Kinderbücher. daß geistige Lebendigkeit größere tatsächlich aus Berlin kenne. Da kann ich mir noch mehr erlauben als Abmessungen hat als satte Mode- SPIEGEL: Groteske Polizisten und Kom- im Krimi. Alles, was ich als Kind nicht strecken und lange Reportagen über missare kennen Sie wohl keine, jeden- durfte. teure Juwelen. Unter dem gezeichneten Gross-Kopf, einem Signet für Süffisanz, Oberleh- rertum und bürgerliches Behagen DOKUMENTATION zugleich, kamen im Laufe der Jahre über 2000 Beobachtungen, Aper- Haß und Tod im Kosovo çus und Anekdoten zusammen, Splitter, die sich zu einem Bild fü- elten zeigt sich, was „ethnische Säuberung“ bedeutet, aus einer solchen Nähe wie gen: Der Gebildete bleibt immer Sin diesem Film: Das Grauen bekommt ein Gesicht, eine Stimme, eine Gestalt. Die skeptisch. Dokumentation „The Valley“ des Briten Dan Reed erhielt beim Fernseh-Festival im „In a few minutes we arrive Güters- kanadischen Banff im Juni den ersten Preis in der Kategorie Soziale und Politische loh Main Station“ – es war Gross, Dokumentation sowie den Kritiker-Preis als „bestes Programm der Welt“. der diese in der Bahn gehörte Ansa- Die 75-Minuten-Dokumentation zeigt Szenen aus dem Drenica-Tal im Zentral-Koso- ge als das, was sie ist, entlarvte: als vo, aufgenommen im Herbst 1998. Die Kamera ist unmittelbar bei Opfern und Tätern provinziellen Versuch, der Provin- auf beiden Seiten, läßt Serben und Albaner erklären, weshalb sie sich zur Wehr set- zialität zu entfliehen. zen müssen gegen die jeweils anderen. Mit dem um- Der Film lief im Februar im britischen Fernsehen und im Mai auf CNN. Die ARD triebigen Diari- zeigt ihn am Mittwoch, den 30. Juni um 23.10 Uhr unter dem Titel „Der Haß und der sten ließ sich in Tod – ein Tal im Kosovo“. die große fei- ne Welt reisen, in Golfhotels, wo einzig das PROJEKTE Summen der Caddie-Wagen Zweiter Anlauf und das Klin- gen von Eis im Cocktailglas die Ruhe as Fernsehen rief, aber der stören. Bei Gross glaubte sich der Le- DBerg wollte nicht. Die aufwen- ser schnell auf du und du mit Chur- dige Live-Übertragung von der chill, Cicero und Carl Schmitt, mit der Durchsteigung der gefürchteten katholischen Soziallehre, Thomas von Eiger-Nordwand (SPIEGEL 26/1998) Aquin oder gar Hegel – wer hat schon mußte wegen schlechten Wetters gerade in dessen „Phänomenologie“ abgesagt werden. Nun steht mit geschmökert, um gegenzuhalten. dem 27. und 28. August ein neuer Man muß schon Roger Willemsen Termin fest: In den Dritten Pro- heißen, um die Gross-Bonmots zu ta- grammen des Südwestfernsehens deln, daß Gabelstapler keine Gabeln und des WDR können die Zuschau- stapeln oder daß in nördlichen Ge- er 36 Stunden lang miterleben, filden versöhnliche Beine grobe Ge- wie sich vier Bergsteiger durch sichter kompensieren. Die Insel der Quergänge, Schwalbennester und

Belesenheit wird fehlen. Eisfelder quälen. Falls der Berg / SF DRS M. GYGER will. TV-Proben an der Eigerwand

92 der spiegel 26/1999 Fernsehen

schem Lächeln beschäftigt Vorschau sind, daß der TV-Seher gar nicht mehr darauf achtet, Einschalten was sie sagen. Eines Tages gönnen sich die Beautys ei- Andrea und Marie nen Miet-Lover. Und wie Montag, 20.15 Uhr, ZDF die Elsner ergriffen und Man lernt ja nie aus. Als dieses Melo- lüstern auf dessen bestes dram vor zwei Jahren zum erstenmal Teil herablinst, gehört in im ZDF lief, mäkelte die Kritik an der die gehobene Klasse amou- unglaubwürdigen Handlung herum, rösen Geplänkels im deut- die zwei Frauen zusammenführt, die schen TV-Movie. vom selben Mann (Michael Mendl) ge- liebt werden, eine als Mätresse, die an- Themenabend dere als nichtsahnende Ehefrau. Doch Siegfried Lenz inzwischen sind so viele krude Storys Dienstag, 21.45 Uhr, Arte über den Schirm gelaufen, daß man Seine Jugend verlebte der den Vorzug dieser Produktion (Regie: heute 73jährige Schriftstel- Martin Enlen, Buch: Thommie Bayer) ler in Masuren – sein Ro- viel deutlicher sieht: Erotik. Denn die man „Heimatmuseum“ hat Schönsten im Fernsehland treffen hier dem Leben und der Ge- aufeinander: Iris Berben und Hanne- schichte dieser Landschaft „Tatort“-Darsteller Behrendt lore Elsner. Beide verschlägt es in eine ein Denkmal gesetzt. Die Villa nach Südfrankreich, wo Berben dreiteilige Verfilmung des Romans von Tatort: Licht und Schatten malt, Hannelore gemalt wird und Egon Günther ist ebenso wie „Die Sonntag, 20.15 Uhr, ARD beide so anhaltend mit verführeri- Deutschstunde“, die Peter Beauvais Er hat alles, dieser erfolgreiche Gynä- nach der Lenz-Vorlage drehte, kologe: Villa, Sportwagen und Segel- im August auf Nord III zu sehen. yacht auf Mallorca. Außerdem heißt er Der Arte-Themenabend wird mit auch noch Dr. Muster. Doch das alles einem Porträt von Lenz-Freund nützt ihm nichts. Erschossen treibt er Uwe Herms eingeleitet, der mit eines Tages im Swimmingpool. Der dem pressescheuen und heute in Verdacht der „Tatort“-Kommissare Hamburg an seinem 36. Buch ar- Ballauf (Klaus J. Behrendt) und Schenk beitenden Autor sprach. (Dietmar Bär) richtet sich zunächst gegen Abtreibungsgegner und deren Die Karl Dall Show Vereinsvorsitzenden Landdorf (Walter Freitag, 23.15 Uhr, RTL Kreye). Doch auch die Muster-Ehefrau Premiere für den ostfriesischen Anna (Monika Woytowicz) gerät un- RTL-Heimkehrer, der mit „Dall- ter Verdacht. Der in der Schweiz Ass“ seine Karriere beim Kölner lebende Regisseur Wolfgang Panzer Sender gestartet hatte. Siehe („Broken Silence“) inszenierte diesen Elsner, Mendl, Berben in „Andrea und Marie“ SPIEGEL-Gespräch Seite 186. Krimi für den WDR.

Ausschalten

Happy Birthday Hans Meiser Seite. Die Luxemburger Schauspielerin Dienstag, 20.15 Uhr, ARD Donnerstag, 16.00 Uhr, RTL wirkt zu nüchtern, um schön unwirk- Wiegen Säuglinge neuerdings Zentner? „Mir kann kein Mann widerstehen“. lich zu sein – der Drehbuchunsinn tritt Bekommen jetzt die Hebammen die Ohrensessel packen aus. ungehindert zutage. Wehen? Witta Pohl ist eine bewährte Kraft im deutschen TV-Schauspielerwe- Ilona Christen sen. Wenn sie als Drombusch-Mutter Freitag, 15.00 Uhr, RTL die Augenbraue hob, dann begannen „Ich will nicht länger schwul sein“. beim Publikum die Schweißdrüsen zu Ilona hat mich bekehrt. arbeiten – gleich würde es schwere Schelte geben. Doch wenn der Zu- Kinderklinik schauer Witta als Hebammen-Marie Freitag, 20.15 Uhr, ARD sieht, kommen ihm sofort Gedanken Dr. Paolo Magri (Massimo Dapporto) über die Segnungen des Vorruhestands. ist ein Arzt, wie er in eine deutsch-ita- Frau Pohl wirkte in der ersten Folge lienische Serie gehört: zu schön, um der Serie matt und gestreßt, so als spie- wahr zu sein. Leider agiert jetzt Dé- le sie nur auf amtsärztliches Verlangen. sirée Nosbusch (für Katharina Böhm) Bitte nicht witta so! als Kollegin und Partnerin an seiner Szene aus „Kinderklinik“

der spiegel 26/1999 93 Medien

R. FUCHS / OUTLINE Online-Pionier Case, Mitarbeiter Pittman: Wer so arbeitet, den treibt eine Mission voran

ONLINE „Wir rennen Marathon“ Steve Case machte America Online zum mächtigsten Internet-Dienst der Welt, aber er will mehr: AOL soll zum globalen Medium werden, unentbehrlich wie Telefon und Fernsehen. er Morgen ist schwül, die Termi- Auch an diesem Morgen scheint für den Natürlich hat Case, 40 Jahre alt, die ne drängen, und die Aktienkurse mächtigsten Mann des Internet alles in Notizen nicht gelesen, obwohl er gleich Dsind mal wieder ein Stück abwärts Ordnung zu sein. Er trägt wie immer sein zwei Computerschirme um sich herum gerutscht. Doch Steve Case sitzt hinter blaues Jeanshemd, die Khakis von Gap und stehen hat. Leise sirren die Geräte vor seinem Schreibtisch und blättert seelen- das freundliche Lächeln eines Eisverkäu- sich hin, nur ab und zu schnarrt eine ruhig in seinen Akten. „So etwas passiert fers. Dabei ist draußen im Land die Hölle Stimme: „You’ve got Mail!“ Hier oben, nun mal von Zeit zu Zeit“, sagt der Chef los, zumindest bei all jenen, die ihr Geld in fünf Stockwerke über den grünen Fel- von America Online, dem größten In- die Aktien seiner Firma gesteckt haben. dern von Virginia, ist von dem kreativen ternet-Dienst der Welt, „das ist sogar Ein paar Monate lang sackten die Kurse Chaos der Mausklick-Ökonomie nicht gesund.“ ab, vor zwei Wochen waren die Papiere viel zu spüren. Hier herrscht erhabenes „The Wall“ nennen ihn seine Leute, weil erstmals 45 Prozent weniger wert als zum Schweigen. alle Unbill an ihm abzuprallen scheint. Rekordstand im April. Seitdem ging es Die Tageszocker interessieren ihn nicht, Weil er stets die Ruhe bewahrt, weiterre- zwar langsam wieder aufwärts, dennoch das Geschnatter aus dem Wall-Street-Ca- det mit seiner monotonen Stimme, fast sind die Zocker verbittert: „Ich bin sehr, sino läßt in kühl, obwohl sich die Speku- wie ein Sprachcomputer im Disneyland. sehr krank“, schrieb einer auf das Mes- lanten auf den Finanz-Seiten von America Eigentlich kann er sich überhaupt nicht sage-Board, das Schwarze Brett für Inter- Online (AOL) täglich zu Tausenden aus- aufregen. Selbst seine engsten Mitarbei- net-Spekulanten. Und ein anderer flehte: tauschen. „Wir rennen hier keinen Sprint, ter haben ihn noch nie wütend, schreiend „Bitte, lieber Gott, laß die Kurse bald wie- sondern Marathon“, sagt er, „und der hat oder gar in Tränen aufgelöst gesehen. der steigen.“ gerade erst angefangen.“

94 der spiegel 26/1999 Dabei müßte der Mann eigentlich am lau- testen von allen fluchen. Mit einemmal sind die Bedenkenträger wieder da, die Spötter, die Case ein halbes Leben lang begleitet haben. Neue Konkurrenz in den USA und schleppendes Wachstum in Europa lassen den Glanz der erfolgreichsten Online-Firma der Welt plötzlich matter erscheinen. In Deutschland und England wählen Neulinge lieber den Telekom-Service T-On- line oder Gratis-Provider wie Freeserve, die den Internet-Zugang zum Nulltarif bie- ten. In die Ferne gerückt ist das Ziel der AOL-Leute, auch hier wie in den USA die Nummer eins unter den Internet-Providern zu werden. Das sind jene Dienste, die ihren Kunden den Eintritt ins weltweite Internet ermöglichen und ihnen dort eine Vielzahl von Service- und Unterhaltungsangeboten offerieren, Online-Banking und -Shopping natürlich, die elektronische Reisebuchung ebenso wie Chatrooms und E-Mail. Branchenexperten hatten für die ver- gangenen drei Monate mit bis zu 300000 neuen europäischen Abonnenten für den AOL-Konzern gerechnet. Doch statt dessen werden es kaum mehr als 100000 sein. Das reicht, um in manchen Wall-Street-Häu- AOL-Startseite im Internet: Virtuelle Metropole, zweieinhalbmal so groß wie New York sern das Signal umzustellen: Jetzt lieber Kasse machen. Michael Armstrong, der ehrgeizige Chef alles prophezeit: Seine Firma sei zu klein, In den USA bilden sich gefährliche Al- des amerikanischen Telefongiganten AT&T, unkten sie vor gar nicht langer Zeit, um es lianzen um das AOL-Imperium herum. hat es auf das Online-Geschäft per TV- mit den damaligen Marktführern Compu- Kabel abgesehen, und auch die Bosse der serve und Prodigy aufzunehmen. Sein An- 8. April 1999 Kabel-TV-Firmen wollen mitmischen. gebot sei zu simpel, Online-Fans würden Der Shooting Star 160,5 150 Mit ihren Netzen, an denen zwei Drit- sich einer AOL-Adresse nur schämen. Wachstum von tel der US-Haushalte hängen, wollen sie Und am Ende würde ihn doch noch Bill America Online das Internet revolutionieren, das Daten- Gates platt machen, ihn, Steve Case, das 100 surfen hundertmal schneller machen als „Milchgesicht aus Washington“, wie ihn bisher. Von dem flinken Case halten sie Konkurrenten zuweilen nannten. Schon AKTIENKURS sich fern, lieber tun sie sich mit Armstrong vor ein paar Jahren hatte Gates dem Neu- in Dollar 50 zusammen oder mit Paul Allen, dem mil- ling bei einem Meeting gedroht: „Ich kann 28. Mai 1992 Quelle: liardenschweren Mitbegründer von Micro- 20 Prozent von dir kaufen, ich kann dich 0,17 Datastream 0 soft, der ebenfalls ins Kabel-Online-Ge- ganz kaufen“, und dann hatte er sich in sei- 1992 93 94 95 96 97 98 99 schäft drängt. nem Schaukelstuhl vorgebeugt und die Au- Und da ist Bill Gates, der Software-Zar. genbrauen zusammengezogen: „Oder ich 4,00 Unermüdlich treibt der reichste Mann der kann selbst in das Geschäft einsteigen und Welt seine Abgesandten durch Asien, Eu- dich einfach platt machen.“ UMSATZ ropa und die USA, um sein Windows- Doch niemand hat das Milchgesicht bis weltweit in Milliarden Dollar 2,60 System auf jedem nur denkbaren Multi- heute platt gemacht. Aus einem abseitigen mediagerät unterzubringen: Handys, Ka- Online-Spiel-Service für Teenager schuf 1,69 bel-TV-Boxen, Organizern. Nichts ist ge- Case in 14 Jahren ein gigantisches Kraft- 1,09 fährlicher, als sich mit dem Microsoft- werk für die Mausklick-Ökonomie. Die 0,39 Imperium anzulegen. Und doch wird im- Manager der Traditionskonzerne sahen zu: 0,12 0,04 0,05 mer deutlicher, wie der Titanenkampf des erst mit Spott, dann mit Argwohn und nächsten Jahrzehnts aussehen wird: Gates schließlich mit zunehmender Angst. 1992 93 94 95 96 97 98 99* gegen Case. AOL ist heute eine virtuelle Metropole, *geschätzt Case kennt das Gerede. Natürlich macht zweieinhalbmal so groß wie New York, 17,0 es auch ihn nervös, wenn sich die Konkur- schneller wachsend als Kalkutta. Über 17 14,6 renten regen. Dann wird er noch stiller als Millionen Menschen haben sich hier ein- sonst, kehrt sich noch mehr nach innen. gerichtet, täglich drängen bis zu 20 000 MITGLIEDER Nur die Fragen an seine Manager kommen neue dazu, vor allem aus Amerika. weltweit in Millionen 8,6 einen Ton schärfer: „Eine Fahrt mit ihm Wie in einer echten Stadt gibt es Bi- im Fahrstuhl“, sagt einer von ihnen, „kann bliotheken, Museen, Banken, Einkaufs- 6,2 dann wie eine Fahrt mit einem Maschi- zentren, Reisebüros und bald auch Kinos nengewehr sein.“ und Konzerte, nur daß sich die riesige 3,0 Nur hat Case in den vergangenen 14 Jah- Gemeinde bequem vom Schreibtisch aus 0,2 0,3 0,9 ren schon viele Gegner kommen und ge- erkunden läßt. Eine eigene Polizei sorgt Juni hen sehen. Was hatten ihm die selbst- für Ordnung, eine eigene Verwaltung für 1992 93 94 95 96 97 98 99 ernannten Experten der Online-Welt nicht die Stadtentwicklung. Demokratisch geht

der spiegel 26/1999 95 Medien es allerdings nicht zu: Wer nicht einver- das 30 Billionen Byte – was etwa 15 Milliar- standen ist, geht besser. den Schreibmaschinenseiten entspricht. Schließlich ist diese Metropole keine ge- Natürlich weiß Case, daß seine Online- meinnützige Veranstaltung. Sie muß Ge- Stadt nicht so aufregend ist wie New York winn machen, und zwar reichlich. So will und nicht so elegant wie Paris. Für viele In- es die Wall Street, so wollen es die Inve- ternet-Freaks ist eine Adresse in AOL-City storen, so wollen es die Mitarbeiter, die noch immer schlimmer als ein Haus in den fast alle Aktionäre sind. Suburbs von New Jersey. Deshalb ist die AOL-Verwaltung längst Doch Case hat gelernt, daß es nicht auf keine Ansammlung von ausgeflippten Web- die Nerds, die Computerverrückten, an- designern mehr, sondern eine gigantische kommt, sondern auf seine Nachbarn: An- Marketingmaschine mit derzeit vier Mil- gestellte, Eltern, Großmütter. Für die ist liarden Dollar Umsatz. Deren Ingenieure ein Fußmarsch von 500 Metern schon eine haben vor allem drei Aufgaben: neue Be- Zumutung, sie nehmen lieber das Auto. wohner in die Stadt locken, sie mit Wer- Auch im Internet wollen sie nicht lange betafeln umstellen und dann zum Geld- herumirren. Ein Ausflug durch die Online- ausgeben animieren. Und zwar so, daß sie Welt soll so komfortabel sein, als wander- sich dabei auch noch wohl fühlen. ten sie durch Disneyland. Das klappte bisher schon ganz gut. Die Deshalb sieht es im Online-Reich von AOL-Ingenieure haben eine riesige Online- AOL so aus wie in einer blitzsauberen Vor- Ökonomie in Gang gebracht, die schneller stadt, mit Wegweisern an jeder Ecke, fein wächst als jede andere Volkswirtschaft abgegrenzten Vorgärten und einem Post- diesseits vom PC-Monitor. Rund 18 Millio- boten, der immer pünktlich kommt. Statt nen Dollar geben die Bewohner von AOL- dem Wirrwarr des World Wide Web, wo es City derzeit am Tag in ihrer Schönen Neu- etwa so zugeht wie in der Innenstadt von en Welt aus, bis zu 50 Prozent mehr pro Schanghai, bietet Case seinen Abonnen- Vierteljahr. ten das Erlebnis eines Spaziergangs durch Schon heute ist AOL die größte Ein- Hamburg-Eppendorf. kaufsmeile des Landes, die größte Kino- Vielleicht geht es deshalb im Haupt- Ticketagentur und nebenbei das größte quartier von AOL am Rande der US-

Postamt der Welt: 130 Millionen E-Mails B. BOSTELMANN / ARGUM Hauptstadt Washington eher so zu wie bei schwirren täglich durch das AOL-Netz, Case-Freund Middelhoff einer modernen Versicherung als bei einer samt Fotos, Dateien und Webseiten macht „Ich will nicht sein Bereichsleiter sein“ schrillen Online-Agentur. Unter dem Dach Privatjets umher, und wenn sie irgendwo auftauchen, kann das schon mal aussehen wie eine Abordnung von Hollywood-Bos- sen auf dem Weg zu einem Dreh: dunkle Anzüge, dunkle Sonnenbrillen, dunkle We- sternstiefel. Wer so arbeitet, der geht nicht nur einem Job nach, den treibt eine Mission voran. AOL-Manager zeigen sowenig Zweifel wie eine Gruppe Ordenspriester auf Pilger- fahrt. „Dies ist eine Company voller Su- perstars“, behauptet Jonathan Sacks, ei- ner der Seniormanager der Firma. „Wir sind hier, um die Welt zu verändern.“ Damit sind sie schon ein ganzes Stück vorangekommen. Krakenförmig hat sich das AOL-Imperium bisher ausgebreitet, ge- treu der AOL-Vision, die auf großen Ta- feln in jedem Korridor des Hauptquartiers

M. SIMON / SABA angeschraubt ist: „Ein globales Medium AOL-Mitarbeiter: „Entweder du machst Staub, oder du bist Staub“ bauen, das für die Menschheit so unent- behrlich ist wie Telefon und Fernsehen – eines umgebauten Flugzeughangars, zwi- Anzüge, den Porsche und andere Extra- nur viel wertvoller.“ schen Preßspanwänden und Büropalmen, vaganzen, mit denen sich die neuen Inter- Case und seine Leute schluckten den gibt es Abteilungen und Direktoren, Ein- net-Fürsten so gern schmücken. kränkelnden Online-Service Compuserve, gangskörbe und genormte Abläufe, eben Angeführt wird AOLs Führungsriege der vor acht Jahren fast einmal AOL auf- all das, was Internet-Entrepreneure nor- von Bob Pittman, dem Gründer des Mu- gekauft hätte. Sie erwarben den israeli- malerweise glücklich ignorieren. siksenders MTV und einem der schnellsten schen Chat-Service ICQ, eine der hippsten Auch Case pflegt lieber das Image des Manager des Landes, der seine Leute an- Adressen im Internet, der seitdem auf welt- schüchternen Vorstadt-Boys, den jede Mut- feuert mit Sprüchen wie: „Du hast zwei Al- weit 36 Millionen Mitglieder anschwoll. Sie ter stolz auf ihren Cocktailpartys herum- ternativen im Leben: Entweder du machst übernahmen für 4,2 Milliarden Dollar den zeigen würde. Das Kriegsgeheul überläßt Staub, oder du bist Staub.“ Seine Mitar- Internet-Pionier Netscape, ein noch vor er seinen Managern, wie auch die teuren beiter halten sich an ersteres. Sie jagen in drei Jahren undenkbarer Deal. Und sie Medien kauften sich vergangene Woche für 1,5 Mil- weniger als 20 Mark im Monat anbieten. hieß „Case Enterprises Global Multinatio- liarden Dollar bei der Satelliten-TV-Firma Etwas später soll es AOL auch über das nal Corporation“ und verteilte Werbe- Hughes Electronics ein. Kabel-TV-Netz der Telekom geben. schriften. Bis zum Ende seiner College- Schon scherzt der Bertelsmann-Chef Die Manager wollen auch die Gratis- Zeit hatte Case so viele Firmen aufgezo- Thomas Middelhoff, Freund und Partner Provider attackieren und dafür die Marke gen, wie andere in seinem Alter Sneakers von Case bei AOL-Europa: „Ich möchte Netscape nutzen. Geplant ist von August verschlissen hatten. Nur mit dem Erfolg auch nächstes Jahr noch Vorstandsvorsit- an ein Gratis-Dienst unter dem Namen haperte es. zender sein und nicht Bereichsleiter von „Netscape Online“, bei dem nur Telefon- Case Enterprises verschwand ebenso Steve Case.“ gebühren anfallen würden. AOL erwägt schnell wie spätere Ideen des jungen En- Wenn AOL so weiterwächst wie bisher, allerdings, anders als die Konkurrenten, trepreneurs: ein Papiertuch zum Auftra- werden in zwei Jahren rund 27 Millionen für die Kundenbetreuung keine Service- gen von Haarfestiger etwa, das er für den Menschen die AOL-Metropole bevölkern, gebühren zu erheben. Kosmetikkonzern Procter & Gamble ent- auf der Suche nach einer freundlicheren Schon im nächsten Jahr wollen die Ent- wickelt hatte, oder eine Mini-Pizza für die Welt: nie wieder mit dem schmierigen wickler eine AOL-TV-Box präsentieren. Fast-food-Kette Pizza Hut. Autohändler verhandeln. Weg mit dem Aus dem Fernseher soll ein simpler Steuer- Computer hatten Case dagegen immer unwissenden Anlageberater. Schluß mit computer werden, dessen Bildschirm nach gelangweilt. Kein Fach haßte er im Col- muffligen Verkäufern und unwürdigem Ge- dem Einschalten zunächst aussieht wie die lege mehr als Programmieren, nichts stieß drängel. erste Seite eines Online-Services. Es wird ihn mehr ab als das Technikgeschwafel der Schon hat Case die nächste Offensive in Shopping-Kanäle geben und Bibliotheken Nerds. Lieber beschäftigte er sich mit Gang gesetzt, Codename „AOL überall“. für Film und Musik. Und eine Buddy-List, Politikwissenschaft, las Bücher des Futuri- Case will das Internet in die Jackentasche eine Anzeige, mit deren Hilfe jeder Zu- sten Alvin Toffler oder feierte Partys. bringen, aufs Handy oder den Terminpla- schauer sofort auf dem Bildschirm sehen Fasziniert war er lediglich davon, daß ner, er will das Auto vernetzen, die Klima- kann, welche seiner Freunde auch gerade sich die neuen Maschinen über Gebirge anlage und auch noch die Waschmaschine. vor der Röhre hocken – und vielleicht und Ozeane hinweg per Telefon miteinan- „Erst waren wir ein Medienkonzern“, bereit sind für einen kurzen Online-Chat der austauschen konnten. Im Januar 1983 prahlt Ted Leonsis, einer von Case’ engsten per drahtloser Tastatur. geriet er schließlich an einen verschro- Mitarbeitern, „dann eine Community. Und Dabei hatte es lange so ausgesehen, als benen Unternehmer aus den Vororten von bald werden wir wie Elektrizität sein: un- ob aus Case einer jener Zeitgenossen wird, Washington, der von einer Baracke aus entbehrlich in jedem Haushalt.“ die zwar jede Menge Wirbel veranstalten, Videospiele online verkaufen wollte. Case In Deutschland will AOL unter Führung aber keinerlei Spuren in der Weltgeschich- war begeistert und heuerte an, zum Ent- des Bertelsmann-Abgesandten Andreas te hinterlassen würden. Schon mit elf Jah- setzen seiner Familie. Schmidt vom Herbst an die Dienste AOL ren, als Schüler in Honolulu auf Hawaii, In den folgenden Jahren bewegte er sich und Compuserve zum Kampfpreis von hatte er seine erste Firma gegründet. Sie am Rande des Abgrunds. Case und seine größte Online-Suchservice der Welt und rund 34 Milliarden Dollar wert, „eine net- te Karriere“, wie Leonsis bitter eingesteht. Es sollte einer der letzten Flops sein. Plötzlich war die Online-Revolution los- gebrochen, und der freundliche Boy aus Washington hatte es geschafft, sich in ihrem Zentrum festzusetzen. Seit dem Börsengang 1992 schossen die AOL-Aktien um über 6000 Prozent nach oben. Heute ist AOL 120 Milliarden Dollar wert, fast soviel wie die Medienkonzerne Time Warner und Disney zusammen, die knapp zehnmal soviel Umsatz machen. Case wurde zum Milliardär, seine Manager zu Multimillionären, und selbst ganz nor- male Angestellte sammelten noch ein paar Millionen Dollar in ihrem Portfolio. AOL-Jünger kaufen Landhäuser, Pfer-

M. SIMON / SABA deweiden und Seegrundstücke in Wa- Fitneßcenter in der AOL-Zentrale: Normale Angestellte wurden Multimillionäre shingtons Umland auf und haben aus dem verschlafenen County eine der Boom-Re- Leute vernichteten Millionen an Venture- Im August 1995 entging Case die Chan- gionen des Landes gemacht. Ted Leonsis Capital und konnten doch ihre Geldge- ce des Lebens. Damals trafen sich der AOL- gar erwarb kürzlich zusammen mit zwei ber immer zum Nachschießen bewegen. Chef und sein Manager Ted Leonsis mit Freunden für 200 Millionen Dollar ein Zum einen, weil die Finanziers hofften, zwei jungen Leuten, Jerry Young und komplettes Eishockey-Team und lobt sich so wenigstens etwas von ihrem Geld David Filo. Die beiden hatten gerade eine nun stolz: „Ich bin der erste Angestellte, wiederzusehen. Zum anderen, weil die Firma mit dem Namen Yahoo gegründet, der ein eigenes Sportteam hat.“ Case-Truppe mit immer neuen Online- die Idee klang vielversprechend. Auch das ist für Steve Case kein Pro- Ideen kam, die irgendwie nach Revolu- Die AOL-Leute boten den beiden zwei blem. Wer an dieser Firma mitgebaut tion rochen. Panne reihte sich an Panne, Millionen Dollar für ihre Firma. Die Jung- habe, gibt der AOL-Chef freundlich zu doch Case kam immer wieder auf die unternehmer forderten fünf. Niemand erkennen, der habe seine Millionen ver- Beine. wollte nachgeben. Heute ist Yahoo der dient. Matthias Müller von Blumencron Medien FOTOS: ARD FOTOS: „Tanja“-Star Wackernagel (linkes Bild, r.) mit Nina Vorbrodt, mit Matthias Schloo, Robert Glatzeder (rechtes Bild): Freiheit für junge

noch immer fast 25 Prozent der weiblichen TV-SERIEN Zuschauer im Alter von 14 bis 19 Jahren. „Re-Run-Profil“ nennt man im Medien- kauderwelsch solche über Wiederholun- Sieg einer Sanftmütigen gen erhabene Zuschauertreue. Sie bedeu- tet: „Tanja“ wird als Identifikationsfigur Gegen den Jugendkult der Soaps behauptet sich erfolgreich akzeptiert. Katharina Wackernagel, die „Tanja“- eine altmodische ARD-Vorabendserie: „Tanja“ Darstellerin, ist ein Antityp zu den ranken schildert realistisch die Selbstfindung einer jungen Frau. und intriganten Soap-Girls: eine unverstellt wirkende, verletzliche junge Frau mit wei- u den noch nicht abgewickelten Ge- men, keine Geschichte und keine Begren- chen Formen, keine plappernde Mode- danken von Hegel und Marx gehört zungen durch die Gesellschaft. Die Wer- puppe. Ernst, gelegentlich melancholisch Zdie Spekulation, wenn sich Ge- bung hat solch junges Gemüse, das im ei- blickt sie auf das, was sie in 39 Folgen zu schichte wiederhole, dann nur als Farce. genen Saft kocht, zum Fressen gern – der spielen hat – ein hindernisreiches Stück Das scheint besonders für die Fernseh- selbstverliebte Infant gilt ihr als Krone der Lebensweg. Epoche zu stimmen: Vorbei ist auf dem TV-Schöpfung und Garant des Erfolgs. Ausgedacht und aufgebaut haben sich Bildschirm vorbei, rückwärts geht’s nur um Doch zu den geschlossenen Anstalten den Parcours Menschen, die Tanjas Eltern den Preis der Lächerlichkeit. Für unum- des „forever young“ gibt es eine Alter- sein könnten, allen voran Regisseur und stößlich gehaltene TV-Götter von einst, all native, und die ist, wie sich jetzt über- Produzent Berengar Pfahl, 53. In den sieb- die knorzigen Detektive, patenten Muttis raschenderweise herausstellt, ähnlich er- ziger Jahren hatte Pfahl ganz im Geist von und sehnigen Abenteurer, sind auf ewig folgreich wie manche Soaps: „Tanja“ heißt 68 beachtete Filme über die Ausbruchs- verdämmert. Sie fanden die verdiente letz- eine ARD-Vorabendserie, die zunächst als wünsche junger Menschen gedreht („Brit- te Ruhe auf dem Friedhof des immer Wiederholung und dann mit zwei neuen ta“), anschließend aber sein Schaffen mit schneller und zielgruppengenauer werden- Staffeln bis zum Februar 2000 jeden dem Animateur-Endloswurm „Sterne des den Mediums – Friede ihrer Masche. Montag um 18.55 Uhr läuft. Dieses Spiel Südens“ verdunkelt, bis er mit „Tanja“ zu Quote und gesicherte Reklameeinnah- um ein junges Mädchen zeigt, daß die TV- seinem Thema zurückfand: Wie ist Freiheit men am Vorabend bringt heute – so gilt es Welt vor der „Tagesschau“ mehr sein kann für junge Menschen möglich? bisher unter den Profis als ausgemacht – als das Treiben in einer schicken Junioren- Das eigentlich Spannende an der Jung- ein neues TV-Geschlecht: das der Helden wohnanlage. mädchen-Geschichte ist das Aufeinander- der Soaps. Ob blond oder nicht ganz so „Tanja“ präsentiert Jungsein nicht als prallen von 68er Projektionen der Macher blond, ob sprachlich hoch begabt („echt höchste Form der Vollkommenheit, son- mit der Befindlichkeit der jungen Genera- total Klasse“) oder rednerisch normal ver- dern als Abschnitt des Lebens, als eine tion.Am Spiel von Katharina Wackernagel anlagt („Klasse“), erfüllen sie die wichtig- Passage voller Gefahren, Chancen und ist wie in einem Lackmus-Test ablesbar, ste Voraussetzung: Sie sind jung und ziem- Orientierungsschwierigkeiten. In den Zei- wann die Vorstellungen der Älteren über lich unter sich. ten juveniler Begeisterung unternimmt die Jungen stimmen und wann nicht. „Verbotene Liebe“, „Marienhof“, „Un- diese Serie den altmodischen Versuch, Ein Mädchen aus wohlbehütetem El- ter uns“ oder „Gute Zeiten, schlechte Zei- einen Bildungsroman im elektronischen ternhaus – der Vater Fremdenverkehrsdi- ten“ heißen diese juvenilen Selbstfeiern, in Zeitalter zu erzählen. rektor in Rostock-Warnemünde, die Mut- denen junge Menschen so tun müssen, als Mit Erfolg: Eineinhalb Jahre nach der ter Schiffbauingenieurin, die beiden Ge- seien sie die alleinigen Produzenten des Erstausstrahlung erreicht die derzeit ge- schwister lieb, aber anstrengend – schmeißt Lebensglücks, als gäbe es kein Herkom- sendete Wiederholung der ersten Staffel kurz vor dem Abitur die Schule hin, „um

100 der spiegel 26/1999 zu leben“, wie Tanja den fas- einen Jungen liebt, weiß sie, aber sie mag sungslosen Eltern erklärt. es nur äußerst ungern der Welt erklären. Aber wie soll sie etwas er- Deshalb stößt sich Wackernagel an dem, klären, was sie selbst nicht was ihr Pfahl am Ende seiner Serie zumu- begreift? Pfahl hält sich im tet: Tanja begeht einen erotischen Fehltritt Drehbuch mit Deutungen und läßt – allerdings nur vorübergehend – zurück, vermeidet das Pa- ihren festen Freund Felix im Stich. Der thos der Aussteiger-Filme. Verführer ist ein Öko-Guru, der aus nordi- Die eigensinnige Wackerna- schen Gefilden übers Meer herbeigesegelt gel-Tanja setzt sich nicht kommt und die dunkelhaarige Schönheit gläubig zu den Easy Ridern mit poetischen Reden über Eisbären und auf den Sozius, um in offene Wildgänse betört. Welten zu reiten. Die Ver- Wackernagel hat nichts gegen erotische hältnisse sind nicht so. Abenteuer, wohl aber etwas gegen lyrische Die Befürchtungen der El- Begleitmusik. Als dauernd an sich arbei- tern bestehen zu Recht. In tende Schauspielerin löst sie das Problem dieser Serie gibt es keine auf ihre Weise: Sie entschärft das Pathos des Wunder wie in den Soaps. Dialogs durch lockeres Beiseitesprechen. Tanja jobbt herum. Bald sieht Was schwer romantisch klingen könnte, be- sie die Erfolglosigkeit dieses kommt so einen leicht ironischen Unter- Weges ein, macht das Abitur ton: Eine Generation verteidigt sich auf ihre nach, durchläuft eine Lehre Weise gegen die Zumutungen der Älteren. bei einer Reederei. Doch das Daß „Tanja“ gelingt, liegt an der Haupt- Unternehmen geht pleite, das darstellerin. Ist sie nicht auf der Szene, zer- Mädchen wird arbeitslos. fällt Pfahls Serie schnell in eine übliche Ty- Menschen? Und wenn im nächsten penkomödie mit einer blassen Schar von Jahr die vorerst letzte Folge Gutmenschen. Auch die jungen Darsteller läuft, wird die Serienheldin zumindest öko- erwachen nur im Spiel mit Wackernagel nomisch nicht als Siegerin dastehen: ohne zu interessantem Leben. festen Job, mit einer Menge Schulden und Die beherrschende Stellung der jungen einer vagen Perspektive auf ein Überleben Heldin kommt nicht von ungefähr.Wacker- als Selbständige. nagel stammt aus einer Theaterfamilie. Der Pfahl hat es offenbar in den Drehbuch- Vater ist Regisseur, die Mutter Schauspie- fingern gejuckt, kritische Betrachtungen lerin. Auch der Onkel Christof Wackerna- über den Kapitalismus anzustellen. gel, der verurteilte Terrorist, lebt nach der Während Tanjas Lehre auf der Werft be- Entlassung aus der Haft wieder von der drängen das Mädchen ein geiler Vorge- Mimenkunst. Kein Wunder, daß es Katha- setzter und ein spleeniger Ausbildungslei- rina ebenfalls in den Beruf drängte. ter. Doch, hoch die weibliche Solidarität, 17jährig setzte sie sich im Casting für eine beherzte Kollegin hilft. Protest-Pre- „Tanja“ durch, machte schnell noch das digten gibt es aus dem Mund der Heldin al- Fachabitur, verzichtete aber auf eine lerdings nicht zu hören, sie würden nur Schauspielausbildung. Die Serie wurde zu aufgesetzt wirken. ihrer Lehrzeit: Wie Tanja ins Leben geht, so In einer anderen Lektion des Lebens be- erlernte Wackernagel ihr Handwerk, sanft gegnen sich 1968 und 1998 auf wundersa- und zugleich willensstark bis hin zum Wi- me Art harmonisch. Es geht um Tanjas derstand gegen Drehbücher. Abnabelung von den Eltern: ein Stück in Die Filmemacherin Petra Seeger, die mehreren Akten. Das schnippisch und lau- exzentrische Großkünstler wie Edgar Reitz nisch erscheinende Sich-Entziehen der oder Rudolf Thome bei der Arbeit beob- Tochter am Anfang der Serie begreifen die achtet hat und auch über „Tanja“ einen Eltern allmählich als notwendigen Schritt „Making of“-Film dreht, fasziniert die eines Kindes in die Freiheit. Diese Einsicht Natürlichkeit der Wackernagel, die sich hat Rückwirkungen, denn Tanja erkennt, ernsthafter Arbeit verdankt. daß Eltern keine Feinde sein müssen, son- Solche Kunst braucht einen Raum, der dern Verbündete werden können. nur entstehen kann, wenn sich die Gene- Die antiautoritären Elternverächter von rationen aneinander reiben. In den Soaps einst verzichten ihren Kindern gegenüber werden die jungen Menschen allein gelas- auf erzieherischen Terror. Die Sprößlinge sen. Die Macher stellen sich nicht. Sie der 68er entziehen sich leise, aber be- schreiben ihren Darstellern nach dem stimmt den emotionalen Fesseln. Das geht Munde und schicken die jungen Menschen ganz ohne rhetorische Turnübungen ab – in die Wüsten der Quasselei. Soap-Fabri- die Serie erzählt das unangestrengt. kanten verdienen damit gut. In der Liebe geht das nicht so einfach. Überzeugende Fernseh-Geschichte, Nur mit Bauchschmerzen scheint Pfahl zu noch mal frei nach Marx, muß aber die begreifen, daß die Zeiten der sprachinten- Geschichte von lauten oder stillen Gene- siven Eroberung vorbei sind. Tanja näm- rationskämpfen sein. Nur das bewahrt lich, da deckt sich die Auffassung der Dar- das Medium vor der Wiederholung des stellerin mit der der Figur, reklamiert in der Immergleichen: vor dem Absinken in die Erotik stille Übereinstimmung. Warum sie Farce. Nikolaus von Festenberg

der spiegel 26/1999 101 mit Fußball wird er weiter eine Randexi- stenz führen. Chernin: Da täuschen Sie sich. Wir machen aus dem Sender einen wichtigen Unter- haltungskanal für die ganze Familie. Si- cher werden wir es nicht schaffen, RTL schon im ersten Jahr herauszufordern. Aber mittelfristig wird TM 3 auch den Spitzenreitern Marktanteile abnehmen. Dafür sind wir bereit, in den ersten beiden Jahren Verluste in Kauf zu nehmen. Wir werden viele frische Filme und mehr Kin- derprogramm zeigen. SPIEGEL: Geht es bei dem Milliarden-In- vestment nicht in Wirklichkeit darum, mit TM 3 den deutschen Fernsehmarkt auf- zumischen, um dann im nächsten Schritt den viermal so großen Sender Vox in die Hand zu bekommen? Dort ist Rupert Murdoch bereits seit fünf Jahren mit 49,9 Prozent beteiligt – nur der Junior- partner, der Gütersloher Medienkonzern Bertelsmann, steht einer Mehrheitsüber-

AP nahme im Weg. Medien-Tycoon Murdoch (r.)*: „Ein unglaublicher Unternehmer, der das Risiko liebt“ Chernin: Vox hat ein nettes Wachstum und wird vom Management gut geführt. Wir würden daher gern so viele Anteile wie TV-KONZERNE möglich haben, am liebsten 100 Prozent. Wenn jemand etwas verkaufen will, wer- den wir zugreifen. „Zeigen, wie gut wir sind“ SPIEGEL: Die Übernahme des Senders ha- ben Sie selbst in der Hand. Bei Vox ist zum Jahresende ein bizarres Duell ange- Murdoch-Konzernchef Peter Chernin über sagt. Eine sogenannte Shoot-out-Klausel die Fußball-Champions-League, die Zukunft von Vox in den Verträgen erlaubt Ihnen, die Antei- und Medienriesen im Internet le Ihrer Partner komplett zu übernehmen – wenn die daraufhin kein gleichgewich- SPIEGEL: Mr. Chernin, Sie haben Rupert tiges Gegenangebot machen, dem Sie sich Murdoch einmal einen Populisten genannt, beugen müßten. der ein genaues Gespür für die Stimmung Chernin: Wir würden lieber vorher eine einfacher Leute habe. Warum verhält er friedliche Lösung mit Bertelsmann finden. sich dann so unpopulär und kauft die at- Wenn das nicht glückt, können wir schnell traktiven Rechte der Fußball-Champions- auf die von Ihnen genannte Klausel zu- League für einen winzigen Fernsehsender, rückkommen. Ich will jetzt nicht darüber den kaum jemand einschaltet? spekulieren, was in sechs Monaten passie- Chernin: Das mag für unsere Konkurrenten ren wird, aber eines ist sicher: Uns ist es unpopulär sein, aber nicht für die Zu- einiges wert, Vox zu übernehmen. schauer. Bisher waren manche Spiele nur SPIEGEL: Murdoch geht es offenbar darum, gegen Extragebühr im Pay-TV zu sehen, eine Senderfamilie aufzubauen. In ihr nun machen wir alle Begegnungen im frei könnten Programmrechte doppelt genutzt empfangbaren Free-TV zugänglich. Wir und etwa Spiele der nächsten Champions sind bereit, viel zu investieren, um den League aufgeteilt werden.

Deutschen auf unserem Sender TM 3 Fern- ZANETTINI / LAIF F. Chernin: Im Moment ist es unser einziges sehfußball in Spitzenqualität zu bieten – in Murdoch-Manager Chernin Ziel, die Spiele auf TM 3 zu zeigen. In Zu- einigen Monaten sogar besser als RTL, wo „Bereit, Verluste in Kauf zu nehmen“ kunft kann sich natürlich alles ändern. Ein die Champions League bisher lief. Fernsehverbund mit mehreren Sendern er- SPIEGEL: Davon sind Sie weit entfernt. England die Rechte der ersten Fußball-Liga laubt es, Kosten zu sparen und Programme Zwölf Wochen vor dem geplanten Start auf kauften, oder 1994, als wir in den USA zum effektiv abzuspielen. TM 3 haben Sie die redaktionelle Mann- erstenmal Football zeigten.Alle sagten vor- SPIEGEL: Ein schönes Modell – das nur ei- schaft noch immer nicht zusammen. Pro- her: Die sind wahnsinnig. Und am Ende nen Nachteil hat: Über viele Filme und Se- minente Moderatoren wie Marcel Reif sag- klatschten sie Beifall. Wir haben durch un- rien Ihres konzerneigenen Hollywood-Stu- ten ab. Läuft Ihnen die Zeit davon? sere zahlreichen Sportübertragungen in- dios 20th Century Fox können Sie gar nicht Chernin: Machen Sie sich keine Sorgen.Wir zwischen viel Know-how gewonnen, und verfügen. So sind ältere Werke bis zum haben die Skeptiker schon immer durch das nutzen wir jetzt in Deutschland. Unse- Jahr 2010 an den Münchner Film- und TV- unsere Taten überzeugt: 1992, als wir in re britischen Technikexperten werden bei- Unternehmer Leo Kirch verkauft, einen spielsweise TM 3 bei der Übertragung der Ihrer Hauptkonkurrenten. Champions League helfen. Chernin: Alle unsere neuen schönen Sa- * Mit Richard Grasso, Chef der New York Stock Ex- change, bei der Börseneinführung der Fox-Entertain- SPIEGEL: Noch erreicht der Frauensender chen gehen an Vox – falls wir den Sender ment am 11. November 1998 in New York. gerade mal 0,8 Prozent Marktanteil. Auch übernehmen, noch stärker als bisher. Im

102 der spiegel 26/1999 Werbeseite

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Herbst 2000 zum Beispiel wer- Chernin: Ich glaube nicht, daß den auf Vox wichtige Fox-Pro- wir da Probleme haben. Eta- duktionen gezeigt, vielleicht so- blierte Medienkonzerne kon- gar unser Welterfolg „Titanic“. trollieren Inhalte und wissen, SPIEGEL: Werden Sie die deut- wie man mit Kunden umgeht. schen Murdoch-Sender mit wei- Das sind enorme Vorteile im teren attraktiven Sportrechten Online-Markt. News Corpora- ausstatten, etwa mit der Fuß- tion beispielsweise hat allein ball-Bundesliga? in den USA täglich 200 Millio- Chernin: Ich nehme nicht an, nen und weltweit 700 Millionen daß wir im Moment weitere Kundenbeziehungen; ein Fern- Sportrechte kaufen werden. Im- sehnetwork wie unser Fox TV merhin war ja schon unser er- in den USA ist die größte Mar- ster Schritt bei TM 3 ziemlich ketingmaschine in der Ge- aggressiv.Wir haben auch keine schichte der Menschheit. Au- Pläne für die Bundesliga. Sport ßerdem gehören uns einige der ist nur eine von vielen globalen bekanntesten Marken der Welt: Sprachen der TV-Unterhaltung, die schräge Cartoonfamilie neben Filmen, Nachrichten und „The Simpsons“, „Titanic“ oder

Büchern. AP „Akte X“. Wir haben den viel- SPIEGEL: Wollen Sie sich in deut- TV-Hit Champions League*: „In einigen Monaten besser als RTL“ gepriesenen Internet-Firmen ei- sche Fußballclubs einkaufen, niges voraus – und außerdem so wie es Ihr Konzern schon beim eng- höchstens 25 Prozent an einem Fernseh- müssen sie bei uns Werbung buchen, an lischen Spitzenclub Manchester United network besitzen. der wir gut verdienen. Die einzige Her- versucht hat? Chernin: Das Gesetz muß weg. Wir wollen ausforderung liegt im E-Commerce: Wie Chernin: Wir sind an Clubs interessiert, mit überall Wettbewerb, in den USA, in Eng- verkaufen wir unsere Produkte auf elek- denen wir unsere Programme füllen kön- land, in Deutschland. Der Zuschauer soll tronischem Weg an den Kunden? nen. Deshalb haben wir zum Beispiel die eine möglichst große Auswahl bekommen. SPIEGEL: Immerhin hat Murdoch selbst vor Dodgers gekauft, einen Baseballverein in SPIEGEL: Murdoch – der Engel der Markt- kurzem – wenn auch sehr spät – die Firma Los Angeles. In Deutschland stellt sich die- wirtschaft, auch im deutschen Fernsehen? E-Partners gestartet, die sich an erfolgver- se Frage derzeit nicht. Chernin: Wir werden zeigen müssen, wie sprechenden Internet-Firmen beteiligen soll. SPIEGEL: Sie haben in der Vergangenheit gut wir sind. Nur so können wir die dritte Chernin: Wir waren immer offen für neue mal mit Bertelsmann paktiert, mal mit Kraft in Deutschland werden. In den USA Geschäftsfelder. Wenn sich etwas Interes- Kirch, den beiden Riesen im deutschen Pri- haben wir ein viertes Network gegen drei santes anbietet, steigen wir ein. E-Partners vatfernsehen. Nun versuchen Sie es allein sehr starke Wettbewerber mit viel Geld ist eine flankierende Maßnahme. und hohem Risiko durchgesetzt. In Groß- SPIEGEL: Murdoch wird oft als „Pirat“ be- britannien etablierten wir unser Pay-TV- schrieben – ist die Zusammenarbeit mit Unternehmen BSkyB gegen die BBC. ihm ein ständiges Abenteuer? SPIEGEL: Ihr bisheriges Erfolgsunternehmen Chernin: Es gibt offenbar weltweit ein BSkyB macht allerdings inzwischen Verlu- großes Bedürfnis, Murdoch zu verteufeln ste, weil Murdoch das digitale Fernsehen und zu dämonisieren. Die meisten Leute, mit allen Mitteln puscht und die dafür nö- die für ihn arbeiten, werden Ihnen aber tigen Zusatzgeräte im Wert von fast einer bestätigen: Er ist einer der besten Chefs der Milliarde Mark sogar verschenkt. Welt, ein unglaublicher Unternehmer, der Chernin: Das ist kluges Marketing. Es bringt das Risiko liebt und seine Leute unter- den Siegeszug des Digital-TV und viele, stützt.Als wir bei „Titanic“ – dafür war ich viele Abonnenten. Und damit noch mehr zuständig – innerhalb eines Jahres den Etat Fernsehkanäle. um 90 Millionen Dollar überzogen haben, SPIEGEL: Es geht um einen Wettlauf der dachten die meisten Leute, ich würde mei-

F. HEMPEL / VOX F. Fernsehbranche mit der Computerindu- nen Job verlieren. Nur Rupert kam jede Vox-Show „Promi-Kochduell“* strie, die selbst immer mehr Kanäle über Woche in mein Büro und sagte: Keine „Alle schönen Sachen gehen an Vox“ den PC und das Internet anbietet. Sie ha- Angst, das mußt du hinter dich bringen – ben vor US-Managern erklärt, das sei die Hauptsache, du versuchst alles und machst – aus einer hinteren Position. Ist das Ren- größte Gefahr für ein Unternehmen wie einen guten Film. nen nicht schon längst gelaufen? News Corporation. SPIEGEL: Ist es für Sie nicht sehr schwierig, Chernin: Wir treten ja nicht allein an, wie Chernin: Wir wollen verständlicherweise Murdoch als Chef zu haben und seine Kin- Sie sagen, sondern zusammen mit Tele nicht, daß jemand anderes den Zugang zu der Lachlan, Elizabeth und James als di- München, mit der wir sehr gut und kon- unseren Kunden kontrolliert. Der Online- rekte Untergebene? struktiv zusammenarbeiten. Wissen Sie, Dienst AOL beispielsweise kassiert Firmen Chernin: Nein, überhaupt nicht. Ich habe ein Duopol ist eine wunderbare Sache, ab, die Inhalte anbieten, um Online-Kun- viele Leute, die meine Untergebenen sind. wenn Sie einer der beiden Duopolisten den zu erreichen. Einige von ihnen sind zufällig Murdochs sind. Aber es ist nicht im Interesse der Öf- SPIEGEL: Warum fällt es traditionellen Me- Kinder. Aber Rupert hat mir klargemacht, fentlichkeit, und es schadet der gesamten dienkonzernen wie News Corporation oder daß er keine spezielle Behandlung für sie Medienindustrie: den Journalisten, den Disney so schwer, im boomenden Internet- wünscht. Die Nachkömmlinge werden ver- Künstlern, den Programmlieferanten. Geschäft als starker Player mitzuhalten? antwortlich gemacht wie jeder andere. Mal SPIEGEL: Dabei ist der deutsche TV-Markt abgesehen davon, daß alle drei sehr gut viel offener als etwa der amerikanische, * Oben: Manchester United in Barcelona nach dem sind. Kein Wunder bei den Genen. Finalsieg gegen Bayern München am 26. Mai; unten: auf dem News Corporation die meisten Moderatorin Britta von Lojewski mit Jimmy Hartwig, Interview: Konstantin von Hammerstein, Geschäfte macht. Dort dürfen Ausländer Claus Wilcke und TV-Koch Sante de Santis. Hans-Jürgen Jakobs

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PARTNERVERMITTLUNG Für Frauen zahlen Der Agraringenieur und Touristik- manager Thomas Zeller, 31, über seine Single-Auktionen im Internet

SPIEGEL: Herr Zeller, auf Ihren Internet-Seiten können sich Singles ei- nen Partner ersteigern. Wie funktioniert das? Zeller: Sie stellen sich mit Foto und Beschrei-

INTERNET & BUSINESS bung vor. Wer sich für Zeller jemanden interessiert, gibt ein Gebot ab und liefert ebenfalls Bild und Informationen. Nach einer Woche gewinnt derjenige, für den am meisten geboten wurde, ei- nen Wochenendtrip, bei dem er den Bietenden mitnimmt. SPIEGEL: Wie viele spielen mit? Zeller: Wöchentlich stellen sich 200 bis 350 Menschen zwischen 18 und 50 Jah- SIPA PRESS ren vor. Leute mit Courage. Etwas Mut Herbstkollektion von Miyake gehört dazu, sich so zu präsentieren. Auch technisches Know-how. Man muß MODE ein Foto einscannen können. SPIEGEL: Wo lag bisher das Höchstgebot? Zeller: Klaus aus München hat für Klara Mit Flügeln ins neue Jahrtausend aus Erlangen 3000 Mark geboten. Das Höchstgebot für einen Mann waren 300 chon die Teflon-Pfanne und die Weg- im Herbst vorgestellt. Seide, mit Schlamm Mark. Leider kommen viele nicht über Swerfwindel wollte die Nasa den Frau- behandelt, ergibt eine Art Wachstuch, eine Mark hinaus. en beschert haben. Im kommenden Jahr- Aluminium vermischt mit Kunststoff läßt SPIEGEL: Nanu? tausend sollen nun in der Herstellung sich bestens knittern, und Kaschmir ver- Zeller: Das Netz wird immer noch stär- von Kleiderstoffen tatsächlich Errungen- liert den konservativen College-Touch, ker von Männern genutzt als von Frau- schaften aus der Weltall-Technologie ge- wenn es gewalzt wird. Hauptsache, das nutzt werden. Erste Versuche, Material- Gewand sieht nach Zukunft aus wie et- manipulationen, die von der Nasa für wa die Polyester-Roben des japanischen verschiedene Zwecke getestet wurden, Modemachers Issey Miyake: Mit ihnen auf Abendkleider anzuwenden, werden heben Frauen auch ohne Raumschiff ab. INTERNET & BUSINESS Single-Angebot Lars im Internet SPIELE Chihuahua, gehorcht wie ein Labrador und lernt dank seines Memory Sticks so en. Deshalb haben wir viel mehr männ- Dribbelnder Roboter eifrig wie ein Afghane. Müde wird er liche Besucher. Aber abgesehen davon erst, wenn die Batterie gegen null geht. glaube ich, daß Männer eher bereit einahe jedes Kind verlangt irgend- Das Angenehmste an dem elektroni- sind, für Frauen zu zahlen als umge- Bwann einen Hund, und es kostet schen Gefährten: Er pinkelt auch als kehrt. Sie sind daran gewöhnt, finan- arge Mühe und Zeit, ihm das auszure- Welpe niemals auf zielle Leistungen zu erbringen, um eine den. Die Firma Sony aus dem Tama- den Teppich. Frau zu gewinnen. gotchi-Land Japan hat jetzt eine Pro- SPIEGEL: Moralische Bedenken über- blemlösung gebastelt – jedenfalls für kommen Sie nie? solvente Eltern. 2500 Dollar muß man Zeller: Nein. Wir bemühen uns sehr berappen, um sich den Roboter-Wauwi um Seriosität. Es kann schließlich jeder „Aibo“ ins Haus zu holen. Aibo ist ein ein Angebot zurückweisen, wenn ihm Idealhund: Er dribbelt mit Bällen wie der Bietende nicht gefällt. Auf dem ein echter Jack-Russell-Ter- Blind-Date-Wochenende wird das rier, kläfft wie ein Spitz, Gewinnerpaar von unseren Mitarbei- kennt so viele Gefühls- tern betreut. Und selbstverständlich äußerungen wie ein sind im Hotel zwei Einzelzimmer gebucht. Roboterhund „Aibo“ 107 Gesellschaft

SINGLES „Pioniere der Moderne“ Sie sind flexibel, mobil und gelten als „typisches Phänomen urbaner Zentren“. Das neue Berlin lockt sie in die Hauptstadt – hier ist die gesellschaftliche Akzeptanz der Alleinlebenden besonders ausgeprägt. Eine wachsende Zahl von Dienstleistern buhlt um die einsamen Herzen.

ie blonde Lehrerin aus Kreuzberg hatte Glück. Sie kam zu spät zur DVerabredung auf der Single-Party. Schon von weitem sah Teeny, 44, daß der Mann zu knöchrig war – sie hat’s lieber et- was kräftiger. Schnell riß sie sich den Auf- kleber vom Kragen, bevor er sie daran er- kennen konnte, und steuerte umgehend auf die Wandtafel mit den Kontaktanzeigen zu, um ein attraktiveres Exemplar der Gat- tung auszukundschaften. Georg, 32, hat präzise Vorstellungen von seiner Traumfrau. Mütterlich soll sie sein, aber gleichzeitig cool und sarkastisch, gebildet, witzig, ein positiver Mensch und natürlich schön. „Aber wo ist sie?“ Der Politologe kam vor drei Jahren aus Hamburg nach Berlin – und blieb weit- gehend allein. Der Kieferchirurg Joachim Leineweber, 50, gilt vor allem bei seinen Patientinnen als einfühlsamer Doktor. Privat aber ver- zichtet der Medicus aus dem gutbürgerli- chen Zehlendorf doch lieber aufs zarte Ge- schlecht – wenigstens so weit etwas auf Dauer angelegt ist. Seine Hobbys – Mara- thonlauf mal in Boston, mal in New York und Kunstflug über märkischen Kiefern – weisen ihn als ehrgeizigen Einzelgänger aus. In seinem Heim fehlt das Prestige- mobiliar („Ich bin konsummäßig unter- ausgestattet“) wie die richtige Lebens- partnerin. Er räumt zwar „gelegentliche Durchhänger“ ein, doch „auf der Suche“, sagt Leineweber, „bin ich nicht“. Teeny, Georg und Joachim zählen zu ei- ner besonderen Kaste in der Hauptstadt: Alle drei sind hochqualifiziert, selbstbe- wußt, beziehungserprobt – und allein. Sie sind Singles in Berlin und bewohnen drei der 830 000 Ein-Personen-Haushalte, die Berlin zum Zentrum dieser wachsenden Gesellschaftsgruppe machen. Wie viele Singles tatsächlich die Stadt des Alten Fritz bevölkern, zu dessen Zei- ten „jeder nach seiner Fasson selig wer- den“ sollte, läßt sich allenfalls hochrech- nen. Die offizielle Statistik liefert nur Annäherungswerte, den Single definiert sie nicht. Immerhin ist von den rund 1,2 Millionen Berlinerinnen und Berlinern in der Altersgruppe von 25 bis unter 45 Jahren, dem bevorzugten Heiratsalter, gut jeder zweite ledig oder schon wieder ge- schieden. 108 Daß die Hauptstadt in gesellschaftlichen scheidung: Für den Beruf und gegen die Prozessen als soziales Laboratorium der Familie (siehe Seite 115). Republik gilt, fördert den Trend zum Solo- Sie sind, wie Hans Bertram, Professor Leben. Schon zu Zeiten des alten West- für Mikrosoziologie an der Berliner Hum- Berlins lockte nicht zuletzt eine anarchi- boldt-Universität, glaubt, „ein typisches sche Sehnsucht nach Freiheit und indi- Phänomen urbaner Zentren“. Dort haben viduellen Lebensstilen Studenten, Wehr- sie sich dank höherer Flexibilität, wie die flüchtige, Exzentriker und andernorts Soziologen Ulrich Beck und Elisabeth Gestrandete in den Kreuzberger und Char- Beck-Gernsheim postulieren, längst als lottenburger Kiez. Jetzt kommen aus Ost „Pioniere der Moderne“ etabliert. und West die erfolgsorientierten Aufsteiger Und weil Berlin eine Stadt im Umbruch

ebenso hinzu wie jene unorthodoxen ist, scheint der Single-Zuwachs garantiert. GRABKA T. Abenteurer, die glauben, ein Neuanfang 400000 Einwohner, so die Prognose, wird „Fisch-sucht-Fahrrad-Party“-Gast Teeny sei am besten parallel zum die Hauptstadt bis zum Jahr 2010 ans Um- Beginn der Berliner Repu- land verlieren – vor allem Familien ziehen blik zu wagen. ins Grüne. Der flexible, mobile Mensch, Wie sehr die Melange gefragt in der künftigen Dienstleistungs- aus Urbanität und Chuzpe metropole, zieht dagegen in die Stadt. das Leben der Dreimillio- Um die Besserverdienenden geht es zu- nenstadt bestimmt, bele- meist, wenn das von Franz-Josef Wagner, gen auch schrille Sommer- nach eigenem Bekunden „verheirateter spektakel wie der Chri- Single“, redigierte Boulevardblatt „BZ“ in stopher Street Day oder einer Dauerserie Berlins begehrteste Jung- die Love-Parade, die in die- gesellen vorstellt. Mit Introspektionen

sem Jahr wieder ein Mil- aus ihren Dachgeschoßwohnungen und / OSTKREUZ G. SCHÖNHARTING FOTOS: lionenpublikum locken. Penthäusern („keine Haare im Wasch- Tanzschule Der Street Day ist eine Art becken“; bloß kein „Hausmütterchen“) Szenekarneval im Mekka hoffen die Bonvivants, so einer von ihnen, der Homosexuellen. Mehr „immer noch auf Seelenverwandtschaft im als 250 000 Schwule und Körper einer attraktiven Frau“ – die selbst- Lesben leben in Berlin. Die redend, so ein anderer, auch „auf keinen Love-Parade, die Techno- Fall klammern“ darf. Kultveranstaltung schlecht- Da ist viel Koketterie im Spiel, denn am hin, ist längst auch zu liebsten bleiben die Solisten aus Überzeu- einem Single-Woodstock gung unter sich. Wer aus München, Ham- rund um die Siegessäule burg oder Frankfurt in den Kreis der dy- geworden. namischen Kreativen aufgenommen wird, Der Markt ist so groß, registriert nach der ersten Einladung stau- daß das Geschäft mit Spe- nend, daß „die Gäste der Fete alle Singles „Ballhaus Berlin“ zialdienstleistungen für waren“. Singles boomt. Rund drei Das Gros der sozialen Einzeller aber Dutzend Partner- und Frei- verschwindet in der Anonymität der Groß- zeitvermittlungs-Agenturen stadt-Wohnquartiere – nur unzureichend sind berlinweit auf Single- getröstet vom Rat der Verbraucherzentra- Fang, vier lokale TV-Sta- le, doch „einen 7-Gedeck-Spülautomaten tionen wie auch drei pri- statt des Zwölfers“ anzuschaffen. vate Hörfunksender reiten Anzeigen in den Stadtmagazinen signa- auf der Kuppelwelle. lisieren, mitunter tragisch-komisch, die Volkshochschulen lehren Sehnsucht nach dem Miteinander. Hun- das Single-Leben, Salsa- derte von Hauptstädtern und Wochentags- theken, Salons und rund berlinern suchen da unter dem Stichwort 90 Tanzschulen ködern „Aktivitäten“ Menschen für gemeinsame Singles mit Partnerschaf- Kino- oder Museumsbesuche, zum Essen, „Holly’s Waschtheke“ ten im Wiegeschritt. Philosophieren oder Tanzen; Exilhessen Ein Teil der Solo-Ge- fahnden nach erfahrenen Äppelwoi-Trin- meinde tritt bevorzugt ins kern, Chöre nach Sängern, Sänger nach öffentliche Bewußtsein: Chören. Ein echter Naturfreund offeriert wohlhabende Yuppies, er- 20- bis 55jährigen, sich in seinem üppigen, folgreich im Beruf und im- 13000 Quadratmeter großen Obstgarten zu mer auf Piste und Pirsch, verlustieren. Andere wollen gemeinsam nichts und niemandem Goethe lesen. verpflichtet außer dem Auch der Himmel über Berlin ist ein ein- eigenen Lebensstil. Bei ziger Kontakthof. Ob Radio oder TV – in vielen von ihnen ist die Le- keiner anderen Stadt mühen sich so viele bensform auch eine ge- Moderatoren, die Einsamkeit ihrer Hörer

REUTERS zielte, kopfgesteuerte Ent- mittels des Äthers niederzuringen. Wenn bei Energy 103,4 das wöchentliche „Blind Salsatheke Spektakel Love-Parade Date“ vergeben wird – die Auserwählten Berliner Single-Treffs Sehnsucht nach Freiheit treffen sich zu einem kostenlosen Candle- „Wunsch nach Autonomie und Intimität“

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Werbeseite Gesellschaft light-Dinner –, sind schon drei Sekunden nach der Auf- forderung alle 20 Telefonlei- tungen belegt. Zu Tisch bit- ten dann Frauen wie Dagmar aus Hellersdorf, die bei den technischen Daten „Konfek- tionsgröße 42 oder 44, je nachdem wie’s ausfällt“, an- gibt und die der Single-Streß „innerlich immer distanzier-

ter werden“ ließ. SPIEGEL TV FOTOS: Die gängige Erkenntnis, Schwimmeisterin Andrea Latza daß die Partnersuche via Ka- bel oder Äther meist in Flops endet, behindert keineswegs den Run auf solche Sendun- gen. Elektriker Mario, der nach dem Schalten Hunder- ter Kontaktanzeigen keiner Frau „so nahe gekommen ist, daß man sich riechen könn- te“, greift nach wie vor un- beirrt zum Hörer und be- grüßt fatalistisch schon zum Auftakt alle Frauen im Berli- Handwerker Herbert Lange ner Beziehungsuniversum. Singles auf Partnersuche in TV-Show Wenn die Partnershow Charme eines Gebrauchtwagenhandels „Auf Draht“ über den Bild- schirm flimmert, so behauptet jedenfalls Single hat. Der sei keineswegs mehr „ein der Privatsender TVB, versuchen jedesmal defizitärer Mensch, sondern einer, der – rund 10000 Liebesdurstige, den Modera- auch infolge des Reichtums unserer Ge- tor zu erreichen, der dann mit etwa einem sellschaft – seinen Status jederzeit wieder Dutzend Kandidaten gnädig plaudert. ändern kann, es aber nicht muß“. Oft haben diese Auftritte den Charme Die Singles selbst („keine verbitterten der Ankauf/Verkauf-Spalten für den Alm-Öhis oder sitzengebliebene Jung- Gebrauchtwagenhandel. Geboten wird fern“) empfänden ihre Lebensform durch- „Treue“ ebenso wie „perfekte Haushalts- weg als positiv und gestalteten sie aus- führung“. Der Gesuchte soll stets „offen“ nahmslos „ebenso variabel“, wie es die und „ehrlich“ sein, vor allem aber „was Umgebung verlange. Dennoch bleibe ein hermachen“. Kinder aus einer vorherigen zentraler, schwer auflösbarer Konflikt: der Beziehung werden zuweilen wie die häß- gleichzeitige „Wunsch nach Autonomie liche Delle im Kotflügel eines in die Jahre und Intimität“. gekommenen Sportcoupés behandelt: „Ihr Die Kreuzberger Lehrerin Teeny ent- bekommt mich nicht allein, sondern zu spricht perfekt der Zielgruppe der boo- zweit.“ menden Dienstleister am einsamen Her- Banker Ron Perduss, 23, erklärt sich das zen: Sie ist aufgeschlossen, fröhlich, kon- große Interesse für die Partnershows mit takt-, ausgehfreudig und bereit, dem der Größe der Stadt: „Es ist schon sehr Schicksal auch mal nachzuhelfen. Berlin schwer, hier den Richtigen zu finden.“ Er hält sie für den idealen Single-Standort: selbst fand erst in der Sendung „Auf „Hier kann ich auch als Frau nachts gut al- Draht“ einen Partner und moderiert nun lein weggehen, hier werde ich auch nicht ehrenamtlich die „Herzschlag“-Show im doof angeguckt, wenn ich mal was ab- Offenen Kanal. „Weil es in dieser Stadt so schleppe.“ viele Angebote gibt“, glaubt er, „verliert Singles wie Teeny tragen auch wesent- sich alles, und man kann sich gar nicht ent- lich zu Berlins hoher Kneipendichte bei: scheiden, wohin man gehen soll.“ Unter rund 2000 „Schankwirtschaften“, Die Angebote gegen Depressionen und wie die Statistik sie nennt, können Einhei- Vereinzelungskater reichen von der be- mische und Auswärtige wählen – dazu kannten „Fisch-sucht-Fahrrad-Party“, auf kommen mehrere tausend Restaurants, Im- der man wie Teeny den Flirt mit Hilfe nu- bisse, Eisdielen, Bars, Diskotheken. Und – merierter Anzeigen sucht, über organisier- für Singles ein wichtiger Flirt-Ort, an dem te Schlemmerabende mit Unbekannten bis man sich besser als in der Disco unterhal- hin zum Waschsalon mit integriertem Café, ten kann: fast 400 Cafés. Wer da nicht er- wo sich die Nachbarschaft an der Wäsche- folgreich ist, darf es schon mal mit Single- trommel ganz zwanglos näherkommt. Partys versuchen. Alle 14 Tage zieht es Die Klientel solcher Kuren entspricht mehr als 1000 vor allem 25- bis 45jährige wieder eher jenem Bild, das die Berliner zum „Fisch-sucht-Fahrrad“-Event in zwei Psychologin Eva Jaeggi vom modernen verrauchte Riesenzelte auf dem sonst

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Werbeseite verwaisten Berliner Schloßplatz. Da läßt sich das Objekt der Begierde gleich vor Ort besichtigen. Dieser praktische Umstand, bekennt die braungelockte Erika, erleichtere die Ange- legenheit ungemein, vor allem dann, wenn man wie sie ganz konkrete Vorstellungen habe. Sie möchte „etwas zum Anfassen“. Ihr Traumtyp: 100 Kilo bei 1,85 Meter. „Ich will nicht nur geistig, sondern auch körper- lich zu einem Mann aufschauen können.“ Wer es etwas intimer mag, kann sich an Agenturen wie „Dinner for Fun“ oder „Eat-and-see“ wenden. Die bringen Singles gegen Gebühr zu einem kleinen Gelage zusammen oder besorgen einem sozial iso- lierten Hobbykoch vier bis neun dankba- re Mit-Esser, die sich nicht nur an den Ko- sten beteiligen und die gleiche Musik mö- gen, sondern auch noch dem Alter und den Interessen des Gastgebers entsprechen. „Singles sind für mich Menschen ohne Tanzpartner.“ Mit dieser beruhigenden De- finition leitet Tanzlehrer Helge Vorthaler im goldsilbrigglänzenden Hemd gewöhn- lich die Schnupperabende in der Tanz- schule ein, die „ein gesellschaftsfähiges Näherkommen“ ermöglichen soll. Neben den vielen Tanzschulen werben in Berlin unzählige Workshops mit Kursen von Merengue bis Tango, von Salsa bis Bauchtanz um Kundschaft. Selbst regenverhangene Sonntage, jene nach allgemeiner Überlieferung allertrau- rigsten Stunden für Menschen, denen der Flirt vom Samstag abend schon vor dem Rama-Frühstück abhanden gekommen ist, müssen in Berlin nicht triste Waschtage im Weichspülerambiente bleiben. Als perfek- te Lösung bietet sich eines der fünf Wasch- salon-Cafés an wie etwa „Holly’s Wasch- theke“ beim Kollwitzplatz. Die blaue Stun- de zwischen Vorwäsche und Schleudergang läßt sich gut dazu nutzen, unterm Son- nenschirm bei Lachsfrühstück und Milch- kaffee anderen Vorstandsvorsitzenden selbstbestimmter Ein-Personen-Haushalte näherzukommen. Doch auch den bekennenden Single, je- denfalls den gereiften ostdeutschen Ein- zelgänger, hat der Wende-Kater erfaßt. Andreas, 41, macht das an Veränderungen in der legendären DDR-Institution „Ball- haus Berlin“ deutlich: „Vor der Wende war das Flirten hier viel einfacher. Jetzt ist al- les so steif, die Männer kommen nur noch in Anzug und Krawatte, und alle wissen genau, was sie wollen.“ Angela hatte erst in einem Single-Club und nach Zahlung einer Jahresgebühr von rund 1000 Mark Erfolg („ein absoluter Glücksfall“) bei der Partnersuche. Die Zahnarzthelferin glaubt, zu DDR-Zeiten sei es einfacher gewesen, jemanden ken- nenzulernen: „Die Menschen waren ir- gendwie offener.“ Damals stand sie noch, die Mauer. Mag ja sein, daß die Freiheit im- mer auch ein Stück Einsamkeit mit sich bringt. Wolfgang Bayer, Polly Schmincke

der spiegel 26/1999 Gesellschaft „Es geht ums Orgiastische“ Vier Berliner Jungkreative sprechen über ihr Leben jenseits der Kleinfamilie, über den Rausch der Karriere und das Bedürfnis nach „emotionaler Abfederung“.

SPIEGEL: Frau Bohne, Herr Heilmann, Herr selhafter Lebensstil Produkti- Lybke, Herr Buddensiek, Sie alle leben in vität und Erfolg im Beruf? Berlin, wohnen allein und sind weder ver- Buddensiek: Das ist doch vor al- heiratet noch dauerhaft mit einem Partner lem eine Frage des Typs. Ich verbunden – sind dies die zwingenden Vor- brauche beispielsweise ein ab- aussetzungen für Ihren Erfolg im Job? gefedertes Privatleben, um Heilmann: Als ich kurz nach der Wende mit mich beruflich auszutoben. einer Werbeagentur in Dresden anfing, lief Emotional aufgefangen zu wer- das so: Aufstehen, ins Büro, arbeiten bis den ist für mich eine Grund- weit nach Mitternacht und ab ins Bett – voraussetzung dafür, daß ich auch am Wochenende. Es gab kein Telefon, im Job genügend Power habe. und die Ostmark galt noch. Eine Freundin SPIEGEL: Und wer fängt Sie auf? in diesen Pioniertagen wäre da organisa- Buddensiek: Mein fester Freun- torisch wohl auch ein Desaster geworden. deskreis, der sozusagen die Fa- SPIEGEL: Also doch: Das Single-Dasein als milie ersetzt. Ich bin nicht je- Bedingung des beruflichen Erfolgs? mand, der sich abends noch Dirk Buddensiek, 34,

Heilmann: Keine Bedingung.Aber der Start vollenergetisch ins Berliner K. THIELKER FOTOS: aufgewachsen im westfälischen Stadt- ist als Single leichter. Nachtleben stürzt. hagen, arbeitet in der boomenden Lybke: Der Punkt ist aber: Das Bedürfnis Bohne: Gute Freunde sind was anderes als Internet-Branche Berlins als Geschäfts- nach Familie existiert. Und das erfüllen eine feste Beziehung. Einem Freund kannst führer der Aperto Multimedia GmbH. dann eben deine Freunde. Das ist deine du sagen: Sorry, heute abend habe ich kei- Familie. Bei mir als Galerist sind es die ne Lust, ich hab’ einen anderen Termin. Künstler.Allein funktioniert es nicht. Und: Freunde verzeihen einem das viel eher als Später muß man eine Organisation schaf- Dabei geht es immer um das Thema deines der Partner in einer Beziehung, mit dem es fen, die einem Freiraum läßt – auch fürs Lebens, deiner Arbeit, das im Mittelpunkt emotional einfach wesentlich tiefer, an- Private. In unserer Agentur mit etwa 150 steht. Dahin fließt die Energie. spruchsvoller und komplizierter zugeht. Mitarbeitern leben inzwischen etwa drei SPIEGEL: Heißt das Thema vielleicht Heilmann: Ich habe da eine Phasentheorie: Viertel der Leute in festen Beziehungen. „Workaholic“? In geschäftlichen Gründerzeiten, wenn es SPIEGEL: Und in welcher Phase befinden Lybke: Vollkommener Unsinn.Wenn, dann noch kaum feste Strukturen gibt, ist Sie sich, Frau Bohne? geht es ums Orgiastische, um Erfüllung. tatsächlich wenig Raum für Beziehungen. Bohne: Irgendwo dazwischen. Weil ich das SPIEGEL: Also Freiheit und Management von Kulturprojekten betrei- Abenteuer? be, muß ich immer wieder neue Strukturen Lybke: Selbstverwirklichung, aufbauen, oft von Null auf hundert. Das ist na klar. natürlich sehr zeitraubend.Aber ich will es Heilmann: Beruf kann wie auch, und so steht die Arbeit an erster Stel- Hochleistungssport sein. Da le. Dafür brauche ich Klarheit, Konzentra- ist Einsatz gefragt.Wenn man tion, Prioritäten. an die Spitze kommen will, SPIEGEL: Jürgen Schrempp, Chef von muß man seine Grenzen te- DaimlerChrysler, frisch getrennt, hat ge- sten.Aber das geht nicht end- sagt: Die berufliche Herausforderung, die- los und bedingungslos. sen neuen Weltkonzern zu führen, sei ihm Buddensiek: Ich finde es wichtiger als alles andere auf der Welt. Ist falsch, daß der negativ be- das nicht eine gespenstische Aussage? Ist setzte Begriff „Workaholic“ Selbstverwirklichung im Job wichtiger als benutzt wird, wenn von der Liebe, Leben, Leidenschaft? Verschmelzung zwischen Be- Heilmann: Dieser Satz ist mutig, weil er ruf und Privatleben die Rede nicht der in Deutschland verlangten Politi- ist. cal-correctness entspricht. Da muß man SPIEGEL: Inwiefern aber stei- zur beruflichen Qualifikation auch noch gert Ihr unabhängiger, wech- ein intaktes bürgerliches Familienleben nachweisen. Erfolg ist berauschend, das muß man einfach mal zugeben. Viele sa- Martina Bohne, 30, gen’s nur nicht laut. lebt seit der Wende 1990 in Berlin- SPIEGEL: Kann der Rausch des Erfolgs die Mitte. Hier betreibt die Norddeutsche Wärme einer Partnerschaft ersetzen? die Agentur art services/Kunst- und Lybke: Das ist zu kurz gegriffen. Hast du Kulturmanagement. nur das eine oder das andere, bist du nur ein halber Hund. Erfolg heißt Erfolg auf al- 115 len Ebenen, also auch Erfolg in der Part- tur aus einen freiheitliche- nerschaft. ren Anspruch ans Leben, Heilmann: Meinen Job kann ich spielerisch während für die meisten angehen. Man plant, man baut auf, man Frauen eher die soziale Kom- ändert, und am Schluß funktioniert es – ponente wichtiger ist. Wenn wie eine Eisenbahn. Eine Beziehung kann Karrieremänner zu Hause man nicht planen, weil Gefühle nicht steu- also emotional abgefedert erbar sind. Glücklicherweise. werden wollen, muß es Frau- Lybke: Anders gesagt: Am Ende der Ziel- en geben, die dabei auch mit- geraden des doppelten Erfolgs lauert dop- spielen. Die existieren offen- pelte Arbeit: in Job und Beziehung. Das sichtlich in größerer Zahl. heißt, man muß Meister aller Klassen sein. Wenn aber ich mich als Frau Heilmann: Das hat so was von Wettbewerb abends zu Hause mal anleh- und stolzer Beweisführung: mein Haus, nen möchte, einschließlich mein Boot, mein Schaukelpferd. Essenszubereitung und Fuß- Lybke: Ein Mißverständnis. Ich sage nur: massage, dann sieht das An- Man kann eine Partnerschaft haben und gebot an Freiwilligen schon dennoch kreativ bleiben – auch wenn das sehr viel magerer aus. mitunter etwas mühsam ist. Heilmann: Ich kenn’ welche. SPIEGEL: Sie leben als Single, der dabei ist, Vater zu werden. Ist das nun Partnership- light? Oder sind Sie ein Heavy-single? Thomas Heilmann, 35, Lybke: Nett gesagt.Aber ernsthaft: Ich wür- gründete die Berliner Dependance de mich selbst nicht als Single bezeichnen. von Scholz & Friends. Der in Dort- Vielleicht entspricht mein Lebensstil dem mund geborene Werbemanager leitet Bild vom Single-Dasein, aber die Bezie- die Agentur als Ko-Geschäftsführer. hung zu meiner Freundin ist wie der Beruf etwas, was mein Leben ausmacht. Bohne: In den letzten drei Jahren habe ich Bohne: Ja, auch in der Beziehung geht es Buddensiek: Ich auch. so viel gearbeitet, daß ich gar keine Zeit mir um die Fokussierung auf das Wesent- SPIEGEL: Wie lebt man denn nun als Er- und auch nicht den Kopf dafür hatte, noch liche. Ich hasse Alltäglichkeit, und bei der folgsmensch, wenn man längere Zeit ganz großartig nach einer Beziehung Ausschau Vorstellung, jeden Abend denselben Part- ohne die emotionale Rückenlehne einer zu halten. Da entwickelt man in seinem ner zu sehen, graut mir vor der Langewei- festen Partnerschaft zubringen muß? le. Ich lege mehr Wert auf Qua- Heilmann: Natürlich leidet man und schaut lität statt Quantität: Es ist bes- betroffen zurück auf die letzte gescheiter- ser, sich nur zweimal in der te Beziehung. Aber ich will mich nicht be- Woche zu sehen, dafür aber in- schweren. tensiv. Buddensiek: Es stimmt leider, daß man von SPIEGEL: Dann müßten sich ja den emotionalen Hochs und Tiefs seiner all die gleichgesinnten, Job- Sekretärinnen, die man zehn Stunden täg- orientierten Singles ständig lich um sich hat, wesentlich mehr erfährt jauchzend in die Arme fallen. als über die aktuellen Stimmungsschwan- Gibt es nicht doch jene Zer- kungen einer möglichen Lebenspartnerin – rissenheit zwischen zwei Po- man muß sich also auch Gedanken darüber len: hier Freiheit und Aben- machen, was man eigentlich zu bieten hat. teuer, dort das Bedürfnis nach SPIEGEL: Wie soll man unter solchen Um- Sicherheit, Geborgenheit und ständen überhaupt eine dauerhafte Lie- Verständnis. besbeziehung führen? Buddensiek: Ich glaube, ein Buddensiek: Wenn ich das wüßte. Gerd Harry Lybke, 38, Austarieren der Ansprüche, Heilmann: Gerade hier in Berlin, wo über- mit seiner schwangeren Freundin. eine gewisse Ausgeglichenheit durchschnittlich viele Leute unabhängig Der in Leipzig geborene Galerist war mit ist wichtig. Das Rauschhafte leben, werden natürlich auch schneller Ent- „Eigen+Art“ 1992 Pionier der Kunst- kann dabei ruhig ein bißchen zurück- scheidungen gegen die Fortführung von szene in der Berliner Auguststraße. treten. Beziehungen getroffen. SPIEGEL: Und klappt das? SPIEGEL: Es wird also auch im Privatleben Buddensiek: Nein. Es ist eben schwer, die härter kalkuliert als anderswo? beruflichen Engagement auch Ansprüche – verschiedenen Geschwindigkeiten von Ar- Bohne: Seien wir doch mal ehrlich: Der Be- an sich selbst, an die Arbeit –, die schließ- beitswelt und Lebenswelt, Job und Bezie- ruf ist immer aufregend, spannend und neu, lich in der privaten Sphäre ebenso prägend hung in der Balance zu halten. und so soll es bleiben. In der Partnerschaft werden. Damit haben sehr viele Männer Heilmann: Aber es stimmt eben auch: Wer aber nehmen Schwung und Power nach ei- ihre Schwierigkeiten. Oft habe ich mir sa- nicht partnerschaftsfähig ist, ist typischer- ner gewissen Zeit ab. Wo bleiben da die gen lassen müssen, daß ich zu fordernd sei, weise auch im Beruf nicht dauerhaft erfolg- Kreativität und der Elan? So behauptet die weil ich mir, klar, nicht alles bieten lasse reich.Wer nur im Job versinkt, dem fehlen Arbeit, gerade in ihrem euphorischen und auswähle. Weil ich weiß, was ich will Facetten der sozialen Intelligenz, und das Aspekt, immer wieder den ersten Platz. und was nicht. Mir fällt es mittlerweile ist gerade in den kreativen Dienstlei- SPIEGEL: Zahlen Sie für soviel Job-Eupho- schwer, Kompromisse einzugehen. Viele stungsbranchen ein Erfolgshindernis. rie nicht doch auch einen Preis? Männer laufen dann schon wieder weg. Bohne: Ein bißchen kommt es auch hier Bohne: Absolut nicht. Bisher war es immer SPIEGEL: Spielt da auch Ungeduld eine Rol- darauf an, zwischen Männern und Frauen nur Gewinn. le, Tempo und Effektivität im Business? zu unterscheiden. Männer haben von Na- Interview: Susanne Koelbl, Reinhard Mohr

116 der spiegel 26/1999 Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite IX. DAS JAHRHUNDERT DES KAPITALISMUS: 1. Der große Aufschwung (24/1999); 2. Die Globalisierung (25/1999); 3. Die moderne Fabrik (26/1999); 4. Aufstieg und Krise des Sozialstaats (27/1999); 5. Modell Japan (28/1999) FOTOS: BPK (li. o.); TOBIS / HPS (li. u.); M. WOLF / PLUS 49 / VISUM (re. o.); SÜDD. VERLAG (re. u.) (re. SÜDD. VERLAG o.); / HPS (li. u.); M. WOLF PLUS 49 VISUM (re. TOBIS BPK (li. o.); FOTOS: Fabrik-Architektur in Berlin (1910); Massenproduktion bei Hyundai; Industriekritiker Charlie Chaplin (in „Moderne Zeiten“); Opel-Montage (1936)

Das Jahrhundert des Kapitalismus Die moderne Fabrik Der Siegeszug der Massenproduktion prägt das Selbstverständnis der Industrienationen bis heute. Doch an der Schwelle zum 21. Jahrhundert verändern sie ihr Gesicht: Eine neue Arbeitswelt gewinnt Kontur – flexibel, vernetzt und vom Wissensarbeiter beherrscht.

der spiegel 26/1999 119 Das Jahrhundert des Kapitalismus: Die moderne Fabrik

Schöne neue Arbeitswelt Von Markus Dettmer

rederick Winslow Taylor, geboren der Pariser Weltausstellung einen Dampf- nem Mensch-Maschine-System, in dem 1856 in Germantown (Pennsylvania), hammer, der dreimal soviel Drehstahl pro- „Arbeiter und Maschine ihren höchsten Fwidmete sein ganzes Leben dem We- duzierte wie herkömmliche Modelle. Nutzeneffekt erreicht haben“. sen der Effizienz in den Betrieben. Als er Doch berühmt sollten die Ergebnisse sei- Als Taylor 1911 seine Theorie in der am Morgen nach seinem 59. Geburtstag ner Suche nach den Gesetzen der indu- 156seitigen Schrift „Die Grundsätze wis- starb, mit einer Uhr in der Hand, sollte die striellen Produktion werden. Sein ganzes senschaftlicher Betriebsführung“ zusam- Welt nicht mehr sein, wie sie war. Arbeitsleben, ob in den Stahlwerken von menfaßte, gab er dem noch jungen Jahr- Bummelei war dem Sohn einer wohlha- Midvale Steel oder Betlehem Steel, ver- hundert sein Motto: „Bisher stand die ‚Per- benden Quäkerfamilie aus Philadelphia brachte er im Kampf gegen „die tagtägli- sönlichkeit‘ an erster Stelle, in Zukunft schon in frühen Jahren eine Qual. An der che Vergeudung menschlicher Arbeitskraft wird die Organisation und das System an elitären Phillips Exeter Academy überar- durch ungeschickte, unangebrachte oder erste Stelle treten.“ beitete sich der Klassenbeste in einem unwirksame Maßnahmen“. Die Zerlegung der Arbeit in immer klei- Maße, daß die Augen den Dienst versagten. Taylor sezierte die Arbeit wie ein Pa- nere Schritte bestimmte und normierte In der Welt aus Stahl und Rauch, die das thologe, zerlegte sie in Bewegungsabläufe, fortan den Takt der Arbeitswelt. Taylors kommende Jahrhundert formen sollte, in immer kleinere Einheiten, maß sie in Theorie, so die Encyclopædia Britannica, stieg er schnell auf: zum Mechaniker und Zeit und Raum, fügte sie neu zusammen, habe „nahezu jedes Land beeinflußt, das in Ingenieur, zum Unternehmer und gefrag- trennte sie in richtige und falsche Arbeits- den Genuß der Vorteile moderner Indu- ten Managementberater. methoden, und gab ihnen schließlich seine strie“ gelangte. Peter Drucker, der Guru In den Betrieben, in denen er arbeitete, Richtung: höhere Produktion, niedrigere der Managementlehre, ist davon über- standardisierte er Werkzeuge und Maschi- Kosten, höherer Profit, höherer Lohn. zeugt, daß nicht Karl Marx, sondern Fre- nen. Mehr als 40 Patente nannte er sein ei- In seiner Vorstellung verschmolzen die derick Taylor mit Charles Darwin und Sig-

Spiegel des 20. Jahrhunderts gen. Nach Tausenden von Versuchen mit menschlichen und maschinellen Teile zu mund Freud das Triumvirat bildet, welches Metallegierungen präsentierte er 1900 auf einem unscheidbaren Organismus: zu ei- die moderne Welt in ihrem Wesen formte. C. FREMKE / HISTORIA-PHOTO Stahlproduktion bei Krupp in Essen (1862): „Tagtägliche Vergeudung menschlicher Arbeitskraft“

120 der spiegel 26/1999 rung des Menschen durch seinen un- menschlichen Feind Maschine. Kaum ein anderer Ismus, und an denen mangelte es diesem Jahrhundert nicht, grub sich so nachhaltig in das kollektive Unterbewußtsein der Industrienationen ein: bekämpft und verteidigt, totgesagt und wiederbelebt. In der deutschen Automo- bilindustrie wird die „Rückkehr zum Tay- lorismus?“, wie ein neuer Buchtitel heißt, wieder öffentlich diskutiert. Der Taylorismus schuf ein Bild der Ar- beit, das bis heute prägend ist: der männ- liche Ecklöhner, arbeitend in einer festge- fügten Welt, der Mittelklassemensch mit geregeltem Urlaubsanspruch und garan- tiertem Weihnachtsgeld, bei steigendem Einkommen und sinkender Arbeitszeit als Archetyp der Industriegesellschaft.

S. ELLERINGMANN / BILDERBERG Mag sein, daß dieses Ideal schon früher Autokonstruktion mit Cybertechnik*: Alle Grenzen gesprengt eher Verheißung als Zukunft war, in der Gegenwart ist es für immer mehr Men- Taylor war nicht der einzige, aber er war schmolzen zu einem Begriff – „Wirt- schen Vergangenheit. Denn an der Schwel- der erste Prophet dieses Jahrhunderts, der schaftsnation“. Das System überlebte tie- le zum neuen Jahrtausend befinden sich das Prinzip formulierte, das die wirt- fe Depressionen und Weltkriege, deren die Industrienationen mitten in einem tief- schaftlichen und sozialen Geschicke eines Verheerungen erst durch die Techniken der greifenden Wandel, verändert die Arbeits- Großteils der Menschen in den folgenden Massenproduktion möglich wurden, und gesellschaft ihr Gesicht, das erst schemen- 90 Jahren bestimmen sollte. wuchs mit neuer Kraft. haft in Konturen sichtbar wird: In der Nicht eine einzelne der großen Ent- Traditionelle Gesellschaftsschichten wie Dienstleistungs- und Informationsgesell- deckungen des 19. Jahrhunderts, ob Auto- die Bauern verloren an Boden, neue stie- schaft verlieren lebenslange Jobs an Be- mobil oder Elektromotor, Telefon oder gen auf. Die Führungskaste der Mana- deutung, die Arbeitswelt wird flexibler, Flugzeug, wurde zum Treibsatz der Öko- ger entstand und trat an die Stelle der vernetzter – aber auch vager. nomie. Erst eingefügt und genutzt in tech- Firmenpatriarchen. Zu Beginn des Jahr- Doch die Suche nach den neuen Struk- nologischen Systemen, die die Grenzen hunderts stand einem versprengten Häuf- turen, in denen wir künftig leben und ar- von Unternehmen sprengen konnten, ent- lein Angestellter mit weißen Kragen ein beiten, bedeutet nicht zwangsläufig das fachten sie ihre Dynamik. Heer von Arbeitern im Blaumann ge- Ende der alten Ideen: Wo immer Manager Was war die Erfindung der Glühbirne genüber. mehr Güter zu geringeren Preisen produ- wert, ohne die Erfindung des viel komple- Von den USA aus trat die zweite indu- zieren lassen und Unternehmen versu- xeren Systems der Elektrizitätsversor- strielle Revolution ihren Siegeszug an, de- chen, höhere Stückzahlen auszustoßen, um gung? Erst diese Kunst, den Strom in jedem ren Symbol das Fließband wurde. Indu- den globalen Markt bedienen zu können; Winkel eines Landes zu jeder Tages- und strialisierung hieß fortan Massenproduk- wo immer Arbeitnehmer sich durch einen Nachtzeit verfügbar zu machen, brachte tion. Und Massenproduktion wurde zum immer schnelleren Takt wie in einer Kno- die Lampen zum Glühen. Und sie bestand Synonym der Moderne. Ihr lag nicht nur chenmühle fühlen – dort leben sie fort. nicht nur aus den sichtbaren Generatoren das Versprechen inne, es sei möglich, die Über Jahrhunderte hatte sich der Wan- und Isolatoren, sondern auch aus einem Welt neu zu schaffen; eine Welt der Arte- del für die Menschen wie ein zäher, ruhi- unsichtbaren Netzwerk, das bis zu Fabri- fakte. Mit ihr war der Anspruch verbun- ger Fluß vollzogen. Bis ins 18. Jahrhundert ken, Banken und staatlichen Aufsichts- den, diese Welt ordnen und beherrschen zu lebten rund 80 Prozent der Europäer auf behörden reichte. können, zu wissen, wo Ursprung und Ziel dem Land und arbeiteten in der Land- Das durchdachte, systematische Zusam- der Industriegesellschaften liegen. wirtschaft. Die Natur bestimmte den menspiel aller Faktoren förderte neue Er- Taylors Ideen bildeten nur einen Stein Rhythmus ihrer Arbeit.Was der Mensch an findungen, verfeinerte Techniken, stan- dieses Gebäudes, Henry Fords Fließband Gütern zum Leben benötigte, wurde in dardisierte Methoden, gebar neue Ideen war ein anderer. Nach diesem Muster stieg Handwerksarbeit hergestellt – von Töp- und Organisationsformen. In wenigen Jahr- der Londoner Laufbursche Samuel Insull fern, Schmieden, Webern. zehnten erzeugte ein Furor der Produkti- in Amerika zum Strom-Magnaten auf und Knapp hundert Jahre der industriellen vität ein Mehr von allem, wie es über Jahr- machte Elektrizität zum erschwinglichen Revolution reichten, die mittelalterliche hunderte nicht denkbar gewesen war: an Massenprodukt. Arbeitswelt auszulöschen. Die Arbeit ver- Gütern, an Einkommen, an Wohlstand. Doch die Folgen, die mit der Massen- lagerte sich in die Hallen der Fabriken, Die Produktion als System war gefun- produktion über den arbeitenden Teil der Stechuhren und Maschinen bestimmten den und zwang künftig den Gesellschaften Menschheit kamen, wurden vor allem mit fortan den Tagesablauf der Menschen. der Industriestaaten ihre Ordnung auf. dem „Taylorismus“ verbunden: der immer Während des 19. Jahrhunderts prallten „Wirtschaftsmacht“ und „Großmacht“ ver- schnellere Takt in den Fabriken, die läh- zwei technologische Konzepte aufeinan- mende Monotonie und zwanghafte Kon- der, und in dieser Auseinandersetzung * Computersimulation im Fraunhofer-Institut Darmstadt. trolle an den Bändern – die Mechanisie- spiegelt sich schon die Suche nach neuen „Ich will, daß meine Arbeiter gut bezahlt werden, damit sie meine Autos kaufen.“ Henry Ford (1863 bis 1947)

der spiegel 26/1999 121 Das Jahrhundert des Kapitalismus: Die moderne Fabrik

Wegen an der Schwelle zum 21. Jahrhun- eines Supermarkts, geschützt durch einen dert: Auf der einen Seite stand die indu- gläsernen Schaukasten, steht hier ein lie- strielle Handwerksproduktion. Ihren Vi- bevoll restauriertes Ford-T-Modell, Bau- sionären schwebte eine Welt der Klein- jahr 1912. In ihm verwirklichte Henry Ford produzenten vor, in der diese mit neuen seine Vision, ein Auto zu bauen, so billig, Maschinen und Verfahren ihr Können ver- daß es sich der sprichwörtliche Herr Je- feinern sowie, spezialisiert auf Arbeitsge- dermann leisten konnte. Und er machte biete, in gegenseitiger Abhängigkeit pro- damit Highland Park zu dem Ort, an dem, duzieren. Und je flexibler die Maschinen wie Bob Casey, Historiker am Henry Ford würden, um so produktiver könnten die Museum, glaubt, „das 20. Jahrhundert ge- Handwerker ihre Fähigkeiten umsetzen. boren wurde“. Auf der anderen Seite gab es die Über- In dem Vorort eröffnete Ford 1913 seine zeugung, daß die älteren handwerklichen erste Fließbandfabrik und damit die Scha- Fähigkeiten an die Grenzen ihrer Mög- blone für alle, die folgten. Ein Vorbild, be- lichkeiten gestoßen waren. Die klassischen reits von letzter Konsequenz, das die Gren- Ökonomen von Adam Smith bis Karl zen der starren Massenproduktion aufzei- Marx glaubten an die Zwangsläufigkeit der gen sollte, bevor ihr Siegeszug überhaupt Arbeitsteilung und damit ständig wach- richtig begonnen hatte. sender Produktion: Gelänge es, menschli- Der Farmersohn aus Dearborn (Michi- ches Können durch Maschinen zu erset- gan), der in bescheidenen Verhältnissen zen und die Handarbeit in einfache Schrit- aufgewachsen war und nach acht Jahren te zu zerlegen, ließen sich die Kosten für die Zwergschule seines Heimatorts verlas- jede Ware senken. sen hatte, war von der gerade aufkom- Bereits 1776 eröffnete der Moralphilo- menden Idee des Autos besessen. soph Smith sein Buch „Der Wohlstand der Als Ford 1903 seine Ford Motor Com- Nationen“ mit den Worten: „Die Arbeits- pany in Detroit gründete, war der Auto- teilung dürfte die produktiven Kräfte der mobilbau ein blühendes Handwerk. In Arbeit mehr als alles andere fördern und Handarbeit wurden Spielzeuge für Reiche verbessern.“ Keine hundert Jahre später produziert. Denn die Handwerksproduk- philosophierte Karl Marx im „Kapital“ tion warf immer das gleiche Problem auf: über die entstehende neue Maschinenwelt: Die Herstellungskosten waren hoch, und „In Manufaktur und Handwerk bedient sie sanken nicht bei steigender Stückzahl.

Spiegel des 20. Jahrhunderts sich der Mensch des Werkzeugs, in der Fa- Fords Lösung dokumentiert noch heute brik dient er der Maschine.“ den Grundgedanken der Massenproduk- Ruhr-Industrie in den sechziger Jahren*: Tatsächlich hatte die moderne Massen- tion in seltener Klarheit: Nicht das Pro- produktion ihre Vorläufer: Für das ameri- dukt galt es zu verbessern, sondern den iert. Dank Standardisierung, Spezialma- kanische Militär produzierte Samuel Colt Produktionsprozeß seiner Herstellung, um schinen und einheitlicher Meßverfahren schon Mitte des 19. Jahrhunderts Waffen in die Kosten zu senken. im Unternehmen waren die Einzelteile großer Zahl, Singer-Nähmaschinen und Im Oktober 1908 kündigte der Unter- paßgenau und austauschbar. Statt wert- Manchester-Cord wurden in Mengen pro- nehmer seine 20. Autokonstruktion inner- volle Zeit mit dem Heranschaffen des Ma- duziert. halb von fünf Jahren an, das neue Ford- terials zu vergeuden, wurde dieses Mate- Wer die Geburtsstätte der Fabrik der Modell T: „Ich werde einen Wagen für die rial an die Arbeitsstationen geliefert. Moderne sucht, gelangt fast zwangsläufig breiten Massen bauen.“ 19 Jahre lang liefen Von nun an ging es darum, den Men- an die Ecke Manchester Street und Wood- in Amerika nur noch „Tin Lizzies“ von den schen zu normieren. Fords Ingenieure zer- ward Avenue in Highland Park, einem Vor- Ford-Bändern, über 15 Millionen Stück. legten den Arbeitsprozeß in immer klei- ort von Detroit. Kaum etwas erinnert heu- Ford revolutionierte die industrielle Pro- nere Teile. Als 1913 das Werk in Highland te noch daran, daß an dieser Straßenecke duktion – und das Fließband war nur der Park seine Arbeit aufnahm, standen schon der Durchbruch der industriellen Massen- Schlußpunkt. So wurde das neue Auto spe- die ein, zwei Meter Weg von Montagestand produktion gelang. In der Eingangshalle ziell für die Mengenproduktion konstru- zu Montagestand zur Disposition. Bis 1908 betrug der Arbeits- zyklus eines Ford-Arbeiters 514 Verwandelte Arbeitswelt Erwerbstätige nach Wirtschaftsbereichen Minuten, bis er sich wiederhol- Land- und Forstwirtschaft, Fischerei Produzierendes Gewerbe Handel und Verkehr Dienstleistungen te: Der Monteur schleppte die notwendigen Teile herbei, be- schaffte sich sein Werkzeug, um es gegebenenfalls zu korrigie- 2,9% ren und schließlich das Auto 14,4% 18,4% zusammenzubauen. 24,6% Als das Montageband in 10,6% 37,5% 39,9% 34,3% Highland Park, zwei Streifen 14,4% aus Metallplatten von zwei Ki- lometer Länge, 1915 in vollem Betrieb war, hatte der Mensch 37,5% 42,6% 22,9% seinen Platz am Massenpro- Quelle: Statistisches duktionsband gefunden: zwei Bundesamt Muttern auf zwei Schrauben, 22,1 Millionen Erwerbstätige 20,4 Millionen Erwerbstätige 33,9 Millionen Erwerbstätige * Am Ortsrand von Langendreer bei Deutsches Reich 1895 Westdeutschland 1950 Deutschland 1997 Bochum.

122 der spiegel 26/1999 verlangt Massenkaufkraft, Massenkauf- kraft schafft Massennachfrage, Massen- nachfrage schafft Massenproduktion. Und die Produktivitätssprünge waren bis dahin unvorstellbar: 308 162 Autos ver- ließen 1914 die Fabrik, der Höhepunkt wurde 1923 mit 2 Millionen Stück erreicht. Statt 728 Minuten brauchten seine Arbeiter nur noch 93 Minuten, um ein Auto aus 10000 Einzelteilen zusammenzubauen. Mit der wachsenden Produktivität sank der Preis von ursprünglich 850 Dollar auf 260 Dollar Mitte der zwanziger Jahre. Highland Park wurde zu eng. 1927 eröff- nete Ford den River-Rouge-Komplex in der Nähe von Detroit – die damals größte In- dustrieanlage der Welt mit über 100000 Arbeitern. Es war ein vertikal integrierter Konzern, der alles umfaßte: Kokerei, Ze- mentfabrik, Gießerei. Eine Ford-Kau- tschukplantage in Brasilien und Erzminen in Minnesota versorgten die Fabrik mit Rohstoffen, die von eigenen Schiffen trans- portiert wurden. Doch Fords Konzept hatte seine Gren- zen erreicht und stürzte in Krisen, die un- zählige Nachfolger in den kommenden Jahrzehnten ebenfalls durchleben sollten: der Massenhersteller Siemens, dessen Te- lefonapparate irgendwann alt gegen die neuen, pfiffigen Produkte der Konkurren- ten aussahen; die Vision vom integrierten

SÜDD. VERLAG Technologiekonzern Daimler-Benz, der Lähmende Monotonie, zwanghafte Kontrolle, immer schnellerer Takt keine Synergien schaffen konnte und dem die Managementkonzepte fehlten. kein Blick nach links, kein Blick nach berührten sie nur noch selten, die Pro- Die Fixierung auf ein Produkt rächte rechts. Nun betrug der durchschnittli- duktionshallen betraten sie kaum. sich. 1927 schloß Ford für sechs Monate che Arbeitsschritt eines Monteurs 79 Se- Endgültig und unwiderruflich trieb die seine Fabrik, entwickelte ein neues Mo- kunden. Maschine die Produktion an, nicht mehr dell und baute für 200 Millionen Dollar Das Fließband beschleunigte aber nicht der Mensch. Und der nahm Reißaus vor die Produktionsstraßen um, die bis dahin nur den Takt der Arbeit, es veränderte die der schönen neuen Arbeitswelt, die fortan nur eines konnten: Tin Lizzies produzie- Gesellschaften der Wirtschaftsnationen. für Jahrzehnte bestimmend wurde. In den ren. Vor dem Krisenjahr 1927 war einer Nun wurde die Arbeit immer stärker in Fabriken gaben nur noch die Maschinen von Fords gängigen Witzen: „Wir liefern Kopf- und Handarbeit geteilt, und die den Ton an, die Arbeiter repetierten ihre das Modell T in allen Farben, wenn sie nur Facharbeiter wurden ersetzt durch ein Handgriffe. Kommunikation zwischen den schwarz sind.“ Doch die wollte keiner Heer angelernter Hilfskräfte. Wenige Mi- Menschen wurde überflüssig: In Highland mehr, der Autokönig hatte schlicht die Ent- nuten reichten bei der exzessiven Arbeits- Park waren 1915 über 50 Sprachen vertre- wicklung verschlafen. teilung Fordscher Prägung, um den neuen ten, die wenigsten Arbeiter beherrschten Die Konkurrenz, allen voran General Mann einzuweisen. Der Mensch am Band Englisch. Motors (GM), hatte ganze Produktpaletten wurde austauschbar wie die Teile des Au- Schon 1913 mußte das Unternehmen 963 vom billigen bis zum teuren Auto ent- tos, das er baute. Menschen einstellen, wenn es 100 neue wickelt, für jede Käuferschicht das pas- Und ein neuer Typ des Werktätigen be- Kräfte benötigte. Die permanenten Kün- sende Modell, und präsentierte jährlich trat die Bühne, zuerst nur in kleiner Zahl, digungen bedrohten den Produktionsfluß, Nachfolgemodelle mit kleinen Variationen. der am Ende unseres Jahrhunderts als ein der Einfluß der Gewerkschaften stieg, und Allzweck-Werkzeugmaschinen verbillig- Zukunftstypus gilt – der Wissensarbeiter. das Lohngefälle zwischen leitenden Ange- ten die Umstellung auf neue Modelle. Der Industrieingenieure hielten die Bänder am stellten und Arbeitern wurde zu groß. Mit Massenhunger ließ sich nicht mehr mit ei- Laufen, Fertigungsingenieure entwarfen einem spektakulären Befreiungsschlag lö- nem einzigen Modell stillen. neue Produktionsmaschinen, Produktin- ste Ford die Probleme. Er verdoppelte den Zudem hatte GM-Chef Alfred Sloan ein genieure konstruierten neue Fahrzeuge Tageslohn seiner Arbeiter auf fünf Dollar. Problem der Massenproduktion gelöst, an oder Bauteile. Sie ersetzten die alten Vor- Nicht nur der Automobilbauer glaubte dem der Autokrat Ford scheiterte: das Ma- arbeiter der Handwerksära. Ihr neuer das Perpetuum mobile der Ökonomie ge- nagement eines Riesenkonzerns. Sloan Werkstoff – der heute wichtiger denn je ist funden zu haben: Massenproduktion ver- zerlegte das Unternehmen in einzelne Pro- – hieß Idee und Information. Ein Auto langt Massennachfrage, Massennachfrage fit Center, die eine kleine Zentrale über- „Die Arbeitsteilung dürfte die produktiven Kräfte der Arbeit mehr als alles andere fördern und verbessern.“ Der US-Ökonom Adam Smith, 1776

der spiegel 26/1999 123 Das Jahrhundert des Kapitalismus: Die moderne Fabrik

und River Rouge verant- wortlich war. 380 ameri- kanische Techniker und Vorarbeiter der Interna- tional Harvester Company überwachten das Projekt. Riesige Stahl- und Raffi- neriekomplexe entstanden mit amerikanischer Hilfe. Der Transfer von hoch- technologischen Produk- tionssystemen in ein Agrar- land scheiterte allerdings schon an den elementar- sten Dingen.Weil die Bau- ern, die nun Industriear- beiter waren, keine Uhren besaßen, kamen sie zu spät zur Arbeit und brach- ten den minuziös geplan- ten Produktionsfluß aus dem Takt. In den Wirtschaftsnatio- nen Europas grassierte da- mals eine Technikeupho-

SÜDD. VERLAG rie. Vor allem linke In- Fließbandarbeit in den USA (1928): Die Entwicklung verschlafen tellektuelle sahen in der Massenproduktion das Mit- wachte. GM wurde der größte Automobil- schen Leistungswillen ist der Kern des tel, den Lebensstandard der Bevölkerung konzern der Welt. Leninismus.“ zu heben. Nun stiegen Großkonzerne wie General Der Sowjetführer holte 1927 den erfolg- Das neue Bild der Moderne erfaßte alle Motors oder U. S. Steel zu nationalen reichen amerikanischen Kraftwerkbauer Lebensbereiche. Europäische Künstler wie

Spiegel des 20. Jahrhunderts Champions auf. Das Gesetz der Econo- Hugh L. Cooper als Chefberater beim Bau die italienischen Futuristen versuchten, die mies of scale, nach dem mit wachsender des Dnjepr-Kraftwerks ins Land und zahl- Formen und Werte der modernen Techno- Größe der Konzerne und Massenfertigung te ihm das höchste Gehalt, das je ein Werk- logie auf Leinwand zu bannen. Architek- der Produkte die Kosten sanken, ent- tätiger dort verdiente. Er und seine Mitar- ten um Walter Gropius entwarfen den „in- wickelte seine Kraft. beiter lebten in einer Ausländersiedlung ternationalen Stil“. Der Bauhaus-Gründer Massenproduktion und Massenkonsum mit eigenem Schwimmbad und Golfplatz. glaubte, daß Fabriken und andere Indu- wurden zum Inbegriff des modernen Ka- Für eine riesige Traktorenfabrik in Sta- striebauten den Geist der pitalismus. Das „Amerikanische System“, lingrad entwarf Albert Kahn die Pläne, der Zeit ausdrücken sollten, diese Mischung aus Produktionsverfahren, schon für Fords Fabriken in Highland Park 29,62 wie es die Kathedralen im Unternehmensorganisation und Marketing, 29,10 Mittelalter taten. Gropius, diente als Blaupause, wo immer Industrien 27,55 ein Technikenthusiast, sah große Warenmengen ausspucken sollten. die Zeit reif für das in Die Ausstrahlung dieses Systems war 25 Beflügelte Arbeitskraft Massenproduktion herge- ungeheuer, Taylor und Ford hießen die Iko- Arbeitsproduktivität in den 23,98 stellte Haus. nen. „Taylorismus“ und „Fordismus“ gli- führenden Industriestaaten Selbst in der modernen chen Beschwörungsformeln des Wohl- Bruttoinlandsprodukt je geleisteter Einbauküche lebt dieser stands, die ideologische Barrieren mühelos Arbeitsstunde in Dollar Geist heute weiter. Die überwanden. 20 20,02 Wiener Architektin Mar- 1916 zog den Kommunisten Lenin eine garete Schütte-Lihotzky deutsche Übersetzung von Taylors Buch entwarf 1926 den Proto- in den Bann. 1927 tauschte der Faschist Be- Frankreich typ, die sogenannte Frank- nito Mussolini am Ende einer italienischen 15 furter Küche, nachdem sie Konferenz zur wissenschaftlichen Be- USA Taylors Buch gelesen hat- triebsführung mit der Witwe Taylors sein Deutschland te. Sie untersuchte die Ar- eigenes Foto gegen das Bild ihres verstor- beitsabläufe in der Küche benen Mannes. Der Republikaner Herbert Großbritannien genau, um dann die Mö- Hoover wurde 1929 der 31. Präsident der 10 bel so arbeitssparend wie Japan USA – ein Bergbauingenieur, der einen möglich anzuordnen. Report über Verschwendung in der Indu- In die reale Welt der eu- strie geschrieben hatte. ropäischen Ökonomie je- Die Industrialisierung durch Massen- 5 doch wollte das neue Sy- produktion blieb kein kapitalistisches Phä- stem zunächst nicht pas- nomen. Die neuen Techniken sollten die sen. Die Anforderungen Sowjetunion aus der Rückständigkeit Quelle: OECD der Massenproduktion befreien. 1924 erklärte Stalin: „Die Kom- 1,58 stießen sich an der hand- bination aus dem russischen revolu- werklichen Tradition der tionären Schwung und dem amerikani- 1870 1900 1950 2000 Arbeiter und Manager in

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Werbeseite Das Jahrhundert des Kapitalismus: Die moderne Fabrik TOYOTA Toyota-Werk in Kyushu, Ex-Firmenchef Toyoda: Mit neuen Ideen die Arbeitswelt auf den Kopf gestellt

den Fabriken. Trotz mehrerer Konzentra- feld“ heißt, ersetzte man im Firmennamen werklicher Arbeit mit der Schnelligkeit tions- und Rationalisierungswellen hielten aus Marketinggründen das „d“ durch ein und den niedrigen Stückkosten der Mas- in fast allen Industriezweigen europäische „t“ – aus Toyoda wurde Toyota. Doch rech- senproduktion. Unternehmen an handwerklichen Pro- ter Erfolg wollte sich in der Autosparte da- „Schlank“ ist die Methode, weil sie von duktionsweisen fest. Zudem fehlte ein in- durch nicht einstellen, im Gegenteil: 1949 allem weniger braucht: weniger an tegrierter europäischer Binnenmarkt zum sanken die Verkaufszahlen in einem Maß, menschlicher Arbeit, an Investitionen in Absatz riesiger Gütermengen, vergleich- daß viele Mitarbeiter entlassen werden Maschinen, an Entwicklungszeit, an La- bar dem amerikanischen Absatzmarkt. mußten. gerkapazität. Zugleich werden mehr Pro- Erst nach dem Zweiten Weltkrieg setz- Ganze 2685 Autos hatte das Unterneh- dukte in größerer Vielfalt und besserer te sich die Massenproduktion in der eu- men in 13 Jahren hergestellt, und nun Qualität produziert. ropäischen Industrielandschaft durch, oft- konnte Eiji Toyoda mit eigenen Augen se- Im japanischen Autowerk stand plötz- mals angepaßt an die nationalen Bedin- hen, wie bei Ford 7000 Fahrzeuge am Tag lich die Arbeitswelt auf dem Kopf: Statt

Spiegel des 20. Jahrhunderts gungen. Anders als in Amerika wurde in das Band verließen. Drei Monate lang den immer gleichen Handgriff auszu- Deutschland in den Betrieben niemals prägte er sich jedes Detail des Produk- führen, arbeiteten nun breiter geschulte wirklich mit der Tradition des Facharbei- tionsprozesses ein, um vor allem die Arbeiter in kleinen Gruppen selbständig ters gebrochen. Meist blieb es dem Heer Schwächen zu analysieren. an größeren Arbeitsschritten. Die Produk- der Gastarbeiter überlassen, sich der Mo- Die Massenproduzenten beschäftigten te wurden im ständigen Zusammenspiel notonie der neuen Massenproduktion zu wenige hoch qualifizierte Spezialisten, die zwischen Ingenieuren und Arbeitern ver- unterwerfen. Produkte entwickelten, die von vielen an- bessert. Die Arbeiter konnten jederzeit das Dennoch wurde auch in Europa die gelernten Arbeitern an teuren Spezial- Band anhalten, wenn ein Problem auf- Massenproduktion Grundlage des Wirt- maschinen hergestellt wurden. Es war tauchte. schaftswunders und des Massenwohlstands ein Geschäft, das sich lohnte – aber nur, Auch wollte Toyoda nicht mehr alles sel- in den fünfziger und sechziger Jahren. wenn ein Produkt möglichst lange und ber machen: Statt die einzelnen Kompo- Doch während der Sieg der klassischen in größten Mengen produziert wurde. nenten eines Wagens selbst zu entwerfen Massenproduktion unaufhaltsam und end- Denn jede Umstellung auf neue Güter ko- und herzustellen, übertrug er wichtige gültig schien, wurde in Asien bereits ihr stete sehr viel Geld. Da die teuren Ma- Konstruktionsaufgaben den Zulieferern. Ende eingeläutet. schinen keine Störungen vertrugen und Diese entwickeln nun in eigener Verant- Eiji Toyoda war ausersehen, die Ge- immer laufen mußten, wurden über- wortung die erforderlichen Baugruppen schicke des Unternehmens zu wenden. Im all Puffer und Reserven eingebaut – an und liefern sie „just in time“ ans Werk – Frühjahr 1950 hatte die Familie den jun- Vorräten, an Abstellflächen, an Arbeits- genau zu dem Zeitpunkt, wenn sie in der gen japanischen Ingenieur nach Amerika kräften. Produktion gebraucht werden. geschickt, um in der Ford-Fabrik River Zurück in Nagoya, setzte sich Toyoda Ebenso wie zu den Zeiten Henry Fords Rouge die Geheimnisse der erfolgreichen mit seinem Produktionschef Taiichi Ohno lagen die Ideen bereits in der Luft. Chrys- Massenproduktion zu ergründen. zusammen, um sein eigenes Fertigungssy- ler hatte schon in den zwanziger Jahren Seit 1926 produzierte das Familienun- stem zu kreieren. Das Toyota-Produk- mit unorthodoxen, „japanischen“ Verfah- ternehmen Toyoda automatische Web- tionssystem verband nun die Vorzüge der ren experimentiert, die während der De- stühle, 1937 kam eine Automobilfirma hin- beiden grundsätzlichen Herstellungswei- pression allerdings im Abseits landeten. In zu. Weil Toyoda übersetzt „üppiges Reis- sen: die Flexibilität und Qualität hand- Europa gab es seit den fünfziger Jahren

LITERATUR zum Massachusetts Institute of Technology, Amerikas te und die Rolle der Technik in der deutschen Ge- John Dos Passos: „USA-Trilogie“. Rowohlt Taschen- bekanntester Denkfabrik. schichte. buch Verlag, Hamburg 1996; drei Bände – In unge- Thomas P. Hughes: „Die Erfindung Amerikas – Der Frederick Winslow Taylor: „Die Grundsätze wissen- wöhnlicher Erzähltechnik beschreibt diese Roman- technologische Aufstieg der USA seit 1870“. Verlag schaftlicher Betriebsführung“. Beltz, Psychologie Ver- trilogie aus den dreißiger Jahren die Entstehung des C. H. Beck, München 1991; 528 Seiten – Aufstieg der lags Union, Weinheim 1995; 156 Seiten – Erster Ver- amerikanischen Systems. Wirtschaftsmacht USA, mit vielen Porträts von Er- such einer systematischen Betriebsorganisation mit Peter Fischer (Hrsg.): „Technikphilosophie“. Reclam findern wie Edison und Systembegründern wie Ford. Auswirkungen auf das Jahrhundert. Verlag Leipzig, Leipzig 1996; 344 Seiten – Studienbuch Joachim Radkau: „Technik in Deutschland – Vom 18. James P.Womack, Daniel T. Jones, Daniel Roos: „Die philosophischer Texte von Aristoteles bis Hans Frey- Jahrhundert bis zur Gegenwart“. Suhrkamp Verlag, zweite Revolution in der Autoindustrie“. Campus, er, Orientierungshilfe zum Wesen der Technik. Frankfurt am Main 1989; 453 Seiten – Kritisches Buch Frankfurt am Main 1991; 320 Seiten – Machte die ja- http://web.mit.edu. – Öffnet im Internet den Zugang über den „deutschen Weg“ in der Technikgeschich- panischen Produktionsmethoden weltweit bekannt.

126 der spiegel 26/1999 Werbeseite

Werbeseite Das Jahrhundert des Kapitalismus: Die moderne Fabrik

Versuche in der Industrie, die demotivie- Denn das industrielle Gesetz der Effizienz Immer kürzer wird der Lebenszyklus rende Arbeitsteilung zu überwinden. gilt in allen Wirtschaftsbereichen. Tou- von Gütern. Schwankende Nachfrage und In den Siebzigern erlebten „soziotech- rismusindustrie, Dienstleistungsindustrie, stagnierende Märkte verändern die An- nische Systeme“ einen Boom. In Schweden Medienindustrie – allenthalben ist die Ra- forderungen an die Produktion. Gleich- eröffnete Volvo erstmals eine Autofabrik tionalisierung des Denkens und die Taylo- zeitig schrauben die Kunden in den Indu- ohne Fließband, mit Gruppenarbeit. In risierung der Arbeit zu sehen. strieländern ihre Anforderung nach oben Deutschland legte die Bundesregierung Doch auch in der Informationsgesell- und die Stückzahlen mit ihrem Wunsch spezielle Reformprogramme auf, die mei- schaft bleibt, scheinbar ein Paradox, die nach Individualität herunter. sten Projekte jedoch scheiterten, weil sich Produktion Motor für den Wohlstand.Auch Doch das Ende der Massenproduktion Management, Gewerkschaften und Sozio- wenn in den Fabrikhallen die Zahl der Jobs bedeutet nicht das Ende der Produktion in logen nicht auf die Ziele einigen konnten. weiterhin sinkt, die völlig menschenleere Massen. Langsam löst ein neuer Begriff das Doch das Toyota-Verfahren war kein so- Fabrik ist ein Phantom. Es entstehen indu- alte Wort ab. „Mass Costumization“ – die zialdemokratischer Versuch zur Humani- strielle Kerne, in denen sich die Produzen- kundenindividuelle Massenproduktion. sierung der Arbeitswelt. Die japanischen ten mit Dienstleistern verbinden. Längst hat die Individualisierung der Autobauer hatten ein effizientes System ge- Am Ende des Jahrhunderts stehen die Warenwelt begonnen: Seiko vermarktet funden, das in die Welt des Umbruchs paß- Industrienationen erneut mitten in einem derzeit 3000 verschiedene Uhrentypen. te, das flexibel war und in der Lage, auf den gewaltigen Strukturwandel zu Informa- Philips hat weltweit 800 Fernsehtypen im immer schnelleren Wandel zu reagieren. tions- und Dienstleistungsgesellschaften. Programm. Das „Wall Street Journal“ bie- Bereits 1980 war Toyota zum drittgrößten Die alten Arbeitsstrukturen verändern sich tet im Internet eine auf den einzelnen Le- Autoproduzenten der Welt aufgestiegen. überall. Kapital und Technologien,Wissen ser zugeschnittene Ausgabe an. Der „Toyotismus“ hat die Welt der in- und Produktionsanlagen sind weltweit frei Mit dem Personal-Pair-Programm von dustriellen Produktion revolutioniert. Spä- verfügbar. Zunehmend verstehen sich Un- Levi Strauß kann ein Kunde seine Jeans testens seit Forscher des Massachusetts In- ternehmen als Mitglieder einer globalen aus einem Angebot von 400 Modellhosen stitute of Technology (MIT) in einer großen Gemeinschaft, für die selbst ihre Heimat- wählen. Die persönlichen Maße werden Vergleichsstudie 1990 die japanischen Me- länder nur Standorte unter vielen sind. elektronisch an den Laserzuschnittroboter thoden unter dem Namen „Lean Produc- Was mit der ersten industriellen Revo- der Näherei übermittelt. Spätestens nach tion“ zum weltweit effizientesten Produk- lution und der Erfindung der Eisenbahn drei Wochen kann er seine Maßhose ab- tionsmodell erklärten, machten sie Furore. begann, hat alle Grenzen gesprengt. Die holen, die höchstens 15 Dollar mehr als Überall wurden die Unternehmen schlan- Mobilität hat sich bis in ihr Extrem gestei- die von der Stange kostet. ker – und die Menschen durch die Ratio- gert: Dank Internet und PC kann der Und was passiert erst, wenn der Kunde nalisierung arbeitslos. Mensch jeden Ort der Welt erreichen, ohne an seinem Heimcomputer seine Wünsche Der französische Sozialwissenschaftler sich selbst zu bewegen. eingibt und weltweit fragt, wer sie ihm zu

Spiegel des 20. Jahrhunderts Jean Fourastié beschrieb 1949 in seinem Nun beginnt im Internet der Einstieg in welchem Preis erfüllen kann? Buch „Die große Hoffnung des 20. Jahr- die digitale Ökonomie. Durch seinen uni- Was auf den ersten Blick lediglich wie hunderts“ eine Dienstleistungsgesellschaft versellen Standard können plötzlich Mil- ein neuer Vertriebsweg aussieht, greift tief mit Wohlstand für alle – die Jobs für alle lionen Menschen miteinander kommuni- in den wirtschaftlichen Prozeß ein. Be- bereithält, auch für jene, die in der indu- zieren und Geschäfte abschließen. Schon nötigt wird ein Produktionssystem – flexi- striellen Produktion ihre Aufgabe verloren heute basiert ein großer Teil der volks- bel, innovativ, mit allen Kostenvorteilen haben. wirtschaftlichen Wertschöpfung auf Infor- hochtechnisierter Massenproduktion und Fourastié behielt in vielem recht, doch mationen, die digitalisierbar, nicht mehr dennoch in der Lage, bei Bedarf kleinste das goldene Zeitalter will nicht anbrechen. an Orte gebunden sind. Stückzahlen zu produzieren. L. PSIHOYOS / MATRIX / AGENTUR FOCUS / AGENTUR / MATRIX L. PSIHOYOS Steuerzentrale der US-Telefongesellschaft AT&T: Netzwerke mit offenen Firmengrenzen

128 der spiegel 26/1999 schneller und besser zu lernen als die Kon- kurrenz. Die Arbeitsnormen der Industriegesell- schaft wandeln sich erneut, der Langzeit- job ist nicht mehr das Maß der Dinge. Der Wechsel zwischen selbständiger und un- selbständiger Arbeit, zwischen Vollzeit- und Teilzeitjob, zwischen dauerhafter und befristeter Arbeit wird zur Beständig- keit, die gebrochene Arbeitsbiographie zur Norm. Im „neuen Kapitalismus“, so der amerikanische Soziologe Richard Sennett, betritt der „flexible Mensch“ die Bühne. Während der zweiten industriellen Re- volution wurde in den Wirtschaftsnatio- nen ein Sozialvertrag geschrieben, der in Amerika „New Deal“ hieß und in Deutschland „Soziale Marktwirtschaft“: Der Wohlstandsstaat versprach „soziale Gerechtigkeit“ zum Frommen aller und ein Sicherungssystem gegen die Fährnisse Flugzeug-Serienbau bei Boeing in Seattle: Chancen für Wissensarbeiter des Lebens für den einzelnen. Doch die Arbeitswelt, auf der dieser Kontrakt auf- In ihrer Studie über die Unternehmen Anfängen des Jahrhunderts teilweise an- baut, gehört der Vergangenheit an. des 21. Jahrhunderts bieten Wissenschaft- tiquiert wirken, seine Vision vom effizien- Der Harvard-Professor und ehemalige ler und Studenten des MIT zwei wider- ten „Mensch-Maschine-System“ ist ak- US-Arbeitsminister Robert B. Reich teilt sprechende Szenarien für das Jahr 2015 tueller denn je. Ohne eine perfekt und die Arbeitswelt schon in drei Gruppen ein: an, denen eines gemeinsam ist: Die Welt reibungslos laufende Maschinerie aus Men- Routinearbeiter in der Produktion, die auf wird zu einem großen Netzwerk. schen, Maschinen und Kommunikation ist dem Rückzug sind, persönliche Dienstlei- Entweder, so die Wissenschaftler, wer- die komplexe, vernetzte Realität nicht ster mit sinkenden Einkommen und die den gigantische Großkonzerne das Leben mehr beherrschbar. modernen Wissensarbeiter mit ungeahn- weltweit bestimmen. Ihre Firmennetze, Für die Autoproduktion des VW-Werks ten Einkommen. Gerade 20 Prozent wer- „virtual countries“ genannt, bieten den Mosel steuern rund 170 Dienstleister über den dieser Spezies angehören. Mitarbeitern Heimat. Oder 80 Prozent der gesamten Hundert Jahre lang waren die reichsten das Zeitalter der „Dinosau- Wertschöpfung bei. Sobald Männer der Welt Ölbarone wie John D. rier“ wie General Motors ein Golf oder Passat in die Rockefeller und der Sultan von Brunei. oder Microsoft wird vorüber Montagehalle kommt, und Nun führt mit 90 Milliarden Dollar der sein. Statt dessen entwickelt dies passiert alle zwei Minu- Kopfarbeiter Bill Gates die Liste an. Nicht sich ein „Netzwerk“ von ten, laufen die Datenleitun- mehr ein natürlicher Rohstoff ist die Quel- kleinen Firmen und Teams, gen heiß. Alle Fahrzeugda- le seines Reichtums, sondern das immate- die sich nur für die Zeit von ten werden erfaßt und an die rielle Gut Wissen. gemeinsamen Projekten zu- Zulieferer in der Umgebung „Human Resource“ heißt der Rohstoff sammenschließen. Im Jahr übermittelt. bei den Managern heute, den es weltweit 2015 soll das durchschnittli- Binnen einer Minute be- zu bergen gilt. 1912 mußte sich Taylor stun- che US-Unternehmen aus 16 ginnt dann im drei Kilometer denlang vor einem Untersuchungsaus-

Mitarbeitern bestehen. COLLECTION TAYLOR entfernten Crossen beim schuß des amerikanischen Kongresses ge- Belege lassen sich für beide Ökonom Taylor Modullieferanten VDO die gen Angriffe verteidigen, weil er gefordert Szenarien finden: Globale Produktion eines speziellen hatte, daß für jede Arbeit der beste Mann, Konzerne wie DaimlerChrysler entstehen, Cockpits für jedes Fahrzeug. Nach 170 Mi- der „first class man“, zu finden sei. in deren Reich die Sonne niemals unter- nuten kommt das Armaturenbrett pünkt- Unversehens rückt der Mensch wieder geht. Die Phonofirma Dual dagegen besteht lich im Werk zum Einbau an. Eine halbe ins Blickfeld. In der virtuellen Welt wird aus einer Handvoll Leuten, die ihre Pro- Stunde Zeitverzögerung reicht aus, die ge- der menschliche Geist erstmals zu einem dukte über einen weltweiten Verbund von samte Produktion lahmzulegen. unmittelbaren Produktivfaktor. Firmen entwickeln und herstellen läßt. Die Unternehmen bauen sich zu Netz- Und so wird eine alte Vision im kom- Möglicherweise steht am Ende die Er- werken mit offenen Firmengrenzen um, menden Jahrhundert für manche Realität kenntnis, daß es in der Informationsgesell- die die Welt als einen einzigen Supermarkt und bleibt für viele zunächst Hoffnung – schaft kein beherrschendes System mehr betrachten, in der es alles zu kaufen gibt: der Sieg des Menschen über die Maschine. gibt, sondern nur noch ständigen Wandel. Technologien und Talente, Wissen und Mögen die Methoden Taylors zur wis- Informationen. Dabei bleibt den Fir- Markus Dettmer, 38, ist Wirtschaftsredak- senschaftlichen Betriebsführung aus den men nur noch ein Wettbewerbsvorteil: teur im Berliner Büro des SPIEGEL.

DIE THEMENBLÖCKE IN DER ÜBERSICHT: I. DAS JAHRHUNDERT DER IMPERIEN; II. … DER ENTDECKUNGEN; III. … DER KRIEGE; IV. … DER BEFREIUNG; V. … DER MEDIZIN; VI. … DER ELEKTRONIK UND DER KOMMUNIKATION; VII. … DES GETEILTEN DEUTSCHLAND: 50 JAHRE BUNDESREPUBLIK; VIII. … DES SOZIALEN WANDELS; IX. DAS JAHRHUNDERT DES KAPITALISMUS; X. … DES KOMMUNISMUS; XI. … DES FASCHISMUS; XII. … DES GETEILTEN DEUTSCHLAND: 40 JAHRE DDR; XIII. … DER MASSENKULTUR

der spiegel 26/1999 129 Sport

RADRENNEN „Verführer in Weiß“ Der frühere Weltmeister Rolf Wolfshohl über die Dopingmentalität unter Profi-Rennfahrern, Jan Ullrichs Zukunft und den Wert der diesjährigen Tour de France

SPIEGEL: Herr Wolfshohl, die Tour de don-Sieg. Es gab Rennen, da mußten wir Wolfshohl: Als Tour-Sieger habe ich auch France startet am Samstag ohne ihre letz- gerade und ungerade Startnummern sepa- eine gewisse Verantwortung gegenüber den ten drei Sieger. Sehen Sie als Fahrradfa- rat beginnen lassen, weil es vor lauter Rä- Rennveranstaltern. Das Zugpferd gehört brikant und Jugendtrainer in Deutschland dern zu gefährlich geworden wäre. Heute in die erste Reihe. Wenn jemand den Mi- den Radsport-Boom in Gefahr? treten bei Schülerrennen 15, maximal 20 chael Jackson für soundsoviel Millionen Wolfshohl: Es hat nie einen Boom gegeben. Jugendliche an – selbst hier im radsport- Dollar verpflichtet, kann der auch nicht SPIEGEL: Wie bitte? Vor zwei Jahren war begeisterten Rheinland. hinten im Gospel-Chor singen. Jan Ullrich nach seinem Tour-Sieg der be- SPIEGEL: Warum löst ein Jan Ullrich nicht SPIEGEL: Ullrichs Betreuer argumentieren, liebteste deutsche Sportler. dasselbe aus wie ein Didi Thurau? bei der heutigen Leistungsdichte sei es Wolfshohl: Wenn die ARD plötzlich die Wolfshohl: Thurau ist die ganze Saison ge- nicht möglich, bei mehreren Großereignis- Tour de France wiederentdeckt, ist das für fahren, Ullrich konzentriert sich nur auf sen vorn mitzufahren. mich kein Beweis für einen Boom. Ich ma- die Tour de France. Und in seinen Vorbe- Wolfshohl: Was macht denn der Erik Zabel che meine Beobachtung an den Starterfel- reitungsrennen kommt er 20 Minuten hin- seit Monaten? Der fängt im Februar mit dern bei Jugendrennen fest. Als Didi Thu- ter dem Sieger ins Ziel, oder er steigt vor- den ersten Rennen an, ist dann im März bei rau in den Siebzigern 14 Tage in Folge im zeitig aus. So wird man kein Vorbild. Mailand–San Remo schon topfit, hat bis Gelben Trikot gefahren ist, hatten wir ei- SPIEGEL: Vielleicht kann sich ein Radprofi zur Tour zehn Tagessiege und ein Dutzend nen enormen Zulauf – ähnlich dem Boris- heute nicht mehr leisten, auch noch Vorbild zweiter Plätze rausgeholt – und von näch- Becker-Effekt nach dem ersten Wimble- sein zu wollen? ster Woche an fährt er in Frankreich ums

Tour-de-France-Feld in der Bretagne (1998): „Fahrer der zweiten Reihe wittern ihre Chance“ SPORTIMAGE SPORTIMAGE GAMMA / STUDIO X SPORTIMAGE AP Ullrich Pantani Riis Virenque Bei der Tour ’99 fehlende Profis: „Je mehr Betreuer mitreisen, um so mehr Möglichkeiten zur Manipulation gibt es doch“

Grüne Trikot. Warum kann Ullrich nicht, scheinlich. Das ist wie die Hoffnung, zwei müßte er meiner Meinung nach sein ge- was Zabel kann? Wochen hintereinander im Lotto zu ge- samtes Trainingskonzept ändern. Das be- SPIEGEL: Wird Ullrich unterfordert? winnen. Natürlich ist es nett, für eine Au- ginnt schon im Winter. Wenn im Oktober Wolfshohl: Ich kenne Jan seit 1991. Damals togrammstunde 30 000 Mark zu bekom- die Saison ausläuft, kann ich mir vier Wo- stürzte er bei der Querfeldein-Weltmei- men – aber wenn ich nicht seriös trainiere chen Pause gönnen. Aber danach muß ich sterschaft der Junioren gleich am Start und und meine Rennen durchziehe, dann ge- schon mit dem konditionellen Training be- kam als letzter weg – was Entmutigende- fährde ich meine Karriere. ginnen – und zwar an der frischen Luft res kann einem eigentlich nicht passieren. SPIEGEL: Was kann Ullrich dafür, wenn ihn und nicht in der Turnhalle. Aber er hat Mann für Mann überholt, wur- Erkrankungen zurückwerfen? SPIEGEL: Wo liegt da der Unterschied? de am Ende Fünfter. Für mich ist seitdem Wolfshohl: Die kommen doch nicht von ir- Wolfshohl: Wenn ich im Winter draußen klar: Ullrich hat ein großes Kämpferherz, gendwoher. Wenn Ullrich überhaupt noch trainiere, bin ich auch weniger anfällig für nur zeigt er es nicht mehr. mal zu alter Klasse zurückkehren will, Erkältungen. Es ist eine Schande, daß aus SPIEGEL: Was hemmt ihn? Jan Ullrich nicht mehr herauskommt. Wolfshohl: Sein Umfeld. Jeder Mensch neigt Denn seine Veranlagung, seine Hebel- dazu, es sich bequem zu gestalten. Also Rolf Wolfshohl maße, seine organischen Werte sind ja ex- darf man ihm nicht einblasen, du mußt dich ist eine deutsche Radsport-Legende. zellent. Ein Ullrich mit der Mentalität ei- für die Tour schonen, du mußt dich behut- Dreimal gewann er die Profi-Weltmei- nes Eddy Merckx – der würde alles ab- sam aufbauen. sterschaft im Querfeldeinfahren. Bei räumen, nicht nur die Tour, sondern auch SPIEGEL: Die moderne Trainingslehre ist der Tour de France 1968 trug „Le die Klassiker. aber stolz darauf, Athleten auf einen Sai- Loup“, der Wolf, wie ihn die Franzo- SPIEGEL: Merckx gewann zwischen 1969 sonhöhepunkt hin fit zu machen. sen nannten, das Gelbe Trikot durch und 1974 fünfmal die Tour de France. Hät- Wolfshohl: Das mag in der Leichtathletik die Seealpen. Doch ein Sturz auf der te der Belgier heute noch eine Chance? gelten, aber doch nicht im Radsport. Die 18. Etappe mit einem anschließen- Wolfshohl: Radfahrerisch nehmen sich die Erfahrung lehrt: Die meisten späteren den Raddefekt warf ihn zurück. Der Topleute von damals mit denen von heute Tour-Sieger haben im Frühjahr bei Mai- gelernte Dreher leitete nach Karriere- nichts. Merckx wäre immer noch der land–San Remo oder Paris–Nizza schon ende ein Jahr lang einen Profi-Renn- Allergrößte – nicht des Körpers wegen, eine gute Rolle gespielt.Wer im März noch stall. Heute fertigt und verkauft sondern wegen seines Siegeswillens. Wir nicht in Form ist, wird es bei der Tour auch Wolfshohl, 60, in Köln nach Maß ge- nannten ihn den Kannibalen, weil er alles nicht sein. Außerdem ist Radfahren nicht baute Fahrräder und betreut Nach- wegfraß, was ihm vors Rad kam. nur wüstes Drauftreten auf die Pedale, wuchsfahrer in seinem Radsportclub SPIEGEL: Bei der Tour de France von heu- sondern hat auch viel mit Taktik und Psy- „Le Loup Köln“. te wird aber ein höheres Tempo ange- chologie zu tun: Wer die Tour de France schlagen … gewinnen will, muß in den Rennen zuvor Wolfshohl: … weil die Straßen besser as- Stärke demonstriert haben. Denn auf dem phaltiert sind und weil das Material bes- Rad ist es ähnlich wie im Boxring: Wenn ser ist. Früher hatte man fünf Ritzel auf ich weiß, daß ich beim ersten Schlag in ei- der Hinterradnabe, heute sind es neun – nen Konter laufe und selbst eins auf die damit kann man am Berg viel feinfüh- Nuß bekomme, dann warte ich lieber ab. liger dosieren. Und: Früher war die Strek- Voriges Jahr hatte Marco Pantani keine ke zwischen 4400 und 4800 Kilometer Angst vor Ullrichs Konter. lang, heute sind es zwischen 3600 und 3800 SPIEGEL: Im Vorjahr hatten Sie Ullrichs Kilometer. Scheitern vorhergesagt. Haben Sie diesmal SPIEGEL: Wird es dieses Jahr wieder neue mit seinem Tour-Verzicht gerechnet? Geschwindigkeitsrekorde geben, oder wird Wolfshohl: Ich glaube, daß ihm die Knie- sich das Fehlen vieler Stars bemerkbar verletzung nicht ungelegen kam. Daß es machen? noch mal so relativ gut ginge wie 1998, als Wolfshohl: Der sportliche Wert ist für den er trotz mieser Vorbereitung und Überge- Experten dieses Jahr natürlich geringer.

wicht Zweiter wurde, war höchst unwahr- U. BAATZ Aber das muß der Attraktivität der Tour 131 Sport nicht schaden. 1997 war die Frage doch nur: Wolfshohl: Athleten von mir, die zum Na- SPIEGEL: Was waren das für Präparate in Gewinnt der Richard Virenque oder der tionalkader gehörten, sind vom Bund dem Karton? Jan Ullrich? 1998 war es ein Duell Ullrich Deutscher Radfahrer zu ärztlichen Routi- Wolfshohl: Keine Ahnung. Die Ärzte hat- gegen Pantani. Diesmal ist die Sache total neuntersuchungen zur Universitätsklinik ten meinen Fahrern gesagt, wenn sie die offen. Fahrer der zweiten Reihe, die bislang nach Freiburg geschickt worden. Als sie nach einem vorgegebenen Schema ein- unter der Knute ihrer Kapitäne nicht nach zurückkamen, brachten sie einen Karton nähmen, könnten sie Leistungssteigerun- vorn fahren durften, wittern ihre Chance. voller Medikamente mit. Grüne, rote und gen von 15 bis 20 Prozent erwarten. Ein Ullrich in guter Form hätte einen be- weiße Pillen, für morgens, mittags und SPIEGEL: Haben Sie die Freiburger Medizi- rechenbaren Verlauf bedeutet: Bei der Tour abends. ner darauf angesprochen? gibt es zwei Tage mit Einzelzeitfahren von Wolfshohl: Wenn ich sie per- fast 60 Kilometern. Das kann Ullrich sehr sönlich getroffen habe, bin gut. Also rechnet er sich aus: Ich nehme ich immer mit denen an- den Bergspezialisten auf 10 Kilometern geeckt. Ich habe ihnen ge- 30 Sekunden ab – macht zusammen 6 Mi- sagt, sie würden den Leu- nuten.An den anderen Tagen hätte ihn die ten falsche Tatsachen vor- Telekom-Truppe fein abgeschirmt, gefähr- spiegeln? liche Ausreißer gestellt, und in den Bergen SPIEGEL: Inwiefern? hätte er von seinen sechs Minuten gezehrt. Wolfshohl: Die Ärzte sugge- Jetzt ist alles anders: 20 Leute können viel- rieren den jungen Fahrern, leicht gewinnen. sie könnten mit Pillen nach SPIEGEL: Werden wir die sauberste Tour der vorn kommen.Aber mit Pil- Geschichte erleben – weil aus Angst vor len, selbst wenn sie nicht auf französischen Staatsanwälten keiner mehr der Dopingliste stehen, wer- wagt, Dopingmittel zu nehmen? den Sportler falsch moti- Wolfshohl: Ich bin zwar ein strikter Ver- viert. In den Köpfen setzt fechter von dopingfreiem Radsport, aber sich fest, Medikamente soviel Naivität dürfen Sie von mir nicht könnten ein Ersatz für Trai- erwarten. Zu meiner aktiven Zeit gab es ning sein. pro Team zehn Fahrer, zwei sportliche Lei- SPIEGEL: Und früher oder ter, zwei Mechaniker und zwei Masseure. später landen die Fahrer bei Abends ist der offizielle Tour-Arzt durch Epo, der Wunderwaffe, die alle Teamhotels marschiert und hat sich das Blut verdickt? nach Verletzungen erkundigt und sie bei Wolfshohl: Ich habe es erlebt, Bedarf behandelt. Heute gibt es 9 Fahrer wie einer meiner Schütz- und einen Stab von 15 bis 20 Betreuern. linge, als er von mir zu den SPIEGEL: Was wollen Sie damit sagen? Profis abgewandert ist, vor Wolfshohl: Je mehr Betreuer mitreisen, um drei Jahren in diesen Strudel so mehr Möglichkeiten zur Manipulation hineingeriet: Das ist das Er- gibt es doch. Mir sind da viel zu viele Me- gebnis, wenn einer glaubt, diziner mit ihren Pillen unterwegs. Tabletten helfen, die Lei-

SPIEGEL: Die Ärzte sagen, sie sorgten sich H. MÜLLER stung zu steigern. Und am nur um das Wohl der Sportler. Idol Merckx (1973): „Immer noch der Allergrößte“ Ende ist der Sportler nicht Wolfshohl: Wenn das so nur der Buhmann, sondern wäre! Ich sage Ihnen ein körperlich ein Wrack und ein Fall für die Beispiel. Bei der Tour de Psychiatrie. France gibt es so viele Berg- SPIEGEL: Sehen Sie einen Ausweg? ankünfte wie nie zuvor. Das Wolfshohl: Vernünftige Aufklärung und Ge- ist spektakulär fürs Fern- duld, ein entsprechendes Gespräch mit sehen, aber ungesund für Sportlern und Eltern, daß der Weg nach die Fahrer. Der Sportler oben nur mit viel Zeit und systematischem kommt oben im Ziel an, Training zu machen ist, wobei dies vom hat 180 bis 210 Pulsschlag, Jugendlichen bis zum Spitzenathleten bis ist total platt. Vernünftig zu sechs Jahre dauern kann. Wer aber mit wäre, ihn noch eine Strecke Gewalt schnell nach oben will, der muß bergab fahren zu lassen, nachhelfen. Und da scheint mir die Hemm- um den Puls herunterzu- schwelle verdammt niedrig. Aber das ist bringen. Aber da höre ich ein gesellschaftliches Problem. Schauen Sie nichts von diesen Verfüh- sich doch die Love Parade in Berlin an. Da rern in Weiß, die angeb- pilgern eine Million Jugendliche hin, und lich den Fahrern helfen 400000 von ihnen sollen sich angeblich mit wollen. Ecstasy und dem ganzen Drogenkram voll- SPIEGEL: Erinnern Sie sich dröhnen. Und ich rede da von Sport, der an eine konkrete Situa- gesund sein soll. tion, in der Radrennfahrer SPIEGEL: Was erwarten Sie vom Bund von Ärzten verführt wur- Deutscher Radfahrer bei der Lösung des

den? DPA Dopingproblems? Wolfshohl: Nichts, von Funktionären kön- Neuer Telekom-Kapitän Zabel nen Sie nichts erwarten. „Ullrich ist kein Vorbild“ Interview: Udo Ludwig, Alfred Weinzierl 132 zwischen Australien und Pakistan Bilder der Vorrunden-Schmach über den Bild- TENNIS schirm, begleitet vom zynischen Kommen- tar: „Sie können es einfach nicht besser.“ Derbe Prügel setzt es auch im Rugby. Held für die neue Mitte Mit den weltbesten Teams aus Südafrika, Australien und Neuseeland kann sich England zweifelt an seinen Sportlern – Großbritannien schon lange nicht mehr messen. Beim 31:32 gegen Wales bekam und damit an seiner Größe. Jetzt hofft die Nation auf das Desaster allerdings eine neue Dimen- einen Sieg Tim Henmans in Wimbledon. sion. Prompt forderte der „Guardian“ die „sofortige Selbstauflösung der National- er englische Tennisprofi Tim Hen- nichts anderes als die Kleinigkeit, das be- mannschaft“. man, 24, ist ein Sportsmann alter deutendste Turnier der Welt zu gewinnen. Verhöhnen lassen muß sich auch der DSchule. Tadellose Manieren ge- Die Henmania ist Ausdruck einer tiefen englische Fußballverband. Ausgerechnet hören für ihn zu den Selbstverständlich- Sehnsucht: Die Briten wollen endlich wie- jetzt, da die Weltmeisterschaft 2006 auf die keiten seines Berufs wie sauber plazierte der Siege feiern; quälend freudlos sind seit Insel geholt werden soll, erleidet das Na- Volleys. Doch ausgerechnet auf dem Cen- geraumer Zeit die Resultate ausgerechnet tionalteam einen Rückfall in trübste Zei- tre Court von Wimbledon vergaß der Spie- in jenen Sportarten, mit denen Merry Old ten. Nach zwei mageren Remis gegen ler vorigen Freitag für einen kurzen Mo- England einst die Welt beglückte. Ob beim Schweden und Bulgarien ist die Qualifi- ment alle Etikette. Cricket, Rugby oder der Fußball-National- kation für die Europameisterschaft im Als der Schiedsrichter im vierten Satz ei- elf – fünf Monate, 22 Tage, 18 Stunden und nächsten Jahr so gut wie perdu. Mit maso- nen umstrittenen Aufschlag seines Kontra- 33 Minuten, so rechnete das Massenblatt chistischer Freude am Detail reihte der henten Sébastien Grosjean gut gab, fluch- „The Sun“ entrüstet vor, habe „Mister „Observer“ die jüngsten Pannen auf und te Henman wie ein Londoner Taxifahrer, Durchschnitt“ seit einem Vierteljahrhun- fragte besorgt: „Sind wir ein Volk von Ver- dem die Vorfahrt genommen wird. Mehr- dert vor dem Bildschirm gesessen: „Nur sagern?“ Alarmiert zeigt sich mittlerweile mals spuckte der Weltranglisten-Sechste um England verlieren zu sehen.“ sogar die Regierung Blair – denn ständige auf den Boden, dann kühlte er wieder ab Zur Zeit kommt es besonders dick. Bei Niederlagen der Nationalteams machen – und gewann das Match. der Cricket-Weltmeisterschaft im eigenen das Wahlvolk auf Dauer fast so mürrisch Die Aufregung um den einen Punkt Land schieden die Briten bereits in den wie eine schleichende Geldentwertung. macht den Druck deutlich, unter dem Hen- Gruppenspielen nach einer Niederlage ge- Schuldige sind bereits aufgespürt. Her- man in diesen Tagen steht. Denn ganz Bri- gen Indien aus. Wie zur Selbstgeißelung halten müssen die Konservativen, die 18 tannien erwartet von dem Musterprofi flimmerten noch zwei Tage nach dem Finale Jahre lang die gesellschaftliche Bedeutung BONGARTS Britischer Tennisprofi Henman: Rückbesinnung auf den „fighting spirit“

der spiegel 26/1999 133 des Sports verkannt und die So viel Selbstbeherrschung hat offen- staatliche Verantwortung sichtlich seinen Reiz. Unter Henmans An- beiseite geschoben haben hängern sind sehr viele Frauen – nicht nur sollen – im Schulsport, im kreischende Teenager, sondern auch ge- Breitensport, im Spitzen- setzte Damen. Sie schauen ihm beim Ten- sport. Zu diesem Schluß nis spielen zu, als blätterten sie in einem kommt zumindest das „In- Fotoalbum. stitute of Public Policy Re- Der junge Mann aus der Grafschaft Ox- search“, eine Art Denkfa- fordshire entstammt einer Familie mit Ten- brik von Blair-Getreuen, die nistradition. Henmans Urgroßmutter Ellen eine Studie erstellten unter Stanwell-Brown war die erste Frau, die in der trotzigen Parole: „Der Wimbledon über Kopf aufschlug – und sei- Sport lebt.“ ne Großmutter Susan Billington war die Blair predigt die Rückbe- letzte, die bei dem Grand-Slam-Turnier von sinnung auf den „fighting unten zu servieren pflegte.

spirit“ – und seine Kabi- IMAGES / ACTION SPORTIMAGE Herkunft, Charakter, Fähigkeiten: Die nettskollegen tragen die Cricket perfekte Kombination der drei Faktoren Botschaft weiter. In einer würde Henman zu zeitlosem ehemaligen Brauerei in der Londoner City Ruhm verhelfen. Allein die verkündeten vorigen Dienstag Sportmini- Vorstellung, die Herzogin ster Tony Banks und Kulturminister Chris von Kent überreiche dem Smith erste Schritte aus der Misere. Briten den Pokal, scheint Rund sechs Milliarden Mark im nächsten Henmans vier Hauptspon- Jahrzehnt seien der Sportförderung garan- soren um den Verstand zu tiert, erklärte Smith, abgezweigt aus Erträ- bringen. Rund 25 Millionen gen der „National Lottery“. Aus dem eige- Mark, so hat die Zeitung nen Haushalt will die Regierung zunächst „News of the World“ in Er- 200 Millionen Mark in den Schulsport fahrung gebracht, sei ihnen stecken. „Man kann nicht lernen zu ge- ein Triumph wert. winnen“, wetterte der Minister, „wenn man Nicht auszuschließen ist keine Möglichkeit zum Wettkampf hat.“ indes, daß ein anderer Was die neue Mitte zur Durchsetzung Engländer in Wimbledon

des sportlichen Umschwungs nur noch COLORSPORT reüssiert: Greg Rusedski, 25, braucht, ist ein frischer Held – etwa einer Rugby rammte sich mit seinen ge- wie der Mittelstrecken- waltigen Aufschlägen eben- Weltrekordler Sebastian falls ins Achtelfinale. Aber niemals könn- Coe, der ein Star war in der ten ihn die Briten so lieben wie Henman. Thatcher-Ära. Denn Rusedski hat den unverzeihbaren Tim Henman hat das Makel, eingebürgert zu sein. Seine Groß- Zeug zum nationalen Vor- eltern lebten in der Ukraine, sein Vater bild: Schon früh wollte er in wurde in Deutschland geboren. Rusedskis allem der Beste sein. Bis um Mutter ist Engländerin, doch bereits als halb vier am Nachmittag Vierjährige verschlug es sie nach Kanada. paukte er, dann setzte er In Montreal gebar sie Sohn Greg. sich in den Bus, fuhr zum Die Beharrlichkeit, mit der Rusedski Tennisplatz und rackerte trotz seines Geburtsortnachteils immer sich ab bis abends um acht. wieder versucht, sich dennoch zum Bil- So ging das, bis er 17 war, derbuch-Briten emporzuschwingen, bleibt „fünf Tage in der Woche, verblüffend. Bei seinem ersten Match auf fünf Jahre lang“, wie sich dem Centre Court 1995 trug er ein Stirn- sein Jugendtrainer Richard band mit dem Union Jack. Die Bitte eines Garrett erinnert: „Die Fra- Pariser Journalisten, seine Fragen auf Fran-

ge, ob Tim einmal beim Rau- IMAGES / ACTION SPORTIMAGE zösisch zu beantworten, da er zweispra- chen hinter dem Cricket-Pa- Fußball chig aufgewachsen sei, lehnte Rusedski ka- villon erwischte wurde, er- Englische Nationalspieler: „Ein Volk von Versagern?“ tegorisch ab. Und Interviews beginnt er übrigt sich.“ wie auch vorige Woche in Wimbledon mit Sein Streber-Image hat Henman bis heu- da nicht allzu lange rum.“ Auch Pat Cash, einem „Dank an das britische Publikum, te nicht abgelegt. Er wohnt in einem net- Wimbledon-Sieger 1987, ist mit ein paar Tips das vom ersten bis zum letzten Punkt hin- ten Haus in Barnes, einem netten Vorort aus seinem Repertoire zu Diensten: unra- ter mir stand“. der gehobenen Mittelschicht im Londoner siert spielen, gemein sein, die animalischen Rusedski verbreitet notorisch gute Lau- Südwesten, er hat eine nett aussehende Triebe ausleben, den Balljungen beschimp- ne. Er grinst, wenn er redet und er grinst, Freundin namens Lucy, und wenn er in der fen, den Schiedsrichter beleidigen. wenn er schweigt. Nur beim Erstrunden- Öffentlichkeit etwas sagt, dann sind es net- Doch Henman verfolgt eine andere Stra- Match wirkte der selbstbekennende All te Belanglosigkeiten. tegie. Er will seine Gegner nicht ein- England Guy auf einmal leicht irritiert. John McEnroe, früher notorischer Rüpel schüchtern, er will sie elegant ausspielen. Nach einem seiner krachenden Auf- auf dem Court und heute Beobachter von Selbst bei Fehlern wird er nur selten laut. schläge hatte sich ein Zuschauer von sei- Henmans Karriere, rät dem Engländer zwar, Unter bleicher Haut tritt dann die Hals- nem Sitz erhoben und aufs Spielfeld ge- biestiger zu sein: „Brave Jungs kommen schlagader hervor und sein Kopf zuckt, als brüllt: „Kanada liebt dich noch immer, schon mal unter die Top 20, aber sie hängen versetze ihm jemand Stromschläge. Greg.“ Michael Wulzinger

134 der spiegel 26/1999 Werbeseite

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Werbeseite Panorama Ausland REUTERS Barak REUTERS AFP / DPA Brennendes Kraftwerk nahe Beirut (nach israelischem Bombardement am 24. Juni) el-Assad

NAHOST ge Weg zu einem dauerhaften und umfassenden Frieden im Nahen Osten“. Syriens Staatschef Hafis el-Assad seinerseits umschmeichelte den Israeli zuvor als „starken und wahrhaften „Einziger Weg zum Mann“ mit einem „echten Wunsch nach Frieden“. Die an- fängliche Freude der Palästinenser über den Wahlsieg Baraks weicht nun zunehmender Nervosität. PLO-Chef Jassir Arafat Frieden“ hat Sorge, Barak könnte sich zuerst mit Syrien verständigen – auf Kosten der Palästinenser. Israel fürchtet Syriens starke ach den neu aufgeflammten Kämpfen zwischen Israel und Armee; die Palästinenser haben dagegen seit dem Ende der Nder Hisbollah-Miliz im besetzten Südlibanon wächst der Intifada kaum noch Druckmittel in der Hand. Barak bezeich- Druck auf den designierten Premier Ehud Barak, möglichst nete sie bereits als „die schwächsten unter unseren Gegnern“ rasch einen Friedensschluß mit Libanons Schutzpatron Syrien und als „lächerliche militärische Gefahr“. Wenig Hoffnung zu erzielen. Die israelische Luftwaffe hatte Ende vergangener macht den Palästinensern auch, daß Barak ihre bisherigen Part- Woche „Katjuscha“-Angriffe auf den Norden des Landes mit ner in der Arbeitspartei nicht an die Spitze seiner „Friedens- Bomben auf Kraftwerke und Brücken rund um Beirut beant- Administration“ berief – er vertraut lieber auf ehemalige wortet. Eine Einigung mit Syrien, meint Barak, sei der „einzi- Generäle.

KOLUMBIEN schen der ELN und der lleros nicht nur Geld, Regierung in die Wege sondern offenbar auch Geiseldrama: Kokain zu leiten. Er behauptet, größere Mengen Ko- Bogotá habe ihn voriges kain von den Fami- als Lösegeld? Jahr beauftragt, bei der lienangehörigen for- Befreiung eines ent- dern. Der Präsident erner Mauss, einstiger Privat- führten Senators zu erklärte die Guerri- Wagent, und der ehemalige Kanz- helfen. Außerdem wirk- lleros daraufhin zu ge- leramtsminister Bernd Schmidbauer te Mauss, wie er sagt, wöhnlichen Kriminel- stiften Verwirrung bei den Verhandlun- bei der Freilassung ei- len, die von Schmid- gen über die Freilassung von Geiseln nes entführten Deut- bauer in Aussicht ge- der Guerrilla Nationales Befreiungsheer schen im Januar mit. stellte Geiselübergabe

(ELN). Die Rebellen hielten noch am Angeblich wurde in AP kam nicht zustande. Freitag mehr als 50 Geiseln in ihrer Ge- beiden Fällen kein Lö- Schmidbauer, ELN-Guerrilleros Pastrana gerät jetzt walt, die sie bei spektakulären Überfäl- segeld gezahlt. zunehmend in Be- len auf ein Flugzeug, eine Kirche und Schmidbauer ist laut Mauss mit Wissen drängnis: Immer mehr Kolumbianer eine Gruppe von Sportfischern genom- und Unterstützung der Bundesregie- meinen, daß er den Rebellen zu viele men haben. Das ELN hatte Schmidbau- rung in Sachen ELN tätig; er soll dem Zugeständnisse mache. Verteidigungs- er, der Kontakte zu dessen Chef Nicolas Präsidenten zugesichert haben, daß das minister Rodrigo Lloreda ist bereits Rodríguez pflegt, dem kolumbianischen ELN kein Lösegeld fordere. Äußerungen zurückgetreten – weil Pastrana der Präsidenten Andrés Pastrana als Ver- des ELN-Führers Antonio García und größten kolumbianischen Guerrilla Farc mittler angedient. Mauss versucht bis- Telefonmitschnitte der kolumbianischen auf unbegrenzte Zeit ein Gebiet von lang vergebens, Friedensgespräche zwi- Polizei belegen jedoch, daß die Guerri- der Größe der Schweiz überlassen hat.

der spiegel 26/1999 137 Panorama

ITALIEN Diplomaten streiken RUSSLAND rgerlich für Italiens Außenminister Königsberg vor ÄLamberto Dini: Zum drittenmal in 15 Monaten legten etwa zwei Drittel sei- ner 930 Diplomaten am vorigen Montag dem Kollaps die Arbeit nieder. Die Bediensteten des Außenamts, der „Farnesina“, stöhnen dmiral Gennadij Moschkow, Geheimdienstchef im über schlechte Arbeitsbedingungen, ge- AGebiet Kaliningrad, dem früheren Königsberg, stellt ringe Karrierechancen und vor allem die Sicherheit der russischen Ostseeprovinz in Frage – über „Hungerlöhne“. Etwa 2400 Mark die zwischen Polen und Litauen gelegene Exklave ste- Grundgehalt monatlich verdient ein Le- he wirtschaftlich vor dem Zusammenbruch. In einer gationsrat nach 13 Dienstjahren, rund Lokalzeitung verriet der Chefspion die Schwachstellen 3400 Mark der Botschaftsrat – nach ei- seines Machtbereichs: Lebensmittel- und Stromver- nem Vierteljahrhundert. Die recht ho- sorgung, Telekommunika- hen Zulagen für ihre Einsätze fern der tion und Transportverbin- Heimat, so ein Diplomat, müßten die dungen. Die Industriepro- politischen Außendienstler komplett an- duktion sei seit 1990 fast sparen, wenn sie, zurück in Rom, nicht zum Erliegen gekommen, in Armut fallen wollten. Rund sechs Mil- Energielieferungen wür- lionen Mark will der Finanzminister für den kaum noch bezahlt, eine Besoldungsreform lockermachen, selbst den Kasernen im Königsberger Dom (nach der doch die Dini-Helfer fordern mehr als „Sonderverteidigungsge- das Dreifache. Ihrem Chef drohen sie biet Kaliningrad“ drohe die Abschaltung des Stroms. Der Ha- mit Vertrauensentzug, wenn der sich ge- fen liege still, 300 Schiffe seien als Schrott ins Ausland ver-

gen den Kollegen an der Kasse nicht I. SAREMBO kauft worden. Aus einem Überschußgebiet habe sich die durchsetze: Die Arbeit der Farnesina Moschkow Provinz in einen Großimporteur landwirtschaftlicher Er- könnte „ernsthaft leiden“.

ALEXANDERGRAB schen Echoloten waren vor kurzem vier CHINA Meter unter dem Sandboden unweit des Verschüttete Fährte Alabaster-Grabs weitere größere Bauten Schmuggler in den und Gewölbe aus Alabaster geortet ürokratische Behinderungen, un- worden. Nach Ansicht von Jean-Yves Reihen der KP Bdurchsichtige Besitzverhältnisse und Empereur, Leiter der französischen ausbleibende Finanzierungshilfen haben Alexandria-Forscher, ist Facharani auf ie voriges Jahr begonnene erbitter- in der ägyptischen Mittelmeermetropo- der richtigen Fährte und hat das bislang Dte Anti-Schmuggel-Kampagne hat le Alexandria zum Abbruch der Gra- verschollene Gruftenviertel „Sema“ der zu peinlichen Erkenntnissen für Chinas bungsarbeiten auf der Suche nach der Ptolemäerkönige geortet. Dort befand KP geführt: Viele Kriminelle stammen letzten Ruhestätte Alexanders des sich auch die Begräbnisstätte Alexan- aus den eigenen Reihen. In der südli- Großen geführt. Der Archäologe Fausi ders, die vor den schweren Zerstörun- chen Provinz Guangdong etwa wurden el-Facharani, 77, hofft auf dem Gelände gen der Hafenstadt durch Kriege und Anfang Juni sechs Personen, darunter des Lateinischen Friedhofs nahe dem Naturkatastrophen als wohl letzter pro- hohe Zolloffiziere, hingerichtet. Sie hat- 1907 freigelegten „Alabaster-Grab“ die minenter Augenzeuge im Jahr 215 der ten, gemeinsam mit Hongkonger Krimi- Gruft mit der Mumie des hellenischen römische Kaiser Caracalla aufgesucht nellen, Tausende von Autos sowie Hun- Welteroberers zu finden. Mit elektroni- hatte. Facharani mußte jetzt die an derttausende Tonnen Stahl, Diesel und sechs Stellen angesetzten Stichgra- Zucker illegal ins Land transportiert, bungen stoppen, weil er die Arbei- unter Beteiligung örtlicher Parteifunk- ter nicht mehr bezahlen konnte. tionäre. Der Pekinger Chef der Anti- Weder die staatliche Altertums- Schmuggel-Sondereinheit, Li Jizhou, behörde noch Alexandrias Stadt- sitzt mittlerweile ebenfalls hinter Git- verwaltung standen zu ihren finan- tern. Der inzwischen abgesetzte Genos- ziellen Zusagen. Außerdem sperrt se, vormals im Rang eines Vizemini- sich die katholische Kirche gegen sters, soll von Schmugglerbanden Be- die Buddelei auf ihrem Friedhof, stechungsgelder kassiert haben. Exper- und die provisorische Grabungser- ten schätzen, daß wegen der hohen Zölle laubnis des Gouverneurs läuft Ende und Importsteuern allein 1997 Produkte August aus. Facharani hofft, zuvor im Wert von rund 15 Milliarden Dollar einen letzten Anlauf mit Hilfe von am Zoll vorbei nach China geschafft Spezialisten der deutschen Firma wurden. Die Anti-Schmuggel-Aktion Philipp Holzmann und der Geld- wirkt sich mittlerweile auf die Preise spritze eines ägyptischen Groß- aus: Chemieprodukte und Stahl wurden Alabaster-Grab in Alexandria unternehmers starten zu können. landesweit um rund 20 Prozent teurer.

138 der spiegel 26/1999 Ausland

MENSCHENRECHTE zeugnisse verwandelt, die Getreideernte habe sich „Schwarze Schafe“ halbiert, massenhaft werde Vieh geschlachtet. Die Ge- Der Schweizer Luzius Wildhaber, 62, bietsverwaltung wirft dem Präsident des Europäischen Gerichts- Admiral nach dem offen- hofs für Menschenrechte in Straßburg, herzigen Interview Ober- über die Flut der eingehenden Klagen flächlichkeit und ein loses Mundwerk vor. Regionalpo- SPIEGEL: Herr Wildhaber, allein in die- litiker fürchten jedoch seit sem Jahr sind Ihrer Kammer 10217 Kla- langem einen Kollaps der gen vorgelegt worden. Rund 47000 Be- von Moskau vernachlässig- schwerden befinden sich in der Warte- ten Provinz. Während die schleife. Werden die Menschenrechte örtliche Republikanische immer häufiger mit Füßen getreten? Partei für Abkoppelung und Wildhaber: Im Prinzip nein. Aber seit die Gründung einer „Balti- 1990 haben 17 weitere Staaten aus Mit- schen Republik Königs- tel- und Osteuropa die Menschenrechts- berg“ plädiert, schlagen konvention unterzeichnet. Jetzt sind es die Stadtväter Kaliningrads insgesamt 41, und damit nehmen auch einen Sondervertrag mit die Beschwerden zu. Brüssel und eine „weiche SPIEGEL: Um welche handelt es sich?

DPA EU-Integration“ vor – zu- Wildhaber: Am häufigsten werden die Restaurierung 1998) mal Westeuropäern seit Verschleppung von Verfahren und die März der visafreie Zugang Verletzung des Rechts auf Leben oder zu sämtlichen Nachbarstaaten möglich ist. Die Bitte hat Aussicht auf Erfolg. Auf einer des Folterverbots gerügt. Mehr als die Außenministerkonferenz des Ostseerates vorletzte Woche im litauischen Palanga setzte Hälfte aller Fälle betreffen die Tür- sich auch der deutsche Staatsminister Günter Verheugen für eine „besondere Bezie- kei, Italien und Polen – das sind hung“ zwischen der EU und Kaliningrad ein. die schwarzen Schafe. SPIEGEL: Wie wollen Sie die Klageflut be- wältigen? Wildhaber: Wir überle- FLÜCHTLINGE sind bettelarm – jeder der 5,3 Millionen gen uns Vereinfachun- Flüchtlinge in Afrika bekommt im gen. Bisher dauerte es Brennpunkte der Durchschnitt nur 21 Pfennig Unterstüt- bis zum Urteil im zung pro Tag. Die Uno hält solche Schnitt sechs Jahre, un- Prostitution „Brennpunkte der Prostitution“ für ein ser Ziel sind zwei.

erhebliches gesundheitspolitisches Risi- Aber das Grundpro- AFP / DPA rst kamen Flüchtlinge aus den Nach- ko: In vielen Bürgerkriegsregionen der blem ist strukturell. Wildhaber Ebarstaaten Ruanda und Burundi, nun Dritten Welt, wo die Anwesenheit von Unsere Verfahrensbe- folgen Prostituierte aus allen Ecken des Ausländern einen ähnlichen Sog auf Ar- dingungen sind festgeschrieben im 11. eigenen Landes: Nach Nordwest-Tansa- mutsprostituierte ausübte, sei die Aids- Zusatzprotokoll und in der Konvention. nia strömen Hunderte von Frauen, die Rate rapide gestiegen. Als zum Beispiel Einer Vereinfachung müßten alle Staa- „davon träumen, durch gewerbsmäßigen 1992/93 rund 16000 Blauhelmsoldaten ten zustimmen, das kann Jahre dauern. Sex reich zu werden“ (so ein Uno-Be- und 6000 Uno-Zivilisten Kambodscha SPIEGEL: Wissen Sie eine Lösung? richt). Kundschaft suchen die Prostitu- verwalteten, um einen Übergang zur Wildhaber: Mehr juristische Mitarbeiter. ierten vorwiegend unter den gutbezahl- Demokratie zu organisieren, trug die Das setzt eine Budgeterhöhung voraus, ten Mitarbeitern internationaler Hilfs- Prostitution maßgeblich zur Verbreitung wovon Deutschland, Frankreich und organisationen, denn die Vertriebenen der Immunschwächekrankheit bei. England als wichtigste Beitragszahler wohl nicht begeistert wären. SPIEGEL: Sie haben die Staaten aufgefor- dert, die Achtung der Europäischen Menschenrechtskonvention auf nationa- ler Ebene durchzusetzen. Welche Chan- cen hat solch ein Appell? Wildhaber: Daß unsere Rechtsprechung direkt angewendet wird, ist leider nicht einmal im Westen selbstverständlich, schon gar nicht in Mittel- und Osteuro- pa oder in den Mittelmeer-Nationen. SPIEGEL: Sehen diese Staaten ihre Sou- veränität in Frage gestellt? Wildhaber: Ja, die ist berührt. Aber das ist sie ja schon von Anfang an – wer die

AP Konvention ratifiziert hat, für den sind Flüchtlinge in Tansania unsere Urteile verbindlich.

der spiegel 26/1999 139 GAMMA / STUDIO X Entwaffnung von UÇK-Kämpfern durch Kfor-Friedenstruppen: Charme der guten Helden schnell verloren

BALKAN Die Wut der Heimkehrer Während in Serbien die Oppositionsparteien zu Massenprotesten gegen das Regime von Milo∆eviƒ rüsten, hat im Kosovo die Kfor-Friedenstruppe Mühe mit der Entwaffnung der UÇK. Jetzt üben die Albaner blutige Rache an den Serben.

en serbisch-orthodoxen Metropoli- Sto∆iƒ, 50, sein Bruder Stevan, 60, und de- Milazim Gashi, ein junger UÇK-Soldat in ten scheint die Geschichte der drei ren Freund Filip Kosiƒ, 46, aus dem Haus fließendem Deutsch. In Qyshk waren Dtoten Männer, die mit zerschosse- getragen und in den Garten verfrachtet. während der Nato-Bombardements 45 Al- nen Köpfen auf drei schlichten Holztischen Dort erhalten sie den letzten Segen der baner von serbischen Milizionären er- vor ihm in der Nachmittagssonne liegen, Kirche. schossen und verbrannt worden, darunter nicht sonderlich zu interessieren. „Dies ist Am Abend zuvor, so erzählen die Nach- Frauen und Kinder. ein Ausnahmezustand“, sagt der Geistli- barn, waren zehn UÇK-Soldaten in grü- Doch die in Belo Polje verbliebenen Ser- che und mischt Öl und nen Camouflage-Unifor- ben bestreiten diese Anschuldigungen. Die Wein mit Hilfe einer Bier- men erschienen und hatten Paramilitärs hätten sich längst aus dem flasche. die Serben vor dem Haus Staub gemacht. Die von der UÇK gemeu- Der Metropolit ist aus exekutiert. Jeweils mit ei- chelten drei Serben hingegen seien Zivili- dem benachbarten Monte- nem Schuß genau zwischen sten gewesen, „die haben nichts Schlim- negro ins nordwestliche Ko- die Augen. mes getan“. sovo gekommen. Er muß „Die drei waren Parami- Zwei Wochen sind seit der Befreiung des auf einem Hof im Wei- litärs“, sagen die Albaner Kosovo vergangen, nahezu 300000 albani- ler Belo Polje bei Peƒ eine im Dorf. „Die hatten an sche Flüchtlinge trotz Zehntausender Mi- improvisierte Beerdigung dem Massaker von Qyshk nen, Sprengfallen und Blindgänger von

vollziehen. In blutdurch- DPA teilgenommen“, behauptet Nato-Streubomben (siehe Seite 142) in ihre tränkten Wolldecken wer- Heimat zurückgeflutet. Doch längst ist die den der Serbe Radomir Fischer bei Massengrab Euphorie über das Ende des Kriegs verflo-

140 der spiegel 26/1999 Ausland gen, wachsen die Sorgen über die Zukunft grundkämpfer sich als Barbaren und grau- des Friedens in diesem internationalen Bal- same Rächer entpuppen gegen Kollabora- kan-Protektorat. teure wie serbische Zivilisten, als gewöhn- Angesichts der niedergebrannten Dörfer liche Kriminelle, die morden, plündern und und ganzer Landstriche, welche die Ser- brandschatzen. ben verwüsteten, mit dem Auffinden un- Es ist die Zeit der Vergeltung. „Im Klei- zähliger Massengräber und verstümmelter nen handeln die Kosovo-Albaner jetzt ge- Toter wächst die Wut der Heimkehrer und genüber den Serben wie die früher an ih- der Wunsch nach Vergeltung. Dabei ist das nen“, sagt Oberleutnant Michael Klinger, Gros der Täter ohnehin verschwunden und 27, aus Nürnberg, Kommandoführer der hat sich nach Serbien abgesetzt. Militärpolizei. Dort macht mit der Aufhebung des drei- Bei einer Kontrolle des von der UÇK monatigen Kriegszustands nunmehr die übernommenen MUP-Gebäudes in Priz- lange Zeit mundtote Opposition mobil ge- ren, früher Sitz der gefürchteten serbischen gen das Regime des postkommunistischen Sonderpolizei, befreite die Task Force der Despoten Slobodan Milo∆eviƒ, fordert Einsatzbrigade, die zur Patrouille umfunk- selbst dessen Regierungspartner, der Ul- tionierte Leichte Flugabwehrbatterie 300 tranationalist Vojislav e∆elj, baldige Neu- aus Fuldatal, 15 blaugeprügelte, blut- und wahlen (siehe Seite 143). kotverschmierte Geiseln aus dem Keller- Auf die Ergreifung Milo∆eviƒs als mut- gefängnis – Zigeuner, die, wie viele Roma, maßlichen Kriegsverbrecher setzten die der Zusammenarbeit mit den Serben be- USA – ein einmaliger symbolischer Vor- schuldigt werden, außerdem ehemalige al- gang in der Geschichte der modernen Staa- banische Polizisten und Verwaltungs- tenwelt – ein Kopfgeld von fünf Millionen beamte. Drei Tage lang folterten UÇK- Dollar aus. Dabei hatten gerade die Ame- Männer der 125. Brigade im Hotel Na∆ec rikaner den Belgrader Kriegsherrn noch bei Prizren zwei Kosovo-Albaner, einen 1995 beim Friedensabkommen für Bosnien 58jährigen ehemaligen Kripo-Beamten und als Partner hofiert, nach damals immerhin einen 61jährigen Gefängniswärter, bis die 250000 Toten. ebenfalls von der Kfor befreit wurden. Ins Kosovo pilgerten vorige Woche die In Sopina bei Suva Reka meldete eine Sieger. Nato-Generalsekretär Javier Sola- 32jährige Frau ihre Eltern als vermißt. Kurz na und sein Oberkommandierender, Ge- zuvor waren sie von einem UÇK-Kom-

neral Wesley Clark, ließen sich in der mando abgeholt worden. Die deutsche Mi- DPA Hauptstadt Pri∆tina von den Albanern als litärpolizei fand die beiden unter den vie- Scharping bei Besuch im Kosovo Kriegshelden feiern. Ergriffen umarmte len unidentifizierten Leichen: Der Mutter, Trost für die Kinder der Opfer Bundesverteidigungsminister Rudolf Schar- einer Zigeunerin, war der Kopf angezündet ping in Velika Kru∆a Kinder albanischer worden; dem Vater, einem blinden Serben, schen Armee: Der Serbe war mit der stump- Opfer. wurde das Leben mit einem Genickschuß fen Seite einer Axt erschlagen worden und Umjubelt wurden auch Bundesaußen- genommen. starb auf dem Transport ins Krankenhaus. minister Joschka Fischer und dessen Kol- Den grausigsten Fund der vergangenen Nur zehn Minuten später traf Menzel legen aus Frankreich, Großbritannien und Woche machte Feldwebel Dirk Menzel, 25, auf der gegenüberliegenden Straßenseite in Italien. Sichtlich bewegt rief das Quartett aus Quedlinburg auf seiner Mittags-Patrouil- einem zertrümmerten Schlafzimmer auf bei seiner Visite zur Versöhnung zwischen le durch Prizrens Serben-Stadtteil Kapats- die Leiche einer 70jährigen Frau, der mit den Volksgruppen auf und hörte sich ein harshi, dessen schmale Kopfsteinpflaster- derselben Axt in Beine und Hals gehackt peinliches Lamento serbischer Popen an, straßen steil den Hang hinaufführen. Im worden war. Nun fahndet die Militärpoli- die kein Wort des Mitgefühls fanden für Hausflur der Straße Svetozar Markoviƒ 12 zei nach dem Mörder der beiden, einem die an Albanern verübten Greueltaten. lag ein 63jähriger Mann mit klaffenden UÇK-Funktionär, den Anwohner erkannt Fischer unterzog zudem den politischen Wunden an Hals und Rücken in seinem haben wollen. UÇK-Führer Hashim Thaçi, der gut Blut. Um ihn herum, auf dem Boden, Fotos Systematisch suchen UÇK-Männer in Deutsch spricht, einer „Beichtstuhl-Son- seiner Söhne in der Uniform der jugoslawi- den Straßenzügen die Häuser der Serben, derbehandlung“. Nur wenn die UÇK sich in den politischen Prozeß einbinden lasse und am demokratischen Neuaufbau des Kosovo beteilige, könne sie auf westlichen Beistand bauen, mahnte Bonns Chefdiplo- mat: „Das geht nicht in Frontstellung gegen Serben und Russen, ihr müßt beide als Partner akzeptieren.“ Thaçi zeigte sich einsichtig, den meisten seiner Feldkommandeure und Kämpfer steht indes der Sinn keineswegs nach Ver- söhnung. Die Guerrilla-Armee hat den Charme der guten Helden schnell verloren. So erleben jetzt auch die deutschen Kfor- Friedensschützer in ihrem Sektor um Priz- ren, wie viele der ehemaligen Unter-

Beisetzung von Serben in Belo Polje

„Dies ist ein Ausnahmezustand“ AP Ausland

bedrohen oder berauben die Besitzer, wer- fen sie hinaus oder befestigen Zettel mit Namen und Kompanienummer an den Türen – für den rechtmäßigen Eigner eine Teuflische Tontauben eindeutige Warnung, auf keinen Fall zu- rückzukehren. Im Militärjargon gelten Streubomben als „Arbeitspferde“ zum Wenn Major Dietrich Jensch, 36, Chef Kampf gegen „weiche Ziele“ – gemeint sind Panzer und Menschen. der Patrouille aus Fuldatal, mit seinen Män- nern Plünderer stellt, die nun ungeniert Diese „Skeet“-(Tontauben-) Häuser serbischer Flüchtlinge ausräumen, Munition hat einen Hitzesensor. sind darunter auch fast immer Unifor- Erfaßt das Projektil eine Wärme- mierte. Nicht klar ist dabei, ob die Krimi- quelle, etwa einen Panzer, stürzt nellen tatsächlich Soldaten sind oder sich es sich auf das Ziel und schweißt nur mit der Uniform und dem UÇK-Em- sich durch den Stahlmantel. blem schmücken. Oft genug allerdings gingen die In Orahovac, zum deutschen Sektor Attacken ins Leere. Denn die Ser- gehörend, harren die serbischen Fami- ben hatten jede Menge aufblas- lien in einem kleinen Viertel aus und war- barer Gummipanzer in die Land- ten auf Stefan Ebneth, den Gebirgsjäger schaft gestellt – zum Teil mit klei- aus Mittenwald. Der hat es sich zur Auf- nen Glutöfchen. So täuschten sie gabe gemacht, die verfeindeten Grup-

REUTERS sogar die CBU-Wärmesucher. pen zu versöhnen: „Mein Vater war hier Streubomben-Opfer in Ni∆: „Kombi-Munition“ Ganze 13 Panzer, behauptete mit der Wehrmacht als Besatzer, es ist die „Times“, hätten die Nato-Jets absurd.“ achleute für das Aufspüren von zerstört – entgegen den täglichen Brüs- Stefan Ebneth will den verbitterten Minen und Bomben sind rar im seler Erfolgsmeldungen über „beträcht- Albanern zeigen, daß „man verzeihen kön- Fdeutschen Heer. Ausgerechnet liche Verluste“, an denen die Nato auch nen muß“. Und so hakt er sich bei zwei Kameraden von Luftwaffe und Mari- weiter festhält. Belege blieb die Allianz serbischen Frauen unter und führt sie aus ne, sonst gern als „Schlipssoldaten“ bislang schuldig, während die Serben dem serbischen Ghetto zum Einkaufen ins verspottet, verstärken jetzt die Heeres- vor laufenden TV-Kameras mit langen albanische Zentrum von Orahovac. „Es Pioniere der deutschen Kfor-Truppe: Kolonnen unbeschädigter Panzer ab- ist eine kleine Blüte“, sagt Ebneth über Sie kennen sich mit Raketen und Bom- rückten. seine Art der Vergangenheitsbewältigung, ben besser aus als die eher auf Land- Nicht minder teuflisch als die CBU- „die Leute selbst müssen sie zum Wachsen minen fixierten Heeressoldaten. 97 war die CBU-87. Die wird von den bringen.“ Denn das Kosovo steckt nicht nur US-Militärs seit dem Golfkrieg beson- Die wenigstens glauben daran. Der ein- voll serbischer Minen. Brisante Gefahr ders geschätzt als „Arbeitspferd“ ge- zige Ort, an dem alle Volksgruppen ge- birgt auch die Hinterlassenschaft der gen „weiche Ziele“ – das sind Militär- meinsam unter einem Dach schlafen, ist Nato-Bombardements: Vorige Woche lastwagen, Panzer und starben zwei Gurkha-Elitesoldaten der vor allem Menschen. Wirkweise der US-Streubombe CBU-97 Briten bei dem Versuch, Streubomben- Jede dieser Bomben Blindgänger unschädlich zu machen. enthält 202 „bomblets“ Wie schon im Golfkrieg 1991 nutzten (Bömbchen). Diese et- die Amerikaner den Kosovo-Konflikt wa 20 Zentimeter lan- als Experimentierfeld für neue Waffen. gen Zylinder sprengen Abwurf der Diesmal waren Streubomben (Cluster nach der Auslösung Streubombe Bombs) des Typs CBU-97/B dabei, die durch einen Annähe- Panzer-Kolonnen mit einem Schlag ver- rungszünder erst ein- nichten sollen. mal 300 rasierklingen- Ein B-1-Bomber kann 30 der knapp scharfe Schrapnellsplit- „Skeet“- 450 Kilogramm schweren CBU-97 tra- ter ab, die in weitem Munition wird gen. Ihr tödlicher Inhalt: je zehn Behäl- Umkreis jedes Lebewe- ausgeschleu- „Submunition“ ter, die wiederum je vier Kleinbomben sen zerfetzen. Dann dert und sucht ihr Ziel schwebt nach der enthalten, pro B-1-Bomber mithin 1200 bohrt sich ein Hohl- Öffnung der Bombe Stück. Je nach Abwurfhöhe decken sie ladungsgefechtskopf in am Fallschirm ein Areal von der Größe mehrerer Fuß- den Panzer – und wie ballfelder ab. nebenbei zündet ein Wie eine Muschel öffnet sich der Zirconium-Brandsatz. CBU-Behälter nach dem Abwurf und Die Militärs nennen das „Kombi-Mu- die Theologische Hochschule in Prizren. setzt zunächst zehn kleinere Zylinder nition“. Hier versammeln sich täglich zahlreiche frei. Die schweben am Fallschirm nie- Das Pentagon gibt mittlerweile zu, der Neu-Verfolgten: Albaner, die als Kol- der, bis ein Radar-Höhenmesser in pro- erfahrungsgemäß explodierten etwa laborateure gelten, Serben und Roma. Sie grammierter Höhe einen Raketen- fünf Prozent der „bomblets“ nicht. hoffen auf Busse, die sie aus der Stadt brin- treibsatz zündet. Damit werden sie Gemäß der offiziellen Bomben-Stati- gen können. wieder nach oben geschossen und in stik müßten demnach im Kosovo min- Doch die Hoffnungen schwinden, denn Drall versetzt. Aus der Drehung streut destens 11000 der brisanten Blindgän- das Uno-Flüchtlingshilfswerk UNHCR wei- jeder Zylinder – einer Tontauben- ger liegen. Sie sind grellgelb lackiert – gert sich, Fahrzeuge zur Verfügung zu stel- Schleuder ähnlich – nochmals vier Pro- damit man sie leichter findet. len, „weil wir damit ethnische Säuberun- jektile aus. Alexander Szandar gen ermöglichen würden“. Carolin Emcke, Olaf Ihlau, Susanne Koelbl

142 der spiegel 26/1999 e∆elj: Ich glaube, die Flucht der Serben wird nicht mehr zu stoppen sein. Ein Leben unter albanischer Macht ist für sie unmöglich. „IchwürdebiszumEnde gehen“ SPIEGEL: Zudem werden sich in Montene- gro die Sezessionstendenzen verstärken. Radikalen-Führer Vojislav e∆elj über die Notwendigkeit von e∆elj: Das geht nicht ohne Krieg. Denn die Montenegriner sind Serben. Neuwahlen und die Zukunft Jugoslawiens SPIEGEL: Die meisten Oppositionsparteien in Serbien fordern Milo∆eviƒs Rücktritt. e∆elj, 45, Führer der ultranationalisti- Diese Woche werden im ganzen Land Pro- schen Serbischen Radikalen Partei (SRS), testkundgebungen starten. Unterstützen ist im Bündnis mit Milo∆eviƒs Sozialisten Sie die Demonstrationen? Vizepremier Serbiens. Seine Partei stimm- e∆elj: Milo∆eviƒs Rücktritt würde zum jet- te gegen den Abzug aus dem Kosovo. zigen Zeitpunkt in Serbien zu gefährlicher Konfusion und Destabilisierung führen. Im SPIEGEL: Die USA haben ein Kopfgeld von Jahr 2001 ist sein Mandat ohnehin zu Ende, fünf Millionen Dollar für die Ergreifung eine weitere Kandidatur erlaubt die Ver- Ihres Präsidenten Milo∆eviƒ ausgesetzt. fassung nicht. Ich befürworte vorgezogene Wird Belgrad zu einer international iso- Wahlen. Natürlich besteht die Gefahr von lierten Diktator-Bastion? Straßenunruhen, doch eine verfassungs- e∆elj: Wir wollen vor allem keine Zukunft widrige Machtübernahme muß mit allen mit den Amerikanern. Deren Welterobe- Mitteln verhindert werden. rungspolitik ist noch perfider und krimi- SPIEGEL: Warum können sich die Opposi- neller als Hitlers Methoden. Wäre ich an tionsführer nicht auf eine Entmachtung der Macht, würde ich im Gegenzug sechs Milo∆eviƒs und die Demokratisierung des Millionen Dollar Belohnung für die Er- Landes einigen? greifung Clintons als Kriegsverbrecher aus- e∆elj: Bislang fanden wir mit den Soziali- loben. Unsere Zukunft liegt im Bündnis sten leichter eine gemeinsame Sprache als mit Rußland und Belorußland. mit den Oppositionsparteien. Wie soll ich SPIEGEL: Nur hat Rußland als Mitglied der mit einem Vuk Dra∆koviƒ zusammenar- G-8-Gruppe nahezu alle westlichen For- beiten? Er ist ein Verrückter und Drogen- derungen unterstützt. abhängiger. Oder mit Parteien, denen die e∆elj: Aber Rußland hat uns nicht bom- Amerikaner in Montenegro neun Millio- bardiert. Natürlich hatten wir mehr er- nen Dollar in die Taschen stecken, um das wartet, vor allem moderne Luftabwehr- Regime zu stürzen? Djindjiƒ und Obrado- waffen. Als Staatschef hätte ich zumindest viƒ sind Verräter, sie arbeiten mit unseren eine Rakete nach Aviano abgefeuert. Feinden zusammen. Trotzdem: Außer mit

Gleichwohl: Wir haben nicht kapituliert, AP Dra∆koviƒ schließe ich die Zusammenar- obwohl wir jemandem im Weg standen, Ultranationalist e∆elj beit mit anderen Oppositionsparteien nicht der stärker ist als wir. Doch die amerika- „Amerika will Serbien vernichten“ prinzipiell aus. nische Aggression ist nicht beendet. Sie SPIEGEL: Wer soll eigentlich das Land wie- wird sich fortsetzen. Sie werden von uns den Albanern denn um eine friedliche Lö- der aufbauen – wenn nicht der Westen mit auch den Sand≈ak, die Vojvodina und Mon- sung verhandeln, wenn sie alle Gespräche einem Marshallplan? tenegro fordern. Amerikas Ziel ist die Ver- boykottierten? e∆elj: Wir brauchen keine Hilfe. Wirt- nichtung Serbiens. SPIEGEL: Sie wollten den Krieg gegen die schaftlich werden wir mit allen zusam- SPIEGEL: Woher kommt diese Selbstüber- Nato um jeden Preis fortsetzen.Was hätten menarbeiten, nach dem Prinzip der Gleich- schätzung, Serbien sei der Nabel der Sie dadurch gewonnen, außer noch mehr berechtigung und der wirtschaftlichen In- Welt? Tote und Zerstörung? teressen. Die Russen dürfen eine Brücke in e∆elj: Weil wir traditionelle Verbündete e∆elj: Ich würde bis zum Ende gehen. Novi Sad wiederherstellen, die restlichen der Russen sind. Die Amerikaner wollten Auch Vietnam hat nicht kapituliert. Wir Donaubrücken muß Deutschland wieder- nicht den Kommunismus besiegen, sondern hätten das Kosovo gerettet, denn die Nato aufbauen, will es die Donau nutzen. Rußland als Supermacht liquidieren. Ruß- dachte nicht im entferntesten daran, Deutschland hat Milliarden Mark in den land liegt heute am Boden. Aber das wird tatsächlich Bodentruppen einzusetzen. Rhein-Main-Donau-Kanal investiert, die sich ändern, die Geschichte hat dies be- Als sich unsere Armee zurückzog, stellte fließen sonst in den Sand. wiesen. sich heraus, daß die Nato in zweieinhalb SPIEGEL: Jugoslawien hat bereits zwölf Mil- SPIEGEL: Die Nato hat im Kosovo interve- Monaten Bombardierung nur 13 Panzer liarden Dollar Auslandsschulden. Wie will niert, weil die Serben eine Politik der eth- vernichten konnte. Wir hatten Pseudo- es die zurückzahlen? nischen Säuberung gegen die Albaner be- Panzer aus Sperrholzplatten hergestellt, e∆elj: Überhaupt nicht. Die werden wir trieben. Die jetzt gefundenen Massengrä- und diese Verrückten haben die tatsäch- mit den Kriegsschäden aufrechnen. Un- ber sprechen für sich. lich bombardiert. Wir hatten insgesamt sere wirtschaftliche Zukunft wird ver- e∆elj: Ich kann einzelne kriminelle Taten 14 MiG-29-Kampfflieger, 11 sind unlängst dammt bitter sein. Aber für ein paar der Armee nicht abstreiten, insbesondere vom Flughafen Pri∆tina nach Serbien Silberlinge werden wir uns politisch nicht Plünderungen. Aber dies war nicht vom zurückgeflogen. Wo sind denn die großen verkaufen. Der Westen begreift einfach Staat organisiert. Natürlich wurden alba- Nato-Erfolge? nicht: Es gibt keine größere Garantie, daß nische Dörfer vernichtet, wenn diese als SPIEGEL: Das Kosovo wird für Serbien end- Slobodan Milo∆eviƒ an der Macht bleibt, terroristische Hochburgen dienten. Poli- gültig verloren sein, wenn es zum totalen als das Insistieren auf seiner Entmachtung. zeiterror gab es nur gegenüber Separati- Exodus der Serben kommt.Wie wollen Sie Der Westen kennt die serbische Seele sten und Terroristen. Wie sollten wir mit dies verhindern? nicht. Interview: Renate Flottau

der spiegel 26/1999 143 Werbeseite

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FOTOS: P. KASSIN Russisches Militär auf dem Flughafen Pri∆tina: „Befehl ist Befehl, gefragt wird bei uns nicht“

Waffenstille: Der Krieg im Kosovo ist vorbei, doch wie sieht die Friedensordnung aus? SPIEGEL-Reporter schildern den Prestigekampf um die Aufsicht über die Krisenprovinz, sie protokollieren die Probleme der Bundeswehr als Verwaltungsmacht und haben auch die Verlorenen und Verwirrten besucht – in einer psychiatrischen Klinik in Stimlje. Die Außerirdischen von Pri∆tina Im Handstreich besetzten Soldaten Moskaus den Flughafen der Kosovo-Hauptstadt. Jetzt langweilen sie sich, fragen nach dem Sinn ihrer Mission und dementieren heftig, daß ihnen jemals das Wasser ausgegangen sei.

ussen, so scheint es, kann nichts in einem von Unkraut überwucherten Feld, Es entsteht aus Holzschwellen, die Wolod- erschüttern. Vor kurzem hat der von dem er nicht weiß, wem es gehört, und ja und vier Mitkämpfer aus jenem Bahn- R20jährige Blondschopf Wolodja einen Flintenschuß von den roten Zie- gleis reißen, das hinter dem verwitterten Schmakow noch im fernen Mittelasien ge- geldächern eines Dorfes entfernt, dessen Warnschild („Keine Durchfahrt für Aus- lebt, in Duschanbe. Dann wurde er Soldat Namen er nicht kennt. Aber er findet das länder“) zum militärischen Teil des Flug- und über Nacht zur russischen Friedens- „normalno“, ganz normal. hafens und zu den Hangars der jugo- truppe nach Bosnien kommandiert. Der Betonweg immerhin, der hier von slawischen MiG-Jäger führte. Nun steht er plötzlich 20 Kilometer vor der Hauptstraße nach Osten abgeht, ist für Unter wolkenlosem Himmel flimmert der Kosovo-Hauptstadt Pri∆tina und zim- Wolodja schon vertrautes Terrain. Er endet die Hitze. Trotzdem hat Dima Solotow, der mert an einem kleinen Blockhäuschen – nach knapp einem Kilometer am Flughafen aufsichtführende Unteroffizier aus der rus- von Pri∆tina, dem strategisch wichtigsten sischen Provinz Kirow, volle Gefechtsbe- Punkt der Krisenprovinz. Und der ist seit kleidung befohlen. Er selbst lehnt träge am zwei Wochen von ihm und 200 weiteren vierachsigen gepanzerten Mannschaftswa- Landsleuten besetzt: Rußlands Faustpfand gen und lauscht russischen Schlagern aus für die Beteiligung an der Balkan-Frie- einem abgegriffenen Sony-Recorder. densmission. Auf der anderen Seite der Straße bud- Wolodja hat den Auftrag, keine Fremden delt ein zweiter, mit Präzisionsgewehren zum Flughafen vorzulassen. Als Unbefug- ausgestatteter Trupp an einem Unterstand. te gelten nicht nur Albaner, UÇK-Leute Dabei wissen die Russen nicht einmal, ob oder lästige Journalisten. Nicht willkom- ihr Schippen Sinn macht und sie in diesem men ist vor allem die unmittelbare Kon- Bereich weiter stationiert bleiben. „Aber

DPA kurrenz: Spähposten der Nato-Truppen. Befehl ist Befehl“, sagt Wolodja, „gefragt Serben auf russischem Panzer Das Blockhaus soll der Straßensperre wird bei uns nicht.“ Am Abend des 10. Juni Schwülstige Symbolik die nötige militärische Autorität verleihen. erhielten er und seine Kameraden im bos-

146 der spiegel 26/1999 lung am Flughafen von Pri∆tina zu- ner, in lokalen Scharmützeln der sowjeti- stimmen mußte und allein die Nato schen Nachwendezeit trainierte Elitesol- den Luftraum überwachen wird, die- daten, machen es sich in den Sitzgruppen se Neuigkeit hat den Vorposten bis- der Abflughalle bequem. Die Soldaten löf- lang nicht erreicht. Die Soldaten wis- feln die Suppe weiter hinten aus blecher- sen auch nicht, daß das geplante rus- nem Eßgeschirr. sische Friedenskontingent längst von Das Flughafengebäude ist wie die Lan- 10000 auf gerade mal 3600 Mann zu- debahn nahezu unzerstört. Nur ein paar sammengeschmolzen ist und keinen ausgebrannte MiG und verkohlte Hub- eigenen Sektor erhält. Fünf Batail- schrauber-Skelette am Rande der Betonpi- lone werden in den Zonen der Ame- ste zeugen davon, daß dieser Ort eines der rikaner, Franzosen und Deutschen wichtigen Nato-Zielobjekte in den Kriegs- eingesetzt. wochen war. Immerhin: An der Blockhütte vor Zwei Männer basteln an der Befeuerung dem Flughafen haben die Russen der Landebahn: „Spezialisten“, sagt der noch das Gefühl, die Welt empfinde Oberst, „ehemalige Offiziere der jugosla- Achtung und Respekt vor ihnen. Re- wischen Volksarmee.“ Er betont das Wort gelmäßig tauchen Albaner mit klapp- „ehemalige“. Natürlich wohnen die bei- rigen Traktoren auf, um ganz in der den Serben aus Sicherheitsgründen im rus- Nähe in einem ehemals serbischen sischen Stab. Jeder Schritt vom Flughafen Treibstofflager Benzin abzuzapfen. weg könnte ihren Tod bedeuten. Sie grüßen so freundlich wie die Hinter dem Kontrollturm, streng ab- Engländer, die alle naslang in „Hum- geschirmt, sitzt Rußlands „Held von Pri- vee“-Jeeps vorbeifahren und beim ∆tina“, General Wiktor Sawarsin. Die Offi- Anblick der russischen Soldaten ver- ziere hier nennen den 51jährigen den „Mi- zückt zur Kamera greifen – als sei- litärdiplomaten“, in Erinnerung an seine en mitten im Feld irgendwelche Rolle als Verbindungsmann am Brüsseler Außerirdischen gelandet. Nato-Sitz. Aber sie sagen es mit leicht iro- Sogar Soldaten mit auffällig asia- nischem Unterton. Sawarsin wäre fast in tischen Gesichtern sind am Vormit- Ungnade gefallen, weil er den Kreml nicht tag vor Wolodjas Häuschen aufge- rechtzeitig über den Beginn des westlichen kreuzt. „Can we pass by your check Luftkriegs informierte – nach der Einnah- Kommandeur Skobin: Politisches Dilemma point?“ hatten sie beflissen gefragt. me des Flughafens aber hat ihn Oberbe- Die höflichen Männer waren Gurk- fehlshaber Boris Jelzin begeistert zum Ge- nischen Camp Simin Han plötzlich den has, gestählte Kämpfer aus dem Himalaja, neraloberst befördert. Marschbefehl. Sie machten die Schützen- die härteste Truppe Ihrer Majestät. Stun- Skobin, der Kommandeur, hält die Lage panzerwagen startklar und kratzten die den zuvor hatten die Briten Richtung vor Ort für „schwierig und angespannt“. Er russischen Hoheitszeichen ab, bevor es am Pri∆tina, nur einen Kilometer vor der weiß um das politische Dilemma, in das Morgen auf den nervig langen Marsch Blockhütte, einen eigenen Kontrollposten sich Moskau manövriert hat: „Einerseits durch Jugoslawien ging – 500 Kilometer in aufgebaut und so die Russen mit ihrem hängen wir von westlichen Krediten ab, 20 Stunden. Beutestück, dem Flughafen, endgültig ein- andererseits geht es auch um russische In- Mit reichlich viel Pathos hatte der Kom- geschnürt. teressen. Und der Balkan“, doziert der mandeur die Aufgabe jenes Vorauskom- Drinnen im Airport geht es gemütlich Oberst, „ist ein strategisch exzellenter mandos beschrieben, das noch vor Ein- zu. Kommandeur Walerij Skobin, 43, Raum.Von hier aus kann die Nato ganz Eu- treffen der Nato den Flughafen von Oberst und Chef der Luftlandebrigade, hat ropa kontrollieren.“ Pri∆tina in Besitz nehmen sollte: Es gelte, gerade Essenfassen befohlen. Für die Offi- Warum nur die Nato? Skobins Worte im Kosovo auch für die unterlegenen Ser- ziere wird das Mittagsmahl im ehemaligen werden von Triebwerkslärm verschluckt. ben den Frieden zu sichern, für Leute, die Duty-free-Shop ausgegeben: Nudelsuppe Draußen donnern zwei englische Kampf- plötzlich zur Minderheit in ihrer histori- mit Kartoffeln im blauen Plastikgeschirr, hubschrauber übers Flugfeld hinweg, als schen Heimat wurden. Ein Auftrag ganz geschmorter Kohl mit Fleisch, schließlich wollten sie die Schwäche der russischen Po- im Sinne jener Losung, die in Simin Han Tee und zum Dessert Konfekt – die Män- sition deutlich machen. „Unangemeldet“, über dem Appellplatz hängt: räumt der Oberst nervös und verärgert ein, „Dem Balkan Frieden – Rußland „die fragen uns erst gar nicht.“ Daß seinen Ruhm“. Männern bereits das Wasser ausgegangen Die Euphorie über den Hand- sei und die Briten ihnen zu Hilfe eilen muß- streich hat sich gelegt und einer ten, nennt er „eine böse Ente“. Vielmehr quälenden Ungewißheit Platz ge- seien die Briten von sich aus damit ange- macht. Niemand weiß, was jetzt kommen, „denn wir haben vom Wasser bis auf dieser slawischen Insel mitten zur Feldbäckerei alles dabei“. im britischen Sektor getan wer- Während die Russen beim Einmarsch den muß. „Es ist wie immer bei noch die Nato austricksten, fühlen sie sich uns in Rußland“, sagt Wolodja mit nun selbst an der Nase herumgeführt. „Wir einem Anflug von Kritik an der sollen vor allem die Serben schützen“, Obrigkeit. „Da machen sie irgend lacht ein nach GI-Manier kahlgeschorener etwas, und dann wissen sie nicht, Offizier vor dem Duty-free-Geschäft, wie es weitergeht.“ „aber die sind wie die Zigeuner und Juden Daß Moskaus Verteidigungsmi- längst weg.“ In Wirklichkeit seien sie, die nister gegenüber den Amerika- Russen, im Krisengebiet nicht sonderlich nern inzwischen einer Machttei- Russen in Flughafenkantine: „Erfinder der Serben“ erwünscht, schwant einem anderen. Habe

der spiegel 26/1999 147 der deutsche Kommandeur Fritz von Korff nicht bereits verlauten lassen, statt der ver- einbarten 750 russischen Soldaten höch- stens 250 in seinen Sektor zu lassen – und dann auch nur in irgendein gottverlasse- nes Dorf? Der Fluglärm draußen macht Skobin un- ruhig. Er fürchtet, die Engländer könnten plötzlich mit einer Transportmaschine auf der Piste landen und Rußlands Coup ent- werten. Seit Tagen basteln die Russen des- wegen an einem neuen Überraschungsplan: Premier Sergej Stepaschin, der sich zu ei- ner Inspektion im Kosovo angekündigt hat, soll unbedingt als erster mit seiner Maschi- ne hier in Pri∆tina landen. Bislang galt als abgesprochen, daß zur Eröffnung des Kfor- Flughafens eine britische und eine russi- sche Maschine gleichzeitig einschweben – schwülstige Symbolik, die die Risse zwi- schen Russen und Nato überdecken soll. Außerdem ist zu Hause noch lange nicht alles im Lot. Zwar stehen in Iwanowo, Pskow und Rjasan genügend Luftlande-Ba- taillone für den Einsatz bereit. Aber die Gouverneure in Rußlands Föderationsrat, der dem Balkan-Einsatz seinen Segen ge- ben muß, halten die Mission bereits für ein Verlustgeschäft. Jährlich 140000 Dollar pro Soldaten bereitzustellen, wie es die Schwe- den tun, sei einfach unmöglich. Die Regie- rung will nur rund ein Zehntel des Betra- ges ausgeben. Und wie eine verspätete Abrechnung mit der einst erdrückenden Brudermacht wirkt die Haltung der Ungarn, Rumänen und Bulgaren, die den russischen Trans- portflugzeugen bislang unter allerlei Vor- wänden den Überflug Richtung Jugosla- wien verweigerten. Nur die Ukraine habe der Luftbrücke zugestimmt, weiß einer der russischen Offiziere in Pri∆tina – und exor- bitante 40 000 Dollar pro Maschine ver- langt: „Das sind jene Ukrainer, die täglich heimlich für fünf Millionen Dollar Erdgas aus unseren Transitpipelines abzweigen.“ Wolodja, der Posten in dem fast ferti- gen Blockhaus draußen vor dem Flugplatz, ahnt nichts von alledem. Er hat andere Sor- gen. Ab und an kommen Teams vom russi- schen Fernsehen vorbei und mahnen zu äußerster Vorsicht vor den Albanern. Die würden alle Russen für Spione halten. Es habe Durchsuchungen in den von Mos- kauer Journalisten angemieteten Wohnun- gen in Pri∆tina gegeben; aus Furcht vor Übergriffen hätten sich die meisten inzwi- schen auf einer Etage im Grand Hotel verschanzt. Muslime sind halt Muslime, das wisse man ja aus Tschetschenien, meint Wolod- ja. Aber er sagt das nicht mehr mit der sonst üblichen russischen Herablassung so dahin, seit ein albanischer Taxifahrer im grauen Mercedes bei ihm hielt und dro- hend herüberschrie: „Ihr Russen seid genauso wie diese barbarischen Serben – ihr seid die Erfinder der Serben schlecht- hin!“ Christian Neef

der spiegel 26/1999 Ausland

zeigen. 16 Quadratmeter, wo neun Kinder ihre dürren Oberkörper hin- und herpen- deln, mit keinem anderen Spielzeug als ei- Mutig im verrückten Krieg nem defekten Fernseher. Die Patienten sagen, sie hätten vom Nur unter den Insassen des psychiatrischen Krieg draußen nur eine Nato-Bombe mit- bekommen, drüben im Wald. Krieg war, Krankenhauses von timlje konnte die alte Vielvölker- als es nichts mehr zu essen und zu Gemeinschaft Jugoslawien überleben. rauchen gab und die albanischen Pfle- ger plötzlich verschwun- uch das hat es gege- den waren. „Hier leben ben: Eine Serbin, die alle zusammen“, sagt ein Atäglich an die Straße runder Mann, der seinen ging, um vom Zaun aus die Pyjama trägt wie einen serbischen Soldaten anzu- Anzug. schreien: „Warum müßt ihr Die meisten wollen nur unschuldige Kinder um- raus, zu ihren Famili- bringen? Dieses Volk will en oder dorthin, wo es frei sein!“ Das war mutig, mehr zu essen gibt als mitten im Krieg.Auch wenn trocken Brot und mittags Svetlana Prsiƒ Psychotike- ein Ei. „Serbien“ sei so rin ist und der Zaun die ein Ort, sagt Jakob Rukelj, Umsperrung der psychiatri- der Kroate, mit müder schen Anstalt von timlje, Stimme. im Kosovo. „Die Nato schützt uns. „Warum ich es tat? Die Das steht in den Papie- albanischen Kinder schlie- ren“, sagt ein Roma-Jun- fen im Schnee und die ser- ge mit Zigarette im Mund

bischen am Ofen“, wird FOTOARCHIV / DAS M. MATZEL FOTOS: und Tito-Stickern an der übersetzt, was Svetlana Psychiatriepatienten: Das einzige Spielzeug ist ein defekter Fernseher Militärmütze. Er zeigt die sagt. Eine junge zahnlose abgeworfenen Nato-Flug- Frau, die Gedichte schreibt. Sie sagt, die ten und einige Mazedonier“, sagt der De- blätter, die in der Klinik getauscht wer- vorbeiziehenden Soldaten hätten sie nicht fektologe. Seine Kranken sprächen eine den wie Fußballbildchen. Hinter ihm wird ernst genommen: „Sie haben reagiert wie „internationale Sprache“ und vertrügen gerade nach einem langen Frieren- die Götter. Haben vergessen, daß wir im- sich – „obwohl es vorkommt, daß manch- den mit einem Stock geschlagen, weil er mer zusammengelebt haben.“ mal einer ,Serbien, Serbien!‘ schreit“. Be- einen Stapel Musikkassetten an sich „Svetlana sagt, was sie denkt“, meint sonders während des Kriegs, als die Pfle- drückt. der neue Anstaltsleiter, Sadik Musliu, der ger mobilisiert waren und mit Gewehr Durch das serbische Fernsehen ist auch im alten Jugoslawien den Beruf des „De- und Uniform in die Anstalt kamen: „Die ein wenig von dem in die Anstalt gekom- fektologen“ studiert hat. „Das war nicht serbischen Patienten haben sich stärker men, was draußen als normal gilt. Jakob, selbstverständlich während der Offensive gefühlt. Die anderen hatten Angst. Wir der Kroate, sagt plötzlich, daß die Patien- der Serben.“ auch.“ ten nach Ethnien getrennte Zimmer haben Aber was versteht sich schon von selbst Sadik Musliu flüchtete in die Berge und wollten.Warum? „Weil wir uns hassen, weil in einem Land, wo Männer an den Hoden kam erst mit der Kfor zurück. Er fand das wir uns hassen.“ aufgeknüpft worden sind, weil sie den Kliniktor weit offen. Das serbische Perso- Aber der traurige Mann in der Leder- falschen Nachnamen trugen? Wo heute die nal war, bis auf zwei alte Putzfrauen, da- jacke, Dejan Selimoviƒ, ein Roma, der hier Hunde eingehen, weil sie die letzten Wo- vongelaufen. Die Direktorin, Frau Vesna nur aufbewahrt wird, weil ihn draußen kei- chen von Kadavern gelebt haben, und nicht Stamenkoviƒ, hatte alle Telefone und Fern- ner haben will, sagt: „Albaner oder Ser- nur von tierischen? seher in den Klinikbus gepackt und war ben, das ist mir scheißegal. Ich will nur Der einzige offizielle Aufenthaltsort für verschwunden. Vorher hatte sie das Tor nicht mehr mit Verrückten zusammen- psychisch Kranke ist diese Anstalt am Orts- aufgesperrt und den Patienten gesagt, daß leben.“ Alexander Smoltczyk eingang von timlje, 26 Kilometer süd- sie jetzt „niemand mehr vor den Ter- westlich von Pri∆tina. An einer Straße, die roristen schützen“ könnte. von der Kfor den Codenamen „Duck“ be- Dreizehn Kranke flohen, die ande- kommen hat, verbergen sich einige mit ge- ren blieben. Aus Angst oder weil sie klebten Wollblumen verzierte Gebäude, in zu entkräftet waren, um durchs Tor denen es nach Putzmittel riecht und nach zu gehen. In den Kriegsmonaten hat- Urin. Geschorene Alte schlurfen die Wän- te es kaum zu essen gegeben. de entlang, manche kauern stieren Blicks in Zu essen gibt es auch nach der Be- einer Ecke, in Lumpen und mit Rasiersei- freiung des Kosovo nicht viel. Das fe verklebt. Irgendwoher hört man ein spit- „International Medical Corps“ brach- zes Bellen. te eine Kiste Medikamente, klebte Diesen Menschen, den 303 Alkoho- ihre blauen Aufkleber an das Tor und likern, Schizophrenen,Verlassenen,Alten, sei bisher nicht wieder aufgetaucht, Depressiven, Hinkenden und Wütenden sagt Musliu. ist es überlassen geblieben, die jugoslawi- Er arbeitet mit seinen 22 verblie- sche Idee weiterzuleben – sie haben auch benen Pflegern ohne Gehalt. Früher keine Wahl: „Wir haben Zigeuner, Serben, waren sie 87 Mitarbeiter. Vermutlich 90 Albaner, Montenegriner, einen Kroa- ist es ihm peinlich, den Kindertrakt zu Psychiatrie von timlje: „Die Nato schützt uns“

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gut wie überhaupt keine staatlichen Struk- turen mehr.“ Der Runde Tisch bei der Kfor ist bislang die einzige Koordinierungsstelle „Wir beginnen bei Null“ – die Offiziere des Kommandeurs der deut- schen Einsatzbrigade, General Fritz von Die Bundeswehr versucht, in ihrem Korff, versuchen dort, die drängendsten Probleme zu lösen. Sektor Verwaltung und Infrastruktur aufzubauen. Mißtrauisch beäugt von den Deutschen, Deutsche Polizisten sollen nun helfen. bemüht sich auch die selbsternannte Al- baner-Regierung unter dem UÇK-Führer er serbische Leichenwagenfahrer Hashim Thaçi, die Situation unter ihre Kon- von Prizren hatte kurz nach dem trolle zu bekommen. „Wir beginnen bei DEinmarsch der Nato-Truppen sei- Null“, sagt Kadri Kryeziu, 40, der von nen letzten Auftrag: Er holte die Leiche Thaçi als Präfekt für die Stadt Prizren und des ermordeten deutschen Fotografen das Umland eingesetzt wurde. „Viele Al- Volker Krämer ab. Danach verschwand der baner, die vor zehn Jahren von den serbi- Mann spurlos, mitsamt seinem Wagen. schen Besetzern vertrieben wurden, keh- So wie er haben fast alle alten Funk- ren jetzt zurück und fangen in ihren alten tionsträger die Stadt verlassen, von der aus Positionen wieder an.“ jetzt die Bundeswehr den deutschen Sek- Eines der Hauptprobleme ist das Feh- tor im Kosovo kontrolliert. Die Serben, die len von Polizei und Justiz. Es gebe, so Ge- sich alle Führungspositionen in der Stadt- neral Korff, „in weiten Teilen einen recht-

verwaltung unter den Nagel gerissen hat- FOTOARCHIV K. MÜLLER / DAS FOTOS: losen Raum“. Mord und Vergewaltigungen, ten, flohen mit den Militärs und Polizisten. Bundeswehrgeneral von Korff (M.) Raubüberfälle und Plünderungen sind an Jetzt bemühen sich Bundeswehr, selbster- „In weiten Teilen rechtloser Raum“ der Tagesordnung. nannte Machthaber und albanische Ange- Nach einem Kabinettsbeschluß von ver- stellte, eilends so etwas wie eine Verwal- eigenen Nachschub beschäftigt haben, gangener Woche sollen nun 200 deutsche tung aus dem Boden zu stampfen und le- müssen nun allzuoft zwischen verfeindeten Polizisten ins Kosovo geschickt werden, für benswichtige Infrastruktur aufzubauen. Volksgruppen manövrieren. So wollte der die Innenminister-Konferenz am Montag „Kein Amtsleiter war nach unserem Ein- Tankwart in dem Bergort Draga∆, der über dieser Woche hat die Bundesregierung ein marsch mehr zum Dienst erschienen, selbst 3500 Liter Benzin wachte, nicht an Serben Aufbaukonzept vorgelegt. Danach soll der im Gefängnis war nur noch der Hausmei- und vermeintliche Kollaborateure verkau- erste Trupp „so bald wie möglich“ los, 100 ster“, klagt Oberstleutnant Helmut Enke, fen. Erst als ein deutscher Panzerkom- weitere Beamten sollen folgen – zwei Drit- 54, der die Zusammenarbeit der Militärs mandant die Maschinenkanone seines tel davon sollen die Länder schicken, ein mit der Stadt organisiert. „Wir haben erst „Marders“ auf die Zapfsäule richtete, be- Drittel der Bund. Auch dem Internationa- einmal Vertreter aller Behörden und wich- kam jeder Kunde 15 Liter Treibstoff. Jetzt len Strafgerichtshof sollen deutsche Fahn- tigen Betriebe zum Runden Tisch einge- weigert sich nur noch der Postbeamte des der bei der Jagd auf Kriegsverbrecher laden und eine Bestandsaufnahme ge- Ortes, seine Filiale zu eröffnen. Viele Al- helfen. Identifizierungsspezialisten des Bun- macht.“ baner hatten dort ihre Sparbücher, und die deskriminalamtes könnten eingesetzt wer- Die ersten Erfolge: Die Stromversorgung sind, so der bisherige Stand, nun wertlos. den, dazu „gemeinsame Ermittlungsteams ist vorerst gesichert, das Wasserwerk kann Der Postler fürchtet Lynchjustiz. aus Bund und Ländern“. 650 Liter pro Sekunde liefern, und seit ver- Banken und Poststellen sind auch in Derweil spielen Thaçi-Getreue auf eige- gangener Woche wird auch der Müll wie- Prizren noch geschlossen.Wo das Geld ge- ne Faust Polizei. Täglich machen UÇK-Sol- der abgefahren. Im Krankenhaus ist jetzt blieben ist, ist unklar. Dafür funktioniert daten Gefangene, die sie als Plünderer oder zumindest klar, daß jeder Kranke behan- das innerstädtische Telefonnetz schon wie- Söldner der Serben bezeichnen. „Ohne delt wird, sei er ein Albaner oder ein Ser- der, die Zeitung „Koha ditore“ erschien uns“, so Kryeziu, „wird Kfor die Krimina- be. Das war die Bedingung der Bundes- letzte Woche mit einer Gratisausgabe, ein lität nie in den Griff bekommen. Wir ken- wehr, die 1,7 Tonnen Medikamente und Radiosender ging ebenfalls in Betrieb. nen die Menschen und ihre Mentalität, die Sanitätsmaterial lieferte. Dennoch hat die Realität die schlimm- Deutschen kennen sie nicht.“ Die deutschen Soldaten, die sich bislang sten Erwartungen der Bundeswehr über- Mittlerweile hat die Bundeswehr im höchstens mit Personalplanung und ihrem troffen. „Es gibt“, so ein Stabsoffizier, „so Gefängnis von Prizren knapp 100 Ver- dächtige eingesperrt – doch was nun? Zerstörter serbischer Panzer (bei Drenica): Plünderungen sind an der Tagesordnung Sichtlich erleichtert verkündete General Korff Ende vergangener Woche die An- kunft von Oberst Gert Both, 59, einem Juristen. Noch während der Offizier zum ersten- mal die Häftlingsakten durchblätterte, stell- te sich ihm der ebenfalls von Thaçi einge- setzte Gerichtspräsident Et-hem Rogova vor, der 1991 von Serben aus seinem Rich- teramt gejagt wurde. Jetzt denkt Both dar- über nach, auf welcher Grundlage Rogova Urteile fällen soll – wahrscheinlich werden sie zu Gesetzen aus der Tito-Zeit greifen. Der Vorteil laut Both: Richter und Be- völkerung wären mit diesen Gesetzen vertraut; sie entstanden lange vor der Milo∆eviƒ-Ära. Andreas Ulrich Werbeseite

Werbeseite Ausland AP REUTERS Vernichtung von Dioxin-Hühnern, Bauernprotest in Brüssel: Die Krebsgiftspur zieht sich durch ganz Europa

BELGIEN „Nur wer schweigt, der bleibt“ Die Affäre um die Dioxin-Hühner hat es noch einmal deutlich gemacht: Der korrupte belgische Staat muß sich an Haupt und Gliedern erneuern.

ie Frau mit den verbundenen Au- weil der ihn mit Fragen nach seiner ver- Der Prozeß gegen Dutroux ist aufs Jahr gen krümmt sich vor Schmerz. Ein schwundenen Tochter nervte. Ein Jahr spä- 2001 verschoben, angeblich weil Beweise Dfunkelnder Dolch steckt in ihrem ter gruben Spürtrupps auf einem Grund- fehlen. Inzwischen sind mehrere Zeugen Rücken. Ein finsterer Maskenmann hat aus stück des Kinderschänders Marc Dutroux ermordet worden oder auf merkwürdige dem Dunkel heraus zugestoßen. Daneben in Jumet die Reste der Leichen von An Weise umgekommen. Belgische Politiker auf dem Boden liegt in einer Blutlache die Marchal und ihrer Freundin Eefje aus. sind bemüht, das große Vergessen über den Waage der Justitia. Marchal hat eine Partei gegründet, deren Fall zu breiten, weil offenbar auch politi- Für Sonderschullehrer Paul Marchal, der Ziel es ist, ein besseres Belgien zu schaffen. sche Prominenz darin verstrickt ist. im flämischen Provinzstädtchen Hasselt Er sagt: „Hier ist überall parteipolitische Und nun der Dioxin-Hühner-Skandal: ein Hilfszentrum für mißbrauchte Kinder Protektion im Spiel, bis ins kleinste Amt. Belgische Waren werden an den Grenzen eingerichtet hat, ist das schaurige Ölbild Viel zu viele lassen sich da mitschleppen. zurückgewiesen, Lebensmittel für viele in seinem Büro das Gleichnis für den ge- Ihre Devise: Nur wer schweigt, der bleibt.“ Millionen Mark müssen vernichtet werden. schundenen belgischen Rechtsstaat. Wie Das Wahlvolk scheint seine Botschaft aber Die Spur des Krebsgiftes in Hühnern und ihn dieses Land manchmal anwidert. nicht verstanden zu haben. Die „Partei für Eiern zieht sich durch ganz Europa. Am Als „Essigpisser“ hat der Polizeikom- eine neue Politik“ kam bei den Wahlen Mittwoch mußte die Regierung in Brüssel missar in Brügge Paul Marchal beschimpft, Mitte Juni nicht einmal auf ein Prozent. einräumen, daß verdächtiges Futtermittel-

152 der spiegel 26/1999 fett von belgischen Dioxin-Panschern auch Belgien blieb in seiner ganzen Ge- nach Spanien geliefert worden war. Nur Der Lebensmittelskandal schichte stets ein Flickwerk aus zwei Eth- ein Bruchteil davon ist bisher aufgespürt. paßt ins Schmuddelbild nien, den französisch sprechenden Wallo- Die Brüsseler Tageszeitung „De Morgen“ nen im Süden und den niederländisch spre- will erfahren haben, daß einzelne Liefe- chenden Flamen. Über ein Jahrhundert rungen auch nach Deutschland, Frankreich lang war die Grenze dieser Kulturen auch und Luxemburg gingen. eine Grenze der Klassen. Die Stahl- und Die Fahnder finden immer neue, Kohlebarone Walloniens machten Kasse, schwarze Kladden. Vergangene Woche die flämischen Bauernjungen aus dem Nor- tauschten die Behörden den einen Haupt- den machten die Arbeit. verdächtigen gegen den anderen aus. Sie Belgiens Nachkriegspolitiker versuchten ließen die Fettschmelzer Lucien und Jan das Land zu stabilisieren, indem sie so pro- Verkest aus dem flämischen Deinze frei porzgerecht wie möglich Pfründen und und verhafteten Jean Thill von der Firma Staatsämter an beide Bevölkerungsgrup- Fogra aus dem wallonischen Bertrix. Aus- pen verteilten. Das zweigleisige Amigo-Sy- gerechnet Bertrix: Kinderfänger Dutroux stem, von dem die Sozialisten im Süden hatte dort sein letztes Opfer entführt. und die katholischen Christdemokraten im Fettmischer Fogra, der Abfallfette auf- Norden gleichermaßen profitierten, blähte

bereitet und seine Mixturen an Verkest lie- AP den Behördenapparat immer stärker auf. ferte, hatte über die Jahre gebrauchte Fri- Ermordeter Sozialistenchef Cools (1991) Jeder fünfte Beschäftigte in Belgien arbei- tieröle aus belgischen und nordfranzösi- „Das Gedächtnis des belgischen tet heute im Öffentlichen Dienst, und jeder schen Container-Parks aufgekauft. In seine Volkes funktioniert schlecht“ von ihnen ist in sein spezielles Bezie- Schmelzkessel kippte er auch kontami- hungsgeflecht eingebunden. nierte Plastikkübel. Nichts läuft ohne den „bras long“, den Belgien, das schmutzige Land: unaufge- langen Arm. Wer eine Autozulassung oder klärte Morde, Attentate auf Polizisten und eine polizeiliche Aufenthaltsgenehmigung Journalisten und nach 15 Jahren noch im- beantragt, muß wochenlang warten. Wer mer keine Spur der „Mörder von Bra- dagegen das richtige Parteibuch oder Kon- bant“, die in den achtziger Jahren bei takte nach oben hat, wird prompt bedient. Überfällen auf Tankstellen und Super- Nato-Generalsekretär Willy Claes aus märkte 28 Menschen erschossen. Immer Brüssel mußte sein Mandat niederlegen, und überall das gleiche Elend: Akten ver- weil er als sozialistischer Wirtschaftsmini- schwanden, wichtige Aussagen blieben un- ster Überweisungen in Millionenhöhe auf gehört, Zeugen wurden umgebracht. das Konto seiner Partei nicht erklären

Der jüngste Lebensmittelskandal paßt PRESS ACTION konnte. Er wurde im Dezember letzten gut ins belgische Schmuddelbild. Monate- Ex-Nato-Generalsekretär Claes (1995) Jahres wegen Bestechlichkeit zu drei Jah- lang wurden Meldungen über das Gift in Drei Jahre Gefängnis auf Bewährung ren Haft auf Bewährung verurteilt. Die Af- der Nahrung verschwiegen. Minister muß- wegen Bestechlichkeit färe Claes ist eine der wenigen, die aufge- ten zurücktreten, weil sie von der Verseu- klärt wurden. chung gewußt, aber die Öffentlichkeit dar- Die Arbeit parlamentarischer Untersu- über im dunkeln gelassen hatten. chungsausschüsse – von denen es in den Die Belgier haben ihrem Staat noch nie letzten 20 Jahren 14 gab – vollzieht sich getraut. Viele verachten ihn, weil er im gleichfalls nach Maßgabe der politischen Zweifel immer die Partei der Mächtigen Farbenlehre. Als in dem Bericht über die ergreift. Sinnfälligster Ausdruck für den Justizschlampereien im Fall Dutroux ein kleinbürgerlichen Anarchismus des Volkes hoher Beamter der Reichspolizei kritisiert ist das Manneken-Pis in der Brüsseler Alt- werden sollte, legten sich die Christdemo- stadt, das lustvoll und frivol auf die belgi- kraten quer. Die Hintermänner der Killer, schen Verhältnisse zu urinieren scheint. die den ehemaligen Vizepremier und So- Der Schriftsteller Jef Geeraerts, der die zialistenchef Walloniens,André Cools, 1991 korrupte Politikerkaste porträtiert hat, be- vor dem Haus seiner Geliebten in Lüttich schreibt die Seelen- und Gemütslage seiner erschossen, waren enge Mitarbeiter eines Landsleute so: „Das Gedächtnis des belgi- gleichfalls sozialistischen Ministers. schen Volkes funktioniert schlecht. Der Cools, der starke Mann der Sozialisten, Belgier ist ein Pragmatiker, der nicht wei- war selbst tief in das korrupte System ver- ter als sieben Tage im voraus denkt. Was strickt.Wann immer ein Unternehmen sich hinter seinem Gemüsegarten passiert, das um einen Staatsauftrag bewarb, mußte es interessiert ihn nur in den Momenten na- erst einmal der Sozialistischen Partei ein tionaler Rührung. Die strukturellen Aspek- ordentliches Bakschisch zahlen – die „taxe te des Elends beschäftigen nur einige Ver- révolutionnaire“, wie er das nannte. rückte – wie mich.“ Die verluderten Sitten prägen auch den Gemeinsinn ist für die Belgier ein Umgang in der Europa-Kapitale Brüssel. Fremdwort. Nur, wie hätten sie auch je- Einmal im Jahr gehen Polizisten und Feu- mals das fürs Funktionieren ihres Staats- erwehrleute durch die besseren Viertel

wesens erforderliche Gefühl des Zusam- A. NOGUES / SYGMA der Stadt und verlangen einen kleinen menhalts entwickeln sollen? In jahrhun- Demonstration gegen Dutroux (1996) Obolus. Dafür kleben sie Plaketten gut dertelanger Fremdherrschaft hat sich ihre Akten verschwinden, Aussagen bleiben sichtbar an die Garagentore. Es heißt, in kollektive Verhaltensmaxime erhärtet. Sie ungehört, Zeugen werden ermordet Häuser mit Plakette würde seltener einge- lautet kurz und bündig: s’arranger. brochen. Sylvia Schreiber

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es“, schrieb die noch vor Wochen gegen nerstag. Außerdem müsse das Parlament TÜRKEI Öcalan wetternde Zeitung „Sabah“, „jetzt einer Hinrichtung ausdrücklich zustimmen. brauchen wir einen Staatsmann mit Cou- Ministerpräsident Bülent Ecevit hat sich Historische rage. Laßt uns den Terror beenden. Auch wiederholt gegen die Todesstrafe ausge- die Kurden sind unsere Kinder.“ sprochen. Seine beiden Koalitionspartner Eine „historische Chance“ witterte die bekräftigten zwar noch vor kurzem, sie Chance in Kurdenfragen sonst unerbittliche „Hür- wollten für Öcalans Hinrichtung stimmen. riyet“: „Sollen wir uns für die Vergangen- Doch die Beruhigung der nationalistischen Ein toleranter Richter heit rächen oder lieber an das Leben der Wählerschaft ist längst nur mehr ein Ge- noch ungeborenen Generationen denken?“ sichtspunkt unter anderen. brachte die Öcalan-Gegner Und „Milliyet“, die dritte große Tageszei- So sind die Buchungszahlen an der tür- zur Besinnung. Nun liegt tung des Landes, gab indirekt zu, woher die kischen Südküste 1999 drastisch eingebro- das Schicksal des PKK-Chefs Skrupel kommen: „Wenn es ein Todesurteil chen; Wirtschaftsverbände und Reisever- beim Parlament. gibt, aber danach keine Hinrichtung, dann anstalter wie der Hamburger Vural Öger müssen wir das nur dem türkischen Volk sagen eine Apokalypse des türkischen er Verteidiger kramte ein Detail erklären. Doch wenn Öcalan tatsächlich Fremdenverkehrs voraus, sollte die Kur- nach dem anderen aus der 4000jäh- gehenkt wird, dann müssen wir’s der denfront nicht endlich beruhigt werden. Drigen Geschichte des kurdischen ganzen Welt erklären.“ Im November wird Istanbul außerdem Volkes hervor. Die Richter gähnten, der Die Türkei, die seit Öcalans Festnahme Schauplatz eines Gipfeltreffens der Konfe- Angeklagte döste in seinem kugelsiche- im Februar voller Genugtuung und Häme renz für Sicherheit und Zusammenarbeit in ren Glaskäfig vor sich hin. „Du Esel, du Richtung Europa blickte, scheint vor einer Europa (OSZE) sein. Ecevit, so ein deut- Sohn eines Esels“, zischte plötzlich und epochalen Einsicht zu stehen: Mit einer scher Diplomat, möchte, daß neben ande- kaum hörbar ein Vertreter der Nebenkla- Hinrichtung Öcalans würde sich nicht nur ren Staats- und Regierungschefs auch der ge über die Barriere zu Öcalans Anwalt im eigenen Land die Spirale der Gewalt amerikanische Präsident Bill Clinton nach hinüber. weiterdrehen – Ankara könnte sich auch Istanbul kommt – „also wird er alles tun, „Euer Ehren“, unterbrach um eine Hinrichtung Öca- der Verteidiger sein Plädoy- lans zu umgehen“. er, „die Gegegenseite hört Dem 74jährigen Premier nicht auf, uns zu beleidigen. steht eine Menge Überzeu- Bitte unternehmen Sie et- gungsarbeit bevor – denn was.“ Turgut Okyay, Vorsit- mit der Urteilsverkündung zender Richter des Zwei- am Dienstag wird der ten Staatssicherheitsgerichts Schwarze Peter vom Son- von Ankara, schwollen die dergericht auf der Insel Im- Adern, und wieder traf es rali wohl ans Parlament wei- die Kläger. „Mir reicht es“, tergereicht. Richter Turgut fuhr er die Anwälte der Hin- Okyay dürfte um ein To- terbliebenen aus 15 Jahren desurteil kaum herumkom- Kurdenkrieg an. „Wir sind men, auch wenn Öcalans An- hier in einem Gerichtssaal wälte letzte Woche überra- und nicht im Kaffeehaus. schend nicht auf Freispruch, Nehmen Sie das endlich zur sondern auf eine Verurtei- Kenntnis.“ lung nach Paragraph 168 des Richter Okyay hat das Strafgesetzbuches plädierten Zeug, als Revolutionär in die – Bildung einer bewaffneten Geschichte der modernen Bande, zu ahnden mit min- Türkei einzugehen – falls destens 15 Jahren Haft.

Generalstab und Parlament REUTERS Öcalan selbst hat dem in Ankara es denn wagen Angeklagter Öcalan: „Laßt uns den Terror beenden“ Richter keine Wahl gelassen: sollten, seinem Beispiel zu Er trage die politische Ver- folgen. Mit einer Verhandlungsführung, die endgültig von seinen europäischen Ambi- antwortung für alle Taten der PKK, hatte neben den „Märtyrer“-Witwen und den tionen verabschieden. er in seiner Verteidigungsrede noch ein- Invaliden der türkischen Armee zum er- Zu Beginn der letzten Verhandlungswo- mal bekräftigt. stenmal auch PKK-Chef Öcalan und sein che kam schließlich das erste politische „Psychologisch hätte ein Todesurteil auf Advokatenteam zu Wort kommen ließ, Signal des Entgegenkommens: Nach jah- dem Papier vielleicht sogar einen Sinn“, so schuf Okyay eine Atmosphäre, in der sogar relangem Palaver und vergeblichen Prote- ein westlicher Diplomat, der die letzten wieder ungestraft räsoniert werden durfte sten des Straßburger Gerichtshofes für Verhandlungstage auf Imrali verfolgt hat. über ein friedliches Zusammenleben von Menschenrechte verbannte das Parlament „Es könnte nach 15 Jahren Krieg und mehr Türken und Kurden. den umstrittenen Militärrichter aus den als 30 000 Toten eine Katharsis in Gang „Kein Zweifel“, so der vom Straßburger Staatssicherheitsgerichten. bringen, auf die 80 Prozent der Türken of- Europarat entsandte Prozeß-Beobachter Die Gemäßigten in Ankara haben in- fenbar angewiesen sind.“ András Barsoni, „wir haben ein faires Ver- zwischen erkannt, daß sie auf Europa an- Danach stehe es den Abgeordneten fahren gesehen.“ Das ungewohnte Lob hat gewiesen sind. Mit einem erstinstanzlichen schließlich frei, Öcalan den Galgen zu er- Eindruck gemacht und Nachdenklichkeit Todesurteil, so Staatspräsident Süleyman sparen und damit einen jahrzehntealten verbreitet in der Türkei – vor allem weil es Demirel, sei das Verfahren gegen Öcalan Konflikt zu entschärfen. 33 Todesurteile aus dem Westen kam. noch nicht zu Ende: „Der Europäische Ge- sind seit 1984 verkündet worden, doch kei- Erst zögerlich, doch inzwischen unüber- richtshof für Menschenrechte kann die nes davon wurde vollstreckt. Das Parla- hörbar schwenkten die Kolumnisten in Ausführung des Urteils stoppen“, erklärte ment hat sie einfach nicht auf die Tages- Istanbul auf den neuen Kurs ein. „Jetzt gilt er überraschend am vergangenen Don- ordnung gesetzt. Bernhard Zand

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KASCHMIR „Zwei Glatzköpfe streiten um den Kamm“

Der Gebirgskrieg im Himalaja treibt Pakistan und Indien in eine Eskalation, die mit dem Einsatz von Atomwaffen ganz Südasien in den Abgrund reißen könnte.

Erdbunkern nichts ge- ridoren der Macht in Islamabad und Neu- schehen. Stolz zeigen Delhi tobt obendrein ein Krieg der Worte, sie die deutschen Ma- den Pakistans Premier Nawaz Sharif eröff- schinengewehre, die sie net hat – kurz vor dem ersten Jahrestag der auf dem Laufkranz de- pakistanischen Atomversuche in der Wüste monstrativ mit nur ei- von Belutschistan. nem Finger bewegen. „Ich wollte Allah gefallen und nicht der Doch nicht nur Welt“, tönte Sharif vor den aufgeputschten wegen der Schlangen Zuhörern, „Pakistan ist nun unbezwing- lohnt es sich, genau vor bar.“ die Füße zu blicken. Es An der Straße vom Flughafen ins Zen- liegen Blindgänger her- trum der Hauptstadt zeigt eine riesige um, Mörsergranaten Gipsnachbildung das Bergmassiv, in dem und schwerere Ge- die Atombomben getestet wurden. Es über- schosse. Die stammen rascht deshalb auch nicht, daß nach den

FOTOS: REUTERS FOTOS: von schwedischen Bo- jüngsten Artillerieduellen die „ultimative Pakistaner, abgeschossener Feind-Jet: „Wir sind unbezwingbar“ fors-Kanonen, den Pa- Option“ beschworen wird – die Verwen- radegeschützen der In- dung der Muslim-Bombe hier und der Ein- llahu akbar“, ruft der Prediger vom der. Sie stehen hinter einer Bergkette, auf satz der Hindu-Bombe da. Minarett seiner Moschee, „Allah ist der es nur Wildwuchs gibt. Beide Seiten spielen militärisch immer Agroß.“ Lautsprecher verstärken die In dieser unwirtlichen Gegend windet stärker mit den Muskeln. Indien ließ ver- klagende Tonlage des Geistlichen, die das sich eine Grenze über umstrittenes Gebiet: gangene Woche 35000 Soldaten am Sta- Rauschen des Windes in den Fichtenwäl- die Line of Control (LOC), die im Grunde cheldraht aufmarschieren, der die frucht- dern überlagert. eine Waffenstillstandslinie sein soll. baren Ebenen des Pandschab trennt, und Allerdings hören auch die indischen Sol- Sie trennt zwei verfeindete Länder, die Nawaz Sharif flog am Nanga Parbat daten, die einen Berghang auf der anderen drei Kriege gegeneinander führten, heute (Höhe: 8125 Meter) vorbei, um Fronttrup- Seite des Tals im kaschmirischen Himala- Atomwaffen besitzen und zur fanatischen pen in der Flußsandwüste des oberen In- ja besetzt halten, diesen Ruf. Sie antworten Selbstzerstörung fähig sind – und die im dustals zu ermuntern. mit einer Luftabwehrkanone, Kaliber zwei schlimmsten Fall den Rest der Region mit Hier hat der Schriftsteller James Hilton Zentimeter, die hier als Erdkampfwaffe in den Abgrund reißen könnten. („Der verlorene Horizont“) das sagenhaf- verwandt wird. Die Geschoßgarben mähen Symbolisch zeigt sich das nur 60 Kilo- te Shangri La vermutet, eine Welt des durch das mannshohe Gras vor dem Dorf meter weiter westlich, wo der Jhelum mit Müßiggangs und des langen Lebens. Be- Chakothi am Jhelum-Fluß, dem einst Alex- dem granitfarbenen Kishanganga zusam- törend und dramatisch ist sie auch in Wirk- ander der Große gefolgt war, als er – ver- menfließt. Dort, am Rand der mausarmen lichkeit: Weiß sind die Pappeln, und weiß gebens – versuchte, das rätselvolle Indien Stadt Muzaffarabad, steht dräuend eine blühen die Aprikosenbäume; weiß ist der zu erobern. zwölf Meter lange Attrappe der pakista- Horizont der Gletscherberge und stahlblau Der Jhelum hat sich hier tief ins Tal ein- nischen Atomrakete „Ghauri“. Wo beim der Himmel. Nachts strahlen hier die Ster- gegraben, die Blechdächer der Häuser blin- Original der Sprengkopf sitzt, flattern ne so hell wie Beleuchtungskörper. ken wie Scheinwerfer im Licht der grellen zwei grüne Flaggen mit Sommersonne. Die Inder schießen jetzt dem weißen Halbmond auch Einzelfeuer mit einem Drei-Zen- Pakistans. Das Modell CHINA timeter-Flakgeschütz; dumpf und ein- wurde aus dem fernen unter unter schüchternd hallt der Feuerlärm von den Karatschi in den Hima- INDIEN pakistanischer chinesischer PAKISTAN Verwaltung Verwaltung Bergflanken zurück. laja gerollt. Es gehört der K-2 Indu „Sie zielen auf die Leute, denen die größten islamistischen s Siachen S Hühner gehören“, sagt Faiz Khamran, ein Oppositionspartei und Nanga Parbat Skardu hy schneidiger Hauptmann der pakistanischen zeigt in Richtung Srina- ok S hy Armee, „denn unsere Soldaten verlassen gar, wo sich das Haupt- K a s c ok Muzaffa- h m tagsüber die Stellungen nicht.“ Die Posi- quartier der indischen rabad Dras ii Kargil r tionen der Pakistaner sind am Gegenhang Kaschmir-Armee befin- Srinagar Leh untereinander mit Laufgräben verbunden. det, eine Streitmacht von Chakothi Die Sandsäcke am Rand enthalten Lehm, rund 600000 Mann. Islamabad Waffenstill- unter indischer Tarnnetze sind zur Sicherheit auch noch Seit knapp zwei Mo- standslinie Verwaltung mit Büschen bedeckt. naten ist die Waffenstill- m Eigentlich könnte den Verteidigern von standslinie der LOC Jhelu Jammu Chakothi, dem letzten Grenzdorf an der al- wieder einmal heftig PAKISTAN INDIEN 100 km ten Straße zum indischen Srinagar, in den umkämpft.Auf den Kor-

158 der spiegel 26/1999 haben, eine Art Unikum, das im Völkerrecht nicht vor- kommt. „Zwei Glatzköpfige streiten sich dort um einen Kamm“, meint in Islamabad ein Diplomat über den Ge- birgskrieg. Auch amerikanische Versu- che, zwischen Islamabad und Delhi zu vermitteln – Unter- händler pendelten Ende vori- ger Woche zwischen den ver- feindeten Lagern hin und her –, dürften kaum etwas bringen. Denn die Mudscha- hidin-Front Lashkar-e-Taiba („Legion der Frommen“) wähnt ihre Kämpfer im Heili- gen Krieg und warnt die Re- gierung in Islamabad vor ei- ner „Todesfalle der USA“. Angeblich war Premier Sharif von den mächtigen Militärs im Armeehauptquar- tier von Rawalpindi überlistet worden. Die hätten den Auf- marsch der Mudschahidin gefördert, um den Versuch Indische Artilleriestellung bei Dras: Die Mudschahidin kamen mit Schneemobilen einer Aussöhnung mit Indien zu behindern. Er hatte im Doch im Land Utopia herrscht Krieg. stauen sich auf der Straße, die bei Dras Februar begonnen, als Sharifs indischer Am Ufer des Shyok-Flusses und auf dem nur einspurig befahrbar ist. Kollege Atal Behari Vajpayee per Omnibus Hochplateau von Deosai südlich der Pro- Sie bieten jenen Kämpfern ein leichtes von Delhi über die Grenze Richtung La- vinzstadt Skardu schießt pakistanische Ar- Ziel, die seit April die Höhen zwischen hore gefahren war. tillerie über das Zackenspektakel der Gip- dem zerstörten Dorf und Kargil besetzt Doch die Omnibus-Diplomatie führte zu fel hinweg. Der Wind läßt hier Staubsäulen halten, dem indischen Militärstandort auf nichts. Beide Kontrahenten behaupten, auf tanzen, die sich mit dem Geschützqualm dem Weg nach Leh. Sie hatten mit Schnee- der richtigen Seite der Grenze zu stehen, mischen, während die Granaten auf der mobilen die Hochebene von Deosai und die 1949 als Waffenstillstandslinie von dem anderen Seite des Gebirges landen: in Kar- dann die Line of Control überquert, um tschechoslowakischen Uno-Botschafter Jo- gil und Dras, verlorenen Außenposten der Bunker zu besetzen, die von den Indern sef Korbel maßgeblich skizziert wurde, Inder am Highway 1-A. Die Höhenstraße vor Einbruch des letzten Winters verlas- dem Vater der US-Außenministerin Made- ist eine Art Nabelschnur, die Srinagar mit sen wurden – ihnen war es zu jener Zeit in leine Albright. Indien hatte den Diploma- dem Norden des indischen Teils von Höhen um 5000 Meter zu kalt geworden. ten in eine Kaschmir-Kommission des Uno- Kaschmir verbindet. Sie führt weiter nach Nicht so aber den Mudschahidin, den Sicherheitsrats entsandt, deren Aufgabe es Leh in Ladakh, dem Land der buddhisti- strenggläubigen Infiltranten, die mit Mör- war, die Grenze festzulegen. schen Klöster und Gebetsfahnen. sern auf die Straße hinabfeuern und indi- Das Gremium forderte aber auch das Über die Straße wird aber auch der Sia- sche Stoßtrupps mit MG-Feuer beharken. Selbstbestimmungsrecht der Kaschmiris, chen-Gletscher versorgt, den indische Im Nahkampf rollen sie Steine von den auf das sich heute Pakistan und ein politi- Truppen 1984 handstreichartig besetzten Stellungen auf Gipfeln und Graten, wäh- sches Hornissennest von über einem Dut- und den Pakistan für sich reklamierte. Der rend die indische Seite Kletterer mit Flam- zend Mudschahidin-Gruppen berufen. Sie Siachen bildet mit 76 Kilometern das läng- menwerfern und Jagdbomber einsetzt. haben von ihren Brüdern in Afghanistan ste Eisfeld der Erde und muß von Leh aus Delhi behauptet, zwei neuralgische Gip- gelernt, die mit der UdSSR eine Super- mühsam mit Artilleriemunition und ande- fel hoch über Dras von den Mudschahidin macht der Ungläubigen besiegten und nun rem Kriegsmaterial versorgt werden. zurückerobert zu haben, den Tololing (4590 die letzte Globalmacht, Amerika, ständig Für all das soll Indien nun büßen. „Was Meter) und die Nachbarspitze Point 5140. herausfordern. wollen die dort“, fragt Rashid Qureshi, ein Den schneebedeckten Tololing haben 25 Der Kampf gegen die Inder wird in einer Fallschirmjägergeneral und Sprecher der Bofors-Kanonen vor der Erstürmung fast Welt der Stille ausgetragen, wenn die Ka- pakistanischen Streitkräfte. „Sie wollen zehn Stunden beschossen. Der Point 5140 nonen einmal nicht donnern. „Wo sollen uns vom Siachen aus Achttausender wie wurde nachts im Nahkampf bezwungen. wir hin, wir müssen hierbleiben“, sagen die den K-2 wegnehmen, um mit dem Touris- Merkwürdig: Im Gipfelbunker des To- Dörfler von Chakothi, „die Menschen leben mus Geld zu machen. Oder sie wollen den loling entdeckten indische Soldaten Lei- von dem, was sie anbauen.“ Ein paar Rui- Karakorum-Highway unterbrechen, unse- chen von vier weiblichen Mudschahidin in nen qualmen, Hausdächer sind abgedeckt, re Straßenverbindung nach China.“ einem „Gewühl von Toten“. Der vordem Schrapnell-Splitter haben die Rolläden der Die Lehmhütten von Dras sind inzwi- indische Bunker umfaßte drei Stockwerke windschiefen Geschäfte durchsiebt. schen fast völlig zerstört.Vergebens haben und Munitions- und Proviantvorräte, die „Aber sonst ist es hier schön“, sagt die indischen Soldaten zu Shiva, dem Gott für ein Jahr gereicht hätten. der Apotheker Muhamad Bashir. Man hat der Zerstörung, gebetet und Räucherker- Pakistan streitet kategorisch ab, den so- sich mit den Furien des Kriegs befreunden zen neben den Bofors-Kanonen abge- genannten Freiheitskämpfern zu helfen müssen, um sie zu ertragen. brannt. Konvois von Militärfahrzeugen oder selbst die Line of Control verletzt zu Joachim Hoelzgen

der spiegel 26/1999 159 Ausland

CHILE Aufstand am Bío-Bío Indianer und Winzer kämpfen gegen die Vernichtung der Wälder ihrer Region durch skrupellose Holzkonzerne. Tausende haben ihre Arbeit verloren.

er Angriff erfolgte Dschungel vergleichbar ist. am frühen Morgen. CHILE 2,2 Millionen Hektar mit DRund 20 maskierte einzigartigen Araukarien- Indianer umzingelten den und Mischwäldern wurden Bulldozer des Forstbetriebs inzwischen von den Holz- Mininco. Sie zerrten den konzernen mit schnell- Fahrer aus dem Führerhaus Santiago wachsenden Eukalyptus Gefährdeter Regenwald in Südchile: Pfeiler für und setzten das Fahrzeug und Kiefern bepflanzt, eine in Brand. Dann sperrten Investition von rund zehn haben das Gewässer in eine stinkende, tote sie die Straße und beraub- Millionen Dollar. Holz und Brühe verwandelt. B ARGENTINIEN ten mehrere Holzlaster. ío-B Zellulose sind wichtige Ex- Am Río Itata will ein chilenisches Kon- ío Zwei Journalisten, die das portgüter des Landes. sortium die größte Zellulosefabrik Süd- Geschehen beobachteten, Diktator Augusto Pino- amerikas errichten. Diskret kauften die wurden krankenhausreif Traiguén chet hatte die Forstwirt- Forstmanager in den vergangenen Jahren geschlagen. Puerto schaft in den siebziger Jah- Weingüter auf und verwandelten sie in Der Überfall war eine Montt ren mit üppigen Subventio- Holzplantagen, Tausende von Landarbei- weitere Episode in einem nen gepäppelt. Der Export tern verloren ihre Arbeit. blutigen Indianerkrieg, der von Zellulose und Holz- Die Winzer fürchten um die Qualitäts- seit Monaten im Süden Atlantik chips nach Asien ist einer prädikate ihrer Sauvignon- und Chardon- Chiles tobt. Radikale Grup- der Pfeiler für das weltweit nay-Produkte, die den chilenischen Wein in pen unter den eine Million gepriesene exportorientier- den letzten Jahren zu einem Exportschla- Ureinwohnern vom Stamm te Wirtschaftsmodell des ger gemacht haben. 4000 Arbeitsplätze, der Mapuche setzten sich 400 km südamerikanischen Muster- meist in Familienbetrieben, sind bedroht. mit Gewalt gegen Forst- lands. „Die Forstgesellschaften zerstören die ge- konzerne zur Wehr, die in Zu Billigpreisen kaufen samte Region“, klagt Weinbauer Cristóbal ihre Wälder eindringen. die Holzkonzerne Urwäl- Héroven. Anfangs belächelte die Punta der, Weingüter und Acker- Im Kampf gegen die Holzkonzerne sind Regierung den Aufstand Arenas gebiete auf und verwandeln sich Winzer und Indianer zwar einig, doch der Indianer. Doch jetzt Pazifik Kap sie in Holzplantagen. In- eine Allianz mochten sie bislang nicht ein- droht sich der Konflikt zu Hoorn dianerdörfer und Bauern- gehen. Die Mapuche leiden unter dem tief- einem Flächenbrand aus- höfe, die nicht weichen wol- verwurzelten Rassismus der Weißen. „In- zuwachsen, der den gesamten Süden er- len, werden regelrecht eingekreist. Irgend- dio“ ist ein Schimpfwort, die Einheimi- fassen könnte. „Unser kleines Chiapas“, wann müssen sie aufgeben. schen gelten als Menschen zweiter Klasse. nannte Chiles größte Tageszeitung „El Am Bío-Bío-Fluß, dem Herzstück des Dabei haben die meisten Chilenen india- Mercurio“ den Mapuche-Aufstand. Mapuche-Landes, erstreckt sich kilome- nisches Blut in den Adern. Die großen Urwälder Südchiles und ihre terweit nur noch trostlose Holzsteppe. Die Mapuche ihrerseits betrachten die Bewohner sind Opfer eines Umweltdra- Zwei Zellulosefabriken, die ihre dampfen- Weißen als feindliche Eindringlinge. Bis mas, das dem Raubbau am Amazonas- den Abwässer ungeklärt in den Fluß leiten, heute verstehen sich die „Menschen der rer der Mapuche genannt werden. „Chi- le hat eine historische Schuld zu be- gleichen“, sagt er. „Wir brauchen eine politische Lösung, sonst explodiert das Pulverfaß.“ Vor allem jüngere Lonkos rufen zu Ge- walt auf. „Wir wollen die Mapuche-Nation wiederherstellen“, ruft ein vermummter Indianerführer in den Wäldern bei Trai- guén, einem Zentrum des Aufstands. Mit rund 20 Getreuen hat er sich in einer geräu- migen Holzhütte versammelt, um über die nächsten Schritte im Krieg gegen die Forst- konzerne zu beraten. Rund 200 Indianer stürmten ein Forstar- beitercamp und lieferten sich eine blutige Schlacht mit der Polizei. Zahlreiche Wald-

FOTOS: T. MÜLLER T. FOTOS: brände legt die Regierung den aufgebrach- das weltweit gepriesene Wirtschaftsmodell des südamerikanischen Musterlands ten Mapuche zur Last. Die Regierung des Christ- Erde“, so die wörtliche Übersetzung, als demokraten Eduardo Frei eigenständige Nation. Traditionell sind wurde von dem Gewaltaus- sie ein Volk von Kriegern: Sie schlugen bruch überrumpelt. Hilflos schon die Inkas in die Flucht, die sich sucht sie nach Sünden- das Mapuche-Gebiet einst einverleiben böcken: Eine Spanierin, ein wollten. Franzose und ein Amerika- Auch die Spanier konnten sie nicht be- ner, die in Entwicklungs- siegen; später unterwarf das chilenische projekten mit den Mapuche Militär das Mapuche-Land in einem er- arbeiteten, wurden des Lan- barmungslosen Eroberungskrieg. Zehn- des verwiesen. Die Gringos, tausende Indianer kamen ums Leben. heißt es, hätten den Auf- Heute wird der Kampf um das frucht- stand angezettelt. bare Indianerland mit Anwälten und Land- Doch die Attentate ge- titeln geführt. Die Mapuche kennen kein hen weiter. Die Aufrührer Privateigentum. Eine Landreform, die der wollen nach dem Vorbild sozialistische Präsident Salvador Allende der mexikanischen Zapati- eingeleitet hatte, machte Diktator Pino- Protest der Mapuche-Indianer: Opfer eines Umweltdramas sten eine schlagkräftige In- chet rückgängig. Zu Billigpreisen konnten dianer-Armee organisieren. die Holzkonzerne Mapuche-Land kaufen. ner. Erst seit sie mit Gewalt gegen die Holz- Bislang sind sie nur mit Knüppeln und pri- Die Folge: Zahlreiche Indianerfamilien firmen vorgehen und Umweltschützer ge- mitiven Gewehren ausgerüstet. flüchteten in die Städte, weil sie der Acker- gen das Öko-Desaster protestieren, nimmt Die Polizei hat inzwischen überall in bau nicht mehr ernährte. die Regierung sie ernst. der Gegend bewaffnete Wachposten auf- Allein in den Elendsvierteln von Sant- Die Indianerbehörde Conadi kauft gestellt. Carabineros kontrollieren Besu- iago leben heute schätzungsweise 400000 neuerdings Land von den Forstkonzernen cher, Polizeiautos eskortieren die Holz- Mapuche. Alkoholismus, Prostitution und zurück und verteilt es an die Indianer. laster. Aber die Indianer lassen sich davon Verbrechen sind weit verbreitet. „Aber die Grundstücke sind zu klein, um nicht beeindrucken. „Wenn die Chile- Auch das Ende der Diktatur hat für die davon zu leben“, klagt Mapuche-Führer nen Krieg wollen, sollen sie nur kommen“, Indianer keine Besserung gebracht. Die de- Adolfo Millabur, der einzige indianische sagt der vermummte Mapuche-Führer. mokratischen Regierungen interessierten Bürgermeister Chiles. Millabur ist einer „Wir können dieses Land unregierbar sich kaum für die Belange der Ureinwoh- der gemäßigten Lonkos, wie die Anfüh- machen.“ Jens Glüsing Werbeseite

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Werbeseite GAMMA / STUDIO X Skyline und Hafen von Sydney: Hemdsärmelige Pioniere schufen die Grundlagen für den pazifischen Sunshine-Kapitalismus „Das beste AUSTRALIENLand der Welt“ Der fünfte Kontinent will sich emanzipieren. Im nächsten Jahrtausend soll die Queen nicht länger Staatsoberhaupt sein. Der Drang nach neuer Größe offenbart jedoch ein Problem: Die aufstrebende Nation hat nicht genügend Menschen.

airns war einmal ein verschlafener tümern und Gaben gesegnet, nur nicht mit Fischerort, und die Reise dorthin, dem Willen, sie zu nutzen.“ Cin den tropischen Norden von Das soll sich ändern. Im Rampenlicht Queensland, kostete Zeit und Mühe. Als von Olympia 2000 will Australien endlich Lohn lockten Koralleninseln, einsame Fau- seinen Minderwertigkeitskomplex abstrei- lenzerstrände, lauschige Wasserfälle und fen, ein provinzielles Überbleibsel des ver- dampfende Regenwälder. flossenen britischen Empire zu sein, eine Manche verfielen dieser Idylle so sehr, Ansammlung knorziger Kampftrinker und daß sie gleich blieben. Sie eröffneten Her- hinterwäldlerischer „Crocodile Dundees“. bergen für Rucksackreisende, Take-aways Die ehemalige Sträflingskolonie möchte oder jobbten in der aufblühenden Ferien- endlich erwachsen werden – durch einen industrie. Sie gründeten Hippiekommunen historischen Schritt.

auf den Atherton Tablelands, einem kü- REUTERS Fünf Jahre ist es her, daß ein Windsor, stennahen Hochplateau, und noch heute Ministerpräsident Howard Prinz Charles, Australien offiziell mit ei- schnaufen dort psychedelisch lackierte Charisma eines leitenden Angestellten nem Besuch beehrte; die für nächstes Früh- VW-Bullys zu den wöchentlichen Trödel- jahr geplante Visite von Queen Elizabeth II. märkten. sein: Die Region am 1930 Kilometer langen ist möglicherweise ihre letzte als formelles Cairns aber wuchs und wucherte und Bruce Highway, bis Brisbane im Süden, gilt Staatsoberhaupt. Am 6. November wird ist mittlerweile eine 107 000-Einwohner- als Nonplusultra für Freizeitmenschen, also die Nation über die Abschaffung der par- Stadt mit Einheitsgesicht: Motels an den darf für den ganzen Kontinent ein noch lamentarischen Monarchie zum 1. Januar Highways, Hotelklötze am Wasser, die knackigeres Prädikat her. „Australien“, 2001 entscheiden. City ein einziges Shoppingcenter. Promi- sagt Premierminister John Howard, „ist Strittig ist bislang, ob ein künftiger Prä- nente Urlauber wie Helmut Kohl, Mi- das beste Land der Welt.“ sident unmittelbar vom Volk gewählt wer- chael Schumacher und Rod Stewart stre- Nicht zufällig benutzt der spröde, seit den soll oder von einer Zweidrittelmehr- ben lieber gleich zum Luxushafen Port 1996 amtierende Regierungschef solch ei- heit der Abgeordneten. 69 Prozent der Au- Douglas. Der liegt nur eine Autostunde nen Superlativ. Die Weltbank hat errech- stralier sympathisieren derzeit mit einer entfernt. net, daß Australien wegen seiner immensen Direktwahl. Die Drehscheibe Cairns sieht aus, als sei Bodenschätze sogar der reichste Staat der John Howard, Chef einer liberal-natio- sie von der anderen Pazifikseite, aus Kali- Welt sein könnte.Allerdings bemängelt ihr nalen Koalition und ein erklärter Monar- fornien, herübergebeamt worden. Infra- Präsident James Wolfensohn, selbst gebür- chist, sieht diesen Dissens mit Wohlgefal- struktur und lockerer Lebensstil sind so tiger Australier, ein chronisches Problem len. Ein höherrangiger Politiker, obwohl amerikanisch wie das pralle Selbstbewußt- daheim: „Dieses Land ist mit allen Reich- nur eine Galionsfigur, paßt ihm nicht. Des-

164 der spiegel 26/1999 Ausland wegen hat Howard das Referendum künst- Howard weiß sich im Einklang mit all je- (Schätzwert: 62,5 Milliarden Mark) möch- lich kompliziert und zugleich eine Verfas- nen Australiern, für die der Kontinent bis te Howard weiter privatisieren. sungskontroverse angestoßen. zur Ankunft der ersten weißen Siedler 1788 Zum anderen zeigt der Premier außen- Die Aborigines, so sieht es sein Entwurf eine Terra nullius war. Erst jene hemdsär- politisch Flagge. Er profilierte sich als Ver- einer neuen Präambel vor, sollen lediglich meligen Pioniere schufen die Grundlagen mittler für Osttimor, im australischen Hin- „für ihre alte und heute noch existierende für den Sunshine-Kapitalismus, an dessen terhof, und brachte den indonesischen Prä- Kultur geehrt“ werden – obwohl eine ver- Rändern die Aborigines heute vegetieren – sidenten Bacharuddin Jusuf Habibie auf fassunggebende Versammlung 1998 die Ur- wie verstörte Zeitreisende, die es aus Uno-Linie. Indonesien läßt nun über Un- einwohner als „Hüter des Landes“ aner- dem ewigen Outback, ihrer mythologi- abhängigkeit oder Autonomie der Unruhe- kannt hatte. Außerdem will Howard das schen „Traumzeit“, in eine kaum begreif- provinz abstimmen – und Howard, sonst kumpelhafte Wir-Gefühl („mateship“) sei- liche, feindselige Überflußgesellschaft ver- eher das blasse Charisma eines leitenden ner Landsleute als Wert verankern. setzt hat. Angestellten verströmend, strich seine di- Daß solche Ideen reichlich Stoff für Zoff Im westaustralischen Kalgoorlie schlur- plomatische Mission markig heraus: „Ein bieten, ist ganz im Sinne des Erfinders. fen sie mit ausdruckslosen Mienen über sehr bedeutendes Treffen in sehr bedeu- Monarchisten und Republikaner, Liberale die Hauptstraße, die während des Gold- tender Runde zu einem sehr bedeutenden und Erzkonservative liefern sich erwar- rauschs im vorigen Jahrhundert so breit Zeitpunkt.“ tungsgemäß einen turbulenten Meinungs- angelegt wurde, daß Pferdewagen ohne Gleich kündigte er noch die Verdoppe- streit. „Eine intakte Verfassung soll man Probleme wenden konnten. Im „Kultur- lung seiner schnellen Eingreiftruppen an nicht reparieren“, verlangt Kerry Jones, zentrum“ von Rockhampton am Pazifik und kaufte elf amerikanische F-111-Bom- Leiterin der „Australians for Constitutional demonstrieren sie Urlaubern den Wurf ber (Einsatzradius: 2000 Kilometer) sowie Monarchy“. „Wir brauchen keine Queen des Bumerangs und erklären in Stichwor- weiteres elektronisches Kriegsgerät im Ge- Elizabeth, dieses letzte Symbol kolonialer ten, was es mit ihren heiligen Stätten und samtwert von knapp einer Milliarde Mark. Unterwürfigkeit“, kontert die Tageszeitung ihrem Naturbegriff auf sich hat. Danach Die Zeichen sind deutlich: Australien, laut „Daily Telegraph“. geht es flott zum Geschäftlichen, in den „Vanity Fair“ von einer „mehr als milden „Mateship ist eine Art asexuelle Homo- Souvenirshop. Xenophobie“ geprägt, will als regionale sexualität“, erregt sich der Autor Donald Politisch korrekte Zeitgenossen haben Ordnungsmacht wirken und zugleich Kri- Horne. „Die neue Präambel stinkt wie eine den 26. Mai zum „Sorry Day“ ausgeru- senflüchtlinge auf Distanz halten. tote Katze“, giftet Ken Crooke, Chef der Queensland National Party und Koalitionspartner Howards. So verringern sich die Chan- cen des Referendums erheb- lich. Nur 8 von 42 Volksab- stimmungen seit 1901 endeten mit der für eine Reform erfor- derlichen Mehrheit. Die Verlierer stehen schon fest. Es sind die rund 390000 Aborigines. Eine ehrenvolle Erwähnung in der Präambel nützt ihnen nichts. Eine offi- zielle Entschuldigung aber für Ausrottungen, Landraub und rund 100 000 Zwangsadoptio- nen von mischblütigen Abori- gines-Kindern zwischen 1910 und 1970 verweigert Howard nach wie vor. Sie käme einem

Eingeständnis gleich, sie könn- REX FEATURES te territoriale Ansprüche nach Prinz Charles in einem Aborigines-Kulturzentrum (1994): „Koloniale Unterwürfigkeit“ sich ziehen und zum Beispiel die Ausbeutung der immensen Uranvor- fen, es gab auch eine offizielle „Nationa- Doch gerade ein nennenswertes Bevöl- kommen auf Aborigines-Gebiet behindern, le Versöhnungswoche“, denn die Aborigi- kerungswachstum könnte jenen Anspruch der größten Reserven weltweit. 2483 Mi- nes drücken als sozialer und moralischer einlösen helfen, mit dem die Nation ins nenprojekte sind zur Zeit wegen Kontro- Ballast aufs Gewissen. John Howard hin- neue Jahrtausend steuert. Denn auf einer versen um Landrechte in der Schwebe. gegen hat Wichtigeres im Sinn: den Umbau Fläche, fast so groß wie die der USA ohne Statt dessen paukte Howard ein Gesetz Australiens zur „starken, stabilen und en- Alaska, wohnen nur rund 19 Millionen durch, das die Rechte der Ureinwohner auf gagierten Mittelmacht“ im asiatischen Menschen. staatlichen Boden beschränkt, welcher be- Raum. Es fehlt an Manpower und an einem reits an Bauern oder Minengesellschaften Zum einen will er die von der Asienkri- stärkeren Binnenmarkt, um ökonomische verpachtet ist.Australien wurde deswegen se verschonte Wirtschaft weiter auf Trab und politische Ambitionen wirkungsvoll im März als erster westlicher Staat vor das halten. Eine zehnprozentige Konsumsteu- umzusetzen – Australien ist ein Kraft- Uno-Komitee für Rassendiskriminierung er, Hauptthema seiner Partei im Wahl- zwerg in zu weiten Hosen. zitiert, doch das beeindruckte den Regie- kampf 1998, den die Koalitionsregierung Ein Vorgänger John Howards, der libe- rungschef wenig.Australische Gesetze wer- nur knapp gewann, soll den Haushalt kon- rale Ex-Premier Malcolm Fraser, hat diese den von australischen Parlamenten im Auf- solidieren und diese Woche beschlossen strukturelle Schwäche erkannt: „Es wäre trag australischer Wähler geschaffen, er- werden. Profitable Staatsfirmen wie das etwas anderes, wenn wir 40 oder 50 Mil- klärte er kühl. Telekommunikationsunternehmen Telstra lionen wären.“ Rüdiger Falksohn

der spiegel 26/1999 165 GROSSBRITANNIEN Gieriger Zugriff Eine seit Jahrhunderten überfällige Landreform soll Schottland dem Mittelalter entreißen.

enn Elizabeth II., Königin auch von Schottland, am 1. Juli nach W292 Jahren wieder ein Parlament in Edinburgh eröffnet, werden die zu- weilen nicht gerade anglophilen Unter- tanen im Norden des Vereinigten König-

reichs sie mit einigen ausgesuchten FOCUS / AGENTUR WARD P. Schikanen behelligen. Die Monarchin darf Schottisches Urquhart Castle, Loch Ness: Feudale Vorrechte gestrichen weder in ihrer vergoldeten Staatskarosse vorfahren, noch wird eine Krone ihr teilte, hat sich Schottland wenigen großen Städten Haupt oder ein Hermelin ihre Schultern bis heute ein mittelalter- lebt, erfährt dagegen in schmücken. liches, feudales Boden- der Regel erst dann, daß Auch werden Volk und Volksvertreter recht bewahrt. So gehört ihre Eigenheime nur auf nicht, wie sonst bei solch feierlichen An- die Hälfte der Provinz gepachtetem Grund ste- lässen üblich, musikalisch Gottes Segen auf Highlands, die für alle hen, wenn der Lehns- ihre Regentin herabflehen. Statt der briti- Welt das Bild einer ge- herr über seine Anwälte schen Nationalhymne muß Elizabeth der birgigen, von Hochmoo- unvermittelt eine Ge- Folk-Sängerin Sheena Wellington lauschen, ren und Whiskydestillen bührenrechnung für die die ein Lied des schottischen Nationalbar- überzogenen Nation ge- Genehmigung einer Sa- den Robert Burns vorträgt. Es besingt auf- prägt hat, nur 70 Lairds, tellitenantenne oder eines rechte, arme Arbeiter und macht sich lustig wie die Grundbesitzer in Wintergartens schickt. über Fürsten, Herzöge sowie anderes Schottland heißen. Alltagsquerelen haben Adelspack, denen exquisite Nutzlosigkeit Der größte Teil des den Streit um das Boden- vorgeworfen wird. schottischen Grund und recht in Schottland im- Das Lied ist keineswegs nur symbolisch Bodens ist auf etwa 1500 mer wieder emotional gemeint. Sobald die Königin wieder abge- private Güter verteilt, aufgeheizt, zumal die feu- reist ist, kann es einigen örtlichen Lords und nicht einmal der dale Verfügungsgewalt in wirklich an die Privilegien gehen.Als eines Staat (der selber etwa der Vergangenheit zu ei-

der ersten Gesetze will die neue Landes- zwölf Prozent besitzt) PRESS ALPHA PHOTO ner nationalen Katastro- regierung unter dem schottischen Labour- weiß genau, was wem Landgutbesitzer Al-Fayed phe geführt hat. Mitte des Führer Donald Dewar eine Landreform gehört: Das einzige offi- 18. Jahrhunderts vertrie- verabschieden – und dabei auch vor Ent- zielle Landregister stammt aus dem Jahre ben die Großgrundbesitzer Hunderttau- eignungen nicht zurückschrecken. 1872, ein knappes Drittel des Bodens hat sende von Farmpächtern aus den High- Seit der schottische König David I. vor seither den Eigentümer gewechselt. lands in die Städte oder nach Amerika, um 870 Jahren normannische Fürsten in den Wie es sich für richtige Feudalherren Platz zu schaffen für ihre neuen riesigen nassen Norden der größten britischen In- gehört, können die Lairds bis heute uralte Schafherden. sel holte und das Land als Lehen an sie ver- Rechte geltend machen und von ihren Va- Die lieferten dann den Rohstoff, mit dem sallen – als Fachterminus im schottischen die Maschinen der industriellen Revo- Bodenrecht noch immer ein lebendiges lution gefüttert wurden – Britannien stieg SHETLAND- Atlantisc Stück Mittelalter – alle möglichen Ge- zur Weltmacht auf. In den Augen natio- her O INSELN zean bühren verlangen. nalistischer Schotten ist dies noch heute Da müssen Pächter auf den kargen He- ein Beleg für ihre anhaltende Ausbeu- briden Prozente an ihre Herrschaften ab- tung durch eine letztlich fremde Aristo- SCHOTTLAND führen, wenn sie ihre dürftigen Einkünfte kratie. ORKNEY- INSELN mit dem Einsammeln und Verkauf von Nichts regt sie deshalb mehr auf als eng- HEBRIDEN Meeresalgen aufbessern. Ganze Dörfer er- lische oder – fast genauso schlimm – aus- Nordsee fahren zuweilen erst aus den Zeitungen, ländische Krösusse, die sich riesige Lände- daß sie wieder einmal verkauft wurden. reien kaufen, EU-Prämien für Flächenstill- Ohne die Einwilligung der Lairds können legungen kassieren, ansonsten aber das Inverness Aberdeen Kommunen keine neuen Gewerbegebiete Land verrotten lassen und ein- oder zwei- ausweisen. mal pro Jahr mit vielen Gästen auftauchen, Solche Machtvollkommenheit hat zu- um Massaker unter Moorhühnern oder weilen auch ihr Gutes: Mancher Raubbau Hirschen anzurichten. Nordkanal an Mineralien oder Wäldern wurde ver- Zu solchen Haßfiguren zählt etwa Mo- Glasgow Edinburgh hindert, weil die Herren über eine Insel hamed Al-Fayed, der ägyptische Besitzer oder ein Tal an trivialem Gelderwerb des Londoner Kaufhauses Harrods und ENGLAND schlicht nicht interessiert waren. Die Mehr- verhinderte Schwiegervater von Diana. NORDIRLAND zahl der 5,1 Millionen Schotten, die in den Sein Landgut Balnagown umfaßt 26 000

166 der spiegel 26/1999 Hektar im Norden Schottlands, wo sich der Exzentriker zuweilen im Kilt blicken läßt und auf eine künftige schottische Staatsbürgerschaft hofft, nachdem ihm die britische verwehrt bleibt. Kein anderer Laird hat soviel Verach- tung auf sich gezogen wie der Engländer Keith Schellenberg, der 1975 die kleine Hebriden-Insel Eigg kaufte und versprach, aus dem kargen Eiland ein wahres Utopia, zumindest aber ein Touristenzentrum zu machen. Selbstverständlich ließen sich die hochfliegenden Pläne nicht verwirk- lichen, und der Millionär begnügte sich damit, im offenen Rolls-Royce über die Insel zu preschen und mit seinen Gästen alte Schlachten nachzuspielen, bei de- nen die (englischen) Hannoveraner-Köni- ge stets über die (schottischen) Jacobiter siegten. Als er auch noch dazu überging, auf ei- nem Hügel den britischen Union Jack zu hissen, hatte Seine Lordschaft bei den hei- mischen Inselbauern jede Achtung ver- spielt. Nachdem er dann einige unbot- mäßige Pächter von der Insel vertreiben wollte, brannte sein Rolls-Royce aus, und Schellenberg zog sich von der Insel auf ein anderes schottisches Gut zurück, nicht ohne seine Bauern als „verruchte, gefähr- liche und erbärmliche Revolutionäre“ zu beschimpfen. Dem Treiben von Schellenberg und Kon- sorten will die schottische Labour-Partei, die weitaus linker ist als ihre englischen Genossen, nun den Garaus machen. Die Herrschaften sollen ihre Ländereien nicht mehr ohne jede Mitsprache ihrer Pächter verkaufen dürfen. Sollte nachweisbar sein, daß die Lairds ihren Besitz verkommen lassen, soll er so- gar zwangsweise zu einem von der Regie- rung festgesetzten Preis vornehmlich an Kommunen verkauft werden, die auf dem betroffenen Gelände liegen. Alle feudalen Vorrechte sollen gestrichen und die Besit- zungen neu registriert werden. Die plötzliche Konfrontation mit dem 20. Jahrhundert, der sich die Lairds nun stellen müssen, kommt für viele wie ein Schock. Sie wollen die Regierung vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschen- rechte wegen Verstoßes gegen das Grund- recht auf Privateigentum verklagen, falls die Gesetzentwürfe in der vorliegenden Form gebilligt werden. Die Queen hingegen, Besitzerin des 20000 Hektar großen Guts Balmoral, kann die neuen Gesetze beruhigt abwarten. Zwar verliert sie, als eigentliche Lehens- geberin aller schottischen Ländereien, sämtliche Feudalrechte. Die hat sie aber schon lange nicht mehr in Anspruch ge- nommen. Balmoral hingegen wäre auch vor dem gierigsten Zugriff schottischer Revolutionäre sicher: Über die Angele- genheiten der Kronen-Güter entschei- det weiterhin das Parlament von West- minster. Hans Hoyng

der spiegel 26/1999 Werbeseite

Werbeseite Szene Kultur FOTOS OBEN: FESTIVAL DER REGIONEN OBEN: FESTIVAL FOTOS Selbstinszenierung von Ma Liuming, Aktionen beim „Festival der Regionen“

AKTIONSKUNST in Peking dar, wo er wegen Ob- szönität ins Gefängnis mußte. Zwei Kino für Kühe Disco-Nights, von Künstlern gestal- tet, symbolisieren die Rand-Lage der er beim Kunstgenuß schon mal Jugendkultur. Internationale Kunst Wdachte, dem Publikum müßte noch verbindet das „Festival der Regio- Geld dazugegeben werden, sollte in die- nen“ mit regionalen Projekten. sen Tagen nach Oberösterreich reisen. Während der Inszenierung „Strom- Dorthin, genauer nach Enns an der Enns, linien“ beispielsweise kutschiert das locken jetzt Künstler mit dem Verspre- Publikum auf einem Lastkahn durch chen, Zuschauern an der Kasse drei Mark die Donaulandschaft Strudengau. Eintrittsgeld zu zahlen, das sie bei Nicht- Eine echte Novität steht für den Bau- gefallen zurückgeben können. „Rand“ ernhof Niedermayr in Taufkirchen heißt beziehungsreich eine Veranstal- an der Pram auf dem Programm. tungsreihe, deren Artisten „radikale Per- Dort wird Kühen der Film „Rosa formances und Aktionen“ ankündigen. Heimat“ vorgeführt, menschliche So stellt der Chinese Ma Liuming seine Beobachter verfolgen die Reaktio- Außenseiterexistenz als Hermaphrodit nen des glotzenden Milchviehs.

AUTOREN SPIEGEL: Wie kam es zu der Idee, der Hel- din aus „Lolita“ eine Stimme zu leihen? Pera: Die literarische Methode, eine Ge- Lolita darf kommen schichte neu zu erzählen, gewissermaßen die „wahre“ Geschichte darin zu ent- Die italienische Autorin Pia Pera, 42, läßt in ihrem Roman decken, hat mich immer interessiert. In „Lolitas Tagebuch“ (deutsch bei Ullstein) Vladimir Nabokovs diesem Fall stieß ich mich an dem Titel, weltberühmte Romanheldin als selbstbewußte Ich-Erzählerin denn der Roman erzählt die Geschichte auftreten. Gegen die englischsprachige Ausgabe des Pera- aus der Sicht des Mannes und hätte ei- Werks hatte Nabokovs Sohn Dmitri Einspruch erhoben – nun gentlich nach dem Helden „Humbert ist es zur außergerichtlichen Einigung gekommen. Humbert“ heißen müssen. Pera SPIEGEL: Und Sie haben das nun ebenso SPIEGEL: Frau Pera, freuen Sie sich, daß Ihr Roman unter dem umfangreich aus Lolitas Sicht dargestellt? Titel „Lo’s Diary“ nun doch in den USA erscheinen kann? Pera: Der Fleiß war nötig, um die ganze Geschichte noch ein- Pera: Die reine Freude ist das nicht. Mir wäre lieber gewesen, mal zu erzählen. wenn der ursprüngliche US-Verlag – Farrar, Straus & Giroux – SPIEGEL: Der gegnerische Anwalt sprach, vor dem Vergleich, von nicht gekniffen, sondern den Streit durchgefochten hätte. „literarischem Vampirismus“.Wie nennen Sie Ihre Methode? SPIEGEL: Nun wird ein anderer Verlag das Buch publizieren ... Pera: Ich sehe das als eine Art Tennismatch. Oder als Dialog – Pera: ... mit einem Vorwort von Nabokovs Sohn, das ich vorher allerdings nicht von der freundlichen Sorte. Es ist ein Krieg. nicht einmal zu lesen bekomme – während er mein für diese SPIEGEL: Mit feministischer Stoßrichtung? Ausgabe verfaßtes Nachwort schon kennt. Schrecklich! Pera: Nein. Es geht hier nicht um die unterschiedliche Perspek- SPIEGEL: Immerhin gut für die Publicity. tive von Mann und Frau, sondern von Jugendlichen und Er- Pera: Das wird eine amerikanische Show – aber ohne mich. wachsenen. SPIEGEL: Sie wollen nicht dabeisein? SPIEGEL: Gehört nicht viel Mut dazu, ein Gegenstück zu einem Pera: Nein, ich habe gerade alle Einladungen in die USA abge- Roman von Nabokov zu schreiben? lehnt. Pera: Ja, ich glaube, ich muß verrückt gewesen sein.

der spiegel 26/1999 169 Szene

LITERATUR Australisches Feuer Kino in Kürze „Corruptor – Im Zeichen der Korruption“. Genau wie der deutsche Star Til Schweiger er verzweifelt ist, kann nur auf unternimmt der Hongkong-Actionheld Chow Yun-fat derzeit den Versuch, seine Kar- WWunder hoffen. Im australischen riere nach Hollywood zu verlagern – und prompt landeten beide, Schweiger und Chow, Nest Outer Maroo liegt die Hitze wie in demselben schlechten Film, einem Ballerwerk namens „The Replacement Kil- eine miefige Wolldecke über den Men- lers“. Hollywood macht es Zugereisten schen, die unter ihr zu ersticken drohen. mit fremdem Zungenschlag halt nicht Die 87 Bewohner starren in den Himmel leicht. Jetzt hat Chow Yun-fat seine zwei- und beten, daß es endlich regnen möge. te Hauptrolle, als abgebrühter Polizist in Aber es erscheint nur ein Sektenführer Chinatown, und auch die wird seiner namens Oyster. Er steht eines Nachts Laufbahn nicht weiterhelfen. Die Hand- auf der Holzveranda des Dorfpubs und lung dieses unbedarften Actionthrillers bricht wie ein Gewitter ins träge Dorf- (Regie: James Foley) ist aus der hinter- leben ein. Die Bewohner von Outer Ma- sten Ecke der Asservatenkammer her- roo lehnen den Guru heftig ab, auch die vorgekramt und ebenso kurz wie erfolg- vielen jungen Fremden, die er in bester los abgestaubt worden. Jedenfalls bewegt Rattenfängermanier anlockt. sich Chow, der in John Woos Filmen noch Autorin des Romans „Oyster“ ist die in so unnachahmlich elegant agierte, durch Australien geborene und heute in den die Szenerie, als wolle er sich um eine USA lebende Janette Turner Hospital, Festanstellung bei Madame Tussaud’s be- 56. Vor sechs Jahren durchreiste sie das werben. australische Out- back – zu der Zeit, „Dance with me“. Das ist leichter gesagt als sich in Waco, als getan, wenn die Partner ganz ver- Texas, der Sekten- schiedene Vorstellungen vom Tanzen ha-

führer David KINOWELT ben. Ruby (Vanessa Williams), eine küh- Koresh mit seinen Chow in „Corruptor“ le amerikanische Profi-Tänzerin, bewegt Anhängern auf ei- ner Ranch ver- schanzte. CNN übertrug live, und POLIT-COMICS re Armee zum Bösewicht stempelten, die ganze Welt wollten sie vom eigenen Schuldkomplex guckte zu, wie die gegenüber dem Holocaust ablenken. Farm bei der Er- Gallige Den „Zeit“-Korrespondenten, den Ko- stürmung durch die Polizei in Flammen bayashi mal als schleimigen Aal, mal aufging. Über 80 Menschen kamen zu mit haßerfüllter Nazi-Visage zeichnet, Tode. Was im Haus wirklich passierte, Sprechblasen will der zornige Japaner auch künftig blieb ein Rätsel – Anstoß für die Auto- mit seinen galligen Sprechblasen verfol- rin, in ihrem sechsten Roman dem Me- er japanische Comic-Zeichner gen: Falls sich die „Zeit“ nicht entschul- chanismus des Wahns nachzuspüren. DYoshinori Kobayashi führt einen dige, wolle er Bork in weiteren Comics Oysters Anhänger müssen in einer Mine Privatkrieg gegen die deutsche „Zeit“. vorführen – als Beispiel für schlechten nach Opalen suchen, die Frauen werden In einem achtseitigen Comic des japa- deutschen Journalismus. sexuell mißbraucht. Die Bewohner Ou- nischen Magazins „Sapio“ ter Maroos verschließen die Augen, im- läßt der nationalistische merhin fühlen sie sich mitschuldig. Ge- Bestsellerautor den Tokio- schildert wird aus der Sicht von drei Korrespondenten des Ham- jungen Frauen, Opfern von Oyster, wie burger Blatts, Henrik Bork, sich die Situation zuspitzt, bis ein ge- als häßlichen Deutschen waltiges Feuerinferno, wie in Waco, den auftreten. In einem länge- Spuk in der Opalmine beendet. ren Interview will Kobaya- Die Analyse der Prophetenmacht und ih- shi dem Journalisten dem- rer Wirkung gelingt in diesem gescheiten nach erläutert haben, war- Roman ohne aufdringliche Belehrungen: um er historische Angaben Das Ergebnis ist ein Psychogramm über über japanische Greueltaten den tief verankerten Wunsch des Men- bei der Einnahme von Nan- schen nach Verführung. Turner Hospital king 1937 bezweifelt. Doch erzählt, als stünde sie mitten in der au- in seinem „Zeit“-Artikel stralischen Wüste – der Horizont ver- habe Bork Kobayashis Ar- schwimmt in der Hitze, und Luftspiege- gumente „total ignoriert, er lungen erzeugen ständig neue, überra- hat mich verleumdet und schende Bilder. Heißer geht es kaum. geschmäht“. Von Bork und „Zeit“ geht der Japaner zum Generalangriff auf die Janette Turner Hospital: „Oyster“. Aus dem Engli- schen von Maria Mill. DuMont Buchverlag, Köln; 416 Deutschen über: Indem die Seiten; 48 Mark. Deutschen Nippons frühe- Kobayashi-Comic im Magazin „Sapio“

170 der spiegel 26/1999 Kultur

Am Rande Fußtritt für Amor

roße Kunst gilt als unantastbar. GKostbare Statuen werden des- halb mit Alarmanlagen versehen und wertvolle Gemälde durch Sperrbezirke vor jenen Kunstlieb- habern geschützt, die der Mona Lisa über die ölfarbenen Bäckchen streicheln oder Michelangelos Da- vid ans Marmor-Gemächte grab- schen möchten. So gesichert, ver- öden die schöngeistigen Juwelen allerdings zu nichtsnutzigem Mu- seumskram. Doch jetzt, beim Gip- fel in Köln, ist mit 18 Promi-Füßen endlich ein erster Schritt zur profa- CONSTANTIN Szene aus „Dance with me“ nen Verwertung von Kunst- schätzen getan worden: Zum sich stets streng nach Choreographie, während der kubanische Hausmeister Rafael Abendmahl durften sich (Chayanne) spontan den Rhythmen folgt. Daß die beiden trotzdem ein Paar werden, neun ranghohe Politiker auf gehört zu den Regeln des Tanzfilms wie der Wiegeschritt zum Tango. Die Balzerei aber jenem kostbaren Dionysos- inszeniert Regisseurin Randa Haines („Gottes vergessene Kinder“) ohne jedes Ge- mosaik niederlassen, fühl für Takt und Tempo – ihr Film gerät ins Stolpern, sobald er die Tanzfläche ver- das die Nazis 1941, läßt. Dafür hat „Dance with me“ das Goldene Holzbein verdient. beim Ausbuddeln ei- nes Bunkers, im Schatten des Kölner Doms entdeckt hatten PHILOSOPHIE Verfilmung sollte es eine kritische Edi- und das heute im Rö- tion geben. misch-Germanischen „Beim Denken SPIEGEL: Enthält das Manuskript denn Museum für die Gedanken, die über Kants drei große Schuhsohlen von Sterblichen un- beobachtet“ Kritiken hinausgehen? zugänglich lagert. Während der ge- Brandt: Allerdings. Kant schwebte eine meine Museumsgast das altrömi- Reinhard Brandt, 62, Philosoph und komplette Revision seines Systems vor. sche Prachtstück nur aus galerie- Kant-Forscher in Marburg, über das Er hatte eine Begründungslücke darin hoher Distanz betrachten kann, jetzt aus Privatbesitz angekaufte „Opus gefunden und grübelte nun, wie er den durften die Staatenlenker darauf ta- postumum“ des Königsberger Denkers „Übergang von den metaphysischen feln. Gewiß, eine dicke Acrylplatte Anfangsgründen der Naturwissenschaft verhinderte, daß Kanzler Schröder SPIEGEL: Herr Professor Brandt, die Ber- zur Physik“ schaffen könnte. Man be- womöglich auf dem Steinbild des liner Staatsbibliothek hat Kants letztes obachtet ihn beim Denken, das ist ein- trunkenen Bacchus herumscharrte Manuskript erworben. Heißt das, die malig. oder daß Clinton – besonders de- 290 Blätter waren vorher unbekannt SPIEGEL: Also könnte sich am Profil des plaziert – den reitenden Amor mit oder unzugänglich? Philosophen künftig einiges verschieben? Füßen trat. Doch ein Anfang ist ge- Brandt: Nein, bisher lagen sie in einem Brandt: Wohl nur für Experten, in De- macht, antiker Fußboden als PR- privaten Banksafe. Ich habe sie auch tails. Man erkennt die Richtung, in der Fläche des Kölner Verkehrsamts er- schon in der Hand gehabt und Kant experimentierte. Zum schlossen. Weiter so. Warum nicht damit wissenschaftlich gear- Schluß verlor sich der Ge- künftig den drei Tenören den Pe- beitet. dankengang aber allmählich tersdom auftun, urbi et orbi zum SPIEGEL: Dennoch heißt es, in einer surrealen Begriffs- Hörvergnügen? Warum nicht, nach man kenne das Werk noch dichtung. dem Motto Staub zu Staub, den kaum. SPIEGEL: Hatte er etwa Alz- IOC-Präsidenten Samaranch und Brandt: Das stimmt auch, heimer? seine Säulenheiligen zur Be- sozusagen. Die gedruckte Brandt: Von solchen Diagno- schlußfassung in die Akropolis bit- Ausgabe, die es gibt, ist ziem- sen halte ich nichts. Kant ten? Und wenn sich eines Tages lich miserabel – weil die Bo- verstummt eben um 1801. Gaddafi, Saddam Hussein und das gen eben kein Werk enthal- Daß auf demselben späten westliche Bündnis doch noch gip- ten, sondern eine Art Zettel- Blatt dann Haushaltsnotizen felnd vereinen, sollten sie gleich auf kasten. Schon die Anord- neben rätselhaften Gedan- der Cheops-Pyramide mit den Frie- nung dieses Notizen-Netz- kenblitzen stehen, zeigt, daß denspalmen wedeln. Wo doch ne- werks macht Schwierigkei- es mit dem sonst musterhaft benan die Sphinx so seltsam viel-

ten. Neben der bald G. RICHTER ordentlichen Philosophen zu deutig in die Wüste stiert. erscheinenden Mikrofiche- Brandt Ende ging.

der spiegel 26/1999 171 POLYGRAM Roberts, Grant in „Notting Hill“: Ein keuscher, zungenloser Kuß, der nur wenige Sekunden anhält

KINO So schön wie ein Delphin Der Schriftsteller Leon de Winter über Julia Roberts und ihren neuen Film „Notting Hill“

De Winter, 45, lebt als Roman- der. Ihre Begegnung hat eini- die Ausnahme. Ich begreife nicht, wie man cier („Hoffmans Hunger“) und gen Wirbel und schließlich eine überhaupt irgend etwas mit diesem Film Filmemacher in Bloemendaal Heirat zur Folge. Wie es sich anfangen kann, obwohl ich für diese Art bei Amsterdam und in Los An- bei einer solchen Geschichte von Filmen eigentlich eine Schwäche habe: geles; der Niederländer veröf- gehört, liegt Julia Roberts am „Pretty Woman“ habe ich bestimmt zehn- fentlichte zuletzt den Roman Ende auf einer Bank in einem mal gesehen, „Vier Hochzeiten und ein To- „Der Himmel von Hollywood“, lauschigen Park und hat einen desfall“ („Notting Hill“ stammt vom selben der im Schauspielermilieu ange- gewaltigen Bauch, in dem ver- Produktionsteam) fand ich charmant, und

siedelt ist. A. SAHIHI mutlich ein Baby steckt. Ende viele Filme, bei denen Intellektuelle und gut, alles gut. solche, die sich gern dafür halten, die Nase n „Notting Hill“ spielt Julia Roberts, „Notting Hill“ ist in den USA ein großer rümpfen, kommen bei mir gut an. Nor- selbst ja mehr als berühmt, einen Film- Erfolg. Das Publikum amüsiert sich köstlich, malerweise entspricht mein Geschmack al- Istar: Im Presseheft, das der Verlei- und die Kritiker preisen den Film. Ich habe so eher dem Durchschnitt. Aber bei „Not- her Kritikern zur Verfügung stellt, heißt ihn bei einer Pressevorführung in Amster- ting Hill“ muß ich passen. Anscheinend ist es, ihre Rolle sei die des „berühmtesten dam gesehen, und auch dort zeigten sich mit mir etwas nicht ganz in Ordnung. Filmstars der Welt“. Dieser Star begegnet die Kritiker sehr angetan von dieser „feel Hugh Grant, der den Buchhändler spielt, im Londoner Stadtviertel Notting Hill good comedy“, als die der Film im Presse- kann ich weder besonders gut noch be- einem unbekannten Buchhändler, und heft bezeichnet wird. Mich hat „Notting sonders schlecht finden: Er ist nichts wei- sie verlieben sich Knall auf Fall ineinan- Hill“ gelangweilt, aber ich bin anscheinend ter als ein mäßiger Schauspieler, der ein

172 der spiegel 26/1999 Kultur paar durchsichtige Mätzchen à la „Guck ehe sie überhaupt gestellt werden, aber an- vor Annas Ruhm. Er hat nicht irgendein mal, wie schusselig ich mich anstelle“ gesichts von „Notting Hill“, einem Film, Mädchen geküßt, nein, er hat den berühm- draufhat. Im Film heißt er William Thacker der zweifellos geschickt gemacht ist, häu- testen Filmstar der Welt geküßt, und nun und teilt die Wohnung mit einem Irren na- fen sich bei mir die Fragen. Etwa, wieso erfaßt ihn anscheinend dieses so wenig mens Spike (gespielt von Rhys Ifans). Anna Scott so ganz allein durch Notting greifbare und in unserer Kultur so unge- Wieso irgendwer auf der Welt sich ge- Hill spaziert. Ihre Sonnenbrille kann ihr heuer viel Ehrfurcht erzeugende Phäno- neigt fühlen sollte, die Wohnung mit die- Gesicht nicht vor Blicken verbergen, und men: Ruhm. sem Spike zu teilen, wird nicht weiter sie muß einfach von Hunderten von Leuten Damit hätten wir auf den Punkt ge- deutlich. Spike ist ein arbeitsloser Tauge- erkannt worden sein, was für eine Be- bracht, worum es in „Notting Hill“ im we- nichts, der sich nicht wäscht. Er rühmtheit lebensgefährlich ist. sentlichen geht. Dramaturgisch gesehen benimmt sich völlig asozial, und Hatte ihre Limousine einen Plat- ächzt und quietscht dieser Film an allen seine Verrücktheit wurde von Ein Lächeln, ten, und war ihr Handy kaputt? Ecken und Enden und beutet im Gewand den Machern dahingehend an- das alle Wann ist Julia Roberts zum der „romantischen Komödie“ nur die Fas- gelegt, daß sie im krassen Kon- entwaffnet und letztenmal ohne Bodyguards und trast zu dem außergewöhnlich derzeit fast Anstandsdamen durch London normalen William steht, welcher 20 Millionen spaziert? Das Leben des berühm- Spike seine Wohnung als Irren- testen Filmstars der Welt kann haus zur Verfügung gestellt hat. Dollar pro Rolle sich nicht so ohne weiteres auf Die Frage, wie Spike und Wil- wert ist der Straße abspielen. Im norma- liam wohl die Miete für die Woh- len Alltag schützen kugelsichere nung aufbringen, bleibt ebenfalls ein Rät- Stretchlimousinen, Zäune mit Kamera- sel.William kann genausowenig für seinen überwachung und bewaffnete „personal as- Lebensunterhalt aufkommen wie Spike, sistants“ das zarte Leben unserer Berühmt- und die Mieten in London sind horrend. heiten; was Anna Scott da am Anfang des Auf eine solche Frage gibt der Film keine Films treibt, kommt demnach einem Antwort, und ich kann auch nichts dafür, Selbstmordversuch gleich. daß ich eine solche Frage aufwerfe, die er- Der Drang, das Buch über die Tür- gibt sich ganz einfach aus dem Film. kei ausgerechnet in Williams Laden In Williams kleine Buchhandlung in Not- zu kaufen, muß also derart stark ge- ting Hill spaziert gleich zu Beginn des wesen sein, daß sie die Gefahr, von Films, nachdem wir kurz William, Spike einem Berühmtheitsfreak abge- und ein paar Freunde zu Gesicht bekom- stochen zu werden, dafür in Kauf men haben, der berühmteste Filmstar der genommen hat. Und ihre Assi- Welt und erkundigt sich nach einem Buch stenten, die ihr jedes beliebige über die Türkei.Wieso die Türkei und nicht Buch über die Türkei hätten Afghanistan, wird dem Zuschauer nicht besorgen können, waren of- verraten und tut im weiteren Verlauf der fenbar allesamt gerade krank Geschichte auch nichts zur Sache. Es ist oder unpäßlich, so daß sie per- eben die Türkei. Das Buch spielt überhaupt sönlich auf die Straße hinaus keine Rolle, und das finde ich schwach: mußte, um ihr türkisches Be- Das Buch hätte vielmehr ein wesentlicher dürfnis zu stillen. „Keiner von Bestandteil der Geschichte sein müssen, beiden versteht so recht, was denn es führt die Hauptfiguren zusammen. da passiert.“ Doch über solch exquisite Wünsche geht Das ist ein heikler Satz. „Notting Hill“ großzügig hinweg. Das Denn es interessiert das breite Buch ist nicht wichtig, die junge Frau Publikum nicht, wie die Be- schon, denn es ist Julia Roberts, die die sucherzahlen belegen. Mich Rolle der Anna Scott spielt. schon, aber ich gehöre ja zu Anna geht ganz allein in London spa- den Parias, die diesen Film zieren und bekommt plötzlich Lust auf ein beim besten Willen nicht ver- Buch über die Türkei, was ja jedem mal stehen. Sie küssen sich. Nicht passieren kann. Sie betritt also Williams etwa, weil sie sich verrückt vor Laden, die beiden wechseln ein, zwei Wor- Geilheit gegenseitig die Kleider te miteinander, und sie geht wieder. Doch vom Leib reißen und im Flur von zum Glück hilft der Zufall ein bißchen Williams ach so gemütlicher Woh- nach: Wenige Minuten später stößt Wil- nung sogleich zur Liebesszene liam, der gerade einen Becher Orangen- übergehen, nein, es ist ein keu- saft in der Hand hält, auf der Straße mit scher, zungenloser Kuß, der nur Anna zusammen, und sie wird klatschnaß. wenige Sekunden anhält, so wie Sie läßt sich von ihm dazu überreden, sich bei einem hochbetagten Mann, der der Saftflecken bei ihm zu Hause zu ent- sich am Frankfurter Bahnhof von ledigen, und als sie danach seine Wohnung seiner hochbetagten Frau verab- verläßt, küßt sie ihn. Im Presseheft steht: schiedet, ehe diese die lange Reise „Keiner von beiden versteht so recht, was nach Wiesbaden antritt.Was an Wil- da passiert.“ Ich auch nicht. liams Verhalten in erster Linie in-

Ich finde, daß eine gut konstruierte Ge- teressiert, ist seine Ehrfurcht & SCHEIKOWSKI JAUCH schichte lästige Fragen beantworten sollte, Roberts, Richard Gere* * Werbefoto zu „Pretty Woman“ (1990). Eine Nummer zu groß

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Vielleicht haben Anna und Wil- liam sich ja unterhalten, als sie einmal nachts spazierengegangen und in einem Park gelandet sind. Der Film zeigt, wie sie in dieser Nacht viel lachen und anschei- nend auch tiefgreifende Ge- spräche führen, doch was sich die Liebenden erzählen, bekommt der Zuschauer nicht zu hören, denn es handelt sich um eine mit Musik zusammengeklebte Mon- tageszene, die weder Text noch Dauer hat. Der Film bleibt damit so flach wie das Papier, auf dem dieser Artikel abgedruckt ist. Und das wäre ja auch alles gar nicht so schlimm, wenn wenig- stens die Sehnsucht des einen nach dem anderen und das bei- derseitige Verlangen nach Inti- mität in irgendeiner Weise Ge- stalt angenommen hätten. Doch ich habe leider nicht die gering- ste Ahnung, was sie denn nun an

COLUMBIA TRI STAR COLUMBIA TRI ihm findet, und genauso schlei- Roberts in „Die Hochzeit meines besten Freundes“ (1997): Mit ihrem Körper nicht sehr vertraut erhaft ist mir, was er für ein Bild von ihr hat.Was sollen die beiden zination des Phänomens „Berühmtheit“ In „Pretty Woman“ enthüllte sie zwar ein zusammen? Braucht sie ihn, um eine an- aus. Und was den Rest betrifft, dreht sich wenig mehr von ihrem Körper als in „Not- dere sein zu können? Und braucht er sie, die Geschichte im Grunde nur um den ting Hill“, aber eine Sexbombe war sie des- um sein Selbstbewußtsein als kleiner Buch- Kontrast zwischen Williams Welt, die ge- wegen noch lange nicht. Sex und Julia händler zu stärken? Sie ist berühmt und er nauso stinknormal ist wie die unsrige, aber Roberts, das gehört einfach nicht zusam- nicht, und das einzige, was passieren kann, zum Glück durch ein paar Vollidioten wie men. Sie küßt Hugh Grant denn auch sehr ist, daß er es auch wird. Spike aufgepeppt wird, und der einsamen sparsam, als dächte sie immer noch an Und das wird ihm von den Machern am Welt Annas, die eingekeilt ist zwischen Grants Mißgeschick mit dieser echten Hure Ende tatsächlich beschert. Wir sehen die dem, was ihr die Manager vorschreiben, auf dem Sunset Boulevard. beiden im Blitzlichtgewitter der Fotogra- und den Aasgeiern von der Presse. Nichts in diesem Film ist her- fen, wie sie Filmfestivals und Nichts in der Rolle von Julia Roberts ausgearbeitet, nirgendwo wird Hotels besuchen, hübsch anzu- kommt einem allgemein menschlichen ein Motiv oder Thema an- Sex und schauen, weltgewandt, geschlif- Thema auch nur im entferntesten nahe, sie gerührt, das über das Niveau von Julia Roberts, fen, und er ist nun, von ihr aus- ist einzig und allein „berühmt“. Nichts be- Schlagzeilen in der Boulevard- das gehört erwählt, Teil der erlesenen schäftigt sie, außer eben dem Mangel an presse hinausginge. Und genau einfach Schar, die früher kraft ihres Blu- Privatleben, dem Tribut ans Berühmtsein. das gefällt dem Publikum. Den nicht tes erkoren wurde und heute Roberts’ stärkste Waffe in diesem Film – beiden Liebenden, die, vom er- dank der Massenmedien. Er und in allen, die sie davor gemacht hat – ist sten Kuß zu Beginn an gerech- zusammen gehört nun zum modernen Adel ihr Lächeln, das nach wie vor entwaffnend net, ziemlich spät im Film zu- des öffentlichen Ruhms. und derzeit fast 20 Millionen Dollar pro sammen im Bett landen, und das so pflicht- Darf ich sagen, wie es hätte sein müssen? Rolle wert ist. Sie ist eine strahlende Er- schuldig und spannungsarm, als handle es Der Buchhändler hätte den Filmstar nicht scheinung, aber verführerisch ist sie nicht. sich um etwas so Unvermeidliches wie eine kennen dürfen. Anna Scott hätte für ihn Schauspielerinnen wie Michelle Pfeif- Tetanusspritze nach einem Hundebiß, ge- eine Unbekannte sein müssen, in die er fer und Cameron Diaz sind geheimnis- lingt es im gesamten Verlauf von „Notting sich hätte verlieben können, ohne von voller und körperlicher und daher beim Hill“ nicht, auch nur ein einziges vernünf- ihrem Ruhm tangiert zu sein. Dann hätte weiblichen Teil des Publikums weniger tiges Gespräch miteinander zu führen. dieser Film ein reines Herz gehabt. beliebt. Julia Roberts ist schön, wie ein Wir haben erfahren, daß William an sei- Aber Sie glauben mir ja doch nicht und Delphin schön ist. Sie hat einen sagenhaf- ner Einsamkeit leidet und gern eine Frau sehen sich „Notting Hill“ trotzdem an und ten Mund, der bei Männern vielerlei Bil- an seiner Seite hätte, was seine Freunde erliegen den schönen Versprechungen der der aufkommen lassen könnte, wenn sie dazu veranlaßt, eine ganze Reihe dummer Pressekampagne und lassen sich von den nicht so systematisch ihren Körper ver- Tucken bei ihm antanzen zu lassen, und wunderschönen alten Hits – „How Can You stecken würde. wir wissen, daß Anna unter den Nackt- Mend A Broken Heart“, „Ain’t No Sun- Mit dem scheint Julia Roberts nicht ge- fotos leidet, für die sie sich mal hergegeben shine When She’s Gone“ – mitreißen, die rade sehr vertraut zu sein. Sie spielt mit hatte, als sie sich (laut Presseheft „als die Macher so raffiniert darin verwertet ha- dem Kopf, mit der Stimme, den Augen, junges Starlet“) über Wasser halten muß- ben. Und ich bin dann nur wieder baff, wel- dem Mund, aber kaum oder gar nicht mit te, und die nun plötzlich wieder auf- chen Erfolg dieser seichte und im Grunde dem Rest ihres Körpers, der eigentlich für getaucht sind. Doch ein Gespräch, das zynische Film bei Ihnen verbuchen wird. ihr feines Gesichtchen auch eine Nummer mehr als nur die äußere Schale ihrer Rol- Vielleicht sollte ich im Binnenland der zu groß ist. Die Proportionen stimmen len – Filmstar, Buchhändler – berührte, Türkei in Quarantäne gehen. Muß mir nicht so ganz, wodurch sie bei mir immer wurde von den Machern offenbar für über- mal ein Buch darüber besorgen. Assoziationen mit etwas Fischigem auslöst. flüssig gehalten. Übersetzung: Hanni Ehlers

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Werbeseite Kultur

ARCHITEKTEN Sieg der Potemkinschen Dörfer Der Hauptstadtarchitekt Christoph Mäckler über die schlechte Ausbildung junger Kollegen sowie die nötige Rückkehr zu Bescheidenheit und traditioneller Handwerkskunst

Der Frankfurter Archi- ben einem Ausschnitt vom ehemaligen SPIEGEL: Sie haben in Dortmund den Lehr- tekt Christoph Mäckler, Reichspropagandaministerium abgebildet. stuhl von Josef Paul Kleihues übernom- 48, beteiligt sich an der So wollten die belegen, daß mein Bau fa- men. Worin unterscheidet sich Professor Neugestaltung Berlins schistisch ist. Jener Herr, der den Artikel Mäckler von den gescholtenen Kollegen? mit mehreren Projek- schrieb, argumentiert nicht anders als es Mäckler: In der Universität Dortmund wird ten. Sein Lindencorso, die Nationalsozialisten taten: Die ließen versucht, die Studenten stärker auf die Be- ein Einkaufs- und Büro- in eine Postkarte der Stuttgarter Weißen- rufspraxis vorzubereiten. Im sogenannten komplex Unter den Lin- hofsiedlung – mit Bauten von Mies van der Dortmunder Modell arbeiten Architektur- den, trug ihm unter an- Rohe, Le Corbusier und anderen – Bedui- und Bauingenieur-Studenten gemeinsam derem den Auftrag für nen und Kamele montieren, um damit das an ihren Projekten. Wir hoffen, die bau- ein großes Verwaltungs- ,Undeutsche‘ dieser modernen Siedlung zu technische Ausbildung damit fundierter gebäude in unmittel- dokumentieren. vermitteln zu können. Denn solange Ar- barer Nähe ein. Dem- SPIEGEL: Wenn man sich wie Sie auf tradi- chitekten einseitig als Entwerfer ausgebil- nächst wird nach seinen tionelle Bauweisen bezieht, erregt man det werden, diktiert ihnen die Industrie, Plänen ein Hochhaus normalerweise wenig Aufsehen. Wirklich welche Dinge sie verwenden sollen. Kaum an der Gedächtniskir- beachtet werden Architekten oft erst, wenn

M. WEISS / OSTKREUZ che errichtet. sie Gebäude zu bizarren Skulpturen for- men, wie kürzlich in Berlin Daniel Libes- SPIEGEL: Architekturkritiker nennen Ihr kind mit seinem Jüdischen Museum. War- neues Verwaltungsgebäude in Berlin-Mitte um lassen Sie es nicht mal krachen? „futuristisch schräg“, „theatralisch“, „pu- Mäckler: Wenn wir die europäische Stadt ristisch“ und unterstellen Ihnen Zitate aus wiedergewinnen wollen, kann es nicht nur Antike, Barock und Bauhaus. Sind Sie ein krachen. Häuser sind keine Kunst-, son- Anhänger des Stilwirrwarrs? dern Bauwerke. Sie haben in erster Linie Mäckler: Nicht ich, ein Architekturkritiker. Funktionen zu erfüllen. Architekten set- SPIEGEL: Es ist dennoch auffällig, daß die zen sich leider zuwenig mit der Nutzungs- vielen Gebäude, die Sie entworfen haben, weise eines Bauwerks auseinander, weil sie völlig unterschiedlich aussehen: Der Lin- meinen, mit einem schrägen Gebilde bes- dencorso wirkt steinern und historisierend, sere Kritiken zu bekommen. ihr Museumsdepot in Frankfurt am Main SPIEGEL: Sie haben einmal behauptet, vie- gilt dagegen als strikt modern. Sollen die le Ihrer Kollegen verstünden ihr Handwerk Leute auf gar keinen Fall einen echten nicht mehr. Wie können Sie das über Leu- Mäckler erkennen? te sagen, die genauso wie Sie ein Hoch- Mäckler: Der Mäckler ist nicht so wichtig, schulstudium abgeschlossen haben? der Ort ist entscheidend. Das ist doch Mäckler: Vielleicht bin ich da verkürzt zi- das größte Problem heute: Ein Architekt tiert worden. Ich will nur so viel sagen: schafft sich ein einprägsames Image, in- Meine Kollegen verstehen ihr Handwerk so dem er seine Häuser in immer die gleichen gut oder so schlecht wie alle, die – wie Hüllen steckt – aus Glas, Stein oder ge- auch ich – durch die entwurfsfixierte Aus- knautschtem Aluminium. Dabei ist es ihm bildung der siebziger Jahre gegangen sind. egal, ob das Haus nun in Barcelona, Paris Die künstlerische Seite dominiert an den oder in Berlin steht. Ich meine, daß es ge- Hochschulen, die wollen dauernd Stars rade in einer globalisierten Welt darum ge- hervorbringen. hen muß, für einen spezifischen Ort Tradi- SPIEGEL: Was spricht dagegen? tionen zu bilden. In München zum Beispiel Mäckler: Es ist eine Tatsache, daß nur drei, würde ich Putzbauten machen, in Ham- höchstens fünf Prozent eines Jahrgangs burg Ziegelbauten, nach Berlin passen überhaupt eine Begabung als Entwerfer kräftige Natursteinfassaden. haben. Tatsache ist auch, daß dem Ar- SPIEGEL: Dennoch wissen auch Sie, daß Ar- beitsmarkt die Praktiker fehlen. Am chitekten, die in Berlin geschlossene Stein- schlimmsten zeigt sich diese Fehlentwick- fassaden bauen, sich den Vorwuf einhan- lung an den Fachhochschulen, die ihre deln, einer faschistoiden Ästhetik zu hul- frühere bautechnische Ausbildung zugun- digen. Stört Sie das nicht? sten des künstlerischen Ansatzes aufgege- Mäckler: Dieser Vorwurf ist so emotional ben haben. wie dumm. Vor kurzem hat eine nieder- ländische Zeitschrift einen Ausschnitt von Mäckler-Verwaltungsbau in Berlin (innen) meinem Lindencorso fotografiert und ne- „Es kann nicht nur krachen“

176 der spiegel 26/1999 ein Architekt kann heute sagen, ich will, reisen vor allem deshalb immer wieder in daß das Fenster so und so aussieht, denn die alten europäischen Städte, weil sie sich die meisten wissen nicht, wie ein Fenster in ihrer Gestalt kaum ändern, weil sie uns konstruiert ist, und können daher nicht in eine Art Heimatgefühl vermitteln.Wir brau- den Produktionsprozeß eingreifen. chen also auch in Deutschland Bauwer- SPIEGEL: Bauen gilt heute als zu teuer.Wel- ke, die mit ihren Fassaden altern können. cher Bauherr will sich einen Architekten SPIEGEL: Fassaden erhalten und dahinter leisten, der den Anspruch erhebt, eigene alles umbauen: Wollen Sie lauter Potem- Fenster zu produzieren? kinsche Dörfer errichten? Mäckler: Bauen ist teuer. Teurer aber sind Mäckler: Wenn Sie so wollen: ja. Mein schlecht durchdachte Konstruktionen, die Lindencorso ist ein gutes Beispiel. Für nach wenigen Jahren beginnen zu verrot- das Erdgeschoß waren kleine Läden vor- ten. Wir reißen heute schon Häuser aus gesehen. Nun brauchte VW aber große den siebziger Jahren ab, während wir die Schauräume. Kein Mensch ist auf die Idee Gründerzeitbauten immer wieder den neu- gekommen, dafür die ganze Fassade raus- en Bedürfnissen anpassen. Also sollten wir zureißen. Nein, man hat die charakteristi- heute, genauso wie früher, mit soliden Ma- schen dicken Vormauersteine belassen und terialien, Stein oder Putz, arbeiten. ergänzt – die großen Schauräume hat VW SPIEGEL: Heute ändern sich die Funktionen trotzdem bekommen. von Gebäuden sehr rasch, ein Wohnhaus SPIEGEL: Ein Konzern wie VW kann sich

kann in wenigen Jahren zum Bürobau wer- aufwendige Umbauten vielleicht leisten. D. LEISTNER / ARCHITEKTON den. Passen dicke Mauern überhaupt noch Hätte sich ein mittelständisches Unter- Museumsdepot von Mäckler (Frankfurt/M.) in unsere Zeit? nehmen nicht doch anders entschieden? „Fassaden müssen altern können“ Mäckler: Ich finde, Hausfassaden sollten so Mäckler: Nein, Häuser müssen bei aller So- lange wie möglich erhalten bleiben, um dem lidität im Inneren flexibel sein. Das Ver- alles mögliche damit anstellen. Mit weni- Ort, wo das Haus steht, einen Wiederer- waltungsgebäude in Berlin-Mitte etwa hat gen Handgriffen lassen sich die Raumzu- kennungswert, eine Identität zu geben.Wir eine kräftige Fassade, innen kann man aber schnitte ändern. In den Siebzigern, als man wer weiß wie offen und kommunikativ sein wollte, gab es die Ideologie der Großraum- büros. Nichts anderes durfte sein. Heute wollen die einen Büros für mehrere Leute, die anderen wollen Privatheit. Die Häu- ser, die nur eine Großraumnutzung zulas- sen, reißt man ab. SPIEGEL: Die Leute treibt heute nicht nur der Arbeitsort selbst um, sie regen sich zu- nehmend auch darüber auf, daß zwischen Wohn- und Arbeitsstätte ein langer Weg liegt. Neubauwohnungen kommen an die Stadtränder, weit weg von Industrievier- teln. Fällt Städteplanern immer noch nichts zur Mischung der Viertel ein? Mäckler: Nein. Es gibt für Normalverbrau- cher kein vernünftiges Konzept zum Woh- nen in der Innenstadt, das mit dem Rei- henhaus auf der grünen Wiese konkurrie- ren kann. Das liegt aber nicht nur an Städ- teplanern. Es gibt auch erhebliche steuer- politische und nachbarschaftsrechtliche Hemmnisse. Da ist erst mal die Tatsache, daß sich kleine bis mittlere Betriebe Mie- ten in einem innerstädtischen Wohnviertel kaum leisten können. Dann kommt die Frage hinzu, ob sie dort überhaupt ver- nünftig arbeiten dürfen. Ein Bäcker darf in der Regel morgens um vier in einem Wohn- viertel gar nicht backen. Die Städter wol- len ihre Brötchen um sieben auf dem Tel- ler haben, aber der Bäcker soll sie auf der grünen Wiese produzieren. SPIEGEL: Wollen sich Architekten vor der Verantwortung drücken, indem sie immer nach politischen Lösungen für solcherlei Fragen rufen? Mäckler: Diese Fragen können nun mal nur politisch gelöst werden, und da ist einiges

Mäckler-Neubau in Berlin (außen)

FOTOS: M. WEISS / OSTKREUZ ( li.); S. MÜLLER re.) FOTOS: „Der Bäcker soll auf die grüne Wiese“

der spiegel 26/1999 177 möglich: Was hätten Sie denn vor 15 Jah- ren gesagt, wenn es geheißen hätte, Sie müssen Ihren Müll trennen? Sie hätten mich ausgelacht. Heute trennen Sie selbst- verständlich Ihren Müll. Wieso soll ein Gesetzgeber dann nicht festlegen, daß die Erdgeschoßzone in der Innenstadt zumindest zu Zweidritteln mit einer Mie- te belegt ist, die es erlaubt, daß da eine Boulettenbude oder ein Caféhaus hin- kommen kann. SPIEGEL: Viele innerstädtische Häuser sind gar nicht dafür angelegt, daß ins Erdge- schoß Geschäfte kommen. Sind Architek- ten nicht doch heimliche Verhinderer der durchmischten Stadt? Mäckler: Sicher sind Architekten auch verantwortlich für tote Innenstädte.Wenn ich an Frankfurt denke, da gibt es Stra- ßen mit Bürohäusern, in denen das gan- ze Erdgeschoß verspiegelt ist. Hinter der Verspiegelung befindet sich die Kanti- nenküche, das Büro des Hausmeisters und andere unsinnige Nutzungen. Das Haus schottet sich gegen seine Umge- bung ab. SPIEGEL: Nun planen Sie aber im Moment Gebäude, die in der Regel die trostlose- sten Sockel haben: Hochhäuser. Eines an der Gedächtniskirche in Berlin und eines gegenüber der Alten Oper in Frankfurt. Warum wagt sich ein behutsamer Mann wie Sie auf einmal an eine vielgehaßte Bauform? Mäckler: Die Aversion gegen Hochhäuser in unserer Gesellschaft ist völlig irrational. Natürlich hängt sie mit den toten Sockeln vieler Wolkenkratzer zusammen, aber das kann man ja auch anders lösen. Meine Hochhäuser in Frankfurt am Main zum Beispiel bekommen zweigeschossige Ar- kaden mit Läden und sind dadurch zu- gänglich. Aber allgemein gesprochen: Hochhäuser sind einfach das Symbol un- serer Zeit. Frankfurt hat durch die Wol- kenkratzer eine richtige Stadtkrone be- kommen. Mit jedem Hochhaus, das dazu- kommt, gewinnt die Stadt an Klasse und Reiz. Frankfurt ist ja in der Innenstadt viel zerstörter gewesen als Berlin und hat erst durch die Hochhäuser einen neuen Cha- rakter bekommen. SPIEGEL: Sie pendeln seit Jahren zwischen Frankfurt und Berlin. Warum ziehen Sie nicht vollends in die Hauptstadt? Mäckler: Ich liebe Berlin, und wenn es ums Lebensgefühl geht, dann ist das die Stadt, in der man sich einfach niederlassen muß. Wenn es aber darum geht zu arbeiten, ist man hier nicht so gut aufgehoben. Frank- furt sehen Sie von außen an, daß sich dort wirtschaftliches Leben konzentriert. Aber kaum ein Bankchef sagt, Berlin ist die Hauptstadt, laßt uns hingehen.Wenn Sie in Charlottenburg um acht Uhr morgens aus dem Haus gehen, dann haben Sie das Ge- fühl, alle schlafen noch. Die Stadt war lei- der zu lange vom wirtschaftlichen Leben abgenabelt. Interview: susanne Beyer

der spiegel 26/1999 Kultur

AUTOREN Der Spiegel des Verbrechens Der Schriftsteller Henning Mankell dringt mit ebenso spannenden wie anspruchsvollen Romanen in die Spitzengruppe der Bestsellerlisten vor. Sein Held Kurt Wallander, Kriminalkommissar im schwedischen Provinznest Ystad, ist für Millionen Leser längst eine reale Person.

er nicht mehr ganz junge Mann auch an ihr wieder irre. Damit steht der mit den grauen Strubbelhaaren schwedische Kommissar im Gegensatz Dwirkt auffällig unauffällig. Äu- zu gewöhnlichen Krimi-Helden, die ßerlich läßt nichts darauf schließen, daß aus Stereotypen zusammengesetzt sind es sich um einen der erstaunlichsten wie eine Maschine aus Fertigbauteilen. Erfolgsautoren der Gegenwart handelt „Wallander ist wie du und ich“, sagt – um ein lebendes Paradox. Mankell, „er wandelt sich.“ Zwischen Geboren vor 51 Jahren im kühlen 1991 und 1998, innerhalb von acht Jah- Stockholm, ist Henning Mankell unter ren, hat Mankell ebenso viele Wallan- der Sonne Afrikas zu Hause. Aufge- der-Romane veröffentlicht.Verblüffend wachsen in Schweden, einem der reich- schnell etablierte sich der schwedische sten Länder der Welt, hat er in einem Polizist unter den großen Gestalten der der ärmsten seine Wahlheimat gefun- internationalen Kriminalliteratur. den, in Mosambik. Als Romancier Eher wortkarg als redselig, schlecht schreibt er in seiner Muttersprache bezahlt und meistens überarbeitet, Schwedisch; als Theaterregisseur in dazu von beruflichen Selbstzweifeln Maputo, der Hauptstadt des afrikani- geplagt, hat der Kommissar auch in pri- schen Staates, spricht er Portugiesisch, vaten Beziehungen wenig Glück. Wer die Sprache der einstigen Kolonial- die drei früher auf deutsch erschiene- macht. Die Arbeit des Schriftstellers ist nen Bände kennt – „Mörder ohne Ge- einsam, die des Regisseurs kollektiv. sicht“, „Hunde von Riga“ und „Die Mankell braucht beides. Seine Lebens- weiße Löwin“ –, weiß es: Seine Ehe ist form ist der Spagat: „Ein Fuß im gescheitert, die heranwachsende Toch- Schnee, ein Fuß im Sand.“ ter Linda hat einen Selbstmordversuch Der Schwede, der mit 23 Jahren li- hinter sich. Zu seinem greisen und terarisch debütierte, schreibt unter an- starrsinnigen Vater findet er kaum Zu- derem Theaterstücke und einfühlsame gang, während ihn Tochter Linda mit Jugendbücher, von denen mehrere auch der Beobachtung erschreckt, er werde in Deutschland preisgekrönt wurden. seinem Vater immer ähnlicher. Seine Massenleserschaft aber gewann Mit einer in Riga lebenden Freundin Mankell mit unerhört spannenden Ro- hat Kurt Wallander fast nur am Telefon manen über schauerliche Serienmor- Kontakt. Doch wenn er sie mitten in de. Ein grüblerischer Polizeikommissar der Nacht anläutet, kann es passieren,

namens Kurt Wallander enträtselt dar- A. SMAILOVIC daß er den Hörer wieder auflegt, ohne in noch die grausamsten Verbrechen Erzähler Mankell: Spagat zwischen Schnee und Sand ein Wort zu sagen und ohne zu wissen, als Vexierbilder sozialen Zerfalls. warum: hin- und hergerissen zwischen Die Mundpropaganda der Leser sowie Don Quijote oder der brave Soldat der Sehnsucht nach einer neuen Bindung glänzende Kritiken beförderten Mankells Schwejk, gehört er für die Schweden zu und der Angst davor. Für seine Opernlei- im vergangenen Jahr erschienenes Buch ihrem Leben wie eine reale Person. Mit lei- denschaft bleibt kaum Zeit. Sein Bauch- „Die fünfte Frau“ in die Spitzengruppe der sem Staunen über das Eigenleben seiner ansatz macht ihm zu schaffen. Heiße Sex- Bestsellerlisten. Knapp dahinter findet sich Figur erzählt Henning Mankell von dem szenen erlebt er allenfalls in erotischen jetzt bereits ein weiterer, gerade erst auf betagten Landsmann, der ihn in der Stock- Träumen, und seine Einsamkeit schwemmt deutsch veröffentlichter Mankell-Titel*. holmer Innenstadt am Vorabend der Ab- er manchmal mit Whisky weg. In Schweden, das gerade mal neun Mil- stimmung über Schwedens Beitritt zur Obwohl bei Mankell Erzähltempo und lionen Einwohner hat, wurden mehr als Europäischen Union mit der Frage ver- Zeitebenen vielfach wechseln und obwohl drei Millionen der insgesamt acht Wallan- dutzte: „Wie würde sich Wallander ent- das äußere Geschehen, gegen alle Krimi- der-Romane verkauft. Binnen weniger Jah- scheiden?“ Regeln, oft über viele Seiten nicht voran- re wurde der Polizist aus dem südschwe- Zu den über 20 Sprachen, in die Wallan- kommt, hält der Sog der Lektüre an. dischen Provinznest Ystad zur festen Größe ders Ermittlungen bisher übersetzt wur- „Ich habe nie in meinem Leben daran ge- des kollektiven Bewußtseins. Obwohl allen den, gehört sogar Japanisch. Die interna- dacht, einen Kriminalroman um seiner klar ist, daß Kurt Wallander eine ebenso tionale Popularität des Helden führt sein selbst willen zu schreiben“, sagt Mankell. fiktive Existenz führt wie Sherlock Holmes, Schöpfer vor allem darauf zurück, daß Wal- „Ich sehe mich in einer sehr alten Tradi- lander sich durch seine Erfahrungen von tion, die den Spiegel des Verbrechens nutzt, Fall zu Fall und von Buch zu Buch verän- um die Gesellschaft zu betrachten.“ Nach * Henning Mankell: „Die falsche Fährte“. Aus dem Schwedischen von Wolfgang Butt. Paul Zsolnay Verlag, dert: Er hat eine Haltung, zweifelt an ihr, dieser Definition ist einer der Stammväter Wien; 496 Seiten; 45 Mark. kommt zu einer neuen Einstellung und wird der Kriminalliteratur kein anderer als Wil-

der spiegel 26/1999 179 Kultur liam Shakespeare: „Der beste Kriminalro- ge nur aus einem Grund: Die angesichts man, der je geschrieben wurde, heißt wahr- der Indizien naheliegende Schlußfolgerung scheinlich ,Macbeth‘.“ Er sagt es ohne auf Person und Motive des Mörders kommt Nachdruck, fast beiläufig. Dieser Autor ist ihm so monströs vor, daß er sie einfach auf bescheidene Weise anspruchsvoll. nicht wahrhaben will. Nach drei Jahren Afrika für einige Zeit Bei seinem ersten Fall ist der Kommis- nach Schweden zurückgekehrt, stellte sar Anfang 40, beim letzten, der voriges Mankell 1989 erschrocken fest, daß sich Jahr in Schweden erschienen ist, 50 Jahre Übergriffe gegen Asylanten häuften. „Da tickte eine Zeitbombe unter dem Teppich der Gesellschaft. Ich beschloß, eine Ge- Bestseller schichte über Rassismus zu schreiben. Das ist eine kriminelle Haltung. Deshalb ent- Belletristik schied ich mich für einen Kriminalroman. Und dafür brauchte ich einen Polizisten.“ 1 (1) John Irving Witwe für ein Jahr So entstand eines Tages im Mai 1990 der Diogenes; 49,90 Mark Kommissar Kurt Wallander, Held des ein Jahr später erschienenen Buchs „Mörder 2 (2) Henning Mankell Die fünfte Frau ohne Gesicht“. „Nach dem ersten Roman Zsolnay; 39,80 Mark wurde mir klar, daß sich viele Leute mit ihm identifizierten – mit seinen Einstel- 3 (3) John Grisham Der Verrat lungen, seinen Sorgen, seinen Bedürfnis- sen. Darum benutzte ich ihn als Instrument Hoffmann und Campe; 44,90 Mark für einige andere Geschichten.“ Ohne die langjährige Wahrnehmung der 4 (4) Henning Mankell Die falsche Welt aus einer nichteuropäischen Per- Fährte Zsolnay; 45 Mark spektive hätte es den europäischen Best- 1 sellerautor Mankell nie gegeben. Die mei- 5 (5) Walter Moers Die 13 /2 Leben des sten Wallander-Romane sind geographisch Käpt’n Blaubär Eichborn; 49,80 Mark und kulturell bipolar: Die Spur der Ver- brechen, die Wallander zunächst in Schwe- 6 (6) Marianne Fredriksson Simon den verfolgt, führt in die arme Welt.Aus ihr kommen viele Opfer, die in Europa aus po- W. Krüger; 39,80 Mark litischen oder wirtschaftlichen Gründen Zuflucht suchen oder von Menschenhänd- 7 (7) Maeve Binchy Ein Haus in Irland lern dorthin verschleppt werden. Ihr ent- Droemer; 39,90 Mark stammen aber auch etliche Täter. Bei Wallanders erstem Fall, „Mörder 8 (8) John le Carré Single & Single ohne Gesicht“, töten sowohl Berufsver- brecher aus Osteuropa wie schwedische Kiepenheuer & Witsch; 45 Mark Rassisten. In dem Roman „Die weiße Löwin“ hilft der Kommissar dabei, im letz- 9 (9) Minette Walters Wellenbrecher ten Moment ein politisches Attentat auf Goldmann; 44,90 Mark Nelson Mandela zu verhindern, für das ein schwarzer Killer und Spezialisten des ehe- 10 (10) P. D. James Was gut und maligen KGB von südafrikanischen Buren böse ist Droemer; 39,90 Mark bezahlt werden. „Die fünfte Frau“ fängt an mit einer suggestiven algerischen Szene, 11 (11) Tom Clancy Operation Rainbow in der islamistische Terroristen schlafen- den Opfern die Kehlen durchschneiden – Heyne; 49,80 Mark erst vier europäischen Ordensschwestern, dann einer schwedischen Zufallstouristin. 12 (14) David Guterson Auch die neue Mankell-Übersetzung Östlich der Berge „Die falsche Fährte“ beginnt mit einer at- mosphärisch packenden Szene in der Drit- Berlin; 39,80 Mark ten Welt, diesmal in der Dominikanischen Republik. Ein armer Teufel, der sich Medi- Wie ein kranker Arzt nach dem Sinn kamente nicht leisten kann, sieht hilflos des Lebens sucht dem Sterben seiner kranken Frau zu; er bleibt mit dem gemeinsamen Baby allein zurück. Diese Tochter verbrennt sich 15 13 (15) Paulo Coelho Der Alchimist Jahre später vor den Augen von Wallander Diogenes; 32 Mark in einem schwedischen Rapsfeld. Wie ihr Tod mit dem abgründigen Sa- 14 (12) Cees Nooteboom Allerseelen dismus eines ehemaligen Justizministers, mit dessen Ermordung, Skalpierung und Suhrkamp; 48 Mark weiteren Bluttaten zusammenhängt, be- greift der Kommissar nur widerstrebend. 15 (13) Donna Leon Sanft entschlafen Die falsche Fährte verfolgt Wallander lan- Diogenes; 39 Mark

180 der spiegel 26/1999 alt. Auch in diesem – noch nicht übersetz- len Ghetto“ als zum Teil des „globalen ten – Buch, „Die Brandmauer“, spiegelt Dorfs“ zu werden. der Autor mit den Mitteln der Kriminal- Einen weiteren Wallander-Roman soll es literatur den Prozeß der Globalisierung. nicht geben. „Ich möchte nicht, daß die Es geht, zwischen Schweden und Angola, Leute viel Geld für ein Buch bezahlen und um die Risiken der elektronischen Revo- nach zehn Seiten das Gefühl haben, daß lution; ein Großteil der armen Welt, be- der Autor seiner Sache müde ist. Es wäre fürchtet Mankell, drohe eher zum „globa- beleidigend für mich und für den Leser.“ Den Fans wird der Abschied von Wallander Im Auftrag des SPIEGEL wöchentlich dadurch erleichtert, daß dessen Tochter Lin- ermittelt vom Fachmagazin „Buchreport“ da als Polizistin das Werk ihres Vaters fort- setzen soll: Mindestens ein Buch mit Kom- Sachbücher missarin Linda versprach der Autor letzte 1 (1) Waris Dirie Wüstenblume Woche in einer schwedischen Zeitschrift, nicht nur seinen Landsleuten zur Freude. Schneekluth; 39,80 Mark Regisseur des „Avenida“-Theaters in Maputo will Mankell bleiben; dieses 2 (2) Corinne Hofmann Die weiße „Abenteuer meines Lebens“, für das er nie Massai A1; 39,80 Mark Geld erwartet oder bekommen hat, finan- ziert er mit seinen Krimi-Bestsellern. 3 (3) Sigrid Damm Christiane Schon als Kind wurde ihm der ferne, und Goethe Insel; 49,80 Mark heiße, rätselhafte Kontinent zum Reich sei- ner Sehnsucht. Er wuchs in Nordschweden 4 (4) Klaus Bednarz Ballade vom auf, allein mit seinem Vater, umgeben von viel rauher Natur und wenigen Menschen Baikalsee Europa; 39,80 Mark – wie Joel, der Held jener Jugendbücher, die er seine „fiktiven Biographien“ nennt. 5 (6) Tahar Ben Jelloun „Die Gegend heißt Härjedalen und ist ver- Papa, was ist ein Fremder? dammt kalt“, sagt Mankell. Wie einst der Rowohlt Berlin; 29,80 Mark Junge Henning, findet auch Joel Zuflucht und Wärme in seiner Phantasie. Wie ein Mit 17 Jahren begann Mankell in Stock- Schriftsteller seiner kleinen Tochter holm, das Regiehandwerk zu lernen, und den Rassismus erklärt ein paar Jahre später besuchte er zum er- stenmal Afrika. Die Wirklichkeit veränder- te Farben und Konturen des alten Traums, 6 (5) Dale Carnegie Sorge dich doch die Faszination blieb. Mankell kehrte nicht, lebe! Scherz; 46 Mark immer wieder nach Afrika zurück. 1985 wurde der schwedische Regisseur in Mo- 7 (7) Ruth Picardie Es wird mir sambik eingeladen, beim Aufbau eines pro- fehlen, das Leben Wunderlich; 29,80 Mark fessionellen Theaters in Maputo zu helfen. Er blieb erst eine Woche, dann pendelte 8 (9) Jon Krakauer In eisige Höhen er zwischen den Kontinenten; schließlich Malik; 39,80 Mark entschied er sich, überwiegend in Afrika zu leben. Auch die Wallander-Romane sind großenteils dort entstanden. 9 (10) Daniel Goeudevert Mit Träumen In einem Land, in dem drei von fünf beginnt die Realität Menschen weder lesen noch schreiben kön- Rowohlt Berlin; 39,80 Mark nen, hat das Theater als Ausdrucksmittel eine besondere Bedeutung.Wenn Mankell 10 (8) Guido Knopp Kanzler – Die auf das schwarze Ensemble zu sprechen Mächtigen der Republik kommt, in dem er als einziger Weißer ar- C. Bertelsmann; 46,90 Mark beitet, wird der bedächtige Mann beinahe enthusiastisch. „Ohne die geringste staat- 11 (12) Gary Kinder Das Goldschiff liche Unterstützung überlebt unsere Trup- pe von 70 Vollzeitkräften seit 15 Jahren. Malik; 39,80 Mark Zumindest einige von ihnen könnten auf 12 (11) Jon Krakauer Auf den Gipfeln jeder deutschen Bühne auftreten.“ Dieser Erfahrung zuliebe nimmt der der Welt Malik; 39,80 Mark afrikanische Schwede es in Kauf, daß er oft monatelang von seiner Frau Eva ge- 13 (13) Gerd Ruge Sibirisches Tagebuch trennt ist. Auch sie hat, als Tochter des Berlin; 39,80 Mark berühmten Regisseurs Ingmar Bergman, Theater im Blut; sie leitet eine Götebor- 14 (14) Peter Kelder Die Fünf „Tibeter“ ger Bühne. Derzeit schreibt Mankell ein Integral; 22 Mark Stück, das seine Frau in Maputo inszenie- ren wird – mit einer gemischten Truppe 15 (15) Monty Roberts Shy Boy aus einheimischen und schwedischen Lübbe; 49,80 Mark Akteuren. Rainer Traub

der spiegel 26/1999 181 W. KANDINSKY W. VG BILD-KUNST, BONN 1999 VG BILD-KUNST, Münter-Gemälde „Sofatisch“ (1910), Künstlerin Münter in Murnau (1910): Zwielichtiges Zauberreich des Wundermädchens

KUNST „Unfähige müssen eben raus“ Zeitreisen zum „Blauen Reiter“: In München werden vier Ausstellungen vom Anfang des Jahrhunderts rekonstruiert, in Murnau öffnet sich das Landhaus Gabriele Münters für Besucher.

as Kanapee ist frisch bezogen, aber chen“ nichts mehr wissen wollte und in Nazi-Häschern und marodierenden Besat- das Stoffdessin könnte vom Anfang Moskau eine andere heiratete, was er zern unauffindbar verbarrikadiert. Ddes Jahrhunderts sein. Auch an der demütigend lange vor der Verlassenen ge- Die Schenkung dieses Horts, darunter Wand prangt wieder das alte Muster – ein heimhielt. Erst seit 1931 nutzte sie, mit ei- allein mehr als 90 Kandinsky-Gemälde, Dekor, für das der Anstreichermeister nun nem neuen Gefährten, wieder das Mur- machte 1957 die Münchner Städtische Ga- die Schablonen eigens zuschneiden mußte. nauer Haus. Nach ihrem Tod 1962 ging es lerie im Lenbachhaus auf einen Schlag zur Die bunten Bilder über dem Polstermöbel samt Möbeln, Kunstwerken und riesigem Hochburg des Expressionismus-Kults, spe- gehören sowieso an diesen Platz. Dokumentenschatz an eine Stiftung. ziell der Forschung über die Münchner Der Zimmerecke im oberbayerischen Nun blitzt das lang verwohnte und ver- Künstlergruppe „Der Blaue Reiter“. Von Sommerhaus, einem Bildmotiv, das die Ex- witterte Gebäude wieder adrett im Weiß, dem Segen zehrt das Museum bis heute: pressionistin Gabriele Münter 1910 mit Gelb und Hellblau der Jugendstilepoche. Fast gleichzeitig mit dem Murnauer House- leuchtenden Farben und kräftigen Kontu- Anbauten aus der Zwischenzeit sind be- Warming stellt es in seinem unterirdischen ren auf Leinwand festgehalten hat, fehlt seitigt, und statt nur zwei provisorischer „Kunstbau“ nun eine eigene Inszenierung heute nur noch der titelgebende „Sofa- Gedenkräume wie schon seit 1983 ist das aus derselben Künstlerwelt vor. tisch“ mit Lampe und Topfblumen. Wenn ganze Haus zugänglich – sich vom 9. Juli an das „Münter-Haus“ in bestückt mit überwie- Murnau für Besucher öffnet, werden sie gend rustikalen Möbeln, da wie in eine intime Szenerie der frühmo- von denen Kandinsky dernen Kunstgeschichte zurückversetzt. und Gabriele Münter Es ist ein zwielichtiges Zauberreich. 1909 viele liebevoll-folklori- hatte die Malerin die schlichte „Villa“ als stisch bemalt haben. Landsitz für sich und ihren Lehrer, Kolle- Verschwunden ist al- gen und Geliebten Wassily Kandinsky er- lerdings, zugunsten ei- standen. Hier durchlebten beide einen nes neuen Besucherein- Großteil ihrer Genieperiode, hier planten gangs, ein obskures Ver- sie und ihre Freunde die Eroberung der lies im Souterrain. Dort Kunstwelt, hier wurde an Manifesten ge- waren immense Bilder- feilt. Doch das Haus verödete, als Kan- schätze aus der Frühzeit, dinsky nach Ausbruch des Ersten Welt- die Gabriele Münter er- kriegs in seine russische Heimat zu- bittert gegen alle An-

rückkehrte, von der freien „Gewissensehe“ sprüche Kandinskys ver- BONN 1999 VG BILD-KUNST, mit seinem „Füchslein“ und „Wundermäd- teidigt hatte, auch vor Kandinsky-Studie zu „Komposition V“ (1911): Stunk im Club

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Während die voralpine Brünn bis Frankfurt am Sommerfrische, schon sei- Main. Da war es weniger nerzeit nur eine Eisen- schlimm, daß Münchner bahnstunde von München Kunstkritiker besonders entfernt, die Inspiration gehässig reagierten und durch die Landschaft und nur „unheilbar Irrsinnige“ die Sphäre individuel- oder „schamlose Bluffer“ len Glücks oder Unglücks entdecken konnten. repräsentiert, ist die Groß- Einen aufgeschlossenen stadt Arena des öffentli- Besucher der zweiten chen Streits – eine Haupt- NKVM-Ausstellung von station der frühen Moder- 1910 (mit Gabriele Münters ne. Zum Beweis rekonstru- „Sofatisch“), den Tierma- iert das Lenbachhaus von ler Franz Marc, forderten Samstag dieser Woche an die Schmähungen zu hefti- vier Münchner Ausstellun- gem Widerspruch heraus. gen der Jahre 1909 bis 1912 Parteiisch lobte er sogar an möglichst genau so, wie einem athletischen Frau- sie in – nun nachgebau- enakt von Adolf Erbslöh ten – Räumen der Galerie „den fernen Stil, den er Thannhauser in der Theati- vergeblich sucht“. nerstraße gezeigt wurden*. Prompt wurde Marc Mit rund 230 Kunst- mit aufgenommen – „Nun werken sind reichlich 70 geht’s gemeinsam.“ Mit Prozent des mühsam er- ihm kam Leben, aber auch mittelten historischen Be- mehr Streit in den Club. stands zusammengekom- „Unfähige Mitglieder müs- men. Dazu breitet der sen eben raus“, stänkerte Katalog, häufig aufgrund er und sah gemeinsam mit bislang unpublizierter Kandinsky „eine schau- Quellen, ein dichtes Hin- derhafte Auseinanderset- tergrundgeflecht aus Künst- zung“ voraus. Die gab es ler-Philosophemen, Wirt- am 2. Dezember 1911 bei schaftsinteressen und Ver- der Vorbereitung zur drit- einsintrigen aus. ten NKVM-Ausstellung, Das Gesamtbild der weil eine Jury-Mehrheit Schau muß kraus geraten. Kandinskys abstrakte Kubistisches hing damals „Komposition V“ mit fa-

neben Surrealem, Folklo- BONN 1999 VG BILD-KUNST, denscheiniger Begründung re-Zitate polterten munter Erbslöh-Gemälde „Akt mit Strumpfband“ (1909): „Vergebliche Stil-Suche“ ablehnte. Der Betroffene neben Akademie-Anklän- selber, Marc und Münter gen, und sogar ein Spätimpressionist hatte sen einen Wortführer in dem Buchautor erklärten auf der Stelle ihren Austritt. sich auf die Szene verirrt. Einen prinzipi- Otto Fischer („Das Neue Bild“, 1912), der „Schade um die Vereinigung“, notierte ellen Zwiespalt benennt der schwierige just die Gegenstandslosigkeit als „kalten die Malerin, „sie hat was Besseres werden Ausstellungstitel „Der Blaue Reiter und Wahn“ verdammte. sollen!“ Das Neue Bild“: Während Vor-„Reiter“ Dabei war doch vereintes „Streben nach Marc und Kandinsky waren sichtlich auf Kandinsky sich schließlich an Abstraktio- künstlerischer Synthese“ aus Innenwelt den Eklat gefaßt. Schon gut zwei Wochen nen wagte, fanden zaghaftere Zunftgenos- und äußeren Eindrücken verabredet wor- später, gleichzeitig mit der NKVM-Schau, den, als sich 21 Maler, aber auch Musi- konnten sie zwei Stockwerke höher in der * Bis 3. Oktober. Katalog im Prestel-Verlag; 400 Seiten; ker und Schriftsteller Anfang 1909 zur Galerie Thannhauser ihre erste „Blauer 48 Mark (Buchhandelsausgabe 98 Mark). Gründung der „Neuen Künstler-Vereini- Reiter“-Ausstellung eröffnen, samt der gung München“ (NKVM) „Komposition V“, die jetzt in der Rekon- zusammenfanden – der di- struktion des Lenbachhauses durch eine rekten, bislang aber un- zugehörige Ölstudie vertreten wird. zureichend untersuchten NKVM-Vorsitzender Erbslöh, auch er Vorläuferin des „Blauen ein Gegner dieses Bildes, erschien jovial Reiters“. Kandinsky wurde zur Besichtigung und urteilte nicht ganz erster, sein Landsmann falsch, da hingen ja „wirkliche Schinken Alexej Jawlensky zweiter zwischen außerordentlich schönen Bil- Vorsitzender. Deklariertes dern“. Der wohlhabende Kaufmannssohn Vereinsziel war es, Ausstel- konnte sich eines davon leisten: ein vom lungen abzuhalten und sie Franzosen Robert Delaunay gemaltes In- zu Werbe- und Verkaufs- terieur der Pariser Kirche Saint-Séverin. zwecken auch auf Tournee Acht Jahre später versetzte ihn „der zu schicken. ganze Futurismus, Kubismus“, dieser „Teu- Das klappte gar nicht felsspuk“, in nachträglichen Schrecken. übel; gleich die erste Grup- Erbslöh pries sich glücklich, daß er „nur

R. RALL pen-Schau ging über noch leicht infiziert“ gewesen, nun aber „gründ- Renoviertes Münter-Haus: Bilderschatz im Verlies acht weitere Stationen von lich geheilt“ sei. Jürgen Hohmeyer

der spiegel 26/1999 183 FILM Wettlauf mit der Kamera Sie heißen Louise oder France oder Laetitia: Frauen-Power im neuen französischen Kino.

ola rennt, Louise rennt, France rennt. Lola kennen wir ja. Louise rennt Ldurch die Korridore der Pariser Mé- tro, Rolltreppen hoch und mit einer Flan- ke über die Sperre, weil sie eine Diebin ist. Zudem Schulschwänzerin, Streunerin, Anarchistin. Was sie stiehlt, braucht sie nicht; sie stiehlt nur, damit ihr das Leben

nicht so unerträglich leer vorkommt – und ARTHAUS da sie die Tochter eines Dichters ist, legt sie „Zu verkaufen“-Star Kiberlain (r., mit Chiara Mastroianni): Atem der Freiheit in dieses Bekenntnis, hoch über der Stadt auf einem Dach stehend, ein gewisses par- Geld kein wirkliches Interesse hat. Ihr Ele- ge begonnenen Film durch allerlei Pirou- odistisches Pathos. ment ist die Luft, sie erscheint und ent- etten zum Tanzen zu bringen, und verliert Louise löst auch mal im Kaufhaus einen schwindet als das verkörperte Einsam- sich zuletzt ganz in bunten Delirien. Bombenalarm aus, um nicht erwischt zu keitsglück einer Langstreckenläuferin. Eine abenteuerlich verwandte Seele fin- werden, und sie läßt sich leider von der Lola, Louise, France: Natürlich rennen det seine Heldin Louise (Élodie Bouchez) Clique ihrer nichtsnutzigen halbwüchsigen sie alle, wie wir alle, auch einer Idee von zum guten Ende in einem baumlangen, Freunde als Lockvogel für einen kleinen vollkommener Freiheit hinterher, von der unwiderstehlich kraftsprühenden Schwär- Raubüberfall mißbrauchen. Doch richtig wir natürlich wissen, daß es sie nicht wirk- mer nordafrikanischer Herkunft. Das ist auf Touren kommt ihr schwindelhaftes Da- lich gibt, und die doch subjektiv ein berau- Roschdy Zem, Popstar und einer der sein erst, als sie vom Schulhof weg einen schendes Hoffnungsgefühl hervorzubrin- Lieblingslover des jungen französischen kleinen Jungen stiehlt, dem das Abenteu- gen vermag, eine Kraft, sich über sich selbst Kinos, und auch seine Präsenz hat die Ge- er sichtlich Spaß macht: Leben im Puls- hinauszuschwingen. schichte von Louise mit der Geschichte schlag der Verfolgungsjagd. Die Musik zu Louises Spurts durchs Pa- von France gemeinsam. France, ein Mädchen vom Lande, lang- riser Métro-Nachtlabyrinth – in dem Film Roschdy Zem ist in „Zu verkaufen“ ei- halsig, schmal und windschnittig wie eine „Louise (Take 2)“ von Siegfried, der An- ner jener Männer, vor denen France da- fang August in deutsche Ki- vonrennt, oder richtiger, er ist einer von de- nos kommt – wird oft vom nen, die an France scheitern, da sie sich aufreizenden Dröhnen ei- durch nichts halten läßt, nicht einmal durch nes exotischen Instruments einen Heiratsantrag. Von Männern, die ihr vorangetrieben; die Musik Liebeserklärungen machen und mit ihr zu Frances Lebens-Läufen schlafen wollen, verlangt France Geld. Für über Frankreichs Land- sie (falls sie es erklären wollte) wäre das straßen – in dem Film „Zu wohl nicht Prostitution, sondern im Ge- verkaufen“ von Laetitia genteil eine Verweigerungsgeste, die be- Masson – liegt wie ein Flir- sagt, daß sie nicht zu verkaufen, nicht zu ren und Klirren in der Luft kaufen, nicht zu besitzen sei – daher die über ihr. Ironie des Filmtitels, des zweiten nach Die Musik zum einen wie „Haben (oder nicht)“, mit dem sich Lae- zum anderen Film hat ein titia Masson als Filmemacherin von sehr ei- junger Mensch gemacht, gener, sehr besonderer Sensibilität erweist. der sich schlicht Siegfried Um das junge französische Kino steht es nennt, studierter Cellist und ja keineswegs sonnig; zum größten Teil ist

ARSENAL Komponist, der in Frank- es (genau wie das deutsche) kleinmütig „Louise (Take 2)“-Star Bouchez: Anarchistin des Glücks reich als nomadisierender und konformistisch, am Ende nur hoch- Ethno-Musikant auf treue toupierter Fernsehstoff. Da wirkt Sieg- Antilope, rennt und rennt und rennt, um in Fans bauen kann – für „Louise (Take 2)“ frieds leichtsinniger Kamera-Anarchismus sich zur Ruhe zu kommen, um vollkom- hat er sich unerschrocken auch zum Autor, unerwartet erfrischend, und die unbeirr- men bei sich zu sein. Ihr ganzes Leben, Regisseur und Kameramann befördert. bare Genauigkeit, mit der Laetitia Mas- seit sie eines Tages ihren Eltern davonge- Er arbeitet mit jener kleinen, spielerisch son die Geschichte ihrer Langstreckenläu- rannt ist, scheint so zu verlaufen, daß sie leicht zu benutzenden Videokamera, die ferin France nachzeichnet, bedeutet schon immer mal wieder unerklärlich plötzlich derzeit als Markenzeichen eines jugend- überraschendes Glück – in der Erschei- aufspringt und auf Nimmerwiedersehen frischen, aktionistisch zupackenden Im- nung von Sandrine Kiberlain, so ganz davonrennt – und mitunter, schon auf dem provisationskinos gilt. Er läßt sich von die- durchsichtig und so ganz unergründlich, Sprung, stiehlt sie noch etwas (einmal ist es sem Spielzeug rasch verführen, seinen mit bleibt sie für die Erinnerung noch lange eine halbe Million Francs), obwohl sie an dokumentarischer Detailschärfe und Stren- präsent. Urs Jenny

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am Potsdamer Platz ein wenig Straßen- mon McBurney durch „Theater der Welt“- THEATER theater – kaum genug, um den Anspruch Auftritte groß heraus, diesmal soll es, glaubt einzulösen, die Stadtbewohner gut zwei man dem Vorab-Gemunkel der Branche, Schnupperkurs Wochen lang mit neuen Theaterattraktio- der US-Aktionist Richard Foreman sein: nen aus aller Welt bei Partylaune zu halten. Der ist auch schon 62 und geht in dieser Dabei ist Berlin in diesem Sommer ohne- Woche mit seiner New Yorker Truppe an im Höhlendunkel hin ein überbuchtes Partylabor: 300 000 den Start; Titel der Produktion zum Thema Menschen wurden am Wochenende zur Sex und Seelenpein: „Hotel Fuck“. Im Lärm der Berliner Sommer- „Christopher Street Day“-Parade der Immerhin, ein kleines, gut verstecktes Schwulen und Lesben erwartet, die übliche Theaterwunder gibt es im Programm be- Spektakel kämpft das Festival Million soll am 10. Juli zur Love Parade auf reits. Der Kolumbianer Enrique Vargas hat „Theater der Welt“ mühsam um den Straßen tanzen. Und weil auf den Büh- mit seiner Multikulti-Truppe, einem Stahl- Aufmerksamkeit – und lockt doch nen der Stadt auch dauernd Party herrscht, gestänge und vielen schweren schwarzen mit verblüffenden Attraktionen. mal mit Castorf und Schlingensief, mal mit Tüchern einen alten Getreidespeicher den Herren der Berliner Festwochen an den am Ufer der Spree in ein magisches Laby- enn die Hauptstädter nur ein Mischpulten, fielen die ersten „Theater der rinth verwandelt. Einzeln werden die Zu- bißchen hauptstädtischer wären, Welt“-Präsente denn auch nicht weiter auf. schauer im Fünfminutenabstand hineinge- Wdann müßten die Menschen zwi- Im Deutschen Theater zeigte der fran- schickt in ein oft stockdunkles Gewirr aus schen Funkturm und Marzahn längst alle- zösische Regisseur Roger Planchon, 67, Mo- Gassen und Höhlen. Stumme Hexenmei- samt in weißen Arbeitskitteln herumlau- lières „Geizigen“ – ulkiges Volkstheater sterinnen kredenzen Behälter mit merk- fen. Denn der Ort, an dem die Berliner ihr mit tollen Schauspielern und, noch auf- würdigen Düften zur Schnupperprobe und Dasein fristen, heißt neu- deutsch nicht mehr Stadt, sondern viel flotter: Labor Berlin. Mögen kleinere Geister beim Wort Labor an künst- lichen Zahnersatz und blubbernde Reagenzgläser denken, für den „FAZ“- Herausgeber Frank Schirr- macher ist ganz Berlin ein „nationales Labor“. Da ist es nur logisch, daß auch die Veranstalter des Festivals „Theater der Welt“, wie es in Ankündigungen hieß, die Stadt in ein „Theater-La- bor“ verwandeln wollen. Seit 1981 gastiert das Fe- stival alle zwei bis drei Jah- re an wechselnden Orten – und nun, noch bis 4. Juli, erstmals in Berlin. Und die Preisfrage lautet diesmal: Wie „theatralisiert“ man

diese Riesenstadt? DER WELT THEATER Zum Beispiel indem man, „Lear“-Inszenierung aus Singapur in Berlin: Der Asien-Mix bleibt fremd in der Fremde wie am Mittwoch abend vergangener Woche, den Verkehr auf der fälliger, mit bestürzend schönen jungen laden zum Tanz, finstere Zeremonienmei- Straße des 17. Juni zum Erliegen bringt. Ein Schauspielerinnen. Im Schiller-Theater ster animieren zu Turnübungen im Indu- paar tausend Menschen, viele von ihnen präsentierte der Regisseur Ong Keng Sen, strie-Stahlschrott, es werden Karten gelegt sehr jung und strahlend anzusehen, er- 35, einen „Lear“ aus Singapur und ohne und Metallmurmeln durch seltsame Appa- oberten auf Rollschuhen den für Autos und Shakespeare: Mit vielen Gongs und präch- raturen gejagt. Motorräder vorgesehenen Raum, umkurv- tigen Gewändern, mit schrillem Gekreisch „Oraculos“ nennt Vargas seine Exkur- ten fröhlich die Siegessäule und taumelten und blumigen Worten wird da die Story sion in die Dunkelkammern der Gerüche selig zum Brandenburger Tor. Ein betören- vom unglücklichen König Lear benutzt, um und Geräusche, die den Gast bald barfuß des Spektakel zur Dämmerstunde – doch einen wilden Fernost-Stilmix aus Peking- über feuchten Sand stapfen läßt. Manch- leider hatte es mit dem „Theater der Welt“- oper und Japandisco auf die Bühne zu stel- mal erinnert das an einen Esoterik-Work- Fest nichts zu tun: Die Rollschuhmenschen len: Bunt war’s – und doch blieb die Asien- shop für ausgebrannte Managertypen (samt demonstrierten bloß für das Recht, das Bla- Schlachtplatte sehr fremd in der Fremde. Mutprobe im finstren dunklen Wald) – und den und Skaten künftig legal auf den Au- Wo aber haben die diesjährigen Leiter doch ist die rund 75minütige Tour ein sinn- tostraßen Berlins betreiben zu dürfen. des Festivals, Thomas Langhoff vom Deut- verwirrender und alle Sinne belebender Wo aber stößt man im Hauptstadtbild schen Theater und die Hebbel-Theater-Che- Gruselspaß. Gegen Ende darf der „Oracu- auf die Wunder des Theaterfestivals? Gut, finnen Nele Hertling und Maria Magdale- los“-Irrfahrer sogar Getreide mahlen, Teig von Plakatsäulen grüßt mitunter ein nettes na Schwaegermann, die Sensationen und kneten und in mürbes Brot beißen – und fahnenschwingendes Lotsenmännchen mit Entdeckungen versteckt? In der Vergan- ahnt, was es in diesem Fall mit dem Labor dem „Theater der Welt“-Logo, am Schloß- genheit kamen Regisseure wie der Ameri- Berlin auf sich hat: Willkommen im haupt- platz gibt es eine Bambus-Installation und kaner Peter Sellars und der Engländer Si- städtischen Backstudio. Wolfgang Höbel

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SPIEGEL-GESPRÄCH „Hauptsache, es macht kaputt“ Der TV-Komiker Karl Dall über Designeranzüge und Comedy, das Drama des deutschen Fernsehens und seine Comeback-Show auf RTL

SPIEGEL: Herr Dall, was hat Sie Dall: Es geht nicht um Geld. aus dem verdienten Vorruhe- Aufs Brot kommt Lätta, und an- stand getrieben? sonsten lebe ich bescheiden. Dall: Versuchen Sie nicht, wit- Warum ich das alles mache, ziger zu sein als ich. Da haben kann ich Ihnen wirklich nicht Sie keine Chance. Wie darf ich genau beantworten – ich ma- Ihre Frage verstehen? che es einfach. Bevor ich mei- SPIEGEL: Es war lange still um ner Familie auf den Sack gehe, Sie. Nun bekommen Sie eine produziere ich lieber ein paar neue Talkshow. Dafür haben Sie Wochen lang eine Sendung. Ihre berühmte Lederweste ge- SPIEGEL: Wie muß man sich die gen den Designeranzug ge- Gäste Ihrer Show vorstellen? tauscht, Ihre Gäste dürfen Dall: Die üblichen. Ich habe eine Cocktails statt Bier trinken. Liste von mehr als 300 Leuten, Dall: Der Anzug ist ein zugege- die ich in A- und B-Prominenz benermaßen nicht ganz preis- aufgeteilt habe. Ein Drittel hat günstiger PR-Trick. Aber bei mir RTL wieder rausgestrichen zehn Sendungen, die mir RTL und dafür ein paar aus ihrem vertraglich zugesichert hat, Laden reingeschrieben. rechnet sich der Aufwand. Und SPIEGEL: Welche Promis sind die was so ein Anzug bringt, sieht dankbarsten Opfer? man bei Harald Schmidt: Plötz- Dall: Die B-Promis. Die sind lich sieht auch einer mit Hack- noch hungrig und lassen sich fresse gut aus. Ansonsten kann gern quälen. ich Sie beruhigen: Ich kleide SPIEGEL: Ihr Ruf als Gastgeber mich jetzt zwar gepflegter als ist nicht der beste. Roland Kai- früher, aber meine Show wird ser ist Ihnen schon mal empört bei weitem nicht harmloser. aus der Sendung gelaufen. SPIEGEL: Welche Marke hat Ihr Dall: Ich hatte ihm nur gesagt: Anzug? „Na sing schon, damit wir es Dall: Brioni. Das trägt auch der hinter uns haben.“ Die Presse Kanzler. Nicht Adenauer, der hat sich drauf gestürzt, aber als hatte nur einen Anzug, und den er ein Jahr später wiederkam, in- hat er mitgenommen. Schröder! teressierte das keinen mehr. Mir SPIEGEL: Anders als Gerhard geht es darum, die Leute vom Schröder können Sie in Ihrer Sockel zu holen und ihre Eitel- Show ein paar schöne Mädchen keit zu durchbrechen. Das macht zur Dekoration auf die Bühne der Kollege Biolek übrigens stellen. auch, nur auf die nette Tour. Dall: Die Mädchen sind so eine SPIEGEL: Warum schalten Frau- Art Blindenhunde. Die führen en ab, sobald Sie auf dem Bild-

mich zum Beginn der Show die RTL schirm erscheinen? Treppe runter und am Ende Showmaster Dall, Assistentinnen: „Ich habe keine Hemmungen“ Dall: Glaube ich nicht. Jeder, der wieder hoch. Wenn einer wie im Fernsehen sitzt, hat Sex-Ap- ich heutzutage gut rüberkommen will, muß dann säße ich am Ende wahrscheinlich al- peal. Mit den Frauen verbindet mich eher er sich mit jungem Gemüse schmücken. lein im Studio. eine Haßliebe. Ich will sehen, wann bei de- Vielleicht sollte Gerhard Schröder das auch SPIEGEL: Können Sie nun die Frage beant- nen die Humorgrenze aufhört. Vermutlich mal versuchen. Blöd war nur, daß die mir worten, warum Sie sich auf ein Comeback werde ich scheitern: Wo es keinen Humor beim ersten Fototermin mit ihren eingeöl- eingelassen haben? gibt, gibt es auch keine Grenzen. ten Knien den Anzug versaut haben. Dall: Der neue RTL-Chef Zeiler hat mich SPIEGEL: Ihre Vorgänger-Sendung „Karls SPIEGEL: Haben Sie die Mädchen selbst aus- gefragt. Der hat in Österreich nicht ge- Kneipe“ überlebte nicht mal einen Som- gesucht? merkt, daß ich hierzulande total weg vom mer. Dall: Selbstverständlich. Am liebsten wür- Fenster bin. Sogar Hella von Sinnen darf Dall: Keine Ahnung, woran es lag.Vielleicht, de ich auch mein Publikum casten, aber bei ihm noch mal ran.Anscheinend holt er weil RTL sich damals im Umbruch befand. die ganzen Sozialfälle aus der Versenkung. An der Quote kann es nicht gelegen haben: Das Gespräch führten die SPIEGEL-Redakteure Lothar SPIEGEL: Sie konnten dem Geld nicht wi- Ich hatte im Schnitt 17,5 Prozent Marktan- Gorris und Adriano Sack. derstehen? teil bei den 14- bis 49jährigen …

186 der spiegel 26/1999 fach ran und bin wie eine Marktfrau durch Deutschland gezogen: in versifften Discos, in Kellerlöchern, überall, wo man mich er- tragen konnte. Und am Wochenende kam ich nach Hause und habe die Handwerker bezahlt. Ich kann nicht gut mit Schulden leben. SPIEGEL: Wie schafften Sie den Sprung ins öffentlich-rechtliche Fernsehen? Dall: Schon mit den Insterburgs sind wir oft im Fernsehen aufgetreten, und Anfang der Achtziger kannten mich 91 Prozent der Bundesbürger – nur Heino und der Kanz- ler waren bekannter. Außerdem war es re- lativ einfach, im Fernsehen für Ärger zu sorgen. Man mußte nur Heino und Peter Alexander beschimpfen, schon meldete die „Bild“-Zeitung: „Fernsehverbot für Karl

CINETEXT Dall“ – mit einem Foto, auf dem ich aussah, Dall im Kinofilm „Sunshine Reggae auf Ibiza“ (1983)*: „Ich stehe zu dem Mist“ als hätte ich meine Familie umgenietet. SPIEGEL: Richtig aufgeblüht aber sind Sie SPIEGEL: … der heiß umkämpften kon- Dall: Die Bewohner der Kommune 1 – das erst bei RTL. sumfreudigen Kernzielgruppe … waren die wahren Superstars. Die kamen Dall: Damals war das noch ein Radiosender Dall: … die Turnschuhe und Walkmen immer zu unseren Konzerten und haben in Luxemburg. Die haben alles genommen, kauft. Ich sehe das anders: Meine Master- nie Eintritt gezahlt. Die Politik spielte bei was in Deutschland Ärger hatte. Ich habe card habe ich erst mit 48 bekommen, und uns nur zufällig eine Rolle. Mein Mitbe- von Hamburg aus eine Talkshow gemacht. beim Einkaufen bin ich noch immer un- wohner und Insterburg-Kollege Peter Eh- Kultsendung nennt man das wohl: Keiner heimlich flexibel. Aber ich bin trotzdem lebracht, den es auch aus dem ostfriesi- hörte es, jeder mochte es. Als schließlich beleidigt, wenn bei mir nur für Kukident schen Leer nach Berlin verschlagen hatte, RTL plus auf Sendung ging, war ich schnell und Waschmittel geworben wird. hatte ein Verfahren wegen Kriegsdienst- der Hauskomiker. Wir haben da einen SPIEGEL: Sie würden am liebsten auf Wer- verweigerung am Hals. Ein geheimer Er- braunen Lappen als Studiodeko aufge- bung verzichten? mittler der Politischen Polizei schlich sich hängt und nachmittags mal gefragt, was Dall: Davon habe ich mal geträumt. Die in unsere WG ein, um vor Gericht zu be- abends für Gäste kommen. Leute hassen ja die Werbung. Deswegen zeugen, wie viele Untertassen in unserem SPIEGEL: Damals schimpften Kritiker Sie werden auch immer mehr Prominente Küchenschrank standen. Wörtliches Zitat: den Totengräber der deutschen Fernseh- dafür engagiert. Ich selbst könnte mir nur „Chaotisch und ungepflegt, wie in Künst- kultur. vorstellen, für ein ordentliches Genußmit- ler- und Studentenkreisen üblich.“ Der Dall: Es gab Leute in meinem Bekannten- tel zu werben – Zigaretten oder Alkohol. Mann hieß Karl-Heinz Kurras und erschoß kreis, die wunderten sich auch, wie man Hauptsache, es macht kaputt. ein paar Monate später Benno Ohnesorg. mit so einem Scheiß soviel Geld verdie- SPIEGEL: Sie haben nie Werbung gemacht? SPIEGEL: Während sich Ihre Freunde zu- nen kann. Ich habe denen gesagt: „Du sitzt Dall: Einmal, in Berlin Anfang der Sechziger. nehmend radikalisierten, sangen Sie Texte da in deinem Büro und läßt dich demüti- Da war ich Straßensänger für die Super- wie „Ich liebte ein Mädchen im Wedding, gen. Ich schaff’ das in einem Monat ran, marktkette Bolle. Zur Melodie von „Ma- die wollte immer nur Petting“. wofür du dich ein ganzes Jahr lang krumm riechen saß weinend im Garten“ mußte ich Dall: Ich war mein Leben lang ein Knei- machen mußt.“ Außerdem: Der Grimme- Joghurtwerbung singen. Ich habe mir die penclown. Ich erinnere mich genau, wie Preis ist doch nur der Anfang vom Ende. Seele aus dem Leib geschrien und das erste wir Anfang der siebziger Jahre in einem SPIEGEL: Fehlende Konsequenz kann man Mal gemerkt, wie schwer es ist, Leute zum Café saßen und zuschauten, wie draußen Ihnen kaum vorwerfen. 1992 wechselten Stehenbleiben und Zuhören zu bringen. die Polizei aufmarschierte. Wir warteten Sie für zehn Millionen Mark zu Sat 1. SPIEGEL: Ihr Karrierebeginn? stundenlang, um zu sehen, auf wen die es Dall: Ein Lottogewinn, den ich dem Sohn Dall: Das ging viel früher los. Als ich 16 abgesehen hatte. Irgendwann hatten wir eines damaligen Sat-1-Verantwortlichen war, sollten wir in der Schule einen Aufsatz die Nase voll und gingen schreiben zum Thema „Der Tag meines zu unseren Autos. Sofort Lebens in zehn Jahren“. Der Lehrer war stürzten sich die Polizisten nur wenig älter als wir und konnte mich auf uns. Es war nicht leicht, nicht ausstehen. Ich wußte genau, daß ich die Jungs davon zu über- meinen Text vor der Klasse vorlesen muß- zeugen, daß wir keine te. Ich schrieb: „In diesem Jahr führt mich Terroristen waren, sondern meine Hochzeitsreise nach Ostfriesland, die Komiker von Inster- und natürlich versäume ich nicht, das Grab burg & Co. meines verstorbenen Deutschlehrers zu be- SPIEGEL: Warum haben aus- suchen.“ Ich bekam das Heft um die Oh- gerechnet Sie die große ren gehauen, aber die Klasse tobte. Schon Karriere gemacht? damals lief ich lieber mit offenen Augen ins Dall: Ich war schon immer Verderben, als eine Pointe auszulassen. scharf darauf, mich vor eine SPIEGEL: Berühmt wurden Sie als Mitglied Kamera zu setzen. Mir feh- der Blödeltruppe Insterburg & Co. Hatten len da alle Hemmungen. Sie etwas mit der Studentenrevolte am Hut? Außerdem hatte ich mir ge-

rade eine alte Villa in Ber- H. RÖHNERT * Mit Bea Fiedler. lin gekauft. Ich mußte ein- Dall (mit Flasche), Insterburg-Kollegen: Chaotische WG

der spiegel 26/1999 187 Kultur verdanke. Der fragte seinen Papa: „War- Schauspieler, die einstudierte Gags spie- um ist der Karl Dall nicht bei deinem len. Jede Pointe ist geschrieben, die La- Sender?“ Zwei Jahre später mußte ich cher kommen vom Band. Dafür bin ich in dem Branchenblatt „Bild am Sonntag“ viel zu undiszipliniert. Das einzige, was lesen, daß meine Zeit bei Sat 1 ab- ich in meiner Sendung akzeptieren gelaufen sei. Dabei hatte ich damals würde, wäre eine Tafel, auf der steht: Zuschauerzahlen, von denen die bei „Guten Abend. Ich begrüße Sie zur Sat 1 heute träumen: um die drei Millionen ‚Karl-Dall-Show‘. Mein Name ist Karl pro Sendung. Dall.“ Der Rest ist Improvisation. SPIEGEL: Ihre Karriere als SPIEGEL: Dem Publikum Schauspieler verlief we- ist es doch egal, ob ein niger glänzend. Gag spontan oder ge- Dall: Meine Kunstfilme schrieben ist. Die „Wo- waren alle Flops, obwohl chenshow“ auf Sat 1 hat wir für „Quartett im hervorragende Quoten. Bett“ sogar den Ernst-Lu- Dall: Das ist ja auch eine bitsch-Preis bekommen flott gemachte Sendung. haben. Die anderen Fil- Und Anke Engelke ist me, die ich Anfang der wirklich witzig. Die setzt Siebziger gemacht habe, sich eine Perücke auf und waren so schlimm, daß sieht aus wie die letzte meine Frau eigentlich Putzfrau aus dem dritten gleich wieder die Schei- Hinterhof. Ein Komiker dung hätte einreichen muß den Mut haben, sich müssen. Einer hieß „Hän- richtig häßlich zu ma- sel und Gretel verliefen chen. Da habe ich zum sich im Wald“, das war ei- Glück keine Probleme. ner der ersten Nacktfil- SPIEGEL: Ist Harald me. Der wurde im Bur- Schmidt ein Konkurrent? genland bei Wien gedreht. Dall: Wir sind beide Zy-

Es war schon Herbst, und R. JUERGENS niker, die versuchen, Min- die Produzenten ließen „Wochenshow“-Star Engelke derheitenprogramm für Blätter aus Papier an die die Masse zu machen, Bäume nageln.Während der Premiere habe aber die Show ist mir zu berechenbar ge- ich das Kino verlassen, noch bevor das Licht worden. Wenn Bayern gegen Manchester anging.Als der Film nicht so recht lief, nann- verliert, weiß ich genau, was abends für ten sie ihn „Laß uns knuspern, Mäuschen“ Witze kommen. Wenn Harald Schmidt so und später „Begierde im Walde“. Wenn er weitermacht, ist er mit 45 Frührentner. Ich das nächstemal im Fernsehen läuft, wird er bin regelmäßig Gast in seiner Show: Nach wahrscheinlich wieder anders heißen. dem ersten Mal hat er mit mir noch ein SPIEGEL: Sind Ihnen die Jugendsünden Bier getrunken, beim nächsten Mal blieb er peinlich? beim Mineralwasser, und zuletzt fuhr er Dall: Ich stehe zu dem Mist, den ich ge- direkt nach Hause. Ich bin gespannt, ob er macht habe. Was ich damals nicht wußte: das nächste Mal überhaupt auftaucht. Eine Talkshow wird einmal gesendet und SPIEGEL: Und Stefan Raab, der mit „TV To- Schluß. Ein Kinofilm, egal wie schlecht, ist tal“ auf Pro Sieben sehr erfolgreich ist? für die Ewigkeit. Dall: Der Raab legt sich seine Pointen vor- SPIEGEL: Werden Sie also in Zukunft die sichtig zurecht und entschuldigt sich hin- Finger vom Kino lassen? terher. Ich habe mich noch nie entschuldigt. Dall: An dem Mißerfolg von „Late Show“ SPIEGEL: Über Ihre Fans haben Sie mal ge- hat man gesehen, daß Fernseh-Fressen nie- sagt: „Mir wird regelmäßig schlecht, wenn manden ins Kino locken.Allerdings würde ich die sehe.“ ich gern mal wieder das Metier wechseln. Dall: Das wird mir immer wieder vorge- SPIEGEL: Auch in die Hochkultur? halten. Aber wissen Sie was? Es stimmt. Dall: Ich habe mal den Schauspieldirektor Manchmal ekelt es mich eben an, wenn die des Bremer Theaters kennengelernt und ankommen, quaken und keinen Abstand ihm gesagt: „Hör mal, ich bin doch die halten können. ideale Hamlet-Besetzung.“ Er fand das SPIEGEL: Wie haben Sie es 30 Jahre in einer auch, und ich habe es gleich stolz einem Branche ausgehalten, die Sie offensichtlich Presse-Heini erzählt. Das war wohl etwas nicht so gern mögen? voreilig. Der Theatermann hat sich nie Dall: Eine gesunde Verachtung des Me- mehr gemeldet. Der deutsche Kulturbe- diums ist wichtig, und ich mache dieses Af- trieb hat seine Chance gehabt und nicht ge- fentheater zum Glück nicht das ganze Jahr. nutzt. Jetzt kann mich Hamlet mal kreuz- Ich genieße die sechs Monate, in denen ich weise. Und Shakespeare auch. nicht arbeite, und stecke ab und zu mal SPIEGEL: Fühlen Sie sich denn wenigstens meine Nase raus: für Deutschland, für Eu- im Comedy-Genre passend untergebracht? ropa, für den Pöbel. Dall: Was in Deutschland unter dem Na- SPIEGEL: Herr Dall, wir danken Ihnen für men Comedy läuft, das sind zum Teil dieses Gespräch.

188 der spiegel 26/1999 Werbeseite

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Werbeseite Prisma Wissenschaft

SOZIALFORSCHUNG Rund-um-die-Uhr- Gesellschaft eutschlands Neo-Liberale wie DGuido Westerwelle oder Bodo Hombach träumen nur von ihr, in den USA ist sie schon fast Realität: eine Gesellschaft mit Arbeitszeiten rund um die Uhr. Das Ausmaß und die möglichen Folgen für die Familienstruktur hat die Sozio- login Harriet Presser von der Uni- versity of Maryland jetzt unter- sucht. Danach sind die USA offen-

bar unaufhaltsam „auf dem Weg in THEMA AGENTUR FOTOS: die 24-Stunden-Volkswirtschaft“. Hochwasserschutz im Test (Prototyp) Nur noch 29,1 Prozent aller be- schäftigten US-Bürger, so schreibt TECHNIK serwirtschaft der Universität Karlsruhe zur Presser im Fachblatt „Science“, ha- Prototypreife gebracht und letzte Woche ben nach den letzten statistischen der Öffentlichkeit präsentiert. Die Was- Erhebungen eine „normale Ar- Beweglicher serschutzanlage kann entlang von Fluß- beitswoche“ – das heißt 35 bis 40 ufern oder rund um schützenswerte Stunden wöchentlich, montags bis Gebäude fest installiert werden. Bei nied- freitags, mit fester täglicher Ar- Flutschutz rigen Pegelständen ist sie uneingeschränkt von Fußgängern, Radfahrern oder Autos tädte wie Passau, Köln oder Heidelberg nutzbar. Steigt das Wasser, werden die Skönnten sich künftig mit ein paar stählernen Gangways einfach elektrisch Handgriffen in Minutenschnelle gegen hochgekippt. Falls der Strom ausfällt, über- Überschwemmungen wappnen – mit Hil- nehmen ein Notstromaggregat oder – als fe buchstäblich hochklappbarer Gehsteige. letzte Sicherung – Handkurbeln diese Auf- Das jedenfalls verspricht die Schweizer gabe. „Eine Hochwasserschutz-Verbaulinie HWS Technologie AG und deren gleich- von einem Kilometer Länge“, so der Karls- namige Mannheimer Tochter. Die Schwei- ruher Wasserbautechniker Hans Helmut zer Idee wurde von den Deutschen in Zu- Bernhart, „läßt sich innerhalb von 10 bis 15 sammenarbeit mit dem Institut für Was- Minuten errichten.“

FEHLGEBURTEN Späteinnister seien möglicherweise nicht ganz gesund und würden deshalb vom Schmales Zeitfenster weiblichen Organismus abgestoßen. er Zeitpunkt, zu dem ein befruchtetes

SIPA PRESS SIPA DEi sich in die Gebärmutter einnistet Schichtarbeiter in den USA („Nidation“), entscheidet offenbar weitge- hend über die Chance einer erfolgreichen beitszeit. Etwa jeder dritte Be- Schwangerschaft. Das ist das Fazit einer schäftigte arbeitet an Wochen- Studie amerikanischer Mediziner an 189 enden, jeder fünfte abends, nachts schwangeren Frauen. Gut sind die Aus- oder in Wechselschichten. Auch sichten demnach am neunten Tag nach der künftig wird die überwiegende Ovulation (Eisprung): Nur 13 Prozent der Zahl neuer Jobs, so Presser, in Schwangerschaften endeten durch frühzei- Bereichen mit „Nicht-Standard- tige Abstoßung des Embryos. Danach Arbeitszeiten“ angeboten werden. steigt dieser Prozentsatz drastisch an: am Die Folgen für die Familien seien zehnten Tag auf 26, am elften auf 52, bei drastisch: Die Scheidungs- oder noch späterer Nidation sogar auf 82 Pro- Trennungsrate bei Paaren, bei de- zent. Die US-Forscher ziehen daraus vor nen die Frau nachts arbeitet, liegt allem Schlüsse für die Reproduktions- dreimal so hoch wie bei Paaren, medizin: Einige Ärzte versuchten, nach bei denen sie geregelter Tagesar- künstlicher Befruchtung das Zeitfenster beit nachgeht. Arbeitet der Mann für eine Einnistung zu verlängern, um so

nachts, steigt die Scheidungsrate eine Schwangerschaft wahrscheinlicher zu / MOSAIK VERLAG L. NILSSON sogar auf das Sechsfache. machen. Das aber sei offenbar ein Fehler: Befruchtetes Ei (kurz nach Nidation)

der spiegel 26/1999 191 Prisma Computer

AUKTIONEN eigenhändig in eine passende Kiste dengeln. Erster Ab- nehmer von 50 Pla- Verkauf einer tinen war Paul Ter- rell, Inhaber des „Byte Shop“ Ikone für Compu- terkompo- iner der ersten erschwinglichen PC aus dem Jahre nenten. Damals E1976 soll am Dienstag dieser Woche in der La Salle kostete der Apple I 666,66 Gallery, San Francisco, versteigert werden. Entwickler des Dollar, heute wird der Interessent „Apple I“ getauften Modells waren Stephen Wozniak, für die Ikone der Computerindustrie damals 26, und Steven Jobs, 21. Die Gründer der Firma Apple erheblich mehr hinblättern müssen. verkauften nur die Rechner-Platine (acht Kilobyte Speicher, ein Baukasten- Auktionator Risley Sams erwartet Ge- Megahertz Prozessortakt). Wer sie benutzen wollte, mußte sie Computer „Apple I“ bote von über 40000 Dollar.

RADIO MUSEEN dern auch durch Auswahl von Farb- UKW mit Untertitel kombinationen, die im Werk verwen- Kunstfreunde ins Netz det wurden. Eine satte Portion Blau as dem Fern-Seher recht ist, mit einem Hauch Rosa führt beispiels- Wsollte dem Fern-Hörer billig sein: m sich gründlich auf einen Gang weise zu Claude Monets Ölgemälde Nach dem Videotext untermalen jetzt Uin die St. Petersburger Eremitage „Waterloo Bridge“. Radiostationen das laufende Programm vorzubereiten, kann man die Hilfe des mit Textinformationen. Erster Empfän- Internet nutzen. Jüngst hatte die ehr- www.hermitagemuseum.org ger für den neuen Datendienst namens würdige Gemälde-Galerie ihre „Swift“ ist der 150 Gramm leichte Webpremiere. Mit Unterstützung „Textman“ von Sony (299,90 Mark). des Computerkonzerns IBM sind Gleichzeitig mit den Radiowellen ge- die ausgestellten 2000 Meister- langen mit einer Geschwindigkeit von werke der Sammlung als digita- 6,8 Kilobit pro Sekunde digital ver- le Abbildungen mit hoher Auf- schlüsselte Botschaften in das Gerät. Im lösung zu besichtigen. Darüber hin- Zwischenspeicher des Empfängers ist aus läßt sich mittels bewegter Rundumsichten ein Eindruck der prachtvollen Innenräume gewin- nen. Mit Hilfe des experimentel- len Programms „Query By Image Content“ kann der Museumssur- fer die Bilder nicht nur unter dem Namen des Künstlers finden, son- Webseite der Eremitage St. Petersburg

INTERNET Schlichter E-Briefkasten „Textman“ von Sony er lediglich elektronisch kommu- vor. Für nur 99 Dollar bekommt man Wnizieren will, ist für gewöhnlich mit der „Mail Station“ einen digitalen Platz für acht Seiten Text, etwa Wetter- gezwungen, sich einen teuren Rechner Kalender samt Fax-Sendestation, ein vorhersagen, Nachrichten oder Börsen- zu kaufen. Die amerikanische Firma kleines Display und vor allem eine kurse. Auch Meldungen über Verkehrs- Cidco will das jetzt ändern: Sie stellte brauchbare Tastatur. Das Angebot hat staus, Ozonalarm oder die Pollenflug- einen abgespeckten Personalcomputer allerdings einen Haken: Die schlichte lage sollen den Hörer-Leser auf dem ausschließlich für den E-Mail-Verkehr Postzentrale erhält nur, wer im voraus Funkweg erreichen. Experten sehen weitere 99 Dollar für den darin eine Vorstufe des vollständig digi- E-Mail-Dienst der Firma talen Radios. Zur Zeit allerdings sind zahlt oder aber bereit ist, lediglich vom sächsischen Sender Radio den Dienst für rund 10 PSR digitale Textbotschaften zu emp- Dollar pro Monat zu abon- fangen. Private Stationen in Berlin, nieren. Ob und unter Potsdam, Brandenburg, Rheinland- welchen Konditionen das Pfalz, Baden-Württemberg und Hessen Gerät auch in anderen Län- wollen folgen; in den Niederlanden ist dern vertrieben werden das System bereits flächendeckend in- wird, ist bislang noch nicht stalliert. „Mail Station“ für E-Mail-Austausch entschieden.

192 der spiegel 26/1999 Werbeseite

Werbeseite Wissenschaft

MEDIZIN Blutsauger im Busch Durch Zeckenstiche infizieren sich – oft unbemerkt – jedes Jahr 40000 Deutsche mit Borreliose- Bakterien. Nicht rechtzeitig mit Antibiotika bekämpft, können die tückischen Mikroben Jahre später zu schweren Nerven- und Gelenkleiden führen. Nun werden Impfstoffe entwickelt.

onatelang kommt sie ohne Nah- rung aus.Wie ein Strauchdieb lau- Mert die Zecke auf Gräsern, Bü- schen oder im niedrigen Unterholz auf ihre Beute. Mit einem hochentwickelten Thermo- sinn registriert sie Wärmeschwankungen von wenigen Hundertstel Grad – ungefähr soviel, wie sie ein durchs Gebüsch strei- fender Mensch in der Luft auslöst. Auch der im Schweiß von Warmblütern duften- den Buttersäure vermag der achtbeinige Wegelagerer kaum zu widerstehen. Hat eine Zecke erst einmal einen Wirt geentert, ist ihr Durst gewaltig. Ein Weib- chen zapft seinen Opfern bis zu fünf Mil- liliter Blut ab, etwa ein Viertel Schnapsglas voll. Am Ende der Mahlzeit hat es beina- he das 200fache seines Eigengewichts ge- schlürft. Der vollgesogene Parasit löst die Widerhaken aus der Haut und läßt sich wie eine pralle Bohne auf den Boden plumpsen. Vor allem im Frühsommer, wenn die Temperaturen stark steigen, werden die Krabbeltiere munter. Mit dem Auftauchen der Schmarotzer wächst bei den Deutschen die Angst vor einem Waldspaziergang. Denn die kleinen Blutsauger injizieren ihren Opfern nicht nur einen Cocktail aus schmerzstillenden und gerinnungshem- menden Substanzen, der es ihnen ermög- licht, tagelang unbemerkt vom Lebenssaft der Wirte zu naschen. Gemeinsam mit ihrem Speichel können sie ihnen auch ge- fährliche Keime einträufeln. Jäger, Jogger, Beerensammler und Hun- dehalter fürchten sich vor allem vor der Übertragung von Zeckenviren, die nach ei- nigen Tagen die sogenannnte Frühsommer- Meningoenzephalitis (FSME) auslösen kön- nen. Bis zu 30 Prozent der Infizierten lei- den unter grippeähnlichen Beschwerden; bei einigen von ihnen kommt es sogar zu heftigen Hirnhaut- und Hirnentzün- dungen. Allerdings treten die FSME-Viren fast nur in bestimmten Regionen in Bayern, Baden-Württemberg und Hessen auf; die Norddeutschen fühlen sich deshalb in ihren Wäldern sicher. Die Süddeutschen wie- derum lassen sich alljährlich zu Tausenden gegen FSME impfen. Wie selbstverständ- lich gehen die meisten Impffreunde davon

aus, nun gegen alle Zeckenrisiken ge- STONE R. BRONS / BPS TONY schützt zu sein. Zecke bei der Mahlzeit: Weibchen trinken bis zu einem Viertel Schnapsglas Blut

194 der spiegel 26/1999 Doch beide Annahmen sind falsch. dennoch übertrieben. „Die Wahrheit“, so Leider viel zu wenig bekannt sei, so be- Bettina Wilske, Mikrobiologin am Max-von- klagten Zeckenexperten letzte Woche Pettenkofer-Institut der Universität Mün- auf einem internationalen Kongreß in chen, „liegt in der Mitte. Wenn die von den München, daß von den Spinnentieren oft Blutsaugern übertragene Borreliose früh ge- noch einige andere, weit tückischere nug erkannt und behandelt wird, ist sie al- Mikroben übertragen werden: vor allem les andere als eine Extremerkrankung.“ die mit dem Syphiliserreger verwandten Nur jeder 100. bis 300. Zeckenstich führt, Borrelien. aktuellen Schätzungen zufolge, überhaupt Diese schraubenförmigen Bakterien zie- zum Ausbruch der Lyme-Borreliose. Beim hen sich im Körper in schlecht durchblu- Rest der mit den Spiralbakterien in Be- tete, für das Immunsystem nur schwer zu- rührung Gekommenen ist die Immun- gängliche Nischen wie die Gelenkknorpel abwehr zwar häufig nicht in der Lage, eine zurück. Oft erst Monate oder Jahre nach Infektion zu verhindern. Doch die Ab- dem Stich schlagen die Erreger zu – mög- wehrkräfte halten den Erreger in Schach. liche Folgen: schwere Nerven- und Gelenk- Vor allem Jäger und Forstleute verdan- leiden. ken dieser „stillen Feiung“ (Wilske) oft Während die Zecken nur in den wenigen ihre Gesundheit. Sie haben, wie über zehn Endemiegebieten FSME-Viren in sich tra- Prozent der Deutschen, Antikörper gegen

gen, muß mit der Übertragung von Borre- N. MICHALKE Borrelien im Blut und sind deshalb vor den lien praktisch in allen deutschen Forsten Zeckenforscher Matuschka Erregern geschützt. gerechnet werden. Entsprechend häufig Helle Kleidung und Hunde als Schutz Europaweit kommt jährlich bei 5000 bis gelingt den Bakterien der Befall des 21000 Menschen die Lyme-Borreliose zum Menschen. Immerhin haben Biologen in den letzten Ausbruch. Wichtigstes Früherkennungs- Laut Experten infizieren sich jedes Jahr Jahren herausgefunden, wie die Bakterien zeichen für das beginnende Leiden ist ein 40000 Deutsche mit den Keimen. Die von überhaupt in die Zecken gelangen. rötlicher Ring, der sich nach einigen Tagen den Mikroben verursachte Lyme-Borrelio- Die Larven holen sich die Bakterien vor um die Einstichstelle bildet und langsam se – so genannt nach dem US-Städtchen allem beim Saugen an Mäusen und schlep- größer wird. Lyme, wo das Leiden 1975 erstmals mit pen die Keime bis ins Nymphen- und Er- Die Erklärung: Die Borrelien vermeh- Zeckenstichen in Verbindung gebracht wachsenenstadium mit sich (siehe Grafik). ren sich nach dem Stich zunächst in der wurde – zählt damit zu den häufigsten Im Bundesgebiet liegt der Durchseu- Umgebung der Wunde. Erst dann breiten neurologischen Infektionskrankheiten in chungsgrad bei den Blutsaugern zwischen sie sich mit einer Geschwindigkeit von ein Deutschland. 3 und 50 Prozent. Die Schwankungen hän- bis zwei Zentimetern pro Woche in alle Anders als bei der FSME war es bislang gen mit den lokalen Unterschieden in der Richtungen aus. nicht möglich, sich gegen die Lyme- Tierwelt zusammen. Die sogenannte Wanderröte („Erythe- Borreliose impfen zu lassen. Zumindest in Vor allem in Gebieten mit Wanderratten, ma migrans“) klingt nach etwa drei Mo- den USA ist seit Anfang des Jahres ein Garten- und Siebenschläfern tragen viele naten von selbst wieder ab. Ihr Auftreten ist Impfstoff gegen die Keime auf dem Markt, der Minivampire die Erreger in sich. „Das der günstigste Zeitpunkt, um die Erreger der Spaziergänger mit 80- bis 90prozenti- sind neue Reservoirwirte“, erklärt Franz- mit Antibiotika zu bekämpfen. ger Sicherheit vor einer Ansteckung Rainer Matuschka, Parasitologe an der Ber- Labortests lie- schützt. liner Charité, „mit denen wir bis vor kur- fern dagegen nur Wanderröte nach Das Vakzin haben deutsche Forscher zem nicht gerechnet haben.“ selten einen ein- Zeckenstich vom Freiburger Max-Planck-Institut für Panische Ängste vor den blutsaugen- deutigen Beweis, Immunbiologie und von der Uni Heidel- den Kleinstvampiren und ihrer Mikroben- daß eine Erkran- berg in knapp zehnjähriger Arbeit ent- fracht sind nach Ansicht der Fachleute kung vorliegt. „Ein wickelt. Der Impfstoff zielt auf ein be- stimmtes Eiweiß auf der Oberfläche der 1 Zecken suchen ihre Wirte an Wald- spiralförmigen Bakterien. Die Erreger tra- rändern und auf Lichtungen. Das schraubenförmige Bakterium Borrelia gen dieses Oberflächenprotein (OspA) nur burgdorferi, der Erreger der Lyme- ALE . ST im Darm der Zecke. Sobald sie in den Krankheit, zirkuliert natürlicherweise F menschlichen Organismus gelangen, wer- zwischen Mäusen, Zeckenlarven und fen sie es ab. Die durch den Kontakt mit -nymphen. Bei der Entwicklung von der Larve und Nymphe zur ausge- Bakterium Borrelia der Vakzine gebildeten Antikörper müs- wachsenen Zecke bleibt das Bakteri- burgdorferi sen die Erreger deshalb vernichten, solan- um erhalten und wird beim Saugen auf andere Tiere übertragen. ge diese sich noch in den inneren Organen Zecken- der Zecke befinden. Ein Wettlauf mit der larve Nymphe Zeit: Hat sich eine Zecke festgesaugt, dau- ert es mehrere Tage, bis sie die Borrelien auf den Menschen überträgt. Heimtückischer Holzbock Der Impfstoff wirkt allerdings nur in Der Übertragungsweg der Lyme-Erreger Nordamerika, wo lediglich eine Art des Er- regers mit einem einzigen OspA-Typ auf- tritt. Die europäischen Blutsauger trans- portieren dagegen drei Arten von Borreli- ausgewachsenes Zeckenweibchen en mit mindestens sieben OspA-Varianten. 2 Bewegt sich der Mensch Die Entwicklung eines Impfstoffs, der ge- in der Natur, besteht auch für gen alle drei Erregerarten zusammen 3 Reh-, Rotwild und andere ihn die Gefahr, durch eine schützt, wird vermutlich noch einige Jah- größere Säugetiere tragen zur saugende Zecke mit Borreli- re dauern. Ausbreitung der Zecken bei. en infiziert zu werden.

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Standardverfahren“, so der Erfurter Medi- Auch eine Reihe von Ammenmärchen ziner Hans Wilhelm Kölmel, „das mit haben die Zeckenforscher widerlegt. Die hundertprozentiger Sicherheit eine Lyme- Blutsauger, so haben Biologen nachgewie- Borreliose nachweist, gibt es nicht.“ sen, klettern niemals auf Bäume, um sich Wird der Erreger nicht im frühen Sta- von dort aus luftiger Höhe auf ihre Opfer dium bekämpft, kann er seine Opfer mit fallen zu lassen. Der Energieverschleiß Spätfolgen drangsalieren. 20 bis 30 Prozent wäre bei einer solchen Kraxelei viel zu der Erkrankten laborieren an der soge- hoch – und die Trefferquote nahe Null. nannten Neuroborreliose. Sie wachen vor In Wirklichkeit sitzen die apfelkern- allem nachts mit heftigen Rückenschmer- großen Zeckenweibchen in Höhen bis ma- zen auf, die in Bauch,Arme und Beine aus- ximal eineinhalb Meter in Büschen und strahlen können. auf Gräsern – bis sie von einem Opfer ab- Bei anderen Borreliose-Patienten ist das gestreift werden. Die 1,5 Millimeter mes- Gesicht wie nach einem Schlaganfall halb- senden Nymphen bringen es nur auf einen seitig gelähmt, sie sehen „Doppelbilder“, halben Meter Ansitzhöhe; und die winzi- wie es Reinhard Kaiser, Neurologe an der gen, mit dem bloßen Auge kaum zu er- Uniklinik Freiburg, beschreibt, „so als wenn sie schwer betrunken wären“; oder sie leiden an Hörstörungen, Kribbeln und Taubheitsgefühlen an Armen und Beinen. Auch Gelenkentzündungen an den Knien und die Auszehrung von Haut und oberflächennahem Fettgewebe, bei der sich die Körperhülle zigarettenpapierartig fäl- telt und die Venen bläulich durchschim- mern, zählen zu den seltenen Spätschäden der Lyme-Borreliose. In solchen chronischen Fällen helfen nur noch mehrere Kuren mit Antibiotika. Die Behandlungen können sich über viele Wo-

chen hinziehen. Weniger als zehn Prozent M. WEBER W. der Betroffenen ist auch mit den stärksten Zeckenforscherin Wilske Medikamenten nicht mehr zu helfen. In Erhöhte Infektionsgefahr durch Nagellack besonders schlimmem Fällen leiden sie un- ter ähnlichen Symptomen wie bei Multi- pler Sklerose. Doch dazu muß es gar nicht erst kom- men. Wer bis zum Herbst auf Spaziergän- ge in Wald und Flur nicht verzichten möch- te, so empfehlen Mediziner, sollte helle, lange und dichte Kleidung tragen, unweg- sames Dickicht meiden oder zumindest, wie der Greifswalder Mikrobiologe Lutz Gürtler Wanderfexen rät, den Hund vor- ausschicken. Wer zu Hause dennoch eines der kopf-

über in der Haut nuckelnden Monster ent- FOCUS MECKES / EOS AGENTUR O. deckt, sollte es auf keinen Fall zerquet- Borreliose-Erreger schen oder dem Plagegeist mit Öl, Kleb- Symptome wie beim Schlaganfall stoff oder Nagellack zu Leibe rücken. Erstickende Tiere geraten nämlich in kennenden Larven klettern allenfalls ein Streß und flößen dann erst recht Speichel paar Zentimeter hoch. nebst darin wimmelnden Erregern in die Trotz aller beruhigenden Botschaften ist Wunde ein. die Zeckenangst des Menschen nach 1001 Je früher die Blutsauger mit einer Pin- Vampirgeschichten vermutlich unausrott- zette vorsichtig entfernt werden, desto bar. Für die Zecken endet die Bekannt- geringer ist die Infektionsgefahr. Denn schaft mit den Zweibeinern deshalb häufig die Borrelien winden sich wie Korken- verhängnisvoll: Die Parasiten werden ent- zieher durch den Darminhalt des Krab- deckt und von ihren erschrockenen Wirten beltiers. Sobald dieses anfängt Blut zu nach allen Regeln der Folterkunst massa- saugen, werden auch die Erreger aktiv: kriert, verbrannt, zerquetscht und schließ- Sie beginnen eine bis zu 72 Stunden dau- lich in der Toilette versenkt. ernde Wanderschaft quer durch die Ein grausames Geschick, doch den Bor- Körperhöhle bis zu den Speicheldrüsen der relien ergeht es kaum besser: Der Mensch Zecke. Borrelien werden deshalb, im Ge- ist für sie ein Fehlgriff, er gibt sie nicht gensatz zu den von Anfang an im Speichel zurück in die Zeckenpopulationen. „Der treibenden FSME-Viren, meist erst am Erreger“, so Matuschka, „landet in der Ende eines mehrtägigen Blutmahls über- Sackgasse und ist für den Naturkreislauf tragen. verloren.“ Günther Stockinger

196 der spiegel 26/1999 nicht möglich“, so Wässle, „weil man Jah- re braucht, um einen einzigen Qua- HIRNFORSCHUNG dratzentimeter eines einzigen Gehirns zu vermessen.“ So haben es inzwischen wohl selbst die Einsteinsche Hühnersuppe Russen aufgegeben, aus dem in 31 000 Scheibchen zerlegten Denkapparat der Das Hirn von Albert Einstein war ungewöhnlich breit. kommunistischen Gottheit Wladimir Il- jitsch Lenin etwas über kreative Intelligenz Kanadische Forscher meinen, mit dieser Abnormität auch die und Redegewalt lernen zu wollen. Denn Ursache für die Genialität des Physikers entdeckt zu haben. nach rund 70 Jahren emsiger Suche im ei- gens zu diesem Zweck ge- gründeten Moskauer Institut Geniale Anatomie? des Hirnes hatten die russi- Auffälligkeiten von schen Scheibchenforscher ein Einsteins Hirn mehr als mageres Fazit zie- hen müssen. Vergrößerter unterer Scheitellappen; gilt als wichtige Region für mathema- Zwar fanden sie bei Lenin tisches Denken und räumliches Vor- etwas vergrößerte Frontallap- stellungsvermögen pen und eine erhöhte Zahl be- stimmter Nervenzellen, der sogenannten pyramidalen Neuronen. Ansonsten aber wand sich die graue Masse wie bei jedem anderen im Schädel des Revolutionärs. „Immer wieder hat man versucht, den großen Genius als anatomische Manifesta- ungewöhnlicher Verlauf tion zu finden“, so Wässle. der Sylvischen Furche „Nie ist was Sinnvolles dabei Quelle: „The Lancet“ rausgekommen. Wenn Sie

AP nichts von einem Motor ver- Genius Einstein: Das Hirn, das die Welt veränderte stehen und trotzdem seine Schräubchen zählen, ver- aß mit ihm etwas nicht stimmte, Zwar ließen sich mit Hilfe von moder- schafft Ihnen das eben keine neuen Er- wußte Albert Einsteins Großmut- nen bildgebenden Verfahren anatomische kenntnisse.“ Dter sofort nach seiner Geburt: „Viel Strukturen im Gehirn finden, die bei be- An Einsteins Schräubchen wird schon zu groß“, rief sie schockiert. Ein riesiger stimmten Denkprozessen eine Rolle spie- seit langem gezählt. Allerdings haftete der und noch dazu unförmiger Kürbis saß beim len, erläutert Gustav Jirikowski, Anatom Vermessung seines Denkorgans von An- neugeborenen Albert an der Stelle, wo an- an der Universität Jena. „Trotzdem sind fang an etwas Anrüchiges an. Denn das dere Säuglinge ihren Schädel tragen. Strukturen an sich tot. Ihre Funktion ergibt Hirn des größten Physikers dieses Jahr- Viel zu groß war offenbar nicht nur die sich erst aus ihrem komplexen Zusam- hunderts verschwand nach seiner Obduk- knöcherne Verpackung eines der genial- menspiel.“ tion auf höchst unwürdige Weise. sten Hirne dieses Jahrhunderts. Viel zu Und die Komplexität ist enorm. „Der Chefpathologe Thomas Harvey, der am groß waren auch bestimmte Teile des Or- Vergleich zweier Hirne ist schon deshalb Princeton Hospital den 76jährigen Einstein gans selbst, das sich hinter Klein-Alberts sieben Stunden nach dessen Tod am 18. unschöner Stirn befand. Das behaupten April 1955 autopsierte, mochte dieses Hirn, zumindest kanadische Neurowissenschaft- das ihm als Substrat übermenschlicher In- ler um Sandra Witelson von der McMaster telligenz galt, nicht dem Feuer anheimge- University in Hamilton, die sich nun in ben. Vermutlich einer spontanen Einge- dem vor 44 Jahren unter merkwürdigen bung folgend, sägte er den Kopf des toten Umständen entwendeten Einsteinschen Professors auf, entnahm seinen Inhalt und Hirn umgetan haben. Ihr Fazit, veröffent- fixierte diesen mit Formalin. Nebenbei er- licht in der angesehenen Zeitschrift „The füllte er seinen eigentlichen Job, er unter- Lancet“: Das Genie des Nobelpreisträgers suchte die Todesursache. Das geraubte spiegele sich in einer „außergewöhnlichen“ Hirn aber trug er schließlich davon. Aus Hirnanatomie wider. ihm schnitzte er etwa 240 würfelförmige Die Fachwelt reagierte befremdet. Mehr Blöckchen und bewahrte sie in Einmach- als ein halbes Jahrhundert ist es her, daß gläsern im Keller seines Hauses auf. mit dem Untergang der nationalsozialisti- Dort ruhten Einsteins Überreste – sein schen Rassentheorien auch das Schädel- restlicher Körper war eingeäschert worden messen und Hirnwiegen aus der Mode ge- – lange in Frieden. Selbst Harvey vergaß kommen ist. „Es ist ein völlig veraltetes das zerschnipselte Genie in seinem Keller, Unterfangen, nach einem anatomischen als er eines Tages bei seiner Frau auszog. Sitz der Intelligenz zu suchen“, sagt kopf- Erst später holte er sich die Hirnwürfel

schüttelnd Heinz Wässle, Neuroanatom am PRESS SIPA zurück. Nachdem Princeton ihn gefeuert Max-Planck-Institut für Hirnforschung in Hirnvermesserin Witelson hatte und Harvey nach Lawrence in Kan- Frankfurt am Main. Substrat übermenschlicher Intelligenz? sas gezogen war, deponierte er seinen

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Schatz erst in einer alten Pappschachtel in Hirns samt 50 seiner Gewebe-Würfelchen seinem Büro, später dann in der Abstell- – etwa ein Fünftel des gesamten Einstein- kammer seines Apartments. schen Steuerzentrums. Ob Pathologie, Einstein-Pathos oder Psy- Diesem Schatz wollte die Neurofor- chopathie – die wahren Motive Harveys hat scherin nun das Geheimnis des Genies wohl nie jemand richtig verstanden. Sicher entlocken. Sie verglich Einsteins Hirn mit scheint nur, daß er selbst Einsteins Überre- den Denkorganen von 35 mäßig intelli- ste nie eingehend untersuchte. Statt dessen genten Männern und 56 ebenso durch- verschenkte er im Laufe der Zeit ein knap- schnittlichen Frauen – und wurde fündig. pes Drittel jenes Hirns, das die Vorstellun- Was für die Russen Lenins Frontallap- gen von der physikalischen Welt veränder- pen, sind für Witelson Einsteins untere te, an Kollegen. Doch lange konnte oder Scheitellappen. Die sind ihrer Meinung wollte niemand etwas damit anfangen. nach etwa 15 Prozent breiter als bei Durch- Erst 1985, 30 Jahre nach der Schädel- schnittsmenschen. Um einen vollen Zenti- plünderung, wagte sich erstmals eine For- meter wölbe sich die Schaltzentrale des scherin mit ihren Beobachtungen an die Physikers über das Normmaß hinaus. Öffentlichkeit: Die kalifornische Neuro- Die Untersuchungen förderten weitere anatomin Marian Diamond hatte von Har- Abnormitäten zutage: Eine bestimmte Fur- vey ein paar Einsteinsche Stückchen er- che, die den unteren Scheitellappen etwa halten und monatelang Zellen unter dem auf Höhe des Ohrs durchläuft, habe bei Mikroskop ausgezählt. Dabei war ihr auf- Einstein eine ungewöhnliche Gestalt, be- gefallen, daß in manchen Hirnteilen des teuert Witelson. Der Düsseldorfer Hirn- Nobelpreisträgers die Zahl der Gliazellen forscher Adolf Hopf findet die anatomi- um knapp 75 Prozent höher liegt als bei schen Auffälligkeiten jedoch gar nicht so normal denkenden Menschen. auffällig, wie Witelson darzustellen ver- Nun sind die Gliazellen nicht gerade die Intelligen- zija im Gehirn; vielmehr ernähren und stützen sie die für die Denkprozesse nöti- gen Nervenzellen – doch Diamond wollte genau darin die Ursache für das gute Funktionieren von Einsteins Festplatte erkannt haben. „Lächerlich“, spottete Larry Kruger, Neurobiologe an der University of California in Los Angeles. „Dieser Fund bedeutet absolut nichts.“ Unbeeindruckt von aller Kritik, brachte Harvey seine

Schnipsel nur um so bemüh- AP ter unter die Leute. Noch als Forschungsobjekt Einstein*: Hirnschnipsel für die Enkelin 84jähriger fuhr er Anfang 1997 Tausende von Meilen in einem Buick sucht: „Die Variabilität in den Hirnwin- Skylark durch die Vereinigten Staaten, dungen der Menschen ist enorm. Selbst um das, was er noch von Einsteins Hirn zwischen eineiigen Zwillingen finden sich besaß, dessen Enkeltochter Evelyn zu große Unterschiede in der Hirnanatomie.“ zeigen. Für Sandra Witelson sind ihre Funde Für den Transport hatte er sein Mit- dennoch Indiz genug, um eine waghalsige bringsel in eine Tupperware-Dose umge- Theorie aufzustellen: Vom unteren Schei- füllt. Bei seinem Besuch forderte er die er- tellappen seien das dreidimensionale Vor- staunte Evelyn Einstein in ihrem Wohn- stellungsvermögen und das mathematische zimmer auf, doch ein wenig von dem zu Denken, aber auch die bildliche Vorstel- behalten, was die Einstein-Enkelin an dick- lung von Bewegungen abhängig. Durch die flüssige Hühnersuppe erinnerte. von Geburt an anders verlaufende Furche Ein ähnlich ungewöhnliches Angebot er- sei bei Einstein möglicherweise der Si- hielt die Forschergruppe der kanadischen gnalaustausch zwischen den Nervenzellen Professorin Witelson 1996 per Fax. Harvey dieses Hirnareals leichter gewesen – und so fragte in einem einzigen Satz, ob jemand das Genie herangereift. Interesse habe, Einsteins Hirn zu untersu- Diese Schlußfolgerung hält Gustav chen. Witelson hatte. Jirikowski für völlig überzogen: „Da Der greise Pathologe, der sich seinerzeit könnte man genausogut einem Frosch, als Schichtarbeiter in einer Plastikfabrik der auf das Kommando ‚hüpf‘ springt, verdingte, überließ der Wissenschaftlerin die Beine abschneiden und daraus, daß daraufhin alte Fotografien des Einstein- er dann nicht mehr springt, schließen, daß das Gehör in den Froschschenkeln * Bei einer Messung seiner Hirnaktivität im Jahre 1950. liegt.“ Christina Berndt

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TIERE Viren im Gepäck In Australien warnen Virologen vor Flughunden und Fleder- mäusen. Die fliegenden Säuger gelten als Überträger neuer Krankheitserreger. Sind sie auch die Wirte des Ebola-Virus?

m Rand des Regenwalds veranstal- In jüngster Zeit haben die aufgebrachten teten Chris Tidemann und seine Farmer neue Verbündete bekommen. Denn AHelfer ein Heidenspektakel. Sie auch Infektionsmediziner schlugen Alarm: trommelten mit Holzprügeln auf Metall- Die fliegenden Säuger, die als Transpor- rohre ein, ließen Peitschen knallen und bal- teure von Pollen und Samen eine wichtige lerten mit Schreckschußpistolen in die ökologische Funktion übernehmen, trügen Luft. Eine Kettensäge heulte im Dauerlauf, auch eine andere Fracht mit im Gepäck. kokelnde Sägespäne verbreiteten beißen- Binnen weniger Jahre gerieten die Tiere den Qualm. gleich dreimal als Träger zuvor unbekann- Der Generalangriff auf Hör- und Atem- ter Krankheitserreger in Verdacht: wegsorgane galt einer Versammlung von π 1994 streckte das Hendra-Virus, benannt 10 000 Fledertieren, die seit Jahren in nach einem Vorort der ostaustralischen Baumriesen nahe der High-School von Metropole Brisbane, 15 Pferde nieder. Maclean hausten, einem verschlafenen Zwei Männer, die unmittelbaren Kon- Städtchen im australischen Bundesstaat takt zu den infizierten Tieren hatten, New South Wales. Seit Jahren schon reg- starben. Das Virus, das die Krankheit Australische Flughunde: Überquerten infizierte neten allmorgendlich die Exkremente der ausgelöst hatte, wurde wenig später aus früchtefressenden Flughunde auf Schüler vier Flughundarten isoliert. in Flughundarten, wie sie in unmittelba- und Lehrer nieder. Kurz: Das Verhältnis π 1996 fand ein kurz zuvor in Flughunden rer Nachbarschaft der Farm lebten. zwischen Mensch und Tier war schwer und Fledermäusen isoliertes, dem Toll- Zwar ist in Australien die Wahrschein- gestört. wuterreger ähnliches Virus ein mensch- lichkeit, an einem Spinnen- oder Schlan- Für Anfang April genehmigten die liches Opfer: Eine Frau, die kranke genbiß zu sterben, ungleich größer, als ei- nationalen Naturschutzbehörden die Ver- Fledertiere großgezogen hatte, starb nem von Flughunden übertragenen Virus treibungsaktion. Einzige Bedingung: Keine qualvoll nach dem Biß eines ihrer zum Opfer zu fallen. Alle neu entdeckten Toten; „nur Lärm und Rauch“ dürfe Tide- Schutzbefohlenen. Ende 1998 erlag eine Erreger schafften den Sprung über die Ar- mann, ein Fledermausexperte von der Au- zweite, aus der Schweiz stammende, tengrenze zum Menschen offenbar nur un- stralian National University in Canberra, Frau dem gleichen Erreger. Nach einem ter sehr spezifischen Bedingungen. als Waffe nutzen. Trotzdem entrüsteten Flughundbiß hatte das Virus zwei Jahre Trotzdem erzeugen die Krankheiten sich die Fledermausschützer. lang unerkannt in ihrem Körper ge- Angst. Sie sind neu und unheimlich – ins- Auch andernorts auf dem Kontinent po- schlummert. besondere auf einem Kontinent, der bis larisieren die großäugigen, zugleich aber π 1997 schließlich isolierten Virologen ei- heute selbst vom rund um den Globus ver- auch gruseligen Nachtschwärmer die Men- nen weiteren Erreger aus der Familie der breiteten Tollwutvirus verschont blieb. schen: Auf der einen Seite kämpfen mili- Paramyxoviren (zu der auch das Hen- Seit dem Ausbruch der Infektionen rät- tante Naturschützer, die ihre Freizeit der dra-Virus gehört) aus mißgebildeten, tot- seln einheimische Epidemiologen, warum Aufzucht verwaister Jungtiere widmen.Auf geborenen Ferkeln in einer Schweine- die Erreger gerade jetzt auf den Menschen der anderen sammeln sich Gegner der Flat- farm bei Sydney. Zwei Arbeiter er- überspringen. Hatten die Viren schon lan- tertiere, vornehmlich Obstgärtner. Jahr für krankten mit schweren Grippesym- ge in den Flattertieren geschlummert, ehe Jahr fallen ihren Feldzügen mehr als ptomen, erholten sich jedoch wieder.An- der Homo sapiens in ihren Lebensraum 100000 der Fruchtfresser zum Opfer. tikörper gegen das Virus fanden sich auch vordrang und so das Risiko einer Übertra- AP J. FRITEL / GAMMA STUDIO X J. Schweine-Tötung in Malaysia, Abtransport eines Ebola-Opfers in Kikwit (Zaire, 1995): Tödlicher Sprung über die Artengrenze

202 der spiegel 26/1999 Und warum löste das nahver- wandte Hendra-Virus in Au- stralien keine Epidemie aus? Letztes Jahr hatte der Viro- loge John Mackenzie von der University of Queensland in Brisbane die Diskussion über Fledertiere und Infektionsrisi- ken kräftig angeheizt. Der Wis- senschaftler wollte nicht aus- schließen, daß Flughunde eines Tages selbst das gefürchtete Killervirus Ebola nach Austra- lien einschleppen könnten. Dazu müßten die Tiere nach heutiger Kenntnis allerdings weit reisen. Denn bisher wüte- te das Virus ausschließlich un- ter Afrikanern, erstmals 1976, dann 1979 und schließlich mehrmals Mitte der neunziger Jahre.Auf den Philippinen, im- merhin auch noch über 2000 Kilometer entfernt von der australischen Nordküste, er- krankten 1996 einige Affen an

R. KUNZ / SAVE-BILD einem verwandten Erreger Langstreckenflieger die Meerenge nach Australien? („Ebola-Reston“). Menschen blieben verschont. gung erhöhte? Oder hatten infizierte Lang- Eine Ebola-Epidemie in Australien sei streckenflieger den Sprung über die 150 zwar „ein unwahrscheinliches Szenario“, Kilometer breite Meerenge zwischen Au- räumt Mackenzie ein, „aber wir können stralien und Papua-Neuguinea geschafft? es nicht ignorieren“. Die Debatte dauerte an, als in diesem Tatsächlich ist bis heute unklar, ob Fle- Frühjahr in Malaysia eine mysteriöse Hirn- dertiere überhaupt Träger des gefürchteten entzündung rund 100 Menschen dahinraff- Ebola-Virus sind. Vor einigen Jahren lenk- te (SPIEGEL 18/1999). Die Opfer klagten ten südafrikanische Forscher den Verdacht über Fieber, Schmerzen und Benommen- auf Fledermäuse, die in den Seuchenge- heit, fielen ins Koma und starben. bieten heimisch sind. In einem Hochsi- Als Überträger des bald darauf isolierten cherheitslabor bei Johannesburg hatten sie Nipah-Virus, benannt nach dem Bezirk in zahlreiche Pflanzen- und Tierarten künst- dem es zuerst auftauchte, waren schnell lich mit Ebola-Viren infiziert. Nur in Fle- Hausschweine ausgemacht. Sofort ließ die dertieren überlebten die Erreger drei bis Regierung in Kuala Lumpur etwa eine Mil- vier Wochen lang. lion der Tiere abschlachten. Die Frage, wie „Ein Hinweis“, sagt Georg Pauli, Viro- sich das Borstenvieh infiziert hatte, war loge am Berliner Robert-Koch-Institut, damit freilich nicht geklärt. „aber kein Beweis“, daß Fledertiere auch Aufgeschreckt durch die rasch erkannte die natürlichen Wirte für Ebola seien. Un- Ähnlichkeit des Nipah- mit dem Hendra- bestritten jedoch ist, daß Flughunde und Virus, testeten australische Virologen in- Fledermäuse geradezu prädestiniert für die zwischen 300 Blutproben von Fledertieren Verbreitung von Krankheitserregern sind – aus ganz Malaysia – und wurden fündig. In nicht nur in Australien oder Malaysia. manchen Populationen war jedes vierte Die Flattertiere, von denen einige Arten Tier Träger von Nipah-Antikörpern. Den bis zu 200 Kilometer am Stück zurücklegen Erreger selbst konnten die Forscher in den können, sind die einzigen aktiv fliegenden verdächtigen Tieren bisher allerdings nicht Säugetiere. Sie überspringen deshalb nicht dingfest machen. nur rasant räumliche Entfernungen, son- Deshalb durchkämmen Wissenschaftler dern erleichtern Erregern auch den Sprung des amerikanischen Zentrums für Seu- über die Artengrenze zu anderen Säugern: chenkontrolle in Atlanta (Bundesstaat zu Haustieren wie Schwein, Pferd, Hund, Georgia) jetzt Gewebeproben nach dem Katze – oder zum Menschen. Erreger. Ihre australischen Kollegen ver- Seit Jahresbeginn fielen im Nordosten langen eine möglichst flächendeckende der Demokratischen Republik Kongo über Untersuchung von Fledertier-Populationen 70 Menschen einer Epidemie zum Opfer, in Malaysia, Indonesien, Papua-Neuguinea die zunächst als erneuter Ausbruch der und auf den Philippinen. Ebola-Seuche mißdeutet wurde. Tatsäch- Noch sind viele Fragen offen: Warum ist lich hatte das engverwandte Marburg-Virus die Seuche nicht schon viel früher unter zugeschlagen. Als Überträger verdächtig: malaysischen Schweinen umgegangen? Fledermäuse. Gerd Rosenkranz

der spiegel 26/1999 203 Werbeseite

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Werbeseite ARCHÄOLOGIE Trikolore im Splitterregen Forscher haben vor der Küste Ägyptens einen Schiffs- friedhof entdeckt. Taucher bargen Wrackteile, Kanonen und Menschenknochen vom Meeresgrund – Zeugnis von Napoleons erster verheerender Niederlage: Vor 200 Jahren wurde seine Flotte von Briten zerschossen.

Bergung einer Muskete von dem Flaggschiff „Orient“: „Das Meer schmeckt immer noch nach Schwarzpulver“

s war gegen 15.30 Uhr, als Horatio explodiert oder auf Grund gelaufen. Nel- te der damals 28jährige Kriegsgenius mar- Nelson mit seiner Flotte bei Nord- son, durch ein Eisenstück am Kopf ver- schieren wollen. Nun war ihm bereits im Ewestwind in die Bucht von Abukir letzt, jubelte: „Das Wort ,Sieg‘ kann ein Land der Pyramiden die marine Basis für am Nildelta einschwenkte. Acht Wochen solches Schauspiel gar nicht beschreiben.“ seine weitausholende Militäroperation ab- lang hatte der britische Admiral den Feind Zahlreiche Marinehistoriker haben sich handen gekommen. quer durchs Mittelmeer verfolgt und ver- mit dem Gefecht vom 1. August 1798 be- Aber warum? Alte Berichte geben zwar fehlt. Nun sah er ihn. schäftigt. Die „Battle of the Nile“ wie sie Auskunft über die einzelnen Etappen der 17 französische Kriegsschiffe, darunter im Englischen heißt, markiert Napoleons Schlacht. Dennoch blieb das Desaster nicht hochragende Dreimaster mit goldenen ersten großen Rückschlag. Nach Indien hat- recht erklärlich. Mit überlegener Feuer- Bugdornen, lagen, zu einer gekrümmten kraft hatte Brueys, der leitende Admiral Schlachtenlinie formiert, an der Küste vor der französischen Flotte, den Gegner er- Anker. 1196 Kanonen, bedient von über wartet. Er verfügte über mehr Kanonen, 10000 Matrosen, blitzten feuerbereit aus mehr Matrosen, sogar über landgestützte den Geschützluken – die geballte See- Artillerie. macht des nachrevolutionären Frankreich. Fast exakt 200 Jahre nach dem Gefecht Trikolore gegen Union Jack; Freiheit, könnte sich der rätselhafte Flop nun doch Gleichheit, Brüderlichkeit gegen britischen noch erklären lassen. Unter Leitung des Krämergeist: zwei Ideologien, zwei haß- Pariser Meeresforschers Franck Goddio ha- erfüllte Nationen und zwei kleine Männer ben Taucher 20 Kilometer von Alexandria (Körpergröße Nelson: 1,57 Meter; Napole- entfernt die Reste der zertrümmerten fran- on: 1,58 Meter) standen sich gegenüber. zösischen Mittelmeer-Armada geortet. „Elf Dann entlud sich die Spannung in einer Glasfläschchen Meter tief, in schlammigem Sediment“, so Wolke aus Rauch und Donner. Goddio, biete sich ein „Bild der Verwü- Wuchtige, rund 15 Kilo schwere Eisen- stung“. kugeln rauschten durch die Luft. Etwa im Drei zerborstene Schiffe konnten ein- Acht-Minuten-Takt stopften die Matrosen deutig identifiziert werden.Von Seepocken beider Seiten Schwarzpulver in die Kano- überzogene Musketen, Parfumflakons und nenrohre. Bei jedem Treffer quoll eine Wol- Uhren wurden aus den Wracks geborgen. ke von Holzsplittern aus den Einschuß- Ballons wuchten schwere Kanonen und löchern, Schrapnelle stoben durch die Luft. Mastreste an die Oberfläche. Reste von Die ganze Nacht über dauerte der Tauwerk und Segeln fanden sich im Schlagabtausch (den Napoleon von Land Schlamm, ebenso wie ein Fernrohr und

aus verfolgte). Als der Morgen graute, ga- / DCI FOUNDATION GODDIO / HILTI F. FOTOS: eine – in Deutschland gefertigte – Tabak- ben die Söhne der Revolution zutiefst ge- Tabakdose dose aus Silber. demütigt auf. 1700 Franzosen trieben tot im Fundstücke aus der Bucht von Abukir Keine Frage: Mit seiner Abukir-Expe- Wasser, 13 ihrer Schiffe waren verbrannt, Pretiosen im schlammigen Sediment dition hat Goddio, Leiter des von ihm

206 der spiegel 26/1999 Wissenschaft selbst gegründeten „Europäischen Insti- Zu diesem Zeitpunkt schifft Napoleons Ein Lapsus? Hätte die „Guerrier“ näher tuts für Meeresarchäologie“ in Paris, er- Armada gerade an Kreta vorbei, Rich- an der Küste ankern müssen, um die fata- neut einen Coup gelandet. Der alerte tung Afrika. Sein Ziel: Alexandria. Als le Lücke zu schließen? Goddio sieht das Aquanaut schickt sich an, zum Jacques Bonaparte am 1. Juli die Metropole jetzt anders. Seine Tiefenmessungen in der Cousteau der Wracksucher aufzustei- am Nil erreicht, ist der genervte Nelson Bucht ergaben, daß die französischen gen. 1996 schnorchelte er im Umfeld des schon wieder abgereist. Durch Gerüchte in Schiffe (Tiefgang: um neun Meter) großen Kleopatra-Palastes. Im Jahr darauf hievten die Irre geführt, vermutet er seinen Abstand zum Ufer halten mußten, sonst seine Mannen im Pazifik Porzellan Gegner nun auf Sizilien. Bonaparte wären sie auf Grund gelaufen. Den etwas aus gekenterten Dschunken der Song- nutzt die Chance, bringt seine Armee an leichteren Britenbooten (Tiefgang: um 6,5 Dynastie. Land und unterwirft die Mamelucken. Meter) eröffnete sich damit ein schmaler Und nun Abukir. Für letzten Sonntag Nach drei Wochen ist Ägypten erobert. Korridor zum Durchbruch. lud der Tauchtrupp, bei Champagner Die Kriegsmarine, 13 große Linien- Nach dem gewagten Manöver war und Häppchen, zur großen Präsentation schiffe, werden in der sandigen, von Nelsons Position formidabel: Er konnte den seiner Schätze nach Alexandria. Histori- Untiefen geschützten Bucht von Abukir Gegner ins Kreuzfeuer nehmen. Innerhalb ker, ägyptische Kulturbeamte und über geparkt. von zehn Minuten hatte die „Guerrier“, 50 Journalisten waren bei der Schau zu- Am 1. August spitzt sich die Lage dra- von vorn und hinten beschossen, alle Ma- gegen. Hernach ließen sich die Gäste, matisch zu. Erneut taucht der Irrfahrer sten verloren. Die „Spartiate“ an Position darunter die Urururenkelin Nelsons, Nelson vorm Nildelta auf. Seine Drei- 3 zählte innerhalb von zwei Stunden 49 Anna Tribe, 69, und der Napoleon-Sproß master segeln an Alexandria vorbei. Am Einschüsse steuerbords und 27 backbords. Louis-Napoléon Bonaparte-Wyse, 63, in Shuttlebooten zum historischen Schlacht- feld schaukeln. Zu diskutieren hatten sie viel. Neben der Vielzahl von Fundstücken hat Goddio auch neue Details zum taktischen Verlauf des Seegefechts vorgelegt. Erstmals wird deutlich, warum der korsische General mit seiner hochgerüsteten Seestreitmacht eine so bittere Niederlage einstecken mußte. Der Konflikt zwischen den Kontrahen- ten Nelson und Napoleon schwelte schon lange. Nach der Hinrichtung des Königs im Jahr 1793 betrieb die Republik Frankreich unverhohlen militärischen Revolutions- export. Italien und die Niederlande wurden erobert. Dann forderte das Machtzentrum in Paris das Empire heraus. 1797 kaperten die Franzosen 950 britische Handelspötte. Im Jahr darauf traf die Regierung Vorbe- reitungen, die Insel jenseits des Ärmel- kanals mit einem Invasionsheer in die Knie zu zwingen. Mitten in diese Pläne platzt Napoleon mit einer neuen Strategie. Wäre es nicht besser, dem Empire seine Goldgruben in Asien zu entreißen? Die Ostindienkompa- nie müsse zerschlagen, deren Handelsströ- me ausgetrocknet werden, meinte er. Wie Alexander der Große träumte der General vom großen Feldzug Richtung

Orient. MARITIME MUSEUM NATIONAL Innerhalb von nur zehn Wochen wird Schlacht von Abukir*: Explosion am Nachthimmel die Operation im geheimen vorbereitet. Mit 37500 Soldaten, 100 landgestützten Ar- Nachmittag erspäht ein Ausguckposten den Verschärft wurde die Lage durch die tilleriekanonen und 1200 Pferden an Bord Feind, der in der Bucht wohlgeordnet in Windrichtung Nordwest. Die hinten lie- setzt sich die Flotte in Bewegung. Nach Schlachtstellung liegt. Sofort läßt Nelson genden Napoleon-Schiffe konnten der Zuladungen in Italien stechen 400 Trans- an den Flaggleinen das Signal auswehen: Spitze nicht zur Hilfe eilen, der Frontal- porter in See, geschützt von 17 Fregatten „Angriff sofort“. wind war zu stark. Ohnmächtig sahen die und Kanonenbooten. Was dann passierte, ist in der Literatur Kapitäne zu, wie Nelson die vordere Linie Die Briten kriegen zwar Wind von der vielfach beschrieben und dem französi- mit einem zermürbenden Doppelbeschuß Aktion, deren Stoßrichtung jedoch kennen schen Befehlshaber Brueys als „großer belegte. sie nicht. Zielt der Angriff etwa direkt ge- Fehler“ angekreidet worden: Insgesamt Die Franzosen versuchten den takti- gen England? Wochenlang kreuzt Nelson vier britischen Schiffen gelang es, sich am schen Nachteil mit fanatischer Energie im Mittelmeer umher. Er soll verhindern, ersten französischen Schlachtschiff, der auszugleichen. Den Kapitän Dupetit- daß die Franzosen durch die Straße von Gi- „Guerrier“, vorbeizuschieben und dem Thouars etwa konnte selbst ein Geschoß braltar in den Atlantik ausbrechen. Doch Gegner gleichsam in den Rücken zu fallen nicht entmutigen, das ihm ein Bein ab- der Feind taucht nicht auf. Daraufhin eilt (siehe Grafik Seite 208). trennte. Flugs ließ er sich in ein Kleiefaß Nelson nach Alexandria. Auch dort ist der setzen (um die zerfetzten Adern zu Hafen leer. * Gemälde von George Arnald (1763 bis 1841). verstopfen) und gab weiter Gefechts-

der spiegel 26/1999 207 Wissenschaft anweisungen – bis er ver- blutete. Napoleon im Kreuzfeuer Die Seeschlacht von Abukir Am schwersten war es für die Briten, die „Ori- ent“ zu knacken.Wie ein Batterie schwimmender Levia- R than lag Napoleons K I A B U Flaggschiff auf Position 7, Kurs der ein Dreimaster mit 126 britischen

Beim Angriff Admiral Nelsons Kanonen. Die britische U Flotte „Bellerophon“ spürte auf die Kriegsflotte Napoleons bald deren ungeheure im Jahre 1798 schoben sich N insgesamt vier Britenschiffe

Feuerkraft. 90 Minuten T (Tiefgang: 6,5m, französische hielt sie dem Duell Breit-

Schiffe: 9m) durch eine I seite gegen Breitseite schmale Lücke an der Spitze E stand, dann trieb sie der gegnerischen Formation schwer angeschlagen zur F und gelangten in den Rücken Position See ab. Alle Offiziere an der Franzosen. E des fran- Bord waren gefallen oder zösischen verwundet. Flaggschiffs Die Entlastung blieb Briten Franzosen „Orient“ von kurzer Dauer. Wie „zähe Bulldoggen“ (so Schiffe 15 17 der US-Fernsehsender Besatzung 7478 10710 „Discovery Channel“, Kanonen 1028 1196 der die Tauchaktion fil- verlorene Schiffe – 13 misch begleitet) stießen Tote 288 1700 die „Alexander“ und Verwundete 677 3105 die „Swiftsure“ (je 590 2 km Mann Besatzung) nach und nahmen das stolze Mammutboot erneut unter Beschuß. Farb- ein Hinweis auf die Stärke der Deto- töpfe und Ölfässer, achtlos auf dem nation. Achterdeck der „Orient“ gelagert, fingen Und immer wieder Skelettreste. Das Feuer. gesamte Fundfeld ist mit zersplitterten Gegen 22 Uhr hatten sich die Flammen menschlichen Knochen übersät. Bei ihren zum Pulvermagazin durchgefressen. Dann bislang über tausend Tauchgängen stießen erfolgte eine gewaltige Explosion. In einem die Goddio-Leute auf Unterkiefer, Arm- gleißenden Feuerball flogen Planken, Ge- und Beinknochen, Wirbel und Rippen. schütze und menschliche Körper in die Von den 1010 Mann Besatzung des Rie- Luft. Historische Quellen berichten, daß im senpotts kamen keine 100 mit dem Leben nächst liegenden britischen Schiff das Pech davon. zwischen den Planken zu brutzeln begann. Die Froschmänner, ausgerüstet mit Exakt diese Katastrophe ist, wie eingefro- Spachteln und Staubsaugern, spürten ren, auf dem Meeresboden dargestellt: auch Pretiosen auf. Ein Oktant aus π Die Trümmer der „Orient“ bedecken Elfenbein, Silberbesteck, auch der ver- ein Areal von einem halben Quadrat- goldete Bugdorn der „Orient“ haben die kilometer. Zeit in ihrem nassen Grab fast schad- π Bug und Heck des los überstanden. Merk- Schiffes sind abgeris- würdig ist nur, warum sen. Am Meeresgrund einige Kristall-Flakons liegt nur ein großer die Explosion heil über- Stumpf vom Mittel- dauerten. Eine der Fla- teil. schen lag direkt neben π Insgesamt sieben ge- einer zertrümmerten Ka- kappte Anker, alle in none. der Nähe der „Orient“ Am meisten aber wun- entdeckt, zeugen da- dert sich das Team dar- von, daß die umliegen- über, wie intensiv und all- den Schlachtschiffe vor gegenwärtig die Spuren dem lichterloh bren- sind, die die Seeschlacht nenden Flaggschiff am Meeresgrund von Reißaus nahmen. Abukir hinterlassen hat. π Zwei Kanonen der „Auf vielen Fundstücken „Orient“ wurden 275 haftete eine schwarze Kru- Meter vom Schiffs- ste“, sagt Goddio, „das rumpf entfernt ent- Meer hier schmeckt im-

deckt.Völlig zerborsten / DCI FOUNDATION GODDIO / HILTI F. mer noch nach Schwarz- lagen sie im Schlick – Meeresforscher Goddio pulver.“ Matthias Schulz

208 der spiegel 26/1999 Technik

nem symbolischen Kaufpreis von umge- Italien kaum noch Käufer. Mit dem Lybra AUTOMOBILE rechnet 17700 Mark. sollen nun nostalgische Styling-Impulse Aus der Kasse des Großkonzerns ge- eine erfolgreichere Epoche einläuten. Kultige speist, schwang sich die Marke mit dem Seine großen Rundscheinwerfer gemah- galoppierenden Elefanten im Firmenwap- nen an die Kulleraugen der längst zum pen zum Schwergewicht des internationa- Kult-Oldtimer geadelten Aurelia. Im In- Kulleraugen len Rallyesports auf und errang sechs Welt- nenraum bemühten sich die Designer, eine meistertitel in Folge. Der betriebswirt- Mischung aus moderner Schlichtheit und Mit einer nostalgisch anmutenden schaftliche Nutzen dieser Kraftakte war klassischer Wohnzimmeratmosphäre zu er- stets fraglich, zumal die Siege häufig von zeugen, wobei die Auswahl der Holzintar- Limousine will Fiat die Marke finnischen Naturtalenten mit für Italiener sien von größerer Stilsicherheit zeugt als Lancia wiederbeleben. Von der unaussprechlichen Namen errungen wur- die der metallisch anmutenden Hartpla- Aura des einst schillernden den (der Schnellste hieß Juha Kankkunen). stik-Oberflächen. Namens ist kaum etwas übrig. Anfang der neunziger Jahre machte die Die schwarzen Hochglanz-Funktionsta- Konzernleitung dem kostspieligen Rennzir- sten im Armaturenbrett erinnern sehr an ie mediterranen Wesenszüge des kus ein Ende und überließ das Feld der in- die nicht unumstrittene Vorliebe der Por- schlapphütigen Indiana Jones ha- zwischen vor allem japanischen Kon- sche-Stylisten für blitzblanke Knöpfe. Laut Dben es Roberto Testore angetan. kurrenz. Der Rallyesport, urteilt Testore Lancia-Prospekt standen die elitären Füll- Für den Vorstandschef von Fiat Auto ist im Rückblick, sei „eine Abzweigung des federhalter der Marke Mont Blanc Pate. Harrison Ford ein „echter Lancista, wie Lancia-Geistes“ gewesen. Zur wir ihn idealisieren“. gediegenen Markenidentität Deshalb gewann Lancia den amerikani- passe eher indirekte Sport- schen Schauspieler als Werbeträger für ei- förderung in Form von Golf- nen neuen Mittelklassewagen. Ford, sagt Sponsoring, das Lancia be- Testore, verkörpere die entscheidenden At- reits seit längerem betreibt. tribute der elitären Konzernmarke: „die Die Investitionen in die reine Freude am Leben, Liebe zum Detail Fahrzeuge selbst flossen und Abenteuergeist“. dagegen eher stockend. Das Auto mit dem Kunstnamen „Lybra“ Während die 1987 von Fiat – der Fiat-Chef bezeichnet ihn als „Neo- geschluckte Marke Alfa Ro- gräzismus“ – soll zu Preisen zwischen meo in den vergangenen Jah- 38000 und 50000 Mark und mit Motorlei- ren mit einem Feuerwerk von stungen von 103 bis 154 PS einen edlen neuen Modellen aufgefrischt Markennamen aus seinem scheintotartigen wurde und derzeit bei einem Tiefschlaf wecken. Der Fiat-Konzern, der Jahresabsatz von 220000 Au- Neuer Lancia „Lybra“: Füllfederhalter standen Pate außerdem noch Alfa Romeo, Ferrari und Maserati besitzt, hat keine seiner Marken so vernachlässigt wie Lancia, die älteste Tochter des Turiner Auto-Imperiums. Im Jahr 1906 von dem abtrünnigen Fiat- Werksfahrer Vincenzo Lancia gegründet, erhob sich das Unternehmen bald zu ei- nem der renommiertesten Autohersteller Italiens. Mit wegweisenden Innovationen, etwa der ersten Einzelradaufhängung in Front und Heck (1936) oder dem ersten se- rienmäßigen Fünfganggetriebe (1939), gal- ten Lancia-Fahrzeuge als Vorzeigevehikel anspruchsvoller Prominenter. Zum Kundenkreis zählten die Schau- spieler Gary Cooper, Marcello Mastroianni und Brigitte Bardot. Verzückt kosteten Autotester jedes Geräusch aus, das die lu- xuriösen Karossen erzeugten. Die Türen,

schwärmte die „Frankfurter Rundschau“ DPPI / ASA einst über das Modell Flavia, schlössen sich Lancia bei der Rallye Portugal (1987): Sechs Weltmeistertitel in Folge „mit dem satten Schnalzen eines Geld- schranks“. tos liegt, brachte Lancia kaum Neuheiten Auf Prognosen, wie viele Käufer der Nach dem frühen Tod des Firmengrün- heraus und fiel immer weiter ab. Lybra anlocken werde, legt sich Roberto ders – Vincenzo Lancia erlag 1937 im Alter 160 000 Lancia-Modelle wird Fiat vor- Testore lieber nicht fest. Exklusivität, von 55 Jahren einem Herzinfarkt – förder- aussichtlich in diesem Jahr verkaufen, vor- meint der Konzernlenker, sei ein hohes ten einzigartige Renn- und Sportwagen die wiegend Kleinwagen vom Typ Ypsilon – Gut: „Es ist besser, keine Kunden dazu- Lancia-Legende, etwa die Aurelia-Modelle was nicht gerade einem Markennimbus zugewinnen, die den Geist der Marke nicht der fünfziger Jahre mit ihren martialischen, entspricht, den Vorstandschef Testore gern erkennen.“ schildförmigen Kühlergrills. Dennoch ver- im Umfeld von Mercedes und Volvo sehen Ein Fiat-Vertriebsmanager, dem solche sank die italienische PS-Ikone zunehmend möchte. Das Topmodell Kappa, eine Ober- Thesen etwas hochtrabend erschienen, stell- im Mißmanagement einer chronisch unei- klasselimousine, deren konturarmes Blech- te sogleich klar, daß die Händler um jeden nigen Erbengemeinschaft. 1969 erwarb Fiat kleid einem abgelutschten Hustenbonbon Kunden kämpfen – „auch wenn er nicht die restlos abgewirtschaftete Firma zu ei- ähnelt, findet außerhalb des Kernmarkts Harrison Ford heißt“. Christian Wüst

der spiegel 26/1999 209 Werbeseite

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Schierhorn, Henning, Barbara Rödiger, Doris Wilhelm Ekkehard Schmidt, Thomas Schmidt, Andrea Schumann-Eckert, PRODUKTION Wolfgang Küster, Frank Schumann, Christiane Margret Spohn, Rainer Staudhammer, Anja Stehmann, Claudia Name, Vorname des neuen Abonnenten Stauder, Petra Thormann, Michael Weiland Stodte, Stefan Storz, Rainer Szimm, Dr.Wilhelm Tappe, Dr. Eckart TITELBILD Thomas Bonnie; Stefan Kiefer, Ursula Morschhäuser, Teichert, Dr. Iris Timpke-Hamel, Heiner Ulrich, Hans-Jürgen Vogt, Oliver Peschke, Monika Zucht Carsten Voigt, Peter Wahle, Ursula Wamser, Peter Wetter, Andrea REDAKTIONSVERTRETUNGEN DEUTSCHLAND Wilkens, Holger Wilkop, Karl-Henning Windelbandt Straße, Hausnummer BERLIN Leitung: Heiner Schimmöller, Michael Sontheimer; Georg Mascolo. Redaktion: Wolfgang Bayer, Stefan Berg, Petra BÜRO DES HERAUSGEBERS Irma Nelles Bornhöft, Markus Dettmer, Carolin Emcke, Jan Fleischhauer, Jürgen Hogrefe, Susanne Koelbl, Irina Repke, Dr. Gerd Rosen- INFORMATION Heinz P. Lohfeldt; Andreas M. 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212 der spiegel 26/1999 Chronik 19. bis 25. Juni SPIEGEL TV

SAMSTAG, 19. 6. ENERGIE Die Verhandlungen zwischen der MONTAG Bundesregierung und der Atomwirtschaft 23.00 – 23.30 UHR SAT 1 ROYALS Der jüngste Sohn von Queen über den Ausstieg aus der Kernenergie SPIEGEL TV REPORTAGE Elizabeth, Prinz Edward, und Sophie enden ohne Einigung. Rhys-Jones heiraten in Windsor. Für Fernsehen unterm Hakenkreuz – das offizielle Hochzeitsfoto wird Prinz MITTWOCH, 23. 6. Unbekanntes von der braunen Mattscheibe Charles’ Sohn William nachträglich ein Lächeln ins Gesicht retuschiert. FINANZEN Das rot-grüne Kabinett be- schließt das Reform- und Sparpaket. OLYMPIA Das IOC vergibt die Winterspie- le für das Jahr 2006 an Turin. ABTREIBUNG Durch den Papst-Brief unter Druck, einigen sich die katholischen SONNTAG, 20. 6. Bischöfe Deutschlands auf einen Kom- promiß: Die kirchliche Beratung soll GIPFEL Nach dreitägigen Beratungen in künftig nicht mehr zu legalen Schwan- Köln beschließen die G-8-Staaten eine gerschaftsabbrüchen berechtigen. weitere Liberalisierung des Welthandels, Teilentschuldung der ärmsten Länder DIRIGENTEN Die Berliner Philharmoniker und Aufbauhilfe für die Balkan-Region. wählen den Briten Simon Rattle zum Intendant George (1938) Nachfolger von Claudio Abbado. FRIEDEN Die Nato beendet nun auch offi- ziell die Luftangriffe auf Jugoslawien. Teil zwei der Reportage über den „Deut- DONNERSTAG, 24. 6. Die albanische Befreiungsarmee UÇK schen Fernseh-Rundfunk“ zeigt Pro- grammausschnitte aus der Zeit vom stimmt später ihrer Entwaffnung zu. REGIERUNG Gerhard Schröder schlägt sei- nen Kanzleramtsminister Bodo Hombach Kriegsbeginn bis zur Einstellung des Sen- MONTAG, 21. 6. als EU-Koordinator für den Wiederauf- debetriebs im Herbst 1944. Darunter ein bau auf dem Balkan vor. Hombachs Interview mit dem Schauspieler Heinrich BEDINGUNG US-Präsident Clinton und George, Hausfrauensendungen sowie Re- Kanzler Schröder stellen klar: keine Nachfolger soll Staatssekretär Frank- Walter Steinmeier werden. portagen über Rassekunde und Truppen- Aufbauhilfe für Jugoslawien, solange betreuung. Milo∆eviƒ regiert. UMWELT Die Bundesregierung blockiert die Verabschiedung der umstrittenen EU- DONNERSTAG BREMEN SV-Werder-Manager Willi Lemke wird neuer Bildungssenator. Richtlinie zur Rücknahme von Altautos 22.10 – 23.00 UHR VOX durch den Hersteller. DIOXIN Die EU-Kommission leitet gegen SPIEGEL TV EXTRA MENSCHENRECHTE Der Europarat setzt Belgien ein Verfahren wegen des Gift- Abgetaucht – der Ukraine eine Frist von sechs Mona- skandals ein. unterwegs mit einem deutschen U-Boot ten, die Todesstrafe abzuschaffen und 24 Männer sind auf U 22 stationiert. Wer ARBEITSRECHT Wer seinen Arbeitgeber andere rechtsstaatliche Reformen ein- die enormen psychischen und körperli- via Internet beleidigt, darf zu Recht zuleiten. chen Anforderungen auf engstem Raum gekündigt werden, entscheidet das Lan- übersteht, gilt als Elitesoldat. Reportage desarbeitsgericht Schleswig-Holstein. FREITAG, 25. 6. von einer Übungsfahrt in der Ostsee. MAHNMAL DIENSTAG, 22. 6. 439 von 559 Bundestagsabge- ordneten stimmen für die Errichtung ei- SAMSTAG ANNÄHERUNG In Peking verhandeln zum ner zentralen Holocaust-Gedenkstätte in 22.00 – 23.05 UHR VOX erstenmal seit mehr als einem Jahr Nord- Berlin. Umgesetzt werden soll der um ein und Süd-Korea wieder über Hungerhilfe Informationszentrum erweiterte Entwurf SPIEGEL TV SPECIAL und Familienzusammenführung. des US-Architekten Peter Eisenman. Ganz in Weiß – der Traum vom Bund fürs Leben Im Mittelalter galt die Ehe als Beginn ei- ner Wirtschaftsallianz. Heute konzen- trieren sich die Paare ganz bewußt erst mal nur auf den „schönsten Tag“ im Ehe- leben. Der Kreativität für den großen Event sind keine Grenzen gesetzt: ob Po- lizisten-Hochzeit auf dem Schloß, japa- nische Feier zur Kirschblütenzeit oder Trauung im Elefanten-Gehege.

SONNTAG 22.30 – 23.15 UHR RTL SPIEGEL TV MAGAZIN Taktgefühl: Bei der Eröffnung Überleben im Fronteinsatz – wie Repor- einer Jugendmusik-Stiftung ter für den Ernstfall getrimmt werden; am vergangenen Mittwoch in Wohin mit dem Schrott? Theorie und Pra- London verstärkte der britische xis der umstrittenen Altauto-Richtlinie; Premierminister Tony Blair Eine Vision und ihre Opfer – die verges- ein Trommelensemble. senen Toten des Apollo-Mondprogramms. SIPA PRESS SIPA

der spiegel 26/1999 213 Register

Gestorben Trier lehrte seit 1957 an der West-Berliner Kunsthochschule (unter anderen den un- Karl Krolow, 84. Der in Hannover gebo- gebärdigen Georg Baselitz) und ersetzte rene Lyriker, der in Darmstadt ein eher eine zerstörte Rokoko-Deckenmalerei im unscheinbares Leben führte, entfaltete eine Charlottenburger Schloß durch – proble- in der Literatur seltene matische – gegenstandslose Nachempfin- Kontinuität: Rund ein dung. 68er-Studenten, die ihn mit der Parole halbes Jahrhundert lang „Rotfront“ brüskieren wollten, fragte er publizierte er regel- nur freundlich: „Meinen Sie mehr Zinnober mäßig Gedichtbände, oder mehr Karmin?“ Hann Trier starb am deren hohe Qualität 14. Juni in seinem Haus in der Toskana an stets anerkannt wurde, Herzversagen. auch wenn der Schöp- fer kaum je im Ram- Henri von Orléans, Graf von Paris, 90.

penlicht stand. Die Ti- B. FRIEDRICH Noch letztes Jahr warnte der französische tel seiner Bücher zeigen Thronanwärter vor Einführung des Euro, die stete Entwicklung vom naturmagischen weil der die Republik in eine „ausweglose Pathos der Frühzeit zur Gelassenheit des Sackgasse“ und zur „Herrschaft des Gel- Alters: „Hochgelobtes gutes Leben“ des“ führen werde – eine rechten wie lin- (1943), „Auf Erden“ (1949), „Fremde Kör- ken Bürgern nahe Einstellung. Auch sonst per“ (1959), „Herbstsonett mit Hegel“ bewies der – theoretische – König Heinrich (1981), „Schönen Dank und vorüber“ VI, Vater von elf Kindern, Volksnähe und (1984) oder „Ich höre mich sagen“ (1992). Weitblick: Das Fernziel Krone stets starr Krolow, der keine „schweißgebadeten, ab- im Visier, brach er dennoch schon 1937 mit sichtsvollen Gedichte“ mochte, war auch dem Chefideologen einer antiparlamen- als Übersetzer und Herausgeber tätig. Der tarischen Monarchie, Charles Maurras. leichte und melancholische Ton seiner Ver- Der Feingeist befürwortete 1958 die Ein- se wird bleiben – ob das eine Zeile über das führung der gaullistischen Republik und Schreiben ist („Papier, auf dem sich / leich- unterstützte 1981 gar den sozialistischen ter Wind niederläßt“) oder die Feier des Elysée-Kandidaten François Mitterrand. Fleischlichen („Körperöffnungen / bieten Die Behauptung des blaublütigen „großen überall sich an, / und jeder nimmt sein Teil Patrioten“ (Innenmini- vom Weiterleben“). Karl Krolow starb ver- ster Chevènement), de gangenen Montag in Darmstadt. Gaulle habe ihn nach dem Krieg auf den Hann Trier, 83. Die Devise des Malers hieß Thron hieven wollen, Verwandlung: Er zweifelte, ob er sich selber war jedoch eher wiedererkennen geschweige denn grüßen Wunschdenken: Der würde, wenn er sich so auf der Straße trä- General hätte sich wohl fe, wie er Jahre zuvor gewesen war. Auch gern des großen Na-

seine zumeist abstrakten Bilder, dabei un- DPA mens bedient, befand verkennbar von Hann Trier, wirkten wie in den Träger dann aber ständiger zitternder oder schwankender doch als zu leichtgewichtig für die Historie. Bewegung – ein farbiges Labyrinth aus Henri von Orléans starb am 19. Juni in sei- Flächen und Linien, das an Wasserstrudel, nem Domizil in Cherisy nördlich von Paris Skelettstrukturen, auch an Schriftseiten er- an Prostatakrebs. innern konnte. Seinen dynamischen „Tanz mit den Pinseln“ vollführte Trier oft Gerd Tellenbach, 95. Sein erstes großes beidhändig. Er war in Köln aufgewachsen Werk, erschienen 1936, hieß „Libertas“, und verwurzelt, und selbst in einem Band über „Die Ent- hatte aber schon stehung des deutschen Reiches“ von 1940 zur Nazi-Zeit wandte sich der Mittelalter-Historiker ge- Kunst-Kontakte gen die Ideologie vom Zweiten und Dritten nach Frankreich Reich. Solche Standhaftigkeit machte den und Italien ge- tatkräftigen Schüler Georg von Belows und knüpft. 1952 bis Karl Hampes nach dem Krieg zum gefrag- 1955 lebte er, of- ten Administrator. Er wirkte in Rektoren- fiziell als Werbe- konferenz und Wissenschaftsrat und leite- grafiker, in Ko- te zuletzt 1962 bis 1972 das Deutsche Hi- lumbien. Nach storische Institut in Rom – was ihn nicht am seiner Heimkehr Schreiben hinderte. Noch 1998 mahnte der zählte er bald 94jährige Nestor seine Kollegen: „Histori- zu den führen- ker, denen es um Wissenschaft und Wahr- den Gestalten heit geht, brauchen viele Farben mit allen der zeittypischen Schattierungen.“ Gerd Tellenbach starb, deutschen „In- wie erst jetzt bekannt wurde, am 12. Juni

H. POLLACZEK formel“-Malerei. in Freiburg.

214 der spiegel 26/1999 Werbeseite

Werbeseite Personalien

Eva Habermann, 23, Schau- be Enttäuschung. Bei ei- spielerin, mehr oder weniger nem Straßenfest der les- bekannt aus der ARD-Vor- bisch-schwulen Szene in abendserie „Die Strandcli- Berlin trat sie einem que“, in der junge Leute am hartnäckigen Gerücht Strand (von St. Peter-Ording) entgegen. „Ich muß eine neue Lebensperspektive euch enttäuschen“, sag- suchen, wechselte die Küste. te die frohsinnige Ge- Als nackte „Eva“ posierte sundheitsexpertin, „ich sie an den Gestaden Tene- bin hoffnungslos an

riffas für das Twen-Magazin Männern interessiert.“ B. KLINGE / BILD ZEITUNG „Max“. Schließlich weiß die Hoffnungen auf eine Fischer Hamburgerin, daß sich die lesbische Gesundheits- Stars von Jugendserien ministerin hatte sich die Szene gemacht, schwertun mit dem Weiter- seitdem bekannt ist, daß Frau Fischer in kommen. Aber ein Kinostar Bonn von Montag bis Freitag eine Woh- will sie werden. Da hilft dann nung mit einer grünen Parteifreundin teilt. nur eins: „Man muß sich be- Möglicherweise hat auch eine angebliche dingungslos einsetzen“, so Interview-Bemerkung die Phantasien be- die blonde Schauspielerin, flügelt, wonach die Ministerin – vor gut ei- „wenn man etwas will. Egal, nem Jahr geschieden – befand: „Meine Ehe ob man sich dabei Schram- war ein Irrtum.“ men holt.“ Bislang sei alles gutgegangen – von Schram- Theo van Gogh, 42, Kolumnist, Komiker men keine Spur, wissen die und Großneffe des Malers Vincent van Kenner von „Max“ zu be- Gogh, wurde als Redner zur Eröffnung des richten und schwärmen von renovierten gleichnamigen Museums in „Evas makellosem Körper Amsterdam kurzfristig wieder ausgeladen. unter Teneriffas Sonne“. Man wollte sich die feierliche Zeremonie in „Was ich will“, sagt sie, die Anwesenheit von Königin Beatrix nicht sich schon mal erbötig zeigte, durch einen respektlosen Spaßmacher ver- „das Testbild zu moderie- derben lassen. Im Internet hat van Gogh ren“, um aufzufallen, „kriege „die Ansprache, die die Königin nicht ich auch“ – sei es einen Mann hören durfte“, dann doch noch gehalten. oder die Rolle als „Elfe oder Textauszug: „Meine Familie hat aus

Prinzessin in einem Kostüm- MAX Großzügigkeit ihres sozialdemokratischen film“. Stähnki? Häbermän! Habermann Herzens dem Staat der Niederlande 300 Bilder und 600 Zeichnungen meines Uron- Rudolf Scharping, 51,Verteidigungsmini- Weile wurden indes die sonst üblichen kels geschenkt. Ein Mißverständnis. Die ster, ließ Journalisten unter dem allgemei- Weingläser aufgetragen – und dicke Steaks. Sammlung ist heute sechs Milliarden Gul- nen Zwang zum Sparen leiden. Im Kasino „Nehmen Sie es als Symbol für die Lage den wert.“ Dieses Mißverständnis sei be- der Hardthöhe fanden sie zu einem abend- der Bundeswehr“, juxte SPD-Mann Schar- sonders tragisch, „weil ich Steuern zahlen lichen Pressegespräch über den Wehretat ping, „erst trockene Kekse, aber hinterher muß, um das sympathische Puppenthea- nur kleine Teller mit einer winzigen kommt doch was Ordentliches.“ ter Ihrer Monarchie am Leben zu erhal- Cherry-Tomate, Petersilie, Keksen in Alu- ten“. Erspart blieb der Königin auch die Folie – und ein Glas Wasser. „Das Essen , 39, Bundesgesundheits- Frage, ob sie denn wisse, daß ihre Eltern, braucht man nicht zu erklären“, eröffnete ministerin und Reformerin des medizi- Prinzessin Juliana und Prinz Bernhard, ihre Pressesprecher Oberst Jochen Cholin die nisch-industriellen Komplexes, bereitete Verlobung unter den Klängen des Horst- Runde, „es paßt ins Thema.“ Nach einer einer Minderheit in der Republik eine her- Wessel-Liedes feierten?

Al Gore, 51, bis zur Langweiligkeit poli- tisch korrekter US-Vizepräsident, brach jetzt – als Präsidentschaftsbewerber – sein bislang selbstverordnetes Schwei- gen zur Clinton-Lewinsky-Affäre in der Öffentlichkeit. „Was er tat, war unent- schuldbar“, so grenzte er sich von sei- nem Chef ab, „und besonders als Vater fühlte ich, daß es offensichtlich schreck- lich falsch war.“ Derweil stammelte Gore-Ehefrau Tipper, 51, auf die Frage in derselben Sache, was sie denn an Hil- lary Clintons Stelle gemacht hätte: „Ich

N. FEANNY / SABA würde … ich hätte … ich kann mir nicht Ehepaar Gore vorstellen, daß mir so etwas passiert.“

216 der spiegel 26/1999 Jacques Chirac, 66, konservativer fran- erst ab, wenn das Eis gefährlich dünn wird, zösischer Staatspräsident, verteilt Uhren dann dreht er seine Pirouetten“. Lenk nicht nur an besondere Freunde. William glaubt fest, „Walsers Sinn für Ironie“ wer- Hague, Chef der britischen Konservativen, de ihm „schon über die Denkmalisierung mußte dieser Tage feststellen, daß er mit hinweghelfen“. seinem politischen Gegner, dem Premier- minister und Labour-Party-Chef Tony Blair, Hans Tietmeyer, 67, noch amtierender einiges gemeinsam hat: Sie besitzen identi- Bundesbankpräsident, steht zu seiner mün- sche Uhren. „Präsident Chirac schenkte sie sterländischen Heimat fest wie eine Eiche. mir“, so der politisch wenig erfolgreiche So pflanzte er jetzt kurz vor seinem Amts- Hague zur Londoner „Times“. „Als ich in der Nähe des PM saß, sah ich, daß wir beide die gleiche Uhr tragen.“ Daß die Blair-Uhr auch ein Chirac-Geschenk sein muß, erkannte Hague auch noch an der besonderen Eigenschaft der Chronometer: Auf den Uh- ren ist neben der Ortszeit auch die Zeit eines in einer anderen Zeitzone gelegenen Landes ab- zulesen. Chirac-Freund Hague ist einigermaßen ernüchtert: „Prä- sident Chirac verschenkt die Din- ger offensichtlich an Parteiführer in der ganzen Welt.“ Tietmeyer (Bildausschnitt aus „Bundesbankmagazin“)

Martin Walser, 72, Schriftsteller („Ein flie- ende einen Baum dieser Gattung vor die hendes Pferd“), muß für die nächste Zeit Bundesbankzentrale in Frankfurt. Zu dem als betongewordener Reiter über den Bo- Festakt waren 90 Bürger aus seinem Hei- densee. Peter Lenk, 52, Bildhauer, mit aus- matort Metelen in Ostwestfalen angereist, geprägtem Sinn für das Groteske im Alltag, an der Spitze Tietmeyers Bruder und der enthüllte am vergangenen Samstag in Ortspfarrer – nebst einem Sack voll Mün- Überlingen am Bodensee eine sechs Meter sterländer Erde. Der knorrige Bankpräsi- hohe Beton-Skulptur, die den Dichter mit dent pflanzte das noch junge Bäumchen, Schlittschuhkufen auf einer widerwilligen der Pfarrer im Meßgewand erteilte seinen Mähre reitend zeigt.Weder die Oberen der Segen. Eine Gedenktafel vor der Tietmey- Kommune noch der Dargestellte selbst er-Eiche verkündet: „Mit düsse Meidelske wußten bis zuletzt, wem Lenk mit seiner Eick säg wie Di Danke. Diene Heimat- Skulptur da ein Denkmal setzt. „Boden- frönde“ (Mit dieser Metelener Eiche sagen seereiter“ nennt der Bildhauer sein Werk wir Dir danke. Deine Heimatfreunde). und erklärt in Flugblättern dem Volk den Sinn. Der „Dichter“ Walser, natürlich „un- Jürgen Rüttgers, 48, ehemaliger Bundes- sterblichkeitsberechtigt“, sei ein „Eis- bildungsminister und CDU-Herausforderer kunstläufer zu Pferde auf den zugefrore- in Nordrhein-Westfalen, stänkerte gegen nen Seen Deutscher Geschichte. Er steigt die SPD-Bildungspolitik mit Hilfe seines Sohnes. In einem Interview mit der „West- falenpost“ klagte Rüttgers: „Mein zehn- jähriger Sohn hat seit Wochen keinen re- gelmäßigen Unterricht, weil Stunden aus- fallen.“ Der SPD-Fraktionsgeschäftsführer im NRW-Landtag, Edgar Moron, ging der Sache nach und rief den zuständigen Schul- dezernenten an. Ergebnis: An der Grund- schule in Sinthern-Geyen, die Rüttgers Sohn besucht, könne von regelmäßigem Unterrichtsausfall nicht die Rede sein: „Un- terricht ist nicht ausgefallen, die Kinder ha- ben die Mindeststundenzahl gehabt.“ Völ- lig verdattert sind nun die Sozis. Denn jetzt beklagt sich die NRW-CDU, daß Kinder in die politische Auseinandersetzung gezerrt würden. Der SPD-Fraktionsgeschäftsfüh- rer habe damit die „Grenze des politischen

K. SCHÖNE / ZEITENSPIEGEL Anstandes weit überschritten“.

Walser-Denkmal in Überlingen 217 Hohlspiegel Rückspiegel

Aus der Packungsbeilage des Medikaments Zitate „Vigantoletten 1000“: „Welche Nebenwir- kungen können bei der Einnahme von Die „Stuttgarter Zeitung“ zur Reak- Vigantoletten 1000 auftreten? … In Ein- tion der Deutschen Telekom, zelfällen sind tödliche Verläufe beschrieben nach der Tour-Absage von Jan Ullrich, worden … Wenn Sie Nebenwirkungen bei auf die vom SPIEGEL erhobenen sich beobachten, die nicht in dieser Dopingvorwürfe „Radsport – Doping im Packungsbeilage aufgeführt sind, teilen Rennstall der Telekom“ (Nr. 24/1999): Sie diese bitte Ihrem Arzt oder Apothe- ker mit.“ Die Deutsche Telekom fürchtet offenbar die Abkehr der deutschen Öffentlichkeit vom dopingverseuchten Radsport und den damit verbundenen Imageschaden. Unter der Schlagzeile „Wir stehen zu unserem Team“ publizierte das Unternehmen gestern, am Tag nach Jan Ullrichs Absage für die Tour de Aus der Essener Stadtteilzeitung der France, halbseitige Anzeigen in überregio- „Westdeutschen Allgemeinen“ nalen Zeitungen. In bezug auf den SPIE- GEL-Artikel vom 14. Juni, in dem ein Tele- kom-Fahrer des Dopings bezichtigt worden war, heißt es dort: „In der letzten Woche er- schien in einem Magazin ein Bericht, in dem versucht wurde, unser Team Telekom mit Doping in Zusammenhang zu bringen. Ein- deutige Beweise dafür wurden nicht er- bracht.Wir bitten Sie daher, niemanden vor- zuverurteilen. Nicht einen einzelnen Fahrer. Aus dem „Achimer Kreisblatt“ Und auch nicht das gesamte Team.“ Völlig vorbehaltlos aber legt das Unternehmen die Hand nicht mehr für jeden Telekom-Fahrer Die „Frankfurter Rundschau“ über den ins Feuer. Die Einschränkung manifestiert Chefdirigenten der Deutschen Oper in Ber- sich in dem Satz: „Nach allem, was wir wis- lin, Christian Thielemann: „Wie er diese sen, ist das Team Telekom absolut sauber.“ Partitur auffächert bis in jede einzelne Fa- Damit ist die Position der Deutschen Tele- ser dieser in sich verwobenen Weinlaub- kom festgezurrt: Falls doch einmal bewiesen ranken mit cremigen Streichern, süffigem werden sollte, daß es Doping im Team gab, Holz und blitzscharf gleißendem Blech für sei dies ohne Wissen und Unterstützung des die Apoll-Fanfaren, wie er die Farbvaleurs Sponsors geschehen. Ähnlich strategisch der gleichsam silbrige Blätter treibenden hatte sich auch Pressesprecher Matthias Daphne herausarbeitet – es ist schlichtweg Schumann schon geäußert: Der Telekom sensationell.“ gehe es „um die Feststellung, daß es kein sy- stematisches Doping im Team gibt“. Der Umkehrschluß legt nahe, daß der Sponsor nicht garantieren kann oder will, daß ein- zelne Fahrer zu unerlaubten Mitteln gegrif- fen haben. Das aber sei dann eben unsyste- matisch geschehen, heimlich, ohne Mittun der Mannschaftsärzte, sozusagen privat.

Die Zeitschrift der IG Medien „M“ in ihrer Juni-Ausgabe über den SPIEGEL:

Ist der SPIEGEL – das Vorbild für investi- Aus den „Weinheimer Nachrichten“ gativen Journalismus in Deutschland – ein dem Konzept nach angelsächsisches Nach- richtenmagazin oder nicht? Zwei typisch Aus dem „Kressreport“: „Marcel Reif, 49, angelsächsische Qualitäten hat es vortreff- moderiert ab der nächsten Saison bei Pre- lich und nachahmenswert übernommen: miere Bundesliga-Spiele. Bei Fußball-Er- die detailgenaue, hartnäckige Recherche eignissen steht er RTL zur Verfügung.“ und die Respektlosigkeit gegenüber Au- toritäten. So bemerkte der englische Journalist und Deutschlandkenner Neal Aus einer Presseerklärung der CDU/CSU- Ascherson: „Dem SPIEGEL haftet immer Fraktionschefs Wolfgang Schäuble und noch etwas Ungermanisches, Angelsächsi- Michael Glos: „Der von uns in sozialver- sches an … Er nimmt die alte Haltung der träglicher Weise in die Rentenformel ein- Fleet Street ein, daß eine gute Story genau geführte demokratische Faktor ist der rich- das ist, was der eine oder andere am lieb- tige Weg.“ sten unterdrücken möchte.“

218 der spiegel 26/1999