Ursula Homann Erinnerungen an Alfred Kerr

Aus Anlass seines 140. Geburtstags

Anfang des vorigen Jahrhunderts erregten in zwei Theaterkritiker großes Aufsehen: die beiden Kontrahenten (1888–1977) und Alfred Kerr (1867–1948). Wäh- rend Ihering die Bühne als eine »Waffe« verstand, sah Kerr in ihr ein Medium der Selbster- kenntnis und Aufklärung und betrachtete die Werkzeuge des biblischen Königs, »Schleuder und Harfe«, als Symbole für den Rezensenten. »Ich fordre vom wahren Kritiker: er gebe die Kritik des Hasses und der Liebe, temperiert durch historische Gerechtigkeit«, erklärte Kerr. Schon 1906 galt er als die »ernsthafteste Erscheinung« der Berliner Theaterkritik. Die einen wie Hans Mayer, Frank Hirschberg und Ernst Robert Curtius rühmten ihn emphatisch und behaupteten, Kerr habe neue Maßstäbe für das europäische Drama gesetzt. Andere da- gegen wie Georg Strauss und Gottfried Scheuffler nannten ihn den »selbstherrlichsten Kri- tiker einer verfallenen Epoche« oder sprachen wie Hermann Sudermann mit Blick auf Kerrs populäre Wirkung von einer »Verwahrlosung der Theaterkritik«. Das Publikum jedoch liebte den umstrittenen Kritiker wegen seines kämpferischen, wit- zigen und artistisch eigenwilligen Stils und seiner hinreißenden und ungerechten Fehden mit Herbert Ihering, und . Kraus schalt Kerr eine »Feuille- tonschlampe«, dessen »Stil die letzten Zuckungen des sterbenden Feuilletonismus« darstel- le. Kerr wiederum bezeichnete Kraus als »Zwanzigpfennig-Aufguss von Oscar Wilde«, als »Nietzscherl«, der an »doppelter Epigonorrhöe« leide. Viele stellten vor allem Kerrs Eitel- keit heraus, die, laut Marcel Reich-Ranicki, der »Motor seines Schreibens« gewesen sei, wobei er gleichzeitig »den Selbstgenuss zum Stilprinzip« erhoben habe. Hans Sahl schreibt in seinen »Memoiren eines Moralisten«: »Alfred Kerr war geistreich, genießerisch, subjektiv, von Fall zu Fall urteilend, ein Impressionist, für den die Kritik eine Nachdichtung des Theaterabends war, er liebte die Illusion, den schönen Schein, das Augen- und Gedankenfest. Der Schauspieler sollte sich ganz . . . im Sinne Reinhardts und der natu- ralistischen Schule mit der Rolle, die er spielte, identifizieren. Er sollte vergessen, dass er ein Schauspieler war . . .« »Kerr stand«, berichten andere, »bevor der Vorhang aufging, neben seinem Sitz in der ers- ten Reihe und zeigte sich. Er trug einen altmodischen Gehrock und einen Vatermörder und hatte ein gestutztes Bärtchen, das ihm wie ein Aperçu auf dem Mund lag«. Die Berliner vergötterten ihren Alfred Kerr geradezu, nicht nur wegen seiner unterhaltsa- men Zwistigkeiten, sondern auch wegen seines Sprachstils. Seine Sammelbände mit Thea- terkritiken erreichten höhere Auflagen als die Romane seiner Zeit. Viele Menschen lasen Theodor Wolffs Berliner »Tageblatt« nur seinetwegen. Denn statt langwieriger Analysen akademischen Zuschnitts setzte Kerr auf thesenhaft knappe Formulierungen, Wortspiele, Metaphern und Assoziationen. Enthusiastisch oder aggressiv und verletzend gab er radikal ichbezogene Eindrücke wieder, so dass seine Ausdruckweise nicht selten als »impressionis- tisch« und »manieristisch« eingestuft wurde. 177

Unbarmherzig verfuhr Kerr mit einigen seiner Zeitgenossen. Bert Brecht beispielsweise verspottete er als begabten »Ragoutkoch«. Als Lyriker zeige jener zwar große Begabung, doch seien seine Fähigkeiten als Dramatiker begrenzt. Brecht hat ihn daraufhin, in nicht un- berechtigter Notwehr, einen »nach Trüffeln schnüffelnden Five-o-clock-tea-Plauderer« ge- nannt. Als Kerr aber Brechts Stück »Happy end« das Motto zudachte: »Happy entlehnt«, ka- pitulierten sogar seine Gegner. Mit Thomas Mann lag Alfred Kerr ebenfalls ständig im Clinch. Dieser wies ihn mit Schärfe zurecht und merkte einmal an: »Dass Herr Kerr mich blöde findet, geht nicht ganz mit rechten Dingen zu . . .« Als Kerr in einer Ausgabe der »Neuen Rundschau« vom »mittleren Roman-Boßlern« sprach, wusste Thomas Mann sofort, dass er gemeint war und fühlte sich durch diese Bemerkung »Tage lang sehr übel«. Ganz un- terschiedlich hat Kerr die Dramatiker seiner Zeit gemustert, mit Spott und Ironie, ange- strengt und anerkennend, voller Hochachtung und mitunter wie ein Liebhaber. Zudem war er ein eifriger Förderer des naturalistischen, symbolistischen und expressio- nistischen Theaters und ein Wegbereiter der Dramen von Henrik Ibsen, Georg Bernard Shaw und Ödon von Horvath auf deutschen Bühnen, insbesondere von Gerhart Hauptmann seit der Uraufführung seines Stücks »Vor Sonnenuntergang«. Er unterstützte ferner Frank We- dekind, Georg Hirschfeld, Ernst Toller, Robert Musil und setzte sich für die Wiederauffüh- rungen der Dramen Hebbels ein. Große Namen bedeuteten ihm nichts, tradierter Respekt war ihm widerwärtig, Einschüchterung durch Prominenz ein Fremdwort, einerlei ob sie Klassiker waren und Friedrich Schiller oder William Shakespeare hießen. Er müsse sein Empfinden äußern und nicht die »Gefühle verstorbener Oberlehrer«, sagte er. Eines Tages saß Kerr im Romanischen Café. Alle anderen hatten sich schon verabschiedet. Ihm gegen- über befand sich nur noch Curt Goetz, dessen Theaterstück »Die tote Tante« er gerade gna- denlos verrissen hatte. Längere Zeit fiel kein einziges Wort. Schließlich fragte Goetz dro- hend: »Ich benutze die günstige Gelegenheit, Sie zu fragen, ob es Ihnen schon aufgefallen ist, dass ich seit Wochen keinen einzigen Satz mit ihnen gesprochen habe?« »Das ist mir auf- gefallen«, bestätigte Kerr, »und ich wollte gerade die günstige Gelegenheit benutzen, Ihnen dafür zu danken!« Alfred Kerr äußerte sich indes nicht nur über Theateraufführungen, sondern als kritischer Chronist seiner Zeit und aufgeschlossener Beobachter fremden Alltagslebens auch zu poli- tisch-gesellschaftlichen Ereignissen. Mit spitzer Feder wetterte er über die Engstirnigkeit der wilhelminischen Gesellschaft, kritisierte Justiz und Militarismus und polarisierte die Avantgarde ebenso wie die Reaktion. Im Grunde schrieb er über alles, was ihn interessierte: über Kaiser und Kunst, über Adel und Elend, über Klein- und Großkriminelle, über ritterli- che Reitgesellschaften und hinterste Hinterhöfe. Er verfasste Gerichtsreportagen und Kriti- ken, Porträts und Analysen und besuchte sowohl Bismarck als auch den »Mafiaboss« von Neukölln. Seine Väter waren Heine und Börne, an deren Gräbern er in Paris stand. Er schrieb so klug und so unabhängig wie sie, aber noch frecher, noch unbestechlicher und noch poin- tierter. Nicht selten entging er nur knapp einer Majestätsbeleidigung. Geboren wurde Alfred Kerr als Alfred Kempner am 25. Dezember 1867 in Breslau als Spross einer wohlhabenden jüdisch-bürgerlichen Familie. Sein Vater Emanuel Kempner besaß eine florierende Weinstube im Zentrum – gegenüber dem Stadttheater. Vielleicht ist dort Alfreds Liebe zum Theater erwacht. Nach dem Besuch des Gymnasiums studierte er in Breslau und in Berlin, wo er sich 1887 niederließ. Promoviert hat er in Halle/Saale 1894 über Clemens von Brentanos »Jugenddichtungen«. Schon als Student in Berlin hatte Kerr Kontakte zum Kreis um die »Freie Bühne« geknüpft und erste publizistische Erfolge in der Berliner Presse erzielt. Doch der eigentliche literarische Durchbruch zum viel gefei- 178 Ursula Homann erten, hoch angesehenen deutschen Literatur- und Kunstkritiker gelang ihm mit seinen »Briefen aus Berlin«, die Sonntag für Sonntag in der »Breslauer Zeitung« erschienen und deren Lesern das Leben in der Reichshauptstadt nahe brachten. In dieser Zeit änderte er seinen Familienamen Kempner in Kerr, um der Vermutung zu entgehen, er sei mit dem »schlesischen Schwan« Friederike Kempner verwandt, der Autorin berühmt-berüchtigter Lyrik. Kerr schrieb später für zahlreiche andere Zeitungen und Zeitschriften und gründete 1910 mit Paul Cassirer und Wilhelm Herzog die Theaterzeitschrift »Pan«, für die auch Kurt Tu- cholsky, Frank Wedekind, Heinrich Mann und Robert Walser Beiträge lieferten. Vierzig Jahre lang, von 1893 bis 1933, hat Alfred Kerr das deutsche Theater aufmerksam betrachtet, bewertet und »gesagt, was zu sagen ist«. Von Sudermann bis Skowronnek haben das viele zu spüren bekommen. Geheiratet hat er erst mit fünfzig Jahren. Seine erste Frau starb nach dreimonatiger Ehe. Nach anderthalb Jahren heiratete er die zweiundzwanzigjährige Musikerin Julia Weißmann. »Das neue Leben hieß Julia und Jugend.« Zwei Kinder stammen aus dieser Ehe, Michael und Anna-Judith. Michael war später Richter in England und wurde von der Königin zum Ritter geschlagen, Judith wurde eine erfolgreiche Kinderbuchautorin. Bekannt wurde sie bei uns vor allem durch ihr Buch »Als Hitler das rosa Kaninchen stahl«, in dem sie über ihre Kindheit im Exil berichtet. Seit nahezu dreißig Jahren ist es für die meisten der acht- bis drei- zehnjährigen deutschen Kinder einer der ersten literarischen Kontakte mit einer Zeit, die nur noch ihre Großeltern erlebt haben. Doch wie stand Alfred Kerr zum Judentum? Die Kempners waren assimilierte Juden und hielten dennoch Distanz zur christlichen Umwelt. Kerr fand die »ewige Sonderung« sei »un- nütz«. Für überflüssig oder gar falsch hielt er sie dennoch nicht. Anders als manch einer sei- ner schreibenden Zeitgenossen wie etwa Karl Kraus, Alfred Döblin oder Kurt Tucholsky (die übrigens alle viel jünger waren) dachte er nicht daran, zum Christentum überzutreten. Im Gegenteil: obwohl ihm jüdische Traditionen offenbar wenig bedeuteten, beteuerte er nicht ohne Trotz, dass er »die Herkunft von diesem Fabelvolk immer als etwas Beglückendes ge- fühlt« habe. Energisch wandte er sich gegen jeden »feigen Vertusch-, Verkriech- und Ver- steckjuden«, der sich nicht zu seiner Herkunft bekannte. Doch unterschied er genau zwi- schen Herkunft und Religion. Die »starken Juden« Jerusalems liebte er, nicht die frommen. Denn Kerrs Judentum war das des aufgeklärten skeptischen Verstandes. In einer Zeit, in der Telefon und Auto erfunden worden waren, dünkten ihm religiöse Gefühle überholt. Das Jü- dische zeigte sich bei Kerr, konstatierte einmal der Schriftsteller Ernst Blass (1890–1939), in seiner westeuropäischen Zivilisiertheit, die ihn von deutscher »metaphysischer Spekula- tion« unterscheide und statt dessen in die Nähe zu Heinrich Heine und Jacques Offenbach rücke. Er sei ein Rationalist gewesen, der sich zu Voltaire bekannt und wie dieser die meta- physische Spekulation der Deutschen nicht geliebt habe. Den Antisemitismus hatte er wie viele seiner jüdischen Zeitgenossen schon als Schüler zu spüren bekommen. Dabei verletzte ihn nicht so sehr der Ruf »verfluchtes Judenaas«, son- dern wenn aufgeklärte, wohlwollende Freunde schonend sagten »die jüdischen Herrschaf- ten« – das traf. Gerade was den Antisemitismus anging, reagierte Kerr mit besonderer Sen- sibilität, so auch 1896 im Zusammenhang mit der Dreyfuss-Affäre und der Verurteilung Zolas wegen seines Artikels »J’accuse«. Den antisemitischen Hofprediger Stöcker nannte er »einen ganz und gar subalternen Kopf«. 1903 unternahm Kerr eine Reise nach Palästina und war von Land und Leuten hellauf be- geistert. Seine eigentliche Heimat sah er freilich in Deutschland, Orientierungspunkt war Erinnerungen an Alfred Kerr 179 und blieb selbst im Exil für ihn die deutsche Kultur, Literatur und Musik. In Jerusalem war ihm aber auch klar geworden, dass er »lieber in Deutschland bestattet« sein wollte als im Tale Josaphat. »Ich hab’auch in Jeruschalajim gewusst, dass ich ein Deutscher bin.« Damals konnte er noch nicht wissen, dass sein Heimatland ihn dreißig Jahre später aufgrund seiner Herkunft zur Flucht zwingen würde. Selbst in seinen Theaterrezensionen ging Kerr in den zwanziger Jahren stark auf jüdische Themen ein, wie etwa anlässlich der Aufführung der »Sendung Semaels« von Arnold Zweig. Bei der Erziehung seiner Kinder hat Kerr gar nicht erst versucht, ihnen etwas von der Religion der Juden zu vermitteln. Seine Tochter berichtet in ihrem Vortrag »Eine eingeweckte Kindheit«, dass ihr Vater in der jüdischen Religion aufgewachsen sei, sich aber als junger Mann entschieden habe, nicht mehr an Gott zu glauben. Seine beiden Kinder habe er daher ohne Religion erzogen. Dagegen wurde im Hause Kerr ein sehr deut- sches Weihnachtsfest gefeiert. Offensichtlich verband Kerr das Weihnachtsfest nicht mit dem Christentum, sondern mit den Bräuchen des Landes, das er als seine Heimat emp- fand. Dann allerdings sah er sich 1933 vor das Problem gestellt, seinen noch recht jungen Kindern (Michael war fast zwölf, Judith fast zehn Jahre alt), erklären zu müssen, warum sie das Land verlassen mussten, das sie bisher als ihre Heimat empfunden hatten. Nach Aussage seiner Tochter war im Hause Kerr vor 1933 kaum über die jüdische Herkunft ge- sprochen worden. Auch von dem aufkommenden Nationalsozialismus hatten Sohn und Tochter wenig erfahren. Aber 1933 musste Kerr einen Weg finden, die Kinder vor einer Verbitterung über die Flucht zu bewahren. Er wählte den Weg des Stolzes auf die Her- kunft. Die Kinder sollten nie vergessen, dass sie Juden seien, erklärte ihnen ihr Vater, denn es sei wunderbar, ein Jude zu sein. Bis zu einem gewissen Grad gelang es ihm auch, die Notwendigkeit der Flucht und des Exils verständlich zu machen. Nur so ist sicher der be- geisterte Ausruf der Tochter in Paris zu erklären: »Papi es ist herrlich, ein Flüchtling zu sein.« Er selbst dichtete: »Die Juden haben unbestritten Nicht weil sie politisch verschworen sind – Von allen Verfolgten das Schlimmste gelitten: Nur weil sie halt geboren sind.« Stolz auf die von Juden für Deutschland erbrachten Leistungen klingt auch in folgenden Zeilen an: »Das gute Gewissen ist unbedingt, Nicht nur, was ihr von ihm empfingt, Der Trost, den ihr im Leben habt, Auch was ihr ihm gegeben habt.« Ihr wisst, wenn Deutschlands Lob erklingt, Jahre später im Exil bemühte sich Kerr mehr als je zuvor, jüdische Themen aufzugreifen, so auch in seiner bis heute unveröffentlichten Schrift »Ein Jude spricht zu Juden«. Hier heißt es im Epilog: »Vier Feststellungen: Es gäbe keine Blutproben ohne Wassermann. Es gäbe keine hertzschen Welten ohne Hertz. Es gäbe kein Salvarsan ohne Ehrlich. Es gäbe keine Relativi- tätslehre ohne Einstein. Es wär’ immerhin schade . . . für die Neuzeit. Nieder mit den Juden.« Sarkasmus und Ironie prägen die ganze Schrift, aber auch das Motiv des Stolzes, das immer wieder betont wird, und er wünscht sich: »Ja, wenn ich noch einmal auf die Welt käme, ich möchte noch einmal ein Sohn dieser merkwürdigen, durchaus vereinzelten, welt- förderlichen und verkannten Minderheit sein. Des Volkes Israel.« Und an anderer Stelle liest man: »International sollen die Juden nicht sein, national sollen sie nicht sein . . . was sollen sie sein?« »Unsere Zukunft liegt im dunkeln, wüste Worte hört man munkeln«, mit diesem Kalauer hatte Alfred Kerr seinerzeit das 20. Jahrhundert begrüßt, ohne zu ahnen, wie dunkel dieses 180 Ursula Homann

Jahrhundert gerade für ihn und alle anderen Juden werden sollte. Lange vor 1933 warnte er – auch in regelmäßigen Rundfunkkommentaren – als kühner Analytiker vor dem hereinbre- chenden Nationalsozialismus: »Was Hitler, der Mann des gebrochenen Ehrenworts, auch dreist lügen mag – die Herrschaft der NSDAP bedeutet: Krieg! Letztes Elend! Deutschlands Zerfall!« 1929 unterzeichnete er, neben Tucholsky und Heinrich Mann, Henri Barbusses Aufruf zur Gründung einer europäischen Liga gegen den Faschismus. 1931 reimte er die auch in seinem Buch »Diktatur des Hausknechts« abgedruckten Zei- len: »Wer hat die schönsten Schäfchen? Wer sieht ein täglich Morden Und klassische Musik? und findet keinen Rat? Wer schläft das tiefste Schläfchen? Wer duldet Landsknechtshorden Eine gewisse, eine gewisse, eine gewisse Republik. Als rüden Staat im Staat?« Antwort nach weiteren Versen: »Eine gewisse, eine gewisse, eine gewisse Republik.« »Der Völkische Beobachter« zählte Alfred Kerr zu denen, die nach einer Machtübernah- me als erste an die Wand gestellt werden sollten. Am 23. Januar 1933 erschien seine letzte Rezension über Faust II, drei Wochen später, am 15. 2. 1933, musste er überstürzt mit seiner Frau und seinen beiden Kindern die Flucht antreten, über Prag, die Schweiz und Paris nach London, während in Deutschland bald darauf seine Bücher mit vielen anderen verbrannt wurden. In London erfährt er die ganze Wucht des Exils, untergekommen ist er mit seiner Familie im Dachzimmer einer kleinen Pension für Flüchtlinge, ohne die Sprache wirklich zu be- herrschen, die ihn umgibt. Er beobachtet und glossiert den englischen Alltag. Er schreibt ei- nige Beiträge für die BBC, für die deutschsprachige Emigrantenzeitung »Pariser Tageblatt«, den »Freien Deutschen Kulturbund« und engagiert sich in Emigrantenvereinigungen. Durchweg lebte Kerr während der Emigration mit seiner Familie (»meine drei Menschen und ich«) in großer Armut. Seine Werke konnte er nur in kleiner Auflage veröffentlichen. Gleichwohl hat er sein Schicksal schreibend zu ironisieren versucht. Nie hätte er so auf- regende Erfahrungen machen können, meinte er, nie hätten seine Kinder so toll Sprachen lernen und in Cambridge studieren können: »Wem Mob will rechte Gunst erweisen, den schickt er in die weite Welt.« Aus Deutschland aber hätten Diebe ein »Land der unbegrenz- ten Schäbigkeit« gemacht. Im Londoner Exil entstand sein einziger, erst 2004 veröffent- lichter Erzähltext »Der Dichter und die Meerschweinchen – Clemens Tecks letztes Experi- ment«, mit dem er seine Einsamkeit im Exil zu überwinden suchte. Nach dem Zusammenbruch des Nazi-Reiches äußerte Alfred Kerr sofort den Wunsch, nach Deutschland zurückzukehren, damit seine Sprachkraft nicht verloren ginge. Im Herbst 1948 hat er Deutschland dann auch zum ersten und zum letzten Mal besucht. Er berichtete noch darüber: »Bin heut, seit vierzehn Jahren zuerst wieder in dem Land meiner Liebe, mei- ner Qual, meiner Jugend. Und meiner Sprache. Aber wie kommt man sich vor nach all dem Vergangenen? Nicht wie ein nachtragender Feind wahrhaftig nicht. Sondern wie ein er- schütterter Gefährte. Erschüttert aber misstrauisch (…), zuletzt behält der romantische Be- griff Deutschland die Oberhand. Es ist ja doch nicht auszurotten, was man so lange belacht und geliebt hat. Und eines steht fest: über dem Ganzen dämmert die innigste Hoffnung für ein heute unglückliches Land.« Und dann folgt noch eine Anrede an die Überlebenden: »Ihr müsst zuerst aus dem Hunger heraus. Doch wie wär’ es denn: wenn diese zumal durch deut- sche Schuld heruntergekommene Welt justament durch Deutsche wieder hochgebracht würde?« Als er dann zum ersten Mal, diesmal in , wieder in einem deutschen Thea- ter war – gespielt wurde »Romeo und Julia« – traf ihn der Schlag. Einige Wochen lag er halb- Erinnerungen an Alfred Kerr 181 seitig gelähmt in einem Hamburger Krankenhaus. Willy Haas erzählt in seinen Lebenserin- nerungen die bewegende Begebenheit, wie er Kerr in seinem Hotelzimmer aufsuchte und ihn infolge seines Schwächeanfalls auf dem Fußboden fand. »Wie weit es vom Bett zur Tür sein kann«, flüsterte Kerr ihm trübe lächelnd zu. Seinen alten Freund Gerhart Hauptmann, der sich gleich 1933 den Nazis angeschlossen hatte, hatte Kerr schon Jahre zuvor alttestamentarisch- shakespearisch verflucht: »Die Disteln auf seinem Grab sollen verdorben.« Als er nun sterbend im Fuhlsbütteler Krankenhaus lag, kam Ivo Hauptmann, der älteste Sohn von Gerhart, zu Willy Haas und fragte, ob er Kerr wohl besuchen könne, um den irdischen Zwist beizulegen. Aber Kerr lachte nur höhnisch, als Haas ihm die Bitte vortrug. Er dachte nicht daran, sich zu ver- söhnen, auch nicht symbolisch. Da es keine Aussicht auf Besserung seines Zustandes gab, bat Kerr seine Frau um die Er- füllung des ehelichen Versprechens, ihm sterben zu helfen, wenn die Lebenskraft beschädigt sei. Das geschah beim letzten Besuch seiner Frau, und so starb Alfred Kerr, erlöst durch einen Schlaftrunk, am 12. Oktober 1948. Wenige Tage darauf wurde er in Hamburg-Ohls- dorf begraben. Eigentlich hatte er sich für seine letzte Ruhestätte Berlin ausgesucht und die- sen Auftrag bereits 1926 in folgende Verse gekleidet: »Testament eines Berliners Unweit von der Pfaueninsel Mit Musik, doch ohne Pfaffen, Hart am holden Havelstrome. Gleichfalls ohne vieles Flennen, Sonntags, wenn sich heiß umschlingen Sollt Ihr mich zum Friedhof schaffen Fritze, Kläre, Max, Adele, Und mich braun zu Asche brennen. Und die kleinen Mädchen singen, – Dann begrabt mich armen Pinsel, Freut sich meine arme Seele.« Kleingestäubt in Ur-Atome, Seine Kritiken sind, was Seltenheitswert hat, auch gegenwärtig noch höchst amüsant zu lesen, allein aufgrund ihrer sprachlichen Qualität. Kerrs unnachahmlicher Stil, seine fun- kensprühende Sprache, das Feuerwerk seiner Aperçus und Gedankenblitze wirken noch immer lebendig und frisch und zeugen von Leichtigkeit und purer Sprachlust. Die Ironie, mit der Kerr die Dinge betrachtet hat, macht seine Kritiken, aber auch seine Briefe heute noch zu einer fesselnden Lektüre. Kurzum, von Alfred Kerr kann man eine Menge lernen – bei- spielsweise, dass literarische Qualität nicht veraltet, auch wenn die Texte »nur« als Zei- tungsartikel in die Welt gesetzt wurden.