Mit Geschaffnem Grüßt Man Sachte, Was Nur Das Erleben Brachte“: Verfolgung, Flucht Und Exil Im Spiegel Der Autobiographischen Schriften Der Familie Alfred Kerrs
Total Page:16
File Type:pdf, Size:1020Kb
„Mit Geschaffnem grüßt man sachte, was nur das Erleben brachte“: Verfolgung, Flucht und Exil im Spiegel der autobiographischen Schriften der Familie Alfred Kerrs Dissertation zur Erlangung der Würde der Doktorin der Fachbereiche Sprache, Literatur, Medien & Europäische Sprachen und Literaturen der Universität Hamburg vorgelegt von Nicola Otten aus Hamburg Hamburg, 2009 Hauptgutachter: Prof. Dr. Hans-Harald Müller Zweitgutachter: Prof. Dr. Jörg Schönert Datum der Disputation: 24. Oktober 2007 Angenommen von der Fakultät für Geisteswissenschaften der Universität Hamburg am: 25. Juni 2007 Veröffentlicht mit Genehmigung der Fakultät für Geisteswissenschaften der Universität Hamburg am: 14. August 2009 „MIT GESCHAFFNEM GRÜSST MAN SACHTE, WAS NUR DAS ERLEBEN BRACHTE“ Mein Dank für die Unterstützung bei der Erstellung meiner Doktorarbeit geht an meine unermüdlichen Korrektoren Horst Bruhn, Lothar Grüning und Shelina Islam sowie an meine Familie und Freunde, die mich in den Jahren immer wieder durch Gespräche bestärkt haben. Weiter danke ich der Akademie der Künste, Berlin, und dem Imperial War Museum, London, für den freien Zugang zu den Archivalien. Ein besonderer Dank geht an Judith und Michael Kerr für die Interviews, die ich mit ihnen führen durfte. „MIT GESCHAFFNEM GRÜSST MAN SACHTE, WAS NUR DAS ERLEBEN BRACHTE“ Für meine Eltern Welcher Wahn dem Erdengast Auch entdämmert und erblasst – Eines fühlt man in dem Treiben: Eltern … bleiben. Stiller Pol im Lebensbraus. Leuchten. Übers Grab hinaus. Minne fällt und Freundschaft fällt, Wenn die Seelen unsrer Welt Sich in Trug und Kampf zerreiben: Eltern … bleiben. Welcher Wahn dem Erdengast Auch entdämmert und erblasst: Eines starken Engels Hand Soll es überm Totenland In die ewigen Sterne schreiben: Eltern … bleiben. (Alfred Kerr) INHALTSVERZEICHNIS Inhaltsverzeichnis: Seite 1 Einleitung 1 2 Alfred Kerr 22 2.1 Ich kam nach England 22 2.1.1 „Chronist einer furchtbaren Zeit“ – Struktur von Ich kam nach England 23 2.1.2 „The importance of being unearnest“ – Kerrs England-Kaleidoskop 37 2.1.3 „Gespräche, Selbstgespräche“ – Private und öffentliche Begegnung mit Bernard Shaw und H. G. Wells 45 2.1.4 „Leben im Interim“ – Kerrs Darstellung der Exilexistenz 50 2.1.5 „Liebe scheint mir kein Verdienst“ – Kerrs Blick auf Deutschland 57 2.2 Der Dichter und die Meerschweinchen 67 2.2.1 „Ist das mein Monument im Totenreich?“ – Literarische Gestaltung von Der Dichter und die Meerschweinchen 69 2.2.2 „Kein Meerschweinchen erlag mir“ – Tecks Experiment 79 2.2.3 „Dieses Buch enthält nicht meine Geschichte“ – Die Novelle in der Tradition der romantischen Ironie 88 2.2.4 „Kämpfer sein und Melodie“ – Kerrs ästhetischer und ethischer Anspruch 98 2.2.5 Der Dichter und die Meerschweinchen – „Ein Klassikerr“? 113 3 Judith Kerr 117 3.1 „Über Hitler wollte ich nicht schreiben“ – Einleitende Gedanken zu Judith Kerrs Trilogie 117 3.2 Als Hitler das rosa Kaninchen stahl – Aufbruch ins Exil 127 3.2.1 „Es kam ihr schön und abenteuerlich vor, ein Flüchtling zu sein“ – Das Exil als Flucht oder Abenteuer? 127 3.2.2 „Manchmal komme ich mir vor wie der ewige Jude“ – Erfahrung der Stigmatisierung 136 3.2.3 „Der tief summende Pleitegeier“ – Deklassierung im Exil 141 3.2.4 „Je mehr ich von den Menschen sehe, desto mehr liebe ich die Tiere“ – Darstellung der politischen Ereignisse in Deutschland 148 INHALTSVERZEICHNIS 3.3 Warten bis der Frieden kommt – Initiation 155 3.3.1 „Wir werden zu vielen Orten ein wenig gehören“ – Erfahrungen der Fremde 155 3.3.2 „Der Untergang der zivilisierten Welt“ – Alltag im „London Blitz“ 168 3.4 Eine Art Familientreffen – Rückkehr 177 3.4.1 „Verlust von Vertrauen vielleicht?“ – Leben nach dem Exil 177 3.4.2 „Eine eingeweckte Kindheit“ – Sprachverlust und Spracherwerb 194 3.4.3 „Die Vorhölle Exil“ – Auswirkung auf die Familienstruktur 201 3.5 Eine Erfolgsgeschichte des Exils? – Abschließende Gedanken 212 4 Michael Kerr 217 4.1 As far as I remember – Memoiren oder Autobiographie? 217 4.2 „Guilt and imagination“ – Selbstbegegnung oder Selbstdarstellung? 219 4.3 „A chronicle of events“ – Erzählerische Gestaltung der Erinnerung 224 4.4 „Foreigners were regarded like Martians“ – Privates und öffentliches Erinnern der Internierung 230 4.5 „On retourne toujours…“ – Wege der Gedächtnisarbeit 242 5 Gemeinsamer Gehalt, gemeinsame Konzeption? – Familiäres und kulturelles Gedächtnis in Judith und Michael Kerrs Erinnerungsarbeiten 249 6 Schlusswort 255 7 Literaturverzeichnis 262 EINLEITUNG 1 Einleitung Schaffen ist das Zweite – neben dem Erleben. Mit Geschaffnem grüßt man sachte, was nur das Erleben brachte.1 Diese persönliche Widmung hat Alfred Kerr 1914 in die Erstausgabe seiner gesam- melten Kritiken in Die Welt im Drama geschrieben. Die vorliegende Arbeit möchte Kerrs Gruß und seinem Erleben nachspüren und in Alfred, Judith und Michael Kerrs Werken über die Jahre des Exils das Verhältnis von Literatur und Leben beleuchten. Alfred Kerr (1867– 1948), bedeutendster Berliner Theaterkritiker der Weimarer Republik, flieht 1933 aus Deutschland. Auch wenn das deutsche Feuilleton heute begeistert das Berlin der Jahrhun- dertwende durch Kerrs Augen wiederentdeckt, scheint es, als seien seine literarischen Arbei- ten aus der Zeit des Exils weiter in der Emigration.2 Noch immer gibt es keine Kerr- Biographie und erst seit Anfang der 1990er-Jahre erscheint eine von Günther Rühle und Her- mann Haarmann besorgte Werkausgabe in unterschiedlichen Verlagen. Fünfzehn Jahre ver- bringt Kerr als Flüchtling in der Schweiz, in Frankreich und in England und hält in seinen Beobachtungen, die er in unterschiedliche literarische Formen kleidet, auf die ihm eigene pointierte Weise Begebenheiten fest, die auch heute noch faszinierend sind und dem Leser das Exil und Zeitgeschichte näher bringen. Im Zentrum meiner Arbeit steht die Emigration der Familie Kerr: Verfolgung, Flucht und Exil im Spiegel der autobiographischen Texte. Das Exil bedeutet eine Zäsur im Leben der Familie wie im Werk Alfred Kerrs, die durch den Doppelcharakter der autobiographisch reflektierten Zäsur des Jahres 1933 als historischer und biographischer Bruch begründet ist. Gerade weil dieser Lebensabschnitt der Familie Alfred Kerrs noch kaum Beachtung in der Forschung gefunden hat, ist ein Ziel der Dissertation, mithilfe der Dokumente aus dem Al- fred-Kerr-Archiv der Akademie der Künste in Berlin den autobiographischen Gehalt der lite- rarischen Texte zu beleuchten. Im Alfred-Kerr-Archiv finden sich unbekannte Dokumente aus dieser Zeit. Diese Zeugnisse deutscher Vergangenheit, die individuell wie exemplarisch das Schicksal einer jü- dischen Emigrantenfamilie nachzeichnen und dem Vergessen einer so bedeutenden Person der deutschen Kultur entgegenzuwirken vermögen, wurden bisher kaum gewürdigt. Aus der 1 So die handschriftliche Widmung von Alfred Kerr an Lila Bach aus dem April 1914, in Alfred Kerr: Die Welt im Drama. Das Neue Drama. Band I, Berlin 1917, aus meinem eigenen Besitz. 2 Alfred Kerrs Briefe aus der Reichshauptstadt erscheinen bereits in der 6. Auflage und dazu als CD, Hörkasset- te, in einem Bildband sowie einer gekürzten Fassung in unterschiedlichen Verlagen. Auch gibt es eine Fortset- zung zum ersten Band. 1 EINLEITUNG Zeit des Exils sind hier Manuskripte für Romane und Drehbücher, Rundfunkvorträge für die BBC, Reden für den deutschen PEN-Club in London, Gedichte, Flugblätter, Artikel für ver- schiedene Emigrationszeitschriften, biographische Unterlagen wie zum Beispiel die Emigrati- onspapiere, Ausweise, Privatfotos, Wiedergutmachungsunterlagen und Kerrs Korrespondenz aus den Exiljahren, die mehrere hundert Briefe und Gegenbriefe umfasst, gesammelt.3 Die Briefwechsel mit bedeutenden Persönlichkeiten wie Albert Einstein, Bernard Shaw oder Kurt Hiller sind wiederholt in Aufsätzen erwähnt worden. Unbeachtet geblieben ist jener Bestand des Archivs, der das alltägliche Leben und die innerfamiliäre Situation betrifft. In den vielen Akten sind nämlich auch die Briefe zu finden, die die Familie im Exil und in den Jahren da- nach ausgetauscht hat: Judith und Michael Kerrs Briefe, als sie in der Schweiz allein zurück- bleiben müssen, während die Eltern eine Existenzmöglichkeit in Paris suchen, die verzweifel- ten Hilfeschreie Julia Kerrs aus Frankreich an ihren Mann in England, als sie Suizid als die einzig mögliche Antwort auf das Exil sieht, die Korrespondenz der Familie während Michael Kerrs Internierung in England, die verstörten Zeilen Judith Kerrs nach 1945 an ihre Mutter, die mit den Alliierten als Siegerin nach Deutschland zurückkehrt, ohne jemals wirklich anzu- kommen. Walter Benjamin hat einst geäußert, dass es „das Eigentümliche der brieflichen Äuße- rung [sei], auf Sachliches nie anders als in der engsten Bindung an Persönliches hinzuwei- sen.“4 In diesem Persönlichen erscheint Realgeschichte, wie anhand der Familie Kerr gezeigt werden wird. Die Briefe sind Dokumente der Zeitgeschichte, jedoch vor allem deshalb von wissenschaftlichem Interesse, da sie eine Fokussierung nach innen, auf das erlebende Subjekt zeigen, das Geschichte nicht nur beobachtet, sondern mitempfindet. In den Briefen verschrän- ken sich die öffentliche und die private Ebene, sie geben sowohl Auskunft über die Ereignisse wie über ihren Verfasser. Die Briefe sind psychologisch wie zeitgeschichtlich von großem Interesse, weil das Geschehen zeitnah und mit der aktuellen Relevanz in Erscheinung tritt. In der Welt scheint sich alles zu verändern – die Korrespondenz sichert jedoch eine gewisse Konstanz, mit deren Hilfe die innere Welt gewahrt und stabilisiert werden kann. Die Authen-