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August Kratt (vorne Bildmitte) war von Oktober 1942 bis Kriegsende kommissarischer Bürgermeister von Radolfzell.

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9. Markus Wolter Die SS-Garnison Radolfzell 1937–1945 „Täter, Opfer, Zuschauer“ – Raul Hilberg

„Zu Hitlers Verfügung“ – Die SS-Verfügungs- (SS) operierenden, in „Politischen truppe in Radolfzell 1937–1939 Bereitschaften“ zusammengefassten und ka- sernierten Einheiten wurden aus der SA ausge- Der von der Bevölkerung bejubelte, in einer gliedert und zu einer eigenständigen Partei- offiziellen Festveranstaltung an zwei Abenden organisation unter Führung von Reichsführer- gefeierte Einzug des dritten Bataillons der SS- SS (1900–1945) formiert. Die Standarte „Germania“ am 31. Juli 1937 bedeutet anfänglich drei, nach der Annexion Österreichs für die neuere Stadtgeschichte von Radolfzell 1938 vier SS-VT-Standarten verteilten sich mit eine tiefgreifende Zäsur. Als Bataillonsstandort ihren Regimentsstäben und Bataillonen schließ- der SS-Verfügungstruppe (VT) wurde die Klein- lich auf neun SS-Kasernen im Deutschen Reich: stadt am Bodensee zu einer von damals acht Berlin („Leibstandarte SS Adolf Hitler“), Mün- SS-Garnisonen im Deutschen Reich. Vor dem chen und Ellwangen (SS-Standarte 1 „Deutsch- Hintergrund der Entstehungsgeschichte und land“), Hamburg, Arolsen und Wolterdingen Struktur der SS-VT und der aus ihr hervorgehen- (1935)/Radolfzell (1937) (SS-Standarte 2 „Ger- den Waffen-SS war Radolfzell damit kein unbe- mania“); Wien, Graz und Klagenfurt (1938) (SS- deutender, in der „Topographie des Terrors“ die- Standarte „Der Führer“). 2 Ausgebildet nach ser Parteiorganisation sogar prominent zu nen- Heeresdienstvorschriften und für den Fall des nender Standort; mit weitreichenden, hier zu geplanten Krieges der Wehrmacht „zur Ver- behandelnden Folgen. 1 fügung“ gestellt, blieb die SS-VT – wie auch später die Waffen-SS – politisch stets Teil der Hervorgegangen aus einer kleinen NSDAP- NSDAP. Zur Abgrenzung der Aufgabenbereiche Schutzgarde aus Stabswachen „zur persönli- gegenüber Wehrmacht und Polizei formulierte chen Verfügung“ Adolf Hitlers, wurde die SS- Hitler am 17. August 1938 in einem Geheimer- VT erstmals am 24. September 1934 erwähnt. lass an die Wehrmachtsführung: Hitler teilte der Wehrmacht an diesem Tag die Aufstellung einer ständig bewaffneten SS-Ein- „Die SS-Verfügungstruppe ist weder ein Teil heit namens „SS-Verfügungstruppe“ aus drei der Wehrmacht noch der Polizei. Sie ist eine „Standarten“ (Regimentern), einer Nachrich- stehende bewaffnete Truppe zu meiner aus- tenabteilung und einem Pionierbataillon mit. schließlichen Verfügung. Als solche und als Noch im Januar 1934 hatte Hitler versichert, Gliederung der NSDAP ist sie weltanschaulich dass die Wehrmacht „der einzige Waffenträger und politisch nach den von mir für die NSDAP des Reiches“ bleiben werde, was sich durch und die Schutzstaffel gegebenen Richtlinien die Entmachtung der SA und Liquidierung durch den Reichsführer-SS auszuwählen. Im ihrer Führung nach dem 30. Juni 1934 (Röhm- Kriegsfalle soll sie im Rahmen des Heeres ein- Putsch) zu bestätigen schien. Die in paramilitä- gesetzt werden oder im Bedarfsfalle im Inne- rischen Sonderkommandos der Allgemeinen ren nach meinen Weisungen.“ 3

1 Vgl. Wolter, Markus: Radolfzell im Nationalsozialismus. Die Heinrich-Koeppen-Kaserne als Standort der Waffen-SS. In: Schrr VG Bodensee 129, 2011, S. 247–286. Für die nachfolgende Arbeit wurde der Aufsatz vollständig überarbeitet und erweitert. 2 Vgl. Hilgemann, Werner: Atlas zur deutschen Zeitgeschichte 1918 –1968. München, Zürich 1986, S. 191. 3 Zit. nach: Höhne, Heinz: Der Orden unter dem Totenkopf. Die Geschichte der SS. Gütersloh 1967, S. 415. 269 Chronik_Radolfzell_Korr.qxd 01.09.2017 11:32 Uhr Seite 270

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Radolfzell und das Kasernenareal. Zeitgenössische Ansichtskarte, um 1955.

Zur Ausbildung ihres Führungspersonals wa- I. Bataillon lagen in der SS-Kaserne Hamburg- ren 1936/37 in Bad Tölz und Braunschweig für Vedell (1938 Hamburg-Langenhorn), das die SS-Offiziere „Führerschulen“ („Junker- II. Bataillon in der SS-Kaserne Arolsen. Das schulen“) eingerichtet worden. Die bewaffnete III. Bataillon, 1935 im SS-Lager Wolterdingen SS, zu der auch die SS-Totenkopfstandarten bei Soltau aufgestellt, wurde nach längeren und Wachmannschaften der Konzentrationsla- Planungsvorläufen am 29. Juli 1937 von ger gehörten, verstand sich als Parteigarde zur SS-Obergruppenführer Friedrich Jeckeln ver- „inneren Sicherung“ und „Feindbekämpfung“ abschiedet und an die südwestliche Periphe- des NS-Regimes, weshalb neben ihrer militä- rie nach Radolfzell verlegt. 4 Als das III./SS-VT rischen Ausbildung die „weltanschaulich“-po- „Germania“ – 27 Führer, 175 Unterführer, 586 litische Schulung von Anfang an gefordert und Mannschaften und 89 Pferde – unter SS-Sturm- systematisch betrieben wurde. bannführer Heinrich Koeppen 5 am 31. Juli 1937 in den am Stadtrand gelegenen Kasernen-Neu- Die Bataillone (Sturmbanne) der SS-VT „Ger- bau einzog, veränderte sich mit den rund 800 in mania“ waren im Vergleich zu den anderen SS- Radolfzell gemeldeten Neubürgern nicht nur VT-Regimentern in geografisch weitentfernten die Einwohnerzahl der bis dahin etwa 8000 Ein- Garnisonen stationiert: Regimentsstab und wohner zählenden Kleinstadt.

4 BArch-MA Freiburg, N 756/330b. Zu Jeckeln vgl.: Breitman, Richard: Friedrich Jeckeln – Spezialist für die „Endlösung“ im Osten. In: Smelser, Roland (Hg.): Die SS. Elite unter dem Totenkopf. 30 Lebensläufe. Paderborn 2000, S. 267–275. 5 Heinrich Koeppen (1890–1939), SS-Obersturmbannführer (1938), NSDAP Partei-Nr. 2945573, SS Nr. 124402. Bataillonskommandeur (28.11.1936). Vgl. 270 Klöckler, Jürgen: SS-Obersturmbannführer Heinrich Koeppen. In: Schrr VG Bodensee 129, 2011, S. 287–290. Chronik_Radolfzell_Korr.qxd 01.09.2017 11:32 Uhr Seite 271

In der Konsequenz war die Stadt faktisch ein- vielleicht auch deshalb, weil man von grundle- gebunden in das System des SS-Staates, für genden Mentalitätsunterschieden ausging. Mit dessen Planungen und Verbrechen auch vor einem „Schulungsabend“ im SS-Lager Wolter- Ort die organisatorischen Voraussetzungen dingen zum Thema „Der Bodensee“ zeigte geschaffen wurden. Für die in Berlin angesie- sich die SS-VT im Februar 1937 bemüht, Wis- delten SS-Hauptämter erwies sich die SS- senslücken bereits im Vorfeld zu schließen und Garnison am Bodensee in den folgenden acht bat das Bürgermeisteramt um Zusendung von Jahren als verlässliche Planungsgröße. Statio- geeignetem „Werbematerial“, das, prompt ge- niert waren bis wenige Wochen vor Kriegsbe- liefert, „naturgemäß große Begeisterung“ in ginn 1939 das III./SS-VT „Germania“, bis No- Wolterdingen auslöste, woraufhin das einge- vember 1939 übergangsweise zwei Kompanien schaltete Verkehrsamt in Radolfzell durch die der SS-VT-Flugabwehr-MG-Abteilung und zwi- Presse verlauten ließ, die ganze Stadt freue schen Dezember 1939 und Dezember 1940 das sich nun auf das „bevorstehende Ereignis“ und SS-Totenkopf-Infanterie-Ersatz-Bataillon I. Mit werde der SS-Standarte einen „würdigen Emp- Wirkung vom 15. Februar 1941 wurde nach des- fang“ bereiten.6 Über das fünf Monate später sen Verlegung die Waffen-SS-Unterführer- dann wie geplant eintretende „Ereignis“ be- schule Radolfzell eingerichtet. Für ihre Belange richtete die „Deutsche Bodenseezeitung“ ent- befand sich zwischen Mai 1941 und Januar sprechend euphorisch: 1945 ein Außenkommando des Konzentrations- lagers Dachau auf dem Kasernenareal. „In dem Eifer, mit dem die Vorbereitungen für den Empfang der Truppe getroffen wurden, spiegelte sich die Freude über die Tatsache, „Innige Bande“ und Verbrechen – daß Radolfzell nun Garnisonsstadt geworden Die SS-VT „Germania“ und Radolfzell ist. (...). Die Stadt hatte in den Straßen, durch die die Truppe zog, Triumphbogen errichten Der Verlegung des III. SS-VT-„Germania“- lassen. Von riesigen Fahnenmasten, aus allen Bataillons von der Lüneburger Heide ins rund Häusern wehten die Fahnen des Reiches. 600 km entfernte Radolfzell gingen intensive Schon am Vormittag trafen ganze Kolonnen Planungen und Vorbereitungen beider Seiten der Hitlerjugend hier ein, die singend durch voraus. SS und Stadtverwaltung zeigten sich die Straßen zogen.“ 7 schon Monate zuvor interessiert, das gegen- seitige Kennenlernen durch informelle Vortrags- Das Empfangskomitee, das sich zur Begrüßung abende einzuleiten. Die anfangs bei jeder auf dem von einer „riesigen Menschenmenge“ Gelegenheit thematisierte sprachliche Diffe- gefüllten „Hindenburgplatz“ und am Rathaus renz zwischen der „Schriftdeutsch“ sprechen- einfand, versammelte die lokale und regionale den Truppe und den von ihrem Dialekt gepräg- Prominenz der Kommunalverwaltung, NSDAP, ten Bewohnern am neuen „Heimatstandort“ SA, SS und Wehrmacht: schien für die Beteiligten ein Problem zu sein,

6 Vgl. „Ein Briefwechsel, der die Radolfzeller interessieren wird!“ In: DBZ, Nr. 45, 23.2.1937; zit. nach StAR IX.339. 7 Vgl.: „Radolfzell die neue Garnison. Ein Tag von geschichtlicher Bedeutung“. In: DBZ, Nr. 177, vom 2.8.1937. 271 Chronik_Radolfzell_Korr.qxd 01.09.2017 11:32 Uhr Seite 272

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Empfang am Rathaus. Erste Reihe v.l.: Bürgermeister Josef Jöhle (in Parteiuniform Das III./SS-VT „Germania“-Bataillon auf dem „Hindenburgplatz“ und mit Amtskette), Landeskommissär Gustav Wöhrle, SS-Oberführer Walter Stein, (Marktplatz) von Radolfzell, 31.7.1937. SS-Sturmbannführer Heinrich Kreisleiter und Landrat Carl Engelhardt, Generalmajor Egon von Groeneveld u. a. Koeppen (rechts vorn mit Helm) wird von Generalmajor Egon von Fotografie vom 31.7.1937. Groeneveld (1876–1945) salutiert.

„Vor dem Rathaus hatten sich die Spitzen der erwiderte die Grüße ebenso herzlich. Er gab Partei und der Behörden und zahlreiche gela- dem Wunsche Ausdruck, dass es gelingen mö- dene Gäste versammelt, an der Spitze SS- ge, bald innige Bande des gegenseitigen Ver- Oberführer Stein 8 aus Konstanz mit seinem Stab stehens zwischen Truppe und Bevölkerung zu und zahlreichen SS-Führern, die Führer der SA, knüpfen. Mit einem dreifachen Siegheil auf den die Vertreter der Partei, Kreisleiter und Landrat Führer und mit den Liedern der Nation fand die Engelhardt, 9 Landeskommissär Wöhrle,10 der schlichte Begrüßungsfeier ihr Ende.“ 13 Wehrbezirkskommandeur, Generalmajor von Groeneveld 11 (...), die Vertreter der Stadt Radolf- Die Begrüßungsansprache von Bürgermeister zell, Ortsgruppenleiter Renz und Bürgermeister Josef Jöhle kulminierte in einem laut über den Jöhle 12 mit den Ratsherren, die Führer der hiesi- Platz gerufenen Treuegelöbnis zu Adolf Hit- gen Formationen und Verbände, die Leiter der ler. 14 Im Anschluss zog die Truppe über die staatlichen und städtischen Behörden usw. (…). Adolf-Hitler-Straße (Schützenstraße) durch Dann bestieg Bürgermeister Jöhle (…) das die Ratoldusstraße zur neuen Kaserne, die Rednerpult, um den Gästen einen herzlichen nach weiteren Ansprachen und dem Hissen Willkommensgruß zu entbieten. Der Komman- der Hoheits- und SS-Fahnen am Stabsgebäude dant der Truppe, Sturmbannführer Koeppen, bezogen wurde.

8 Walter Stein (1896–1985), SS-Oberführer (1936), NSDAP Nr. 255956, SS Nr. 12780. Abschnittsführer der Allgemeinen SS, Abschnitt XXIX, Konstanz (15.3.1936–November 1939), später Polizeipräsident im besetzten Polen. Vgl. Klöckler, Jürgen: Selbstbehauptung durch Selbstgleichschaltung. Die Konstanzer Stadtverwaltung im Nationalsozialismus. Ostfildern 2012, S. 234 ff; Schmidt, Robert: NS-Täterforschung am Beispiel des SS-Oberführers Walter Stein. Bachelorarbeit. Universität Konstanz 2012. 9 Zu Carl Engelhardt (1901–1955) vgl. Ruck, Michael: Korpsgeist und Staatsbewusstsein. Beamte im deutschen Südwesten 1928 bis 1972. München 1996, S. 157 f.; vgl. ferner Klöckler a.a.O. 2012, S. 191 ff. 10 Zu Gustav Wöhrle (1875–1954), vgl. Ruck a.a.O. 1996, S. 202 f.; vgl. Klöckler a.a.O. 2012, S. 102 f. 11 Egon von Groeneveld (1876–1945), Generalmajor der Wehrmacht. Wehrbezirkskommandeur in Konstanz 1.10.1933–30.9.1937; 1941/42 als Feldkommandant reaktiviert, Führerreserve, SS-Brigadeführer (1944). 12 Josef Jöhle (1889–1942). 13 DBZ Nr. 177 vom 2.8.1937. 14 272 StAR IX.339. Chronik_Radolfzell_Korr.qxd 01.09.2017 11:32 Uhr Seite 273

Die SS-Kaserne um 1940, Einfahrt und Stabsgebäude. Übersichtsplan der SS-Kaserne nach der Fertigstellung.

Für die rund 600 Mannschaften und niederen zur Aufführung des Festspiels „Radolfzell Dienstgrade waren vier große Mannschaftsge- empfängt die SS“. Ein anspruchsloser Bühnen- bäude an den beiden Längsseiten des Exerzier- text – verfasst von Heimatdichterin Anna platzes vorgesehen, höhere Dienstgrade hatten Schreiber-Baer „nach einer Idee des Ratsherrn das Privileg, in der außerhalb der Kasernenmau- Max Wolf“ 18 – war Grundlage einer denkwürdi- er liegenden SS-Siedlung an der Hans-Ciranka- gen Selbstinszenierung, die offenbar geeig- Straße unterzukommen.15 Kommandeur Koep- net schien, die „Gäste aus Norddeutschland“ pen und sein Führungsstab zogen es vor, in der mit den „Eigenheiten“ der Stadt und ihrer Be- Innenstadt zu wohnen. Im Haus Teggingerstr. wohner vertraut zu machen. 19 Die Protagonis- 13/15 lebten auf je vier Etagen sieben SS-Ver- ten des ersten Bühnenbildes auf dem „Markt- waltungsführer in geräumigen Altbauwoh- platz von Radolfzell“ waren „bekannte Radolf- nungen, darunter Koeppens Adjutant, SS- zeller Typen“(!), nicht zufällig Namensvetter Obersturmführer Harry Wiedemann16 und der der Hausherren „Senes, Zeno und Theopont“, Musikkorps-Führer, SS-Obersturmführer Max namenlose Schiesser-Arbeiterinnen und All- Pausch.17 weiler-Arbeiter, die ihre „Freude über die An- kunft der SS“ zum Ausdruck brachten und sich Das offizielle Radolfzell hatte sich für den – „ängstlich wegen ihrer Mundart“ – bemüh- Abend etwas einfallen lassen: In unmittelbarer ten, „Schriftdeutsch“ zu sprechen, damit sie von Nachbarschaft der NSDAP-Ortsgruppenleitung „Gästen aus Norddeutschland“ auch verstan- („Haus der Partei“) kam es im „Scheffelhof“ den würden, neugierige „Trachtenmädchen“

15 Benannt nach dem Hamburger SS-Angehörigen und „alten Kämpfer“ Hans Cyranka (1919–1932); 1956 missverständlich in „Landserweg“ umbenannt. 16 Harry Wiedemann (1909 – 1945), SS-Obersturmbannführer (1945), NSDAP-Nr. 656545; SS-Nr. 48384. 1941–1944 Stabsoffizier (Ia) und Batl.Kdr., 1. SS-Brigade, Kommandostab RFSS. Vgl. Cüppers, Martin: Wegbereiter der Shoah. Die Waffen-SS, der Kommandostab Reichsführer SS und die Judenvernichtung 1939–1945. Darmstadt 2011, S. 189 ff. 17 Max Pausch (1894–1948), SS-Hauptsturmführer (1944), NSDAP-Nr. 1440350, SS-Nr. 54021. Führer des Musikkorps des III./SS-VT „Germania“ 1935–1939. SS-Musikmeister. Schutzhaftlagerführer des KZ-Außenlagers Gusen II (Mauthausen) 1944. Als Kriegsverbrecher in einem Dachau-Folgeprozess von einem amerikanischen Militärgericht zum Tod verurteilt und 1948 hingerichtet. 18 Max Wolf, Sohn von Karl Wolf sen. (1858–1932), Fabrikdirektor und Vorstand der Gotthard Allweiler Pumpenfabrik 1926–1946, NSDAP-Mitglied, zweiter Beigeordneter von Bürgermeister Josef Jöhle (1935). 19 Vgl. DBZ Nr. 177 vom 2.8.1937. 273 Chronik_Radolfzell_Korr.qxd 01.09.2017 11:32 Uhr Seite 274

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und nicht zuletzt ein „Ratsherr“, Allweiler- Fabrikdirektor Max Wolf, der sich selbst und den „Ansager“ spielen durfte und in Radolf- zells „Eigenheiten“ einweihte.20 Im zweiten Teil des Abends – nun vor der aufwändig ge- malten Bühnenkulisse des Stabsgebäudes der Kaserne – wurde das geschickt als Probe sei- ner selbst inszenierte „Festspiel“ dargebo- ten, wobei zur Belustigung aller die „einhei- mischen Künstler“ zu Wort kamen, die in „ur- wüchsiger Sprache“ auf bewährte Stereotype SS-Begräbnis mit Ehrenkompanie, Willy Kullinat, SS-Oberschar- der Alltags- und Regionalkultur zurückgriffen. führer (1903–1937), Friedhof Radolfzell, Dezember 1937. Hinter Mit zunehmender Identifikation und Vereinnah- dem Sarg u. a. Walter Stein (Mitte) und Heinrich Koeppen. mung sollte aus den anfänglichen „Gästen aus Norddeutschland“ bald schon „unsere Truppe“, ders die in schwarzer Paradeuniform auftre- „unsere schwarzen braven Jungs“ werden, die tende Ehrenkompanie des Bataillons ihre kal- man schließlich zu „Söhnen der Stadt“ er- kulierten und publikumswirksamen Einsätze. klärte.21 Die SS-Garnison empfing sie 1937 in gespielter Unbedarftheit und mit einer beklem- Auch bei der Einweihung des NS-Ehrenmals menden Mischung aus schenkelklopfendem 1938 auf dem Horst-Wessel-Platz (Luisen- Mundarttheater und Varieténummer, die in platz) zeigte sich die SS-Formation in vorder- Programm und Bühnenausstattung Anleihen ster Reihe. Das nach den Vorgaben der NS- bei vorangegangenen NS-„Fasnet-Revuen“ im Ästhetik in Auftrag gegebene, von Wilhelm „Scheffelhof“ erkennen lässt. 22 Kollmar (1872–1948) entworfene und von Bildhauer Paul Diesch (1884–1953) aus Die SS-VT ihrerseits verstand es in der Folge- Konstanz ausgeführte „Ehrenmal für die im zeit, sich durch ihre Präsenz im öffentlichen Weltkriege 1914–1918 gefallenen Helden“ wie privaten Leben der Stadt „beliebt“ zu ma- (Sockelinschrift) wurde am 22. Mai 1938 in chen und prägte deren gesellschaftliches Ge- einem „gewaltigen Aufmarsch der Formatio- füge in vielerlei Hinsicht. Am neuen „Heimat- nen“, NSDAP, SS, Wehrmacht und NS-Reichs- standort“ präsentierten sich die SS-Männer, kriegerbund, eingeweiht. 23 Die Weiherede hielt dem städtischen Jahreslauf und Festkalender der kurz davor zum SS-Obersturmbannführer folgend, etwa bei einer Sonnwendfeier 1937 beförderte Kasernenkommandant Heinrich auf dem Kreuzbühl, bei Traditionsfesten, diver- Koeppen, was die organisatorische Zustän- sen Leistungs- und Waffenschauen wie auch digkeit der Waffen-SS für Ausrichtung und bei allen NSDAP- und HJ-Veranstaltungen und Gestaltung künftiger „Heldengedenktage“ in Propagandaaufmärschen. Dabei hatte beson- Radolfzell begründete. 24

20 Zum „Festspiel“ (Programmheft, Gästeliste, Texte, Organisatorisches) vgl. den Bestand StAR IX.339. 21 So u.a. die Berichterstattung in der BR 1937–1939. 22 Im Verein mit der gleichgeschalteten, 1933 gegründeten „Garde“ der„Narrizella Ratoldi“ standen die nachfolgenden Fastnachtsveranstaltungen 1938 und 1939 unter dem „Regiment“ der SS-„Germania“. Vgl. Fuchs, Michael: Radolfzeller Fastnacht. Zur Geschichte einer langen Tradition. Radolfzell 2015. 23 StAR IX.120, 121; vgl. den Bericht in: „Badische Krieger-Zeitung. Amtliches Blatt der Gebietsinspektion Baden des NS-Reichskriegerbundes“, 23 (1938), vom 12.6.1938. 24 274 Vgl. Wolter, Markus: NS-Ehrenmal, unter: http://radolfzell-ns-geschichte.von-unten.org/ns-ehrenmal. Chronik_Radolfzell_Korr.qxd 01.09.2017 11:32 Uhr Seite 275

Die überlieferte Korrespondenz zwischen Bür- germeisteramt und Heinrich Koeppen lässt ver- muten, dass das beschworene „gute Einver- nehmen“ mehr als nur behauptet war und sich nicht in Höflichkeitsrhetorik erschöpfte. Der von Koeppen 1937 auf dem Marktplatz geäußerte Wunsch nach „innigen Banden zwi- schen Truppe und Bevölkerung“ erfüllte sich in Radolfzell nicht zuletzt auch im „Privaten“ und nach den Statuten der SS: in zahlreichen, von Himmler genehmigten Eheschließungen und „Unsere Truppe“ – Rückkehr des SS-Bataillons aus Prag, begrüßt von HJ und BDM 25 Familiengründungen. auf dem Marktplatz von Radolfzell, 30.6.1939.

Das bei seiner Verlegung nach Radolfzell noch pferdebespannte SS-Bataillon wurde bis No- vember 1938 zu einem voll motorisierten, mit schweren Waffen ausgestatteten Kampfver- band aufgerüstet. Als Parade-Truppe nahm es 1937 und 1938 an den Reichsparteitagen in Nürnberg teil und stellte 1937 den Begleit- schutz für den italienischen Diktator Benito Mussolini bei dessen Staatsbesuch und Fahrt von München nach Berlin und auf der an- schließenden Maifeldkundgebung. Zu beson- deren Anlässen forderte RFSS Heinrich Himm- ler die Ehrenkompanie und das Musikkorps aus Radolfzell auch persönlich an; so nach- Reichsführer SS-Heinrich Himmler, SS-Oberabschnittsführer „Südwest“ Kurt Kaul weislich am 26. Februar 1939, als Himmler im (links), dahinter SS-Obersturmbannführer Heinrich Koeppen u. a. beim Abschreiten Stuttgarter Staatstheater eine Rede vor dem der Ehrenkompanie der III./SS-VT „Germania“ in Stuttgart, 26.2.1939. Führerkorps des SS-Oberabschnitts Südwest hielt und eine Ehrenformation benötigte, die wurde in Radolfzell bei seiner Rückkehr von er mit Koeppen und den SS-Führern abschritt. seinen „erfolgreichen“ Einsätzen mit zuneh- mender Begeisterung empfangen. Signifikan- Das SS-Bataillon, das an der Annexion Öster- ten Zuwachs erfuhr der bislang aus dem reichs (März 1938) und der Besetzung des Su- Wehrkreis XI, Hannover, rekrutierte Sturm- detenlandes (Oktober 1938) beteiligt und bei bann durch österreichische und sudetendeut- der „Zerschlagung“ der Tschechoslowakei sche Freiwillige, die in der Kaserne Einzug (März 1939) für mehrere Monate als Wachba- hielten und am 9. November 1938 auf dem taillon auf der Prager Burg eingesetzt war, Appellplatz kompanieweise vereidigt wurden.

25 StAR IX/340 (Korrespondenz Koeppen-Bürgermeisteramt); StAR IX/350, Verzeichnisse der in Radolfzell wohnhaften „SS-Frauen“. 275 Chronik_Radolfzell_Korr.qxd 01.09.2017 11:32 Uhr Seite 276

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Die Reichspogromnacht 1938 Die Versuche, die Pogrome des 9./10. Novem- ber 1938 mit reichsweit über 1300 Todesop- Bei den Novemberpogromen 1938 zeigte die fern, 1400 beschädigten oder zerstörten Sy- SS-Verfügungstruppe unter Koeppen auch am nagogen und rund 30 000 in Konzentrationsla- „Heimatstandort“ ihr verbrecherisches Po- ger verschleppten jüdischen Bürgern im Ein- tenzial. Bei allen sogenannten „Vergeltungs- zelnen zu rekonstruieren, erwiesen sich auf- maßnahmen“ gegen die jüdischen Gemeinden grund der Dimension und strukturellen „Ar- der Region war die SS aus Radolfzell nicht nur beitsteiligkeit“ der Verbrechen als schwierig. beteiligt, sondern kann als die maßgebliche Anders als die offizielle Sprachregelung dies Kommandoeinheit bezeichnet werden. In einer zu suggerieren suchte, bedurfte es zahlreicher mit SA, Allgemeiner SS, und Ordnungs- fernmündlicher Anweisungen und Appelle der polizei abgestimmten „Aktion“ plünderten und Partei- und SA-Führung an die örtlichen Dienst- sprengten Mannschaften des III./SS-VT „Ger- stellen, SA-Standarten und Gaupropaganda- mania“ in den Morgenstunden des 10. Novem- ämter, um die vermeintlich „spontanen Ver- ber 1938 die Synagogen von Konstanz, Gailin- geltungsaktionen“ ins Werk zu setzen.28 Die gen und Randegg und brannten die Synagoge Umsetzung der Pogrombefehle und die Tat- von Wangen (Öhningen) nieder. Bei den Syna- beiträge der einzelnen Tätergruppen und NS- gogen sowie in den Kellerräumen der Rathäu- Protagonisten vor Ort waren Gegenstand um- ser kam es dabei zu Gewaltexzessen gegen fangreicher Ermittlungsverfahren der Nach- jüdische Einwohner. 26 Die in „Schutzhaft“ ge- kriegsjustiz, so auch am Konstanzer Landge- nommenen Männer wurden im weiteren Ta- richt 1946/1962. Beschuldigte der ersten, 1947 gesverlauf ins Konstanzer Gefängnis trans- eingestellten Voruntersuchung waren SS-Ober- portiert und am darauffolgenden Abend in sturmbannführer Heinrich Koeppen, der wegen das Konzentrationslager Dachau verschleppt. „Brandstiftung und Sprengung der Synagoge Diejenigen, die überlebten, wurden zwischen Gailingen“ (posthum) angezeigt worden war Dezember 1938 und Mai 1939 entlassen, wobei und der an unbekanntem Ort sich aufhalten- sie sich schriftlich verpflichten mussten, ihre de SS-Oberführer Walter Stein wegen „Spren- „Auswanderung“ in die Wege zu leiten und ihr gung der Synagoge von Randegg“ und „vor- Vermögen zu „arisieren“. In Radolfzell selbst sätzlicher Brandstiftung“ der Synagoge von gab es in dieser Nacht keine antijüdischen Konstanz.29 Erst das 1962 wiederaufgenomme- Übergriffe gegen Personen oder Sachen; nach ne Verfahren gegen den jetzt in Untersuchungs- Sprachregelung der Nationalsozialisten konn- haft sitzenden Hauptangeklagten Walter Stein te die SS-Garnison mit der „Arisierung“ und wegen „besonders schwerer Brandstiftung“ Emigration des jüdischen Ehepaars Lotte und der Konstanzer Synagoge sollte das Landge- Josef Bleicher 1936 als „judenfrei“ gelten. 27 richt Konstanz wesentlich voranbringen.30 Nach

26 Vgl. Gläser, Dietrich: Die Nacht, in der die Fenster klirrten. Die Pogromnacht vom 9./10.11.1938 in Konstanz und im Hegau. In: HEGAU 64, 2007, S. 185–210; Bloch Erich: Geschichte der Juden von Konstanz im 19. und 20. Jahrhundert. Konstanz 1996, S. 145 ff.; Bloch, Erich: Das verlorene Paradies. Ein Leben am Bodensee 1897–1939. Sigmaringen 1992, S. 115–122. 27 Vgl. Wolter, Markus: Juden in Radolfzell. Lotte und Josef Bleicher – ‚Arisierung‘ und Flucht, unter: http://radolfzell-ns-geschichte.von- unten.org/juden_in_radolfzell. 28 Vgl. Pehle, Walther H. (Hg.): Der Judenpogrom 1938. Von der „Reichskristallnacht“ zum Völkermord. Frankfurt a. M., 1988, hier: Adam, Uwe Dietrich: Wie spontan war der Pogrom?, S. 74–93. 29 STAF F 178/2, Nr. 43. 30 276 Vgl. den Bestand STAF F 178/2 Nr. 41–46. Chronik_Radolfzell_Korr.qxd 01.09.2017 11:32 Uhr Seite 277

Vorhalt der Aussagen ehemaliger Angehöriger der Radolfzeller SS und der Konstanzer Feuer- wehr gab Walter Stein in seiner letzten Ver- nehmung folgende Version zu Protokoll: 31 Er sei von SS-Gruppenführer Kurt Kaul (1890–1944), Allgemeine SS, Oberabschnitt Stuttgart, gegen zwei Uhr nachts angerufen worden: ob man denn nicht wisse, was sich im Reich abspiele, „am Bodensee schlafe man wohl?“ Stein solle umgehend Koeppen in Radolfzell anrufen, der habe bereits den Befehl zur Zerstörung der Synagogen erhalten. Koeppen sei dann wäh- rend des Telefonats mit Stein über „die ganze Synagogensache“ noch immer aufgebracht gewesen und wollte erst das Kommandoamt der SS-VT in Berlin um Klärung der Einsatz- frage bitten. Stein selbst behauptete, erst um ca. drei Uhr an die bereits brennende Synago- ge von Konstanz gekommen zu sein. Wie das Gebäude „eigentlich zum Brennen gebracht worden ist“, könne er deshalb nicht sagen, den Befehl „in Zusammenhang mit dem Die in der Pogromnacht zunächst in Brand gesteckte, in den Morgenstunden Synagogenbrand“ hätte schließlich nicht er, des 10. November 1938 von einem Pionierzug der Radolfzeller SS-VT sondern Koeppen gehabt. Auch darüber, dass gesprengte Synagoge von Konstanz, Sigismundstr. 19. zwischen fünf und sechs Uhr des 10. Novem- ber fast alle jüdischen Männer in Konstanz verhaftet, viele von ihnen an die brennende Angehörigen der SS-Germania zusammenge- Synagoge geführt und dort verhöhnt und stoßen, wenn sie versucht hätte, das Feuer in geschlagen wurden, schweigt sein Erinne- der Synagoge zu löschen.“ 33 Koeppen sei auch rungsprotokoll. Stein wollte nach Vorhalt aller- bald darauf in seinem Dienst-Pkw vorgefahren, dings „nicht mehr ausschließen“, die angeb- gefolgt vom Lkw des Pionierzugs mit lich löschwillige Konstanzer Feuerwehr zurück Sprengstoff und etwa zehn SS-Männern in ins Gerätehaus befohlen zu haben. 32 Sein Zivil, die zur Synagogensprengung anrückten. Erklärungsversuch: „Die Feuerwehr wäre mit Die Zeugenvernehmungen 34 machten indes- aller Sicherheit mit den fanatischen jungen sen deutlich, dass Steins modifizierten „Erin-

31 Vgl. im Folgenden: STAF F 178/2, Nr. 42, S. 673–681. 32 Vgl. die Aussagen der Feuerwehrleute Erich Vögele, Josef Marx und Josef Schwarz; STAF F 178/2, Nr. 42. 33 STAF F 178/2, Nr. 42, S. 375. 34 Der Staatsanwaltschaft Konstanz gelang es 1962, neben ehemaligen Angehörigen der Konstanzer Feuerwehr auch mehrere Angehörige der Radolfzeller SS- VT zu ermitteln und zu den Vorgängen 1938 zu befragen; STAF F 178/2 Nr. 43. 277 Chronik_Radolfzell_Korr.qxd 01.09.2017 11:32 Uhr Seite 278

9 Markus Wolter: Die SS-Garnison Radolfzell 1937–1945

nerungen“ nur dem Zweck dienten, eigene te umfassende, logistische Planungsvorläufe Tatbeiträge zu verschleiern. Dass Koeppen, voraus. Was die selektiven Erinnerungen der wie von Stein behauptet, von SS-Oberab- Täter allenfalls zynisch oder verbrämt andeu- schnittsführer Kaul den Befehl zu dieser und ten, wird in den übereinstimmenden Zeugnis- zu weiteren Synagogenzerstörungen zuvor sen der überlebenden Opfer deutlich: Jenny bekommen habe, ist aufgrund der getrennten Bohrer, Ehefrau Mordechai Bohrers (1895– Befehlsstruktur von Allgemeiner SS und SS-VT 1938), des letzten Ortsrabbiners von Gailingen, unwahrscheinlich. So war es mutmaßlich Stein schilderte 1943 eindrücklich, wie die Rabbi- selbst, der seinen „Kameraden“ Koeppen tele- nerfamilie gegen fünf Uhr morgens von der fonisch um „Amtshilfe“ bat, nachdem die auf Gestapo und SA heimgesucht, die Wohnung Steins Befehl von Angehörigen der Allgemei- verwüstet und ihr Mann vor ihr und den Kindern nen SS Konstanz in Brand gesteckte Syna- gedemütigt, geschlagen und abgeführt wurde. goge nicht wie gewünscht niedergebrannt Vom Fenster aus musste sie mit ansehen, wie war. sich die SA gegen acht Uhr an der Synagoge zu schaffen machte, Teppiche herausschleppte, Einer der Täter des Pionierzugs, SS-Rotten- die Bänke zusammenwarf und Lampen herun- führer Walter Büchner, bestätigte als Zeuge terriss, bevor das Gebäude in Brand gesetzt im Ermittlungsverfahren gegen Stein diese wurde. Inzwischen waren auch der SS-Pio- Befehlslage. 35 Nach verrichteter „Arbeit“ sei der nierzug aus Konstanz und größere SS-Mann- Pionierzug von Koeppen weiter nach Gailin- schaften aus Radolfzell in mehreren Lkw gen und Randegg befohlen worden. In den eingetroffen. Rund 200 Gailinger Juden, die Worten Steins, der einräumte, am späteren zuvor in der Turnhalle eingesperrt waren, soll- Morgen ebenfalls in Gailingen und Randegg ten zusehen, wie ihr Gotteshaus gegen elf Uhr gewesen zu sein, wo er Koeppen und „eine durch die SS-VT aus Radolfzell vollends zer- größere Einheit seiner Truppe“ bei „Absper- stört und gesprengt wurde. In Zweierreihen rungsaufgaben am Rhein“ angetroffen habe, aufgestellt, wurden sie durch das Dorf in Rich- hörte sich das so an: „In irgendeinem Ort des tung Synagoge geführt: „Als wir uns der Landkreises ereignete sich am Vormittag des Synagoge näherten, sahen wir eine Unmenge 10.11.1938 dann eine Schweinerei durch An- S.A.-Leute [gemeint: SS-VT], die Zündschnüre gehörige der SS ‚Germania’.“36 In „irgendeinem hin- und hertrugen (...). Unmittelbar vor der Ort“? Spätestens mit der Ausweitung der „Sy- Synagoge hieß man uns stillstehen und in nagogensache“ auf die jüdischen Landge- dem Augenblick erfolgte eine kolossale Deto- meinden lag die Kommandoführung bei Koep- nation.“ 37 Der Arzt des jüdischen Kranken- pen, denn schon Stunden zuvor waren ganze hauses (Beth Hacholim) und Gemeindevor- Lastwagenkolonnen der SS-VT von Radolfzell stand Dr. Sigmund Heilbronn (1887–1962), nach Wangen und Gailingen unterwegs gewe- der im Keller des Rathauses Opfer schwerster sen. Die Beteiligung des Radolfzeller Ba- Misshandlung wurde, bestätigte, dass die Ra- taillons hatte größere Dimensionen und setz- dolfzeller SS die maßgebliche und ausführende

35 STAF F 178/2, Nr. 42, S. 573–579. 36 Walter Stein, STAF F 178/2, Nr. 42, S. 679. 37 Vgl. Bohrer, Jenny: Die „Reichskristallnacht“ am 10.11.1938. In: Friedrich, Eckhardt, Schmieder, Dagmar (Hg.): Die Gailinger Juden. Konstanz 1981, 278 S. 96–109. Chronik_Radolfzell_Korr.qxd 01.09.2017 11:32 Uhr Seite 279

Kraft bei diesen Aktionen war: „Im Keller des- 1938 von Horn nach Konstanz fuhr, um dort selben Rathauses, wo mein Großvater von 1870 Gemüse anzuliefern, sah er, wie bereits gegen bis zu seinem Lebensende im Jahre 1884 Bür- halbsechs Uhr eine aus zehn Fahrzeugen beste- germeister war, wurde ich dann von SS-Leuten hende Lkw-Kolonne der SS Richtung Wangen aus Radolfzell mit Peitschen, an denen Blei- fuhr und dass an den Zufahrtsstraßen zwi- klötze befestigt waren, ausgepeitscht.“ 38 Ein schen Radolfzell, Moos und Bankholzen zahl- weiteres Opfer der Gewaltexzesse, Karl Bloch reiche uniformierte SS-Kontrollposten stan- (geb. 1897), gab ebenfalls an, von der SS-VT den. Nach der Rückkehr von Konstanz, wo aus Radolfzell gefoltert worden zu sein. 39 Bloch erfahren musste, dass sein 70-jähriger Vater abgeholt worden war, und er Zeuge der Nahezu gleichzeitig mit diesen Vorgängen zer- Synagogen-Zerstörung wurde, gerieten er störte die SS-VT die Synagogen in Wangen und seine Auszubildenden in Horn in die Hän- und Randegg 40 und auch dort kam es zu Ge- de der SS-VT. Auch dort war es der Kohlen- waltexzessen gegenüber jüdischen Einwohnern keller des Rathauses, wo die SS-Männer mit durch die SS-VT. Der Dorfarzt von Wangen, Dr. Stahlruten auf die Wehrlosen einschlugen. 42 Nathan Wolf (1882–1970), der mit fünf weite- ren jüdischen Bewohnern von Wangen und Wie ein Menetekel der Shoa stand am späten Schienen im Rathauskeller von SS-Männern Morgen des 10. November 1938 ein SS-Lkw gepeinigt und anschließend nach Dachau ver- auf dem Radolfzeller Kasernenhof, der mit ge- schleppt wurde, schrieb hierzu einen eindrück- raubten Teppichen, Kerzenhaltern, Pergamen- lichen Bericht „betreffs Straftaten, welche ten und Thorarollen aus den Synagogen von während des nationalsozialistischen Regimes Konstanz, Wangen und Gailingen beladen begangen wurden“, der in die Ermittlungsver- war. Der Lkw wurde alsbald nach Konstanz fahren 1946/1962 einging. 41 gefahren, dessen Ladung vermutlich im Ge- bäude des SS-Abschnitts XXIX eingelagert. Aus In bedrückender Entsprechung zu den Vor- bis heute ungeklärten Ursachen brannte die gängen in Gailingen und Wangen schilderte an der Seestraße gelegene SS-Dienststelle schließlich Dr. Erich Bloch (1897–1994), Sohn am 11. November 1939 ab. Spätestens hier des Vorstehers der jüdischen Gemeinde Kons- verliert sich auch die Spur des Raubguts. tanz, Moritz Bloch (1868–1946), den Pogrom- verlauf auf der vorderen Höri. Der studierte Jurist, Publizist und Verlagsmitarbeiter lebte seit 1933 in Horn, wo er einen Lehrbauernhof für bis zu 20 jüdische Auszubildende führte. Als Bloch am frühen Morgen des 10. November

38 Zit. nach: Schmieder, Dagmar: Die Familie Guggenheim-Heilbronn. Eine Familienchronik. In: Allmende 45 (1995), S. 132–151, hier S. 150. 39 Vgl. STAF F 178/2, Nr. 3, S. 35–39. 40 Zu Randegg vgl. Moos, Samuel: Geschichte der Juden im Hegaudorf Randegg. Gottmadingen 1986; zur Zerstörung des Synagoge von Wangen vgl. Ortsgendarm Emil Schmidle, STAF F 178/2, Nr. 43, S. 55 f. und Bosch, Manfred: „Hitler war weg und wir waren da“ – Manfred Bosch im Gespräch mit Hannelore König-Wolf. In: HEGAU 64, 2007, S. 239–310, hier S. 276 ff. 41 STAF F 178/2, Nr. 43, S. 57–61. Zu Nathan Wolf vgl.: Overlack, Anne: „In der Heimat eine Fremde“. Das Leben einer deutschen jüdischen Familie im 20. Jahrhundert. Tübingen 2016. 42 Vgl. Bloch, Erich: Das Ende einer Illusion. Der 9.11.1938 in Konstanz und auf der Höri. In: Bloch a.a.O. 1992, S. 120 f. 279 Chronik_Radolfzell_Korr.qxd 01.09.2017 11:32 Uhr Seite 280

9 Markus Wolter: Die SS-Garnison Radolfzell 1937–1945

Radolfzell im „Weltanschauungskrieg“ – Die nicht nach Radolfzell überführt. 45 Dort hatte „Heinrich-Koeppen-Kaserne“ 1939 – 1945 man den Kriegsbeginn als ein noch fernes, weitgehend abstraktes Geschehen erlebt, Die zweijährige Stationierung der SS-VT in vermittelt und aufbereitet durch Wehrmachts- Radolfzell endete wenige Wochen vor Beginn berichte in Presse, Rundfunk und Wochen- des Angriffskrieges gegen Polen am 1. Sep- schau. Die Nachricht vom „Heldentod“ „ihres“ tember 1939. Nachdem die militärischen Pla- Kommandanten traf die SS-Garnison un- nungen („Fall Weiß“) des Oberkommandos erwartet und löste, zumindest offiziell, die des Heeres (OKH) abgeschlossen waren, er- von jetzt an verordnete „stolze Trauer“ aus. ging am 19. August 1939 der Befehl Hitlers, Die BR erhob Koeppen sogleich zur histori- die SS-VT mit sofortiger Wirkung dem Ober- schen Persönlichkeit der Stadt: „Ein unerbitt- befehlshaber des Heeres zu unterstellen. Die liches Schicksal hat den besten gefordert, der „politischen Soldaten“ der SS-VT standen da- schon im Weltkrieg einer der tapfersten war. mit wie geplant in diesem Krieg der Wehr- Wir werden ihn nie vergessen; sein Name wird macht „zur Verfügung“ und verließen ihre für alle Zeiten mit der Geschichte der Stadt „Friedensstandorte.“ Die SS-VT-Standarte Radolfzell verknüpft bleiben.“46 Der Regiments- „Germania“ war als eine Reserveeinheit der kommandeur, SS-Standartenführer Karl Maria 14. Armee unter Generalmajor Wilhelm List Demelhuber, 47 ließ mitteilen, dass die bis dem VIII. Armeekorps unterstellt und gehörte dahin namenlose SS-Kaserne zum „ehrenden zu den von Oberschlesien in Richtung Krakau Gedächtnis“ ihres ersten Kommandanten ab und Lemberg angreifenden Truppen.43 Das 19. Oktober 1939 Koeppens Namen tragen III./SS-VT „Germania“, das bereits am 18. Au- werde. Wie im NS-„Kampfblatt“ ebenfalls zu gust von Radolfzell an die deutsch-polnische lesen, hatte Reichsführer-SS Heinrich Himm- Südwestgrenze in Marsch gesetzt worden ler persönlich angeordnet, nach Beendigung war, verzeichnete bei seinen ersten Kampf- des Krieges und der vorgesehenen Rückkehr handlungen zwei Wochen nach Kriegsbeginn des Bataillons nach Radolfzell, die sterblichen überraschend hohe Verluste an Mensch und Überreste Koeppens „heimzuholen“ und in Material. 44 Als erster SS-Kampfkommandant einer Gruft im Kasernenhof beizusetzen. in diesem Krieg überhaupt starb SS-Ober- Dieses Ansinnen wurde, dem Kriegsverlauf sturmbannführer Heinrich Koeppen am 16. entsprechend, wieder aufgegeben, ebenso September 1939 bei einer nächtlichen Kampf- wie der von Himmler als „Zeichen seiner handlung bei Jaworow, Nähe Lwów (Lemberg), Verbundenheit“ mit Radolfzell erwogene mit ihm sein Adjutant und 37 Angehörige des „Brunnen der deutschen Mutter“ auf dem Bataillons. Die Toten wurden auf dem „Helden- Marktplatz. 48 Entgegen der ursprünglichen friedhof“ von Olszówka Górna bestattet und Planung kehrte das III./SS-VT „Germania“

43 Vgl. Böhler, Jochen: Auftakt zum Vernichtungskrieg. Die Wehrmacht in Polen 1939. Frankfurt 2006; hier das Kapitel „Wehrmacht, SS-Verfügungstruppe und Totenkopfverbände“, S. 221 ff. 44 Vgl. Hille, Willi: III. Btl. SS-Regiment „Germania". Bataillonsgeschichte 1935–1939. Radolfzell 1967. vgl. STAF, F 178/2, Nr. 42; BArch-MA Freiburg, N 756/108 b. 45 StAR IX.347. 46 Vgl. den Artikel „Heinrich-Koeppen-Kaserne“, in: BR, 19.10.1939; StAR IX/340. 47 Karl Maria Demelhuber (1896–1988), SS-Obergruppenführer und General der Waffen-SS (1944), NSDAP-Nr. 4439, SS-Nr. 252.392). Oktober 1936–Dezember 1940 Kommandeur des SS-VT-„Germania“. November 1940–April 1941 Befehlshaber der Waffen-SS Ost in Krakau. Mai 1941– April 1942 Kommandeur der SS-Division „Nord“ in Finnland, danach Befehlshaber der Waffen-SS Niederlande. 48 280 StAR IX.34, Erstellung eines SS-Mutterbrunnens, 1939– 1940. Chronik_Radolfzell_Korr.qxd 01.09.2017 11:32 Uhr Seite 281

nicht mehr in die Heinrich-Koeppen-Kaserne ‚Germania‘, welche Sie bitte dem Letzteren in zurück. Nach der Kapitulation der polnischen geeigneter Form als Beitrag der Stadt Feldtruppen am 10. Oktober 1939 wurde die Radolfzell zu einem gemütlichen Abend bei SS-VT mit Teilen der SS-Totenkopfverbände zur bayerischem Bier übergeben wollen. (…) Es SS-Division „Verfügungstruppe“ (VT-Division) würde mich sehr freuen, wenn auch Sie, lieber zusammengelegt, die im Westfeldzug ab Mai Kamerad Demelhuber, mit Ihrem Offizierskorps 1940 geschlossen zum Einsatz kam. Die vorma- vom Stab usw. in einer gemütlichen Stunde ligen VT-Standarten bildeten mit der SS-Divi- einige Halbe auf das Wohl der Stadt Radolfzell sion „Totenkopf“ und den „Totenkopfverbän- trinken könnten. (…) Möge das Jahr 1940 uns den“ der Konzentrationslager den Grundstock den endgültigen Sieg bringen.“ Regi- der seit 1940 unter dem Begriff „Waffen-SS“ mentskommandeur Demelhuber zeigte sich subsumierten Einheiten. Die drei Bataillone von Radolfzells nachhaltiger Zuneigung be- des Regiments „Germania“ wurden Ende 1940 eindruckt: „Es ist wirklich außerordentlich an- zusammen mit den neuen Waffen-SS-Regimen- erkennenswert, mit welcher Sorge Sie und tern „Westland“ und „Nordland“ zur SS-Divi- damit die Bevölkerung der Stadt sich um die sion „Wiking“ formiert und im Deutsch-Sowje- Männer meines III. Btl. annehmen. In dieser tischen Krieg ihrer neuen „Verwendung“ zuge- Beziehung stehen Sie innerhalb des weiten führt. Bezirks meiner bisherigen Friedensstandorte vollkommen allein.“ Wie wichtig dem Bürger- Die „inneren Bande“ zwischen Radolfzell und meister das „innige Verhältnis“ zur SS-Stan- der SS-VT „Germania“ erwiesen sich indessen darte „Germania“ offenbar blieb, machte Jöhle als belastbar und dauerten nicht nur in den in einem weiteren Brief an Demelhuber deut- Grenzen des Privaten fort. Nach Abzug des lich: Zwei Wochen nach dem Überfall auf die Bataillons und dem Tod Koeppens war es das Sowjetunion am 22. Juli 1941 versicherte er Bestreben der Stadtverwaltung, die weiteren bereits siegesgewiss, die seinerzeit „von un- Einsätze und Neugliederungen der Truppe zu serem lieben Koeppen so kraftvoll aufgebau- begleiten und zu unterstützen. Im Bürger- te Kameradschaft zu Bürgermeister, Volk von meisteramt erhoffte man sich noch lange, Radolfzell und Truppe „nach dem wunderba- dass mit den „Blitzkriegen“ in Polen und Fran- ren Sieg in Russland“ weiterzupflegen. Dass kreich die Rückkehr der SS-VT „Germania“ nach Jöhles Tod 1942 auch sein kommissari- verbunden sei, was in mehreren Briefen von scher Nachfolger im Amt, August Kratt 50, die- Bürgermeister Jöhle an die Regimentsführung sen Diskurs pflegte und die „inneren Bande“ zum Ausdruck kommt. 49 Am 2. Januar 1940 keineswegs abreißen ließ, zeigen diverse ließ Jöhle seinem „lieben Kameraden“, SS- Briefe und Grußnoten an USR-Kommandeur Standartenführer Karl Maria Demelhuber, Thomas Müller, der als Führer eines SS-Pan- einen Brief zukommen, dem eine bemerkens- zerregiments Ende 1943 an der Ostfront nicht werte „zweckgebundene Spende“ von 1000 vergaß, dem „werten PG“ Kratt zum Weih- RM beigelegt war: „für das Bataillon III./SS nachtsfest zu schreiben. 51

49 StAR IX/340. 50 August Kratt (1882–1969). Kaufmann. Mitglied der NSDAP (1.5.1933–1945), NSDAP-Nr. 3916638, Block- und Zellenleiter (1934–1943), DAF („Ortswalter Handel“), NSV, förderndes Mitglied der SS (1933–1942), Mitglied der „Arbeitsgemeinschaft deutsch-arischer Fabrikanten der Bekleidungsindustrie e. V. (Adefa). 1937–1942 Beigeordneter von Bürgermeister Jöhle. Nach dessen Tod kommissarischer Bürgermeister (23.10.1942–1945). Ehrenbürger der Stadt Radolfzell (1962).Vgl. Wolter, Markus: „Arisierungen“ - Das NSDAP- und Adefa-Mitglied August Kratt, unter: http://radolfzell-ns-geschichte.von-unten.org. 51 StAR IX/342. 281 Chronik_Radolfzell_Korr.qxd 01.09.2017 11:32 Uhr Seite 282

9 Markus Wolter: Die SS-Garnison Radolfzell 1937–1945

Das Totenkopf-Infanterie-Ersatz-Bataillon I lich, blieb aber insgesamt deutlich größer als und die „Abwanderung“ der Juden 1940 beim SS-„Germania“-Bataillon. Die maximale Truppenstärke in Radolfzell wurde am 9. April Die zu Kriegsbeginn 1939 bis auf ein kleines 1940 erreicht: 1527 Mann (17 Führer, 146 Un- Restkontingent und VT-Stammpersonal vorü- terführer, 1187 Mannschaften); Gliederung: bergehend unterbelegte SS-Kaserne war vom Stab, 3 Schützenkompanien, 1 MG-Kompanie; SS-Hauptamt längst für weitere Planungen zusätzlich 1 Kradschützen-Kompanie.54 vorgesehen. Anfang September 1939 zog die aus zwei Kompanien des Dachauer Wachver- Heinrich Himmler ließ es sich nicht nehmen, band-Sturmbanns „N“ hervorgegangene SS- das von ihm zur Aufstellung gebrachte „Toten- VT-“Flugabwehr MG-Abteilung“ in die Mann- kopf“-Bataillon auf einer seiner zahlreichen schaftsgebäude der Heinrich-Koeppen-Kaser- „Dienstreisen“ persönlich zu inspizieren. Dass ne ein. Bereits im Dezember 1939 wurde das Radolfzell in einem vor wenigen Jahren aufge- bisherige VT-Kontingent vollständig durch ein fundenen Dienstkalender des Reichsführers SS-„Totenkopf“-Bataillon ersetzt. Der Organi- SS auftaucht, überrascht nicht: Himmlers Füh- sator des Konzentrationslagersystems und KZ- rungsstil war davon geprägt, die SS ganz auf Inspekteur, SS-Gruppenführer seine Person auszurichten und dabei die Prin- (1898–1943)52 hatte zwischen dem 16. Oktober zipien, nach denen die SS-Angehörigen aus- und 1. November 1939 im hierzu vorüberge- gewählt, geschult und diszipliniert wurden, hend geräumten KZ Dachau die SS-Division nicht nur selbst festzulegen, sondern persön- „Totenkopf“ zur Aufstellung gebracht, die sich lich deren Einhaltung zu überwachen. 55 Seine etwa zur Hälfte aus Angehörigen der Eicke Visite am 7. März 1940 in der Heinrich-Koep- unmittelbar unterstellten Totenkopf-Verbände pen-Kaserne diente vermutlich einer letzten der Konzentrationslager rekrutierte. 53 Gleich- „Inspektion“, um sich zwei Monate vor Beginn zeitig kam es gemäß Erlass des RFSS Himmler des Westfeldzugs von der Einsatzbereitschaft zur Bildung der Ersatzeinheiten. Das in Breslau des Totenkopf-Bataillons zu überzeugen. Noch aufgestellte SS-Totenkopf-Infanterie-Ersatz- am selben Tag flog Himmler von Konstanz Bataillon I verlegte man Anfang Dezember nach Berlin zurück und saß abends wieder in 1939 zur Hälfte nach Lichtenburg, später nach seinem „Büro“. 56 Das bereits eingeplante Weimar-Buchenwald, und das Restbataillon Totenkopf-Bataillon sollte den personellen am 16. Dezember 1939 in die Heinrich-Koep- Nachschub des SS-„Totenkopf“-Infanterie- pen-Kaserne, wo es mit Reservisten und Frei- RegimentsI der Eicke-Division bilden und wur- willigen ergänzt und neu gegliedert wurde. Die de zwischen Ende Mai und August 1940 in durchschnittliche Belegstärke des Totenkopf- mehreren Kontingenten von Radolfzell in den Bataillons variierte durch „Abstellungen“ und Raum Avallon und später nach Bordeaux als Neurekrutierungen in Radolfzell ganz erheb- Besatzungstruppe verlegt.

52 Vgl. Sydnor, Charles: Theodor Eicke. Organisator der Konzentrationslager. In: Smelser, R, Syring, E. (Hg.): Die SS. Elite unter dem Totenkopf. 30 Lebensläufe. Paderborn 2000, S. 147–159. 53 Vgl. Sydnor, Charles W.: Soldaten des Todes. Die 3. SS-Division „Totenkopf“ 1933–1945. Paderborn 2001. 54 Vgl. BArch-MA Freiburg, N 756/337a. 55 Vgl. Longerich, Peter: Heinrich Himmler. Biographie. München 2008, S. 310 ff.. 56 282 Vgl. Moors, Markus und Pfeiffer, Moritz (Hg.): Heinrich Himmlers Taschenkalender 1940. Kommentierte Edition. Paderborn, München, Wien 2013, S. 212. Chronik_Radolfzell_Korr.qxd 01.09.2017 11:32 Uhr Seite 283

Als am 22. Oktober 1940 die Massendeporta- tionen der badischen und saarpfälzischen Ju- den in das südfranzösische Internierungslager Gurs durchgeführt wurden, war das Toten- kopf-Bataillon aus Radolfzell entscheidend beteiligt, sofern es die ideologischen wie logis- tischen Voraussetzungen mitbrachte, die re- gionalen Maßnahmen rigide und „reibungs- los“ umzusetzen. Die nach den verantwortli- „Freiburg i. Br. – Singen – Radolfzell – T. Bat. besichtigt.“ Taschenkalender von Heinrich Himmler, 7. März 1940. chen Gauleitern Robert Wagner (1895–1946) und Josef Bürckel (1895–1944) bezeichnete „Aktion“ war Fortsetzung der systematischen und die Erlöse an die Landratsämter abge- Erfassung, Isolierung, Entrechtung und Be- führt.57 Im Landkreis Konstanz waren neben raubung der deutschen Juden seit 1933 und lokaler und Gestapo das SS- zugleich Vorlauf zu ihrer Ermordung in den Totenkopf-Bataillon unter SS-Sturmbannfüh- deutschen Vernichtungslagern im Osten nach rer Heinrich Scheingraber im Einsatz, das die 1941. Das Bestreben Wagners und Bürckels jüdischen Einwohner von Wangen, Gailingen war es gewesen, als eine der Ersten im Deut- und Randegg zusammentrieb und in Lkws an schen Reich die „Judenfrage“ „territorial“ zu die Bahnhöfe von Radolfzell und Singen fuhr. 58 lösen. Deportiert werden sollten ohne Aus- Am Radolfzeller Bahnhof wurden dabei sie- nahme alle transportfähigen, nach den Nürn- ben jüdische Frauen und Männer aus Wangen berger Rassengesetzen von 1935 als „Voll- und die erst seit April 1940 im „Bahnhofhotel juden“ geltende Männer, Frauen und Kinder, Schiff“ logierende Alice Fleischel (1873–1941)59 die nach den Pogromen 1938 noch in ihrer in den aus Konstanz-Petershausen eingefah- Heimat geblieben waren. In den frühen Mor- renen Sonderzug der Deutschen Reichsbahn genstunden des 22. Oktober wurde ihnen von verbracht, in dem sich bereits 108 Konstanzer Gestapo und Ordnungspolizei befohlen, sich Juden befanden. In Singen hielt der Zug er- innerhalb kürzester Zeit reisefertig zu machen neut und 178 jüdische Bürger von Gailingen, und an Sammelstellen einzufinden. Gemäß Randegg, Hilzingen und Bohlingen kamen Erlass des badischen Ministers des Innern dazu. Unter den Deportierten waren schließ- vom 29. Oktober 1940 oblag den jeweiligen lich 314 Personen aus den Stadt- und Land- Landräten die „Verwaltung und Verwertung“ kreisen Konstanz, Stockach, Überlingen und der beschlagnahmten Vermögenswerte. Sie Waldshut. 60 Der Gau Baden sei „judenfrei“, wurden als dem Land Baden „verfallen“ erklärt, vermeldeten die NS-Täter im Herbst 1940 be- die Wohnungseinrichtungen vor Ort meistbie- friedigt. Die „reibungslos und ohne Zwischen- tend an „arische Volksgenossen“ versteigert fälle abgewickelten Abschiebungen“ seien

57 Vgl. Archivdirektion Stuttgart (Hg.): Dokumente über die Verfolgung der jüdischen Bürger in Baden-Württemberg durch das nationalsozialistische Regime 1933–1945. II. Teil. Stuttgart 1966, S. 232–266. 58 Zu Wangen vgl. König-Wolf 2007 (wie Anm. 27), S. 288; zu Gailingen vgl. Friesländer-Bloch, Berty: Unsere Deportation am 22. Oktober 1940. In: Friedrich-Schmieder a.a.O. 1981, S. 111–121. 59 Vgl. Wolter, Markus a.a.O. 60 Vgl.: Badische Landesbibliothek Karlsruhe: Verzeichnis der am 22.10.1940 aus Baden in das Internierungslager Gurs deportierten Juden, siehe: http://digital.blb-karlsruhe.de/blbihd/content/titleinfo/1079922. 283 Chronik_Radolfzell_Korr.qxd 01.09.2017 11:32 Uhr Seite 284

9 Markus Wolter: Die SS-Garnison Radolfzell 1937–1945

„von der Bevölkerung kaum wahrgenommen“ 61 Lauenburg/Pommern (November 1940) in worden, wie es hieß. In den internen Schrift- Radolfzell auf Dauer eine zweite Unterführer- stücken von Gestapo, SD und Verwaltungsbe- schule der Waffen-SS etablieren. 64 Nach Vor- hörden wurden sie in wechselnden Euphemis- bild der aufgelösten SS-Unterführerschule men als „Abwanderung“, „Abbeförderung“ Dachau, die zwischen April 1936 und Juli 1937 oder als „Auswanderung der Juden“ bezeich- zur Ausbildung der SS-Totenkopf-Verbände net. Aufgrund der schlechten Versorgungssi- diente, waren die Unterführerschulen der tuation und katastrophalen hygienischen Be- Waffen-SS zu gleichen Teilen Stätten der mili- dingungen starben viele der in Gurs Internierten tärischen Ausbildung und der „weltanschauli- bereits bald nach ihrer Ankunft im Lager oder chen Schulung“ des SS-Nachwuchses. wurden 1942 über das Sammellager Drancy bei Paris in deutsche Vernichtungslager in Die Waffen-SS-Unterführerschule Radolfzell Polen deportiert und dort ermordet. Von den (USR) war die am längsten in Radolfzell sta- 5592 deportierten badischen Juden überlebten tionierte SS-Einheit. Ihre Etablierung fiel nicht 750. Das jüdische Leben am westlichen Boden- zufällig in die Zeit des Deutsch-Sowjetischen see und am Hochrhein, eine über 300 Jahre Krieges 1941–1945. Mit dem deutschen Über- währende Tradition und Kultur, waren ausge- fall auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 be- löscht. 62 gann ein rasseideologisch begründeter, ge- gen den „jüdischen Bolschewismus“ geplanter und geführter Vernichtungskrieg, bei dem die „Vom Gedankengut des Nationalsozialismus Einheiten der Waffen-SS von Beginn an syste- durchdrungen“ – Die Waffen-SS-Unterführer- matisch eingebunden waren. Anfangs gegen- schule Radolfzell 1941–1945 über der Wehrmacht unter den drei Millionen Soldaten des deutschen Angriffsheeres nach Nach der Verlegung des Totenkopf-Bataillons Zahlen unbedeutend, repräsentierte die Waf- von Radolfzell nach Stralsund am 1. Dezem- fen-SS 1941 mit ihren rund 160000 Angehöri- ber 1940 stand die weitere Verwendung der gen (1944: 595000), davon 36000 (1944: Heinrich-Koeppen-Kaserne erneut zur Dispo- 368000) als Feldtruppe, die ideologischen sition. Die Entscheidung fiel umgehend: „Zur Überzeugungstäter im ausgerufenen „Welt- Sicherung eines geeigneten Unterführernach- anschauungskrieg.“ 65 Die zunächst vier an der wuchses wurde auf Befehl von Reichsführer- Front eingesetzten Waffen-SS-Divisionen waren SS Himmler die SS-Unterführerschule (Ra- mit den im rückwärtigen Heeresgebiet mor- dolfzell) mit Wirkung vom 15. Februar 1941 denden SS-Brigaden, Kommandostab RFSS, aufgestellt.“ 63 In Analogie zu den beiden und den SS- aus Sicherheits- „Junkerschulen“ für die SS-Führer-Ausbildung polizei, Ordnungspolizei und SD direkt oder in Braunschweig und Bad Tölz sollte sich nach indirekt an der Umsetzung eines beispiello-

61 So Reinhard Heydrich, zu der Zeit Leiter des Reichssicherheitshauptamtes, 29.10.1940. Vgl. Archivdirektion Stuttgart a.a.O. 1966, S. 241. 62 Vgl. Fidler, Helmut: Jüdisches Leben am Bodensee. Frauenfeld, Stuttgart, Wien 2011; ferner: Engelsing, Tobias: Das jüdische Konstanz. Blütezeit und Vernichtung. Konstanz 2015. 63 Vgl. BArch Berlin, NS 19/3512, BArch Berlin, NS 19/3519, BArch-MA Freiburg, N 756/330b und RS 13/114, SS-Unterführerschule Radolfzell 1941–1944. 64 In den im Krieg okkupierten Gebieten wurden später noch drei weitere Unterführerschulen aufgestellt: Arnhem (Arnheim) in den Niederlanden, Lubliniec (Lublinitz) und Owinska (Posen-Treskau) in Polen. 65 Vgl. Rohrkamp, René: „Weltanschaulich gefestigte Kämpfer“. Die Soldaten der Waffen-SS 1933–1945. Organisation – Personal – Sozialstrukturen. 284 Paderborn, München, Wien, Zürich 2010. Chronik_Radolfzell_Korr.qxd 01.09.2017 11:33 Uhr Seite 285

Absolventen eines USR-Lehrgangs im Winter 1942/43.

sen Vernichtungsprogramms beteiligt, das den vier Monate dauernden Unterführerlehrgänge systematischen Massenmord der jüdischen endeten im Rahmen der „Unterführer-Laufbahn Bevölkerung in den besetzten Gebieten (Balti- im Truppendienst“ mit der Beförderung zum kum, Weißrussland, Ukraine) einschloss und SS-Unterscharführer, dem niedrigsten Rang der den Genozid der europäischen Juden insge- Unteroffiziers-Dienstgrade bei der SS. samt einleitete. 66 Die USR wurde von einem Kommandeur und Die jungen Freiwilligen der Waffen-SS (Min- dessen Führungsstab mit eigener Verwaltung destalter 17 Jahre), die sich 1941 bei einer der geführt. In allen organisatorischen und perso- Ergänzungsstellen gemeldet und auf vierein- nellen Belangen unterstand sie dem SS- halb oder zwölf Jahre verpflichtet hatten, Führungshauptamt (FHA) in Berlin. Die Mann- mussten sowohl dem „gesundheitlichen“ wie schaftsgebäude der Heinrich-Koeppen-Kaser- dem „SS-mäßigen“, d. h. „weltanschaulichen“ ne dienten zunächst vier (später sechs) Aus- Anforderungsprofil des nach Himmler „natio- bildungskompanien als Unterkunft: zwei Pan- nalsozialistischen, soldatischen Ordens nor- zergrenadier-Kompanien und zwei „schwere disch bestimmter Männer“ entsprechen, um Kompanien“ mit Panzerabwehr- und schwe- angenommen zu werden.67 Nach einem halben ren Infanteriegeschützen. Zwischen Februar Jahr Dienst bei der kämpfenden Feldtruppe 1941 und April 1945 bildete die USR in etwa 15 ernannte man sie zu SS-Sturmmännern, die Unterführer-Lehrgängen Tausende SS-Männer nun bei entsprechender Neigung und Eignung und SS-Rottenführer im Sinne der nationalso- die Wahl hatten, eine „Unterführer-“ oder eine zialistischen „Weltanschauung“ zu SS-Unterof- „Führer-Laufbahn“ einzuschlagen. Die regulär fizieren aus. 68 Zahlreiche hochrangige SS-

66 Vgl. Cüppers, Martin: Wegbereiter der Shoah. Die Waffen-SS, der Kommandostab Reichsführer SS und die Judenvernichtung 1939–1945. Darmstadt 2011. 67 Vgl. die Propagandabroschüre: Reichsführer SS/SS-Hauptamt (Hg.): „Dich ruft die SS!“. Berlin 1943. 68 Vgl. Harten, Hans-Christian: Himmlers Lehrer. Die weltanschauliche Schulung in der SS 1933–1945. Paderborn 2014. 285 Chronik_Radolfzell_Korr.qxd 01.09.2017 11:33 Uhr Seite 286

9 Markus Wolter: Die SS-Garnison Radolfzell 1937–1945

Offiziere waren an der USR als Ausbilder in de und „Weltanschauliche Erziehung“ (WE) Taktik, Waffenkunde und „Weltanschaulicher bzw. „Weltanschauliche Schulung“ (WS). An Erziehung“ tätig, bevor sie wie auch die zu SS- allen Unterführerschulen gab es eine eigene Unterscharführern beförderten Lehrgangsteil- Stabsabteilung (VI), die für den „weltanschau- nehmer in ihre Stammeinheiten zurückkamen. lichen Unterricht“ an vier bis sechs Wochen- Die USR war in dieser Hinsicht eine wichtige stunden verantwortlich zeichnete. Die Reihe Scharnierstelle von SS-„Karrieren“, die in den der SS-Führer der Stabsabteilung VI an der verschiedenen Einheiten der Waffen-SS ihre USR ist durch jüngere Forschungen bekannt, 72 Fortsetzung fanden. Erster USR-Kommandeur ebenso die Themen der einzelnen WE-Unter- war der damalige SS-Sturmbannführer Tho- richtseinheiten, die ein 1943 vom SS-Haupt- mas Müller, 69 der in dieser Funktion auch amt herausgegebener „Lehrplan für die welt- zwei Jahre als Taktik-Ausbilder verantwortlich anschauliche Erziehung in der SS und Polizei“ zeichnete. In Müllers Zeit als USR-Komman- aufschlüsselt: „Die SS, Geschichte und Grund- deur und Kasernenkommandant fiel u.a. die sätze“ , „Europa und das Reich“, „Der Führer, Einrichtung des Dachauer KZ-Außenkomman- sein Leben und seine Bedeutung für Europa“ dos und der Bau des SS-Schießstandes im und „Die lebensgesetzlichen Grundlagen Gewann Altbohl durch bis zu 120 KZ-Häft- unserer Weltanschauung“ (Erbbiologie und linge. Thomas Müller – genannt „Zigarren- Rassenkunde) mit den Unterkapiteln „Gefah- Müller“ – war, wie auch sein Nachfolger Willi ren der Rassenmischung“ und „Die jüdische Braun, 70 im städtischen Leben und bei allen Gefahr“.73 Als Gast- und Schulungsredner zur öffentlichen Auftritten der USR präsent und Ahnenkunde und NS-Rassenhygiene hat sich eine ihrer bekannten Repräsentationsfiguren. der in Gaienhofen lebende Arzt und NS- Die Bürgermeister Jöhle und Kratt zählten zu Schriftsteller Dr. Ludwig Finckh der USR emp- den häufigen Gästen der Kasernenkomman- fohlen, den Freundschaften mit Bürgermeister dantur, die regelmäßig zu Kameradschafts- Josef Jöhle und USR-Stabsoffizier Dr. Kurt Groß abenden, Vortragsveranstaltungen und Film- verbanden. 74 Finckhs SS-Affinität kam späte- vorführungen einlud. Hierzu hatte die USR im stens in seinem 1942 erschienenen Buch Wirtschaftsgebäude der Kaserne eine eigene „Kleine Stadt am Bodensee“ zum Ausdruck, Tonfilmanlage installiert, wo im Rahmen der das an der USR in signierten Exemplaren an Ausbildung Schulungs- und Propagandafilme Hunderte SS-Unterscharführer am Ende der gezeigt wurden. 71 Lehrgänge überreicht wurde. Die USR dankte es Finckh mit einer exklusiven Präsentations- Die Kampfausbildung an der USR umfasste und Verkaufsausstellung seiner Werke, die die Bereiche Taktik, Waffen- und Munitionskun- 1942 auf Anordnung von USR-Kommandeur

69 Müller, Thomas (1902), SS-Oberführer, NSDAP-Nr. 3 447 996, SS-Nr. 109 770. Kdr. USR 15.2.1941–Februar 1943; vgl. SSOA Thomas Müller, BArch Berlin. 70 Braun, Willi (Willy, Wilhelm) (1908–1947), SS-Standartenführer (30.1.1945). NSDAP-Nr. 3 498 089, SS-Nr. 214 175. Kdr. des III./SS-Infanterie Regiments „Germania“ der SS-Division „VT“, Nachfolger von Harry Polewacz (1909–1943) und Heinrich Koeppen; Kommandeur der USR (Februar 1943–Mai 1945); vgl. BArch Berlin, NS 34/13. 71 Vgl. StadtA Reutlingen, Nachlass Ludwig Finckh, II C, Nrn. 421, 468. 72 Vgl. Harten a.a.O. 2014, S. 324 f. 73 Vgl.: Jacobsen, Hans-Adolf / Jochmann, Werner (Hg.): Ausgewählte Dokumente zur Geschichte des Nationalsozialismus 1933–1945, Bielefeld 1961, S. 1–10. 74 Vgl. Wolter, Markus: Dr. Ludwig Finckh – „Blutsbewusstsein“. Der Höri-Schriftsteller und die SS. In: Proske, Wolfgang (Hg.): Täter-Helfer-Trittbrettfahrer. 286 NS-Belastete aus dem Bodenseeraum. Gerstetten 2016, S. 78–102. Chronik_Radolfzell_Korr.qxd 01.09.2017 11:33 Uhr Seite 287

Thomas Müller in der Kaserne arrangiert und führt. Ferner gab es seit 1944 regelmäßig so- vom örtlichen Buchhändler Wendelin Schmid genannte „Ausspracheabende“ mit eigens (1879–1955) in großen Mengen beliefert konzipierten Lehr- und Themenplänen für das wurde. 75 Führungspersonal der USR. 79

Als aus organisatorischen Gründen der vierte Die Standortverwaltung des Konzentrations- Kriegs-Reserve-Führer-Anwärter-Lehrgang und Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau (RFA) (1. März 1941–31.Mai 1941) nicht in den wurde im Frühjahr 1942 auf die USR aufmerk- dafür vorgesehenen Junkerschulen Bad Tölz sam. Zur ergänzenden und beschleunigten oder Braunschweig durchgeführt werden „Ausbildung“ verwies sie angehende SS-Ver- konnte, wurde die USR für dieses Mal zum waltungsführer der Todesfabrik kurzerhand Schulungsort für angehende SS-Führer. Zum nach Radolfzell. Die in Frage kommenden Be- 1. März 1941 bezogen rund 250 SS-Offiziers- werber hatten sich beim Lagerkommandanten, anwärter und deren Ausbilder für drei Monate SS-Obersturmbannführer Rudolf Höß (1900– die Heinrich-Koeppen-Kaserne. 76 Die nahezu 1947), zu melden und die „erforderlichen Per- vollständig überlieferten Personal- und Prü- sonalunterlagen (Beurteilung des Kompanie- fungsunterlagen dieses Junker-Lehrgangs ge- führers über die Führer-Eignung, handgeschrie- ben – analog zu den Ausbildungsrichtlinien bener Lebenslauf; Personalblatt mit Lichtbild)“ an der USR – einen detaillierten Eindruck von mitzubringen, um gegebenenfalls für den Lehr- der ideologischen Indoktrination des künftigen gang in Radolfzell planen zu können: SS-Führerpersonals.77 Die USR hatte damit kei- nen geringen Anteil an der von RFSS Himmler „Um diesen Bewerbern [für die aktive Führer- für alle Angehörigen der Waffen-SS und Polizei laufbahn des Verwaltungsdienstes] die Grup- geforderten NS-Weltanschauungs-Schulung, penführer-Eignung beschleunigt zuerkennen die auf den geplanten Vernichtungskrieg ge- zu können und Lücken in der Ausbildung zu gen die Sowjetunion einschwören sollte. 78 Be- schließen, wird durch den Chef des Amtes für sonders Kommandeur Braun muss von der Führerausbildung an der SS-Unterführerschu- Bedeutung der weltanschaulichen Erziehung le Radolfzell ein sechswöchiger Unterführer- überzeugt gewesen sein und entwickelte Lehrgang durchgeführt. Der Lehrgang beginnt eigene, zusätzliche Schulungsformate. Sein am 1.4.42 und endet am 21.5.42.“ 80 Ziel war es, die SS-Unterführer weltanschau- lich so zu festigen, dass sie später als Grup- Mit dem Formblatt „Beurteilung und Leistun- penführer den WE-Unterricht in ihren Stamm- gen“ überreichten die USR-Ausbilder schließ- einheiten selbst übernehmen konnten. Zu lich jedem Lehrgangsabsolventen das Prüfungs- diesem Zweck wurde an der USR das Fach ergebnis und sprachen sich für oder gegen eine „Weltanschauliche Personalbildung“ einge- Beförderung zum SS-Unterscharführer aus.

75 Vgl. Spruchkammerakte Wendelin Schmid, STAF D 180/2, Nr. 87190. 76 Vgl. BArch Berlin, NS 33/264, SS-FHA. Übersicht Junker – Lehrgänge vom 20.5.1942. 77 Vgl. BArch-MA Freiburg, N 756/330b, Bl. 7 ff. 78 Vgl. Cüppers 2011 (wie Anm. 69), hier das Kapitel: „Befähigung zum Massenmord. Der weltanschauliche Unterricht der Waffen-SS“, S. 98–107. 79 Vgl. Harten 2014 (wie Anm 68), S. 325 f. 80 Vgl. „Kommandanturbefehl KB 4/42“, Auschwitz-Birkenau. In: Norbert Frei (Hg.): Standort- und Kommandanturbefehle des Konzentrationslagers Auschwitz 1940–1945. München 2000, S. 107 f. 287 Chronik_Radolfzell_Korr.qxd 01.09.2017 11:33 Uhr Seite 288

9 Markus Wolter: Die SS-Garnison Radolfzell 1937–1945

Dachau in Radolfzell – mandos des KZ Dachau, in denen die Häftlinge Das KZ-„Außenkommando“ 1941–1945 für die unmittelbaren Belange der SS zur Zwangsarbeit herangezogen wurden, so auch Neben acht Millionen aus den besetzten Ge- in Radolfzell. Für ihre militärische Ausbildung bieten ins Deutsche Reich verschleppten auslän- brauchte die USR einen Großkaliber-Schieß- dischen Zivilarbeitern und vier Millionen Kriegs- stand, den es bis 1941 noch nicht gab. Die SS- gefangenen gehörten die Häftlinge der Konzen- VT und das Totenkopf-Bataillon praktizierten trationslager zum Millionenheer der Zwangsar- ihre Schießübungen und das Kampftraining beiter des NS-Regimes. 81 Die SS beutete die auf dem Kasernenareal und auf dem angren- Arbeitskraft der „Schutzhäftlinge“ schon in den zenden Übungsgelände „Schafweide“. Noch frühen Phasen des Konzentrationslagersystems von der SS-VT „Germania“ war damit begonnen systematisch aus. Mit Beginn des Krieges, als worden, das für eine große Schießanlage vor- sich die „Belegstärke“ der Konzentrationslager gesehene Gelände im Radolfzeller Stadtwald auf über 50000 verdoppelt hatte, wurden KZ- zu roden. Erste größere Erdaushübe und bauli- Häftlinge nicht nur verstärkt in SS-eigenen che Vorarbeiten, die 1938 das Bauunternehmen Produktionsstätten wie Steinbrüchen und „Hirling“ mit schwerem Gerät ausführte, wur- Ziegeleien eingesetzt, sondern an Rüstungs- den kriegsbedingt 1939 unterbrochen. Ra- und Industriebetriebe zu Tagessätzen „ver- dolfzell verkaufte das entwässerungsbedürf- mietet“, die den kriegsbedingten Arbeitskräf- tige Areal mit Wirkung vom 27. August 1940 teausfall mit zivilen Zwangsarbeitern und für 49317 RM an das Deutsche Reich, SS- Kriegsgefangenen allein nicht kompensieren Hauptamt Haushalt und Bauten. 83 Die bishe- konnten. Die „Verwaltung“ von schließlich rigen Zwischenlösungen sollten mit der gro- Hunderttausenden von KZ-Häftlingen in 24 ßen Schießanlage im Altbohl ein Ende finden. Stammlagern und über 1000 Außenlagern im Für deren Fertigstellung – drei Langbahnen Deutschen Reich und in den besetzten Gebieten (300 m x 55 m), drei Kurzbahnen (33 m x 55 m), lag seit 1942 folgerichtig beim SS-Wirtschafts- ein gestaffelter Kugelfang, Schießscheiben- und Verwaltungshauptamt, das die regelrechte bunker und ein massiv gemauertes Haus, das Versklavung der KZ-Häftlinge betrieb und in u. a. als Munitionsdepot diente – benötigte die diesem Zusammenhang ein Archipel von KZ- SS möglichst „kostenneutrale“ Arbeitskräfte Außenlagern und Außenkommandos in der und forderte sie einmal mehr bei einem Kon- Nähe von Industriebetrieben und anderen zentrationslager an. Arbeitsstellen errichtete. 82 Grundsätzlich als ein System der „Vernichtung durch Arbeit“ Am 19. Mai 1941 wurde mit der Überstellung konzipiert, gab es unter rein wirtschaftlichen eines ersten Kontingents von etwa 120 deut- Gesichtspunkten auch Konzentrationslager, schen, polnischen und tschechischen KZ- die auf eine zumindest vorläufige „Erhaltung Häftlingen aus dem Stammlager in Dachau, der Arbeitskraft“ zielten. Das galt mehr oder die in Begleitung einer SS-Wachmannschaft weniger für jene Außenlager und Außenkom- am Radolfzeller Bahnhof ankamen und vor

81 Vgl. Fröhlich, Uta u.a.: Zwangsarbeit im NS-Staat. Ein Überblick. In: Alltag Zwangsarbeit 1938–1945. Berlin 2013, S. 26–52. Zur Zwangsarbeit in Radolfzell vgl. Bibby, Hildegard (Hg.): „Das ist mir in Erinnerung geblieben“ – ZeitzeugInnen in Radolfzell 1930–1950. Konstanz 2015, S. 122 ff. 82 Vgl. Benz, Wolfgang und Distel, Barbara (Hg.): Der Ort des Terrors. Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager. Gesamtwerk in 9 Bänden. München 2005–2009. 83 288 Vgl. StAR IX.332, 333, 334. Chronik_Radolfzell_Korr.qxd 01.09.2017 11:33 Uhr Seite 289

Die SS-Schießanlage 1945, Luftaufnahme des US-Militärs 1945.

den Augen der Bevölkerung durch die Stadt Fertigstellung der USR-Schießanlage vorge- geführt wurden, das KZ-Außenkommando sehen, wurde das KZ-Arbeitskommando nach Radolfzell eingerichtet. 84 Untergebracht waren Abschluss der Arbeiten im August 1942 nicht die Häftlinge im gepflasterten ehemaligen aufgelöst. Für weitere Belange der USR blieb Pferdestall der Kaserne. Die „Belegstärke“ des ein Restkontingent wechselnder Größe im KZ-Außenkommandos betrug am Ende des Lager, das je nach Bedarf auch für Arbeiten in ersten Jahres nach Fluchten und Häftlings- Radolfzeller Betrieben und Einsätzen in der tötungen 113 „Schutzhäftlinge“. Die überliefer- Landwirtschaft angefordert werden konnte.87 te Dachauer „Stärkeliste“ – „Außenkommando: Mindestens 15 Häftlinge waren 1943/44 beim Radolfzell (SS-Unterführerschule) / Ausgerückt Bau eines unterirdischen Kleinkaliber-Schieß- am 19. Mai 1941“, datiert vom 18. Mai 1942, standes bzw. Erdbunkers auf dem Kasernenge- nennt ihre Namen, Geburtsdaten, Häftlings- lände eingesetzt und mussten hierfür die schwe- nummern, Haftarten und Blocknummern. 85 ren Ausschachtungsarbeiten ausführen. 88 Gelistet sind in diesem Schlüsseldokument 46 „politische Häftlinge“, 35 sogenannte „Asozia- Im „Außenkommando Radolfzell“, das im Ge- le“ („AZR“ – „Arbeitszwang Reich“) und 32 so- gensatz zu den größeren KZ-„Außenlagern“ genannte „Kriminelle“ (abgekürzt: „PSV“ – Dachaus keine eigenständige Lagerverwaltung „polizeiliche Sicherungsverwahrung“). Radolf- besaß und über das Stammlager verwaltet wur- zell zählte in dem zwischen 1941 und 1945 de, übten ein SS-Kommandoführer und eine sprunghaft ausgebauten System von zuletzt SS-Wachmannschaft aus Dachau die unmittel- 140 Dachauer Außenlagern und Außenkom- bare Befehlsgewalt über die Häftlinge aus. Auf mandos damit zu den frühesten, hinsichtlich dem Kasernenareal unterstand die Lager-SS seiner Größe zu den kleineren bis mittleren ihrerseits der USR-Kommandantur, die auch Dachauer Nebenlagern. 86 Ursprünglich zur für die Verpflegung und die Bewachung der

84 Vgl. Schalm, Sabine: Überleben durch Arbeit? Außenkommandos und Außenlager des KZ Dachau 1933–1945, Berlin 2009. Vgl. Benz, Wolfgang und Distel Barbara 2005 (wie Anm. 86), Band 2. Frühe Lager: Dachau, Emslandlager, hier: Achim Fenner: Radolfzell, S. 468–469. 85 Wolter 2011 (wie Anm. 1), S. 271. 86 Vgl. hierzu die Übersichtsdarstellungen in Schalm 2009 (wie Anm. 84), S. 346–354. 87 Vgl. Schreiben der Radolfzeller Polizei vom 8.9.1967; BArch Ludwigsburg, B162/16384. 88 BArch Ludwigsburg, B 162/16 384, S. 201. 289 Chronik_Radolfzell_Korr.qxd 01.09.2017 11:33 Uhr Seite 290

9 Markus Wolter: Die SS-Garnison Radolfzell 1937–1945

Radolfzell im Zweiten Weltkrieg 1942–1945 Zahlen, Daten, Fakten In den großen Radolfzeller Firmen – allen voran „Allweiler“ – sind bis Kriegsende 533 ZwangsarbeiterInnen beschäftigt. 1. September 1939 1943 Der Zweite Weltkrieg beginnt. Der zivile Luftschutz wird angeordnet. „Allweiler“ wird „Kriegsmusterbetrieb“. Mit Kriegsbeginn ist die Grenze zur Schweiz dicht. 1943 6. September 1939 Wachsender Zustrom von Flüchtlingen aus den luftbedrohten Ge- Über 2000 Evakuierte aus dem Markgräflerland treffen zu längerem bieten. Aufenthalt in Radolfzell ein. Der Schiffsverkehr auf dem Untersee wird eingestellt. 21. Juni 1943 Luftangriff auf Liggeringen, zwei Männer, drei Frauen und drei Mäd- 25. September 1939 chen werden getötet. Nur ein Gebäude – die Kirche – übersteht den Erster Fliegeralarm in Radolfzell. Angriff unbeschadet. 19. November 1939 15. November 1943 Feierliche Übergabe des alten Forsthauses durch die Stadt als „Haus Leonhard Österle und Oldrich Sedlacek , aus dem KZ Dachau nach der Partei“ an Ortsgruppenleiter Gräble. Radolfzell verlegte KZ-Häftlinge, gelingt die Flucht in die Schweiz. 1. Mai 1940 1944 Die Firma „Schiesser“ wird mit Unternehmensleiter Walter Schel- Wegen zunehmender Fliegergefahr häufen sich die Tag- und Nacht- lenberg als „NS-Musterbetrieb“ mit der „Goldenen Fahne der DAF“ alarme. ausgezeichnet. Juni/Juli 1944 Juni 1940 Carl Diez sitzt zunächst wegen Abhörens ausländischer Sender zu- Die aus dem badischen Rheingebiet nach Radolfzell Evakuierten keh- sammen mit seiner Tochter Jolanda in Untersuchungshaft und wird ren in ihre Heimat zurück. wenige Tage nach dem missglückten Hitler-Attentat vom 20. Juli 1944 8. November 1940 erneut verhaftet, kann jedoch von der KZ-Haft in Dachau verschont Die SS-Kaserne wird von einem englischen Flieger angegriffen. Meh- und wieder freigelassen werden. rere Leuchtbomben und drei Brisanzbomben treffen die Waffenmeis- Juli/August 1944 terei und das Stallgebäude. Personen kommen nicht zu Schaden. Verhaftungen weiterer Vertreter von Zentrum, SPD und KPD nach 1940 dem Attentat vom 20. Juli. Hugo Bansbach und Gustav Troll werden Radolfzell verzeichnet in diesem Jahr die meisten Kirchenaustritte in die KZ Strutthof/Natzweiler bzw. Dachau eingeliefert. Bansbach und prozentual am meisten unter den SS-Angehörigen. Die Jugend- wird nach kurzer Zeit, Troll erst im September 1944 freigelassen. gruppen der katholischen Kirche hingegen haben noch Zulauf. 4. Oktober 1944 22. Oktober 1940 Erster Appell aller Radolfzeller Volkssturmmänner der Jahrgänge Die „rassisch“ verfolgte Alice Fleischel, auf der Flucht in die Schweiz, 1884–1928. wird in Radolfzell von der Gestapo Konstanz verhaftet und ins süd- Dezember 1944 französische Lager Gurs deportiert, wo sie am 26. April 1941 stirbt. Errichtung von Panzersperren innerhalb und außerhalb der Stadt. 1940/41 März 1945 Im Rahmen der sogenannten „T4-Aktion“ werden mehrere Personen Das Tegginger Schulhaus wird als Reserve-Lazarett eingerichtet, aus Radolfzell in der Anstalt Grafeneck auf der Schwäbischen Alb er- das im April in die Kreishaushaltungsschule verlegt wird. mordet. 21. April 1945 Mai 1941 Feindliche Tieffliegerangriffe auf Bahnhof und Krankenhaus fordern Der Großkaliber- und Pistolen-Schießstand im Gewann „Altbohl“ drei Tote und 14 Verletzte. Zwei am Güterbahnhof abgestellte Züge wird unter Einsatz von KZ-Häftlingen aus Dachau gebaut und ist im mit Heeresgut und Munition geraten nach Beschuss englischer Jagd- Oktober 1942 fertiggestellt. bomber in Brand, durch die Explosionen werden Gebäude beschä- Juli 1941 digt. Die Bevölkerung plündert den Inhalt der noch unbeschädigt ge- Im Stadtgebiet sind 13000 Kleingärten angelegt. Der Stadtgarten bliebenen Waggons des Munitions- und Materialzuges. Viele Ein- wird zur Versorgung der Bevölkerung mit Gemüse bepflanzt. wohner verlassen die Stadt und halten sich in den Nachbardörfern 11. November 1941 auf. Jacob Dörr, der als Häftling vom KZ Dachau ins Außenkommando 25. April 1945 Radolfzell kam, wird „auf der Flucht erschossen“ – also ermordet. Nach intensiven Verhandlungen kann die Stadt nachmittags kampf- April 1942 los den Truppen der I. Französischen Armee übergeben werden. Der Die katholische Pfarrei muss sechs Kirchenglocken für Kriegszwecke Kapitulation und anschließenden Besetzung sind dramatische abliefern. Stunden vorausgegangen. Beim feindlichen Artilleriebeschuss wer- den mehrere Wohnhäuser getroffen und die Firma „Allweiler“ gerät 23. Oktober 1942 in Brand. Nach dem Tod von Bürgermeister Josef Jöhle wird August Kratt kom- missarischer Bürgermeister und bleibt es bis Kriegsende. Zusammengestellt von der Abteilung Stadtgeschichte Radolfzell

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Häftlinge zuständig war. Der Wachdienst war laut USR-Befehl „sinngemäß dem der Konzen- trationslager“ durchzuführen, was die Gültigkeit der Dachauer „Disziplinar- und Strafandrohung“ („Lagerordnung“) wie auch der „Dienstvor- schriften für die Begleitposten und die Gefan- genenbewachung“ bedeutete. Die von KZ-In- spekteur Theodor Eicke für Dachau entworfe- nen, später für alle Konzentrationslager gülti- gen Bestimmungen regelten bis ins Einzelne die je nach „Vergehen“ vorgesehenen Häftlings- strafen, die Durchführung der Häftlingsappelle, den Abmarsch der Kolonnen zum Arbeitsein- satz, bis hin zu den Sprachregelungen der Be- Der Pferdestall der SS-Kaserne, um 1938. Ab Mai 1941 waren fehle und dem genauen Abstand, den Wach- in den ehemaligen Pferdeboxen die KZ-Häftlinge unterge- bracht. posten von den Häftlingen zu halten hatten. 89 Die in der „Lagerordnung“ vorgesehenen Stra- fen waren strenger Arrest zwischen drei und zurück ins Lager.“ 93 Die schwere Arbeit an 42 Tagen, verbunden mit 25 Stockhieben zu den bis zu 300 Meter langen Schießbahnen Beginn und am Ende der Strafe; die aufgeführ- bestand darin, ohne adäquate Werkzeuge das ten „Nebenstrafen“: Strafexerzieren, Postsper- Terrain zu planieren, Wurzelstrünke zu ent- re, Kostentzug, hartes Lager und Pfahlbin- fernen und den auf Loren herangeführten Erd- den. 90 Auch für den befohlenen Gebrauch der aushub zu Erdwällen und Kugelfängen aufzu- Schusswaffe bei Häftlingsfluchten in den schütten und zu befestigen. Erster Komman- Außenlagern waren die „Dienstvorschriften“ doführer zwischen Mai 1941 und August 1942 des Stammlagers maßgeblich. 91 war der als Kriegsverbrecher im Dachau-Haupt- prozess 1945 von einem amerikanischen Mili- Eine Postenkette aus bis zu fünf Angehörigen tärgericht zum Tod verurteilte und hingerich- der Totenkopf-Standarte Dachau 92 begleitete tete SS-Hauptscharführer Josef Seuß. 94 Sein die täglich ausrückende Häftlingskolonne von Ruf als grausamer Leiter des Dachauer Kom- der Kaserne zur etwa drei Kilometer entfern- mandantur-Arrests eilte Seuß nach Radolfzell ten Schießanlage: „Um 6.00 Uhr morgens war voraus und sollte sich dort in besonderer Wecken, um 6.15 Uhr Apell und um 6.30 Uhr Weise bestätigen. In einem bei Schuldspruch rückten die Häftlinge zum Bauplatz ab. Bis 12 und Strafzumessung berücksichtigten Affida- Uhr wurde dort gearbeitet. Dann wurde das vit räumte Seuß selbst ein, die Häftlinge in Essen gebracht. Ab 12.30 Uhr wurde weiterge- Radolfzell „besonders hart behandelt“ zu ha- arbeitet bis 17.30 Uhr. Dann ging es wieder ben; angeblich härter noch als im Arrestbunker

89 Vgl. Broszat Martin: Nationalsozialistische Konzentrationslager 1933–1945. In: Buchheim, Hans et al.: Anatomie des SS-Staates. Band II. Olten und Freiburg 1965, hier: S. 60 f. 90 Zit. nach Zámeãník, Stanislaw: Das war Dachau. Luxemburg, 2002, S. 406–411. 91 Broszat a.a.O. 1965, S. 61. 92 Vgl. BArch Ludwigsburg, B 162/16 384, S. 146 ff. 93 Ebd., S. 164. 94 Vgl. Lessing, Holger: Der erste Dachauer Prozess. Baden-Baden 1993. 291 Chronik_Radolfzell_Korr.qxd 01.09.2017 11:33 Uhr Seite 292

9 Markus Wolter: Die SS-Garnison Radolfzell 1937–1945

des Stammlagers Dachau. 95 Der mitangeklag- te, zu zehn Jahren Haft verurteilte SS-Schar- führer Hugo Lausterer, Wachmann des Ar- beitskommandos unter Seuß, bestätigte die schweren „persönlichen Exzesstaten“ seines Vorgesetzten in Radolfzell:

„SS-Hauptscharführer Seuß schlug die Gefan- genen sehr oft während ihrer Zeit in Radolfzell. Er schlug sie mit seinen Händen, mit Stöcken und trat sie auch mit Füßen. Einmal sah ich, wie er einen kranken Häftling schlug, weil der Häftling zu krank für die Arbeit war. Ich sah Seuß auch, wie er Häftlinge von einem 30 bis SS-Hauptscharführer Josef Seuß (1906–1946). Passbild in 50 Meter hohen Damm hinunterstieß. Er tat seiner SS-Offiziersakte (SSOA). dies, nachdem er sie geschlagen hatte.“ 96

Auch der ehemalige Häftling Karl Täuber äu- „Lagerordnung“ waren dies 25 Stockhiebe ßerte sich zum Überwachungs- und Strafreg- und 42 Tage Bunkerarrest bei halber Verpfle- lement des Radolfzeller Kommandoführers. gungsration. Der im August 1942 ins Stamm- Als sich Täuber und vier weitere Häftlinge an lager zurückgekehrte Seuß dürfte sie wieder- der Baustelle am Schießstand einmal einen um selbst vollstreckt haben. 97 weggeworfenen Zigarettenstummel geteilt hat- ten, kam es zu einem Gewaltexzess: Josef Seuß In Vorermittlungen der „Zentralen Stelle der schlug zunächst mit Fäusten und einer Wurzel Landesjustizverwaltungen“ wurden seit Ende auf sie ein, bevor er Essensentzug anordnete. der 1960er-Jahre mehrere ehemalige KZ-Häft- Die fünf Häftlinge mussten während und nach linge zu strafverfolgungsrelevanten Vorkomm- der Essenspause am Schießstand mit 20 bis nissen und den allgemeinen Existenz- und Ar- 25 Pfund schweren Steinen auf den Schultern beitsbedingungen im Außenkommando Ra- über eine Stunde „strafstehen“ und bekamen dolfzell befragt. 98 Sie gaben u. a. an, über die auch abends, vor der KZ-Unterkunft in der Ka- Kantine der USR versorgt worden zu sein; serne stehend, nichts zu essen. Seuß schickte Unterbringung und Verpflegung „sollen ver- eine Strafmeldung („wegen verbotenen Rau- hältnismäßig gut“ gewesen sein. 99 Nach chens“) an das Stammlager Dachau. Dort er- Einschätzung der Häftlinge waren sie aber hielten die fünf Häftlinge nach ihrer Rücküber- keineswegs „gut“, auch nicht im Vergleich zu stellung ihre „offizielle“ Strafe. Nach Eickes den Lebensbedingungen im Stammlager,

95 Vgl. Affidavit Josef Seuß: In: Review of Proceedings of General Military Court in the Case United States vs. Martin Gottfried Weiss et al.”, hier S. 27 f. Digitalisat unter: https://www.jewishvirtuallibrary.org/jsource/Holocaust/dachautrial/d3.pdf. 96 Rückübersetzung aus dem englischsprachigen Affidavit (wie Anm. 95), S. 61 f. 97 Vgl. Schalm a.a.O. 2009, S. 257 f. 98 Verfahren „Jacob u.a., Einheit NL Radolfzell, Tatort KL Dachau wegen Mordes/Beihilfe zum Mord.“ 1969–1976/78, BArch Ludwigsburg B 162/16384. 99 So ohne näheren Beleg Achim Fenner a.a.O. 2005, S. 469; vermutlich mit Bezug auf den Schlussvermerk der Ludwigsburger Ermittler; BArch Ludwigsburg, 292 B 162/16 384, S. 146. Chronik_Radolfzell_Korr.qxd 01.09.2017 11:33 Uhr Seite 293

„sondern eher schlechter“ 100 Der Euphe- erschossen zurückgebracht, der zweite lebend mismus mag sich insofern erklären, als es eingefangen worden; vom dritten wurde be- nach bisherigem Kenntnisstand im Außen- hauptet, man habe ihn tot aufgefunden. Auch kommando Radolfzell keine Todesfälle durch ein USR-Absolvent des Lehrgangs November Verhungern gab und keine systematische 1941 bis März 1942 erinnerte sich an Häftlings- „Vernichtung durch Arbeit“ betrieben wurde. fluchten in dieser Zeit, wobei unklar bleibt, ob Hunger gehörte aber auch dort zum Lagerall- es sich um die drei erwähnten Tschechen han- tag der KZ-Häftlinge, ebenso wie menschen- delte. 105 Die Namen dieser Häftlinge konnten unwürdige Unterkunft, unzureichende Beklei- bislang nicht ermittelt werden. Dagegen lie- dung, schlechte medizinische Versorgung ßen sich zwei Häftlingstötungen im KZ-Außen- und die schikanöse Behandlung durch das kommando namentlich nachweisen. Jacob Dörr prügelnde SS-Wachpersonal. Nicht zuletzt (1916–1941) war am 25. April 1941 in das KZ mussten die dem rigiden Dachauer Straf- und Dachau eingeliefert worden und kam am 19. Mai Lagerreglement ausgesetzten Häftlinge auch 1941 ins Außenkommando Radolfzell.106 Am 11. in Radolfzell ständig mit willkürlichen Bestra- November 1941 wurde ihm von seinem SS- fungen und Hinrichtungen rechnen. 101 Bewacher am Schießstand die Mütze vom Kopf gerissen und hinter die Postenkette geworfen. Zwischen 1941 und 1945 kam es im KZ-Außen- Als er sie auf dessen Befehl zurückholen wollte, kommando zu mehreren Fluchtversuchen und wurde er hinterrücks „auf der Flucht“, erschos- Häftlingstötungen. Dem politischen „Schutz- sen. 107 Das zweite Todesopfer, der aus Rehlau, häftling“ Leonhard Oesterle 102 und seinem Oberschlesien, stammende „Schutzverwah- tschechischen Mithäftling Oldrich Sedlácek rungshäftling“ (PSV) Fritz Klose (1904–1943), (1919–1949) aus Bilina gelang am Abend des war ebenfalls am 19. Mai 1941 ins Außenkom- 15. November 1943 die lange vorbereitete ge- mando Radolfzell überstellt worden. Dort wurde meinsame Flucht, indem sie ein Latrinenfenster er am 5. August 1943 bei einem Außeneinsatz des Lagers aufstemmten und im Schutz der mutmaßlich von einer SS-Wache getötet; laut Dunkelheit an den SS-Wachen vorbei die Ein- Sprachregelung der Dachauer Lagerdokumen- fassungsmauer des Kasernengeländes über- te: ein „Unfall“.108 Dass Jacob Dörr, Fritz Klose wanden.103 Leonhard Oesterles Erinnerungen und die von Oesterle erwähnten Tschechen zufolge war es im ersten Jahr drei tschechischen nicht die einzigen Toten des Außenkommandos Häftlingen gelungen, die Kasernenwache am waren, lässt bei der anzunehmenden Unvoll- Tor zu überwältigen und zu fliehen.104 Einer sei ständigkeit und ungünstigen Überlieferung der

100 Aussage Josef Drehsen (geb. 1909) vor dem Amtsgericht Mönchengladbach, 8.12.1976; BArch Ludwigsburg, B 162/16 384, S. 164 f. 101 Vgl. u.a. die Aussagen der überlebenden Häftlinge Walter Broßinski, Ludwig Distelkamp, Alfons Krzbietke und Wilhelm Schnell; BArch Ludwigsburg, B 162/16 384. 102 Leonhard Oesterle (1905–2009). Bildhauer, Zeichner und Kunstlehrer. Als zeitweiliger Anhänger der Kommunistischen Jugend (KJ) und wegen politischer Widerstandsaktivitäten wurde Oesterle 1935 in Stuttgart festgenommen und zu fünf Jahren Zuchthaus und anschließender „Schutzhaft“ verurteilt, seit Mai 1940 im Stammlager Dachau, seit Mai 1941 im Außenkommando Radolfzell. Vgl. Kluwe, Sigbert E.: Glücksvogel. Leos Geschichte. Baden-Baden 1990. 103 Zur Geschichte dieser Flucht vgl. Kluwe a.a.O. 1990, S. 117 ff.; vgl. ferner die Einträge in den „Schreibstubenkarten“, ITS Bad Arolsen, Digitales Archiv, 1.1.6.7., Doc. 10718294 und Doc. 10750916: „Abgang durch Flucht v. Ako. Radolfzell: 16.(!)11. 1943“. 104 Vgl. Kluwe a.a.O. 1990, S. 99 f. 105 Eibe Seebeck, 25.12.1971, BArch-MA Freiburg, N756/330 b. 106 Vgl. StAR, B.1/112–4; „Schreibstubenkarte“; ITS Bad Arolsen, Digitales Archiv, 1.1.6.7, Doc. 10633685; Dachauer Totenbuch; 1.1.6.1., Doc. 9923905. 107 Vgl. BArch Ludwigsburg B 162/16384), S. 57 und S. 72. 108 ITS Bad Arolsen, Digitales Archiv, ANF/KL-Listenmaterial Dachau, Ordner 105–2007, Bl. 49; Schreibstubenkarte Fritz Klose, 1.1.6.7., Doc. 10679205, Dachauer Totenbuch, 1.1.6.1., Doc. 9923905. 293 Chronik_Radolfzell_Korr.qxd 01.09.2017 11:33 Uhr Seite 294

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Dachauer Dokumente eine weitere Aussage im Die USR im Kriegsjahr 1944/45 – Rahmen des Ludwigsburger Ermittlungsverfah- Endphaseverbrechen rens 1969–1978 vermuten. So gab der ehemali- ge Häftling Josef Drehsen an, im Juli oder August Im letzten Jahr des Krieges, der seit der Nie- 1942 unmittelbar Zeuge einer Erschießung von derlage von Stalingrad 1943 von der obersten zwei Häftlingen am Schießstand gewesen zu Führung zum „totalen Krieg“ erklärt worden sein.109 Weder der von ihm genannte SS-Mann war und längst alle Bereiche des Zivillebens und mutmaßliche Täter („Jakob Stock“) noch miteinbezog, wurde 1944 der bislang routi- die beiden von ihm erschossenen Häftlinge niert und planmäßig abgewickelte USR- konnten im Rahmen der 1978 eingestellten Schulungsbetrieb modifiziert, blieb aber im Ermittlungen eindeutig identifiziert werden. Wesentlichen unbeeinträchtigt. Dazu gehörte, Auch im Falle von Jacob Dörr ließ sich der frag- dass an der USR zunehmend auch Angehörige liche, von ehemaligen Häftlingen genannte SS- aus Waffen-SS-Divisionen ausgebildet wurden, Wachposten „Schmidt“ nicht zweifelsfrei er- die sich aus „volksdeutschen“ oder ausländi- mitteln. Der Todesfall von Fritz Klose war den schen Freiwilligen rekrutierten, so zuletzt u. a. Ludwigsburger Ermittlern nicht bekannt und größere Kontingente aus Ungarn und von ukrai- blieb deshalb unberücksichtigt. Ohne die nischen SS-Freiwilligen der 14. Waffen-SS-Gre- namenlosen, mutmaßlichen Todesfälle einzu- nadier-Division, die im Herbst/Winter 1943 in beziehen, ließen sich bislang insgesamt 119 der Heinrich-Koeppen-Kaserne auf ihre Einsät- Häftlinge ermitteln, die das Außenkommando ze an der Ostfront vorbereitet wurden.113 Zur Radolfzell zwischen 1941 und 1945 durchlie- Abwehr der zu erwartenden Invasion der alli- fen. Nachdem die Arbeiten am Schießstand ierten Streitkräfte im Westen forderte das SS- 1942 zum Abschluss gebracht worden waren, Kommandoamt bereits Ende 1943 die zusätz- wurden zwischen Juni und Anfang Dezember liche Aufstellung sogenannter SS-„Alarmein- 1942 insgesamt 85 Häftlinge nach Dachau heiten“ an, die sich aus Lehrgangspersonal rücküberstellt.110 Einige wenige wurden ent- mehrerer Waffen-SS-Unterführerschulen rekru- lassen, andere starben bald darauf in Dachau tieren sollten. Als im März 1944 an die USR eine oder erlebten dort oder in einem der zahlrei- diesbezügliche Anforderung erging, wurde aus chen Außenlager 1945 ihre Befreiung. Die USR-Führern und Absolventen der 9. bis 12. meisten von ihnen wurden gruppenweise von Unterführerlehrgänge kurzfristig das dritte Dachau in andere Konzentrations- und Ver- „Alarm-Bataillon“ aufgestellt und der „SS- nichtungslager weiterverlegt. 111 Am 16. Januar Kampfgruppe 1“ (SS-Panzergrenadier-Brigade 1945 wurden die letzten 19 in Radolfzell ver- 49) unter Kommandeur Markus Faulhaber 114 bliebenen KZ-Häftlinge in Richtung Dachau zur „Frontverwendung“ zugeteilt. 115 Am 6. Juni überstellt. 112 1944 wurde das USR-Bataillon von Radolfzell

109 BArch Ludwigsburg (wie Anm. 100), S. 165. 110 Vgl. ITS Bad Arolsen, Digitales Archiv, 1.1.6.1, Doc. 9916519; 9916550/51; 9916601; 9916617; 9916650, 9916763. 111 Vgl. Dachauer Häftlingsdatenbank, Steve Morse, unter: http://stevemorse.org/dachau/dachau.html. 112 ITS Bad Arolsen, Digitales Archiv, 1.1.6.1, Doc. 9918188. 113 Vgl. Müller, Rolf-Dieter: An der Seite der Wehrmacht. Hitlers ausländische Helfer beim „Kreuzzug gegen den Bolschewismus“ 1941–1945. München 2007. 114 Faulhaber, Markus (1914–1945), SS-Sturmbannführer, NSDAP-Nr. 3.237.584 , SS-Nr. 113916. 1938 III./SS-VT „Germania“, Radolfzell, 1941 SS-Division „Wiking“, Ausbilder an der Junkerschule Bad Tölz. Faulhaber starb am 11.5.1945 bei einem Unfall. 1952 Überführung auf den Städtischen Friedhof Radolfzell; vgl. Spruchkammerakte Markus Faulhaber, StAF D 180/2 Nr. 226817. 115 294 Vgl. Landwehr, Richard: Alarm Units. SS Panzergrenadier Brigades 49 and 5. Bennington, 2006, S. 5. Chronik_Radolfzell_Korr.qxd 01.09.2017 11:33 Uhr Seite 295

auf den Truppenübungsplatz Königsbrück bei Dresden verlegt, von dort nach Dänemark und schließlich am 12./13. August 1944 in die Kämpfe in die Normandie abkommandiert.116 Unter dem Eindruck der im Herbst 1944 von Westen gegen den Rhein vorstoßenden ameri- kanischen und französischen Streitkräfte wurde der Schulungsbetrieb der USR im No- vember 1944 vorübergehend eingestellt. Kom- USR-Kompanie, MG-Schützen, Winter 1943/44; die Kasernengebäude im mandeur Willi Braun rekrutierte aus den dama- Tarnanstrich. ligen USR-Lehrgangsteilnehmern, Unterführern und Führern, ergänzt um 200 Mann HJ, Teilnehmer eines Lehrgangs für Offiziersbe- Howland J. Hamlin befohlen, die kurz nach werber, und 500 kurzfristig „umgeschulte“ An- dem Luftangriff der 756th Bomber Squadron gehörige der Luftwaffe, das SS-Regiment „Ra- auf Friedrichshafen mit ihren Fallschirmen aus dolfzell“, eine aus acht Kompanien bestehen- ihrer beschädigten Maschine über dem Boden- de sogenannte „Einsatzgruppe“. Eingebunden see abgesprungen waren. 119 Die beiden Kriegs- in die Wehrmacht operierte das SS-Regiment gefangenen wurden Stunden später in einem „Radolfzell“ („Kampfgruppe Braun“) von De- Wald zwischen Gundholzen und Iznang vom zember 1944 bis Ende Januar 1945 im Gebiet Lkw aus von den USR-Offizieren Adolf Mattes Oberrhein/Colmar, wo es zu verlustreichen und Rudolf Spletzer „auf der Flucht“ erschos- Kämpfen gegen französische und amerikani- sen. 120 sche Streitkräfte um den Brückenkopf Colmar, vor allem bei Kaysersberg und Sigolsheim, Als Nachfolger des am ersten Einsatztag durch kam. 117 Unfall ausgefallenen Kommandeurs Willi Braun kommandierte Groß von Dezember 1944 bis Spätestens seit dieser Zeit kann SS-Haupt- Ende Januar 1945 das USR-Regiment und sturmführer Dr. Kurt Groß für die USR in der empfahl sich bei diesen Kampfhandlungen Endphase des Krieges als Schlüsselfigur gelten. durch „vorbildlichen Einsatz“ offenbar für Hö- Der sich als „bestqualifizierte Führer-Persön- heres. Am 15. Januar 1945 wurde er zur Be- lichkeit“ an der USR profilierte SS-Hauptsturm- richterstattung zum Oberbefehlshaber der führer Dr. Kurt Groß 118 hatte am 20. Juli 1944, Heeresgruppe Oberrhein, RFSS Himmler, zi- dem Tag des gescheiterten Attentats auf tiert, der ihn zum SS-Sturmbannführer beför- Hitler, die Tötung zweier in Öhningen und derte. Da sich der wiederhergestellte USR- Wangen gefangen genommener amerikani- Kommandeur Willi Braun erst am 20. April scher Piloten, Richard V. S. Newhouse und 1945 in der Kaserne zurückmeldete, setzte Kurt

116 Vgl. hierzu: Landwehr a.a.O. 2006, S. 8. 117 BArch-MA Freiburg, N 756/330 b. Vgl. den „Gefechtsbericht“ des AOK 19 zur „Operation Habicht“. In: Hugel, André, Krebs u.a.: Wir waren Feinde: Elsässer, Deutsche, Amerikaner erinnern an die Kämpfe um die „Poche de Colmar“ im Dezember 1944. Herbolzheim 2006, S. 60 f. 118 Vgl. Wolter, Markus: Dokumentation zu Dr. Kurt Groß, unter: http://radolfzell-ns-geschichte.von-unten.org/prozesse_gegen_radolfzeller_ss-angehoerige#dachauer_fliegerprozess. 119 Vgl. den offiziellen Absturzbericht, NARA, Washington, Missing Air Crew Reports (MACR) 685. 120 Vgl. Case No 12–43 (US vs. Kurt Gross et al.) (26.9.–8.10.1947); unter: https://www.jewishvirtuallibrary.org/jsource/Holocaust/dachautrial/fs29.pdf. 295 Chronik_Radolfzell_Korr.qxd 01.09.2017 11:33 Uhr Seite 296

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Groß als dessen Stellvertreter am 1. Februar Volkssturm-Führer entsprechend in die stand- 1945 den unterbrochenen Schulungsbetrieb rechtlichen Konsequenzen bei „Wehrkraftzer- mit dem um die Hälfte dezimierten USR- setzung“ eingewiesen und dabei dem in sei- Regiment fort. Die bisherige Verbrechens- und nen Augen zur „Lazarettstadt“ gewordenen Strafroutine an der USR wandte sich nun erst- Radolfzell eine kollektive „Minderwertigkeits- mals auch gegen Angehörige der SS: Im März psychose“ attestiert; Radolfzell fehle es am und April 1945 wurden vor einer als „Exeku- nötigen „Kampfgeist“.125 Angehörige des tionswand“ bezeichneten, nicht näher zu Radolfzeller Volkssturms wurden daraufhin lokalisierenden Mauer auf dem Kasernen- von der USR ausgerüstet und am SS-Schieß- areal auf Befehl des stellvertretenden USR- stand kurzerhand in der Handhabung von Kommandeurs Kurt Groß fünf Angehörige der Panzerfäusten ausgebildet. Am 20./21. April Waffen-SS wegen Desertion (Fahnenflucht) 1945 ergingen an Groß letzte Einsatzbefehle nach „Kriegssonderstrafrechtsverordnung“ von Wehrmachtsgeneral Hans Schmidt (1877 – standrechtlich erschossen.121 Vor diesem Hin- 1948), AOK 24 („Festung Alpen“), dem die tergrund hielt Groß am 15. April 1945 im USR-„Einsatzgruppen“ zuletzt militärisch „Scheffelhof“ vor dem Radolfzeller Volkssturm unterstanden, nachdem er mit seinem Stab und der HJ seine berüchtigte Durchhalterede, und ohne eigene Kampftruppe von Engen in die anzuhören alle Männer zwischen 14 und die SS-Kaserne nach Radolfzell verlegt worden 70 Jahren verpflichtet waren. Der als „Kampf- war.126 In Ludwigshafen und Wahlwies sollte kommandant“ von Radolfzell geltende SS- Groß mit einem Stoßtrupp die Schließung der Hauptsturmführer Schmidt122 habe dort zu- Panzersperren sicherstellen. In den späten nächst den „Führerbefehl“ verlesen „über die Abendstunden des 21. April 1945 kam es zu Verteidigung jedes Ortes und die Verpflich- einem Schusswechsel, bei dem im Rathaus tung jedes Deutschen, dem Feind das weitere vier Angehörige des Wahlwieser Volkssturms Vordringen zu verwehren.“123 Die anschlie- mutmaßlich von Groß erschossen wurden. 127 ßende, bei Zeitzeugen als „fanatisch“ in Erin- Groß selbst wurde verwundet und noch in der nerung bleibende Rede von Groß sollte die Nacht im Krankenhaus von Radolfzell operiert. Richtlinien für den „Endkampf“ vorgeben.124 Die unter seinem Namen operierende „Einsatz- Wie Zeitzeugen berichteten, drohte Groß mit truppe“ tötete zwei Tage später fünf Angehö- Exekutionen und kündigte an, er werde gegen rige der französischen Streitkräfte und minde- „jede, die Widerstandskräfte zersetzende stens 16 ausländische Kriegsgefangene sowie Stimmung mit den härtesten Mitteln“ vorge- zivile Zwangsarbeiter im Stadtgarten von hen. Schon zwei Wochen zuvor hatte er die Stockach. 128

121 Vgl. Köhler Hans: Die SS-Buben von Radolfzell. Ein Erlebnisbericht. In: HEGAU 63, 2006, S. 235–256, hier S. 244. 122 Näheres zu „SS-Hauptsturmführer Schmidt“ bislang nicht zu eruieren. Mehrere Zeitzeugen geben seinen Nachnamen mit „Schmid“ oder „Schmitt“ wieder bzw. verwechseln oder identifizieren ihn mit General Hans Schmidt (1877–1948), AOK 24; vgl. StAF F 178/2 62, S. 103. Stellvertretender Kampfkommandant war SS-Hauptsturmführer Otto Reichardt (geb. 15.1.1918), SS-Nr. 288 581. 123 Zit. nach Albert Schreiber: „Volkssturm- Batl. 126 Radolfzell. Die Vorgänge in der Zeit vom 8.4.1945–25.4.1945.“ Ungedrucktes Typoskript, Ende Mai 1945, StAR. 124 Vgl. Ströble, Adolf: 14 Jahre, Radolfzell, die SS-Kaserne und die Franzosen. In: 60 Jahre Kriegsende. „Badische Zeitung“, Freiburg, vom 12.8.2005. 125 Zit. nach Albert Schreiber (wie Anm. 123). 126 Zur Befehlsstruktur zwischen AOK 24 und USR ab 20.4.1945 vgl. das Gerichtsverfahren 1965/66 gegen Hans Wadel (geb. 1914), Ic-Offizier im Generalstab AOK 24, wegen Mordes an Bürgermeister Karl Bäder (1877–1945), Singen, 24.4.1945; STAF F 178/2 62. 127 STAF F 178/2 Nr. 14. 128 296 Vgl. Rathke, Hartmut: Stockach im Zeitalter der Weltkriege. Hegau-Bibliothek Band. 123. Konstanz 2004, S. 280–287. Chronik_Radolfzell_Korr.qxd 01.09.2017 11:33 Uhr Seite 297

Zur Geschichte des 25. April 1945

„In diesen bangen Minuten, ja Sekunden, in denen das Schicksal Radolfzells noch immer auf des Messers Schneide stand, fiel endlich die Entscheidung: Auf dem Münsterturm stieg um 13.30 Uhr die weiße Fahne hoch und gleichzeitig eine zweite auf dem hohen Ge- Josef Zimmermann, Aufnahme von 1958. bäude der Obstbaugenossenschaft. Die erste hatte Stadtpfarrer Josef Zuber durch seinen Im Rahmen allgemeiner Rückzugsbewegungen Vikar Karl Ruby, die zweite der Gastwirt Fritz der aufgeriebenen Wehrmachts- und Waffen- Volk im Einvernehmen mit dem Bürgermeis- SS-Verbände in Richtung Vorarlberg und Tirol terstellvertreter Kratt hissen lassen. Damit („Alpenfestung“)129 setzte sich am 22. April war die Stadt offiziell übergeben. Um 14 Uhr 1945 auch der Großteil der USR-Führer und rollten die Panzer der I. franz. Armee, ohne Mannschaften über Konstanz, Meersburg, Lin- Widerstand zu finden, in die Stadt ein. Um 15 dau und Bregenz ab. Eine noch in Radolfzell Uhr war die ganze Stadt besetzt.“ 131 verbliebene USR-Einheit in Kompaniestärke sprengte am 25. April 1945 das Munitionsde- Bei der nach dem 20. April 1945 wie angedeu- pot am Schießstand und setzte sich anschlie- tet undurchsichtigen, zudem täglich wechseln- ßend über den Bodanrück nach Konstanz-Egg den Befehlslage kam es am 25. April 1945 zur und von dort per Schiff nach Lindau und Bre- mehr oder weniger „kampflosen Übergabe“ genz in Richtung Klostertal ab; darunter sollen Radolfzells an die französischen Streitkräfte. sich USR-Kommandeur Willi Braun und der Geschichte und Vorgeschichte dieses Ereig- letzte „WE-Lehrer“, SS-Hauptsturmführer Dr. nisses sind Gegenstand eines lokalgeschichtli- Ewald Plog, befunden haben. Sämtliche Per- chen Narrativs, das im Wesentlichen die Selbst- sonal- und Wehrunterlagen der USR seien mit darstellungen der involvierten, nachträglich anderen Unterlagen und Büchern bei der zu „Rettern Radolfzells“ erklärten NS-Prota- Schiffspassage in Stahlkisten im See versenkt gonisten – Bürgermeister August Kratt, Orts- worden. Auf Befehl Willi Brauns galt die USR, gruppenleiter Otto Gräble,132 Polizeirevierlei- deren Reste sich vor den nachrückenden ter Karl Frei 133 u. a. – wiedergibt, in der Version Franzosen von Lochau nach Dornbirn, Sulz, von NS-„Ortschronist“ Josef Zimmermann 134 Außerwald und Klösterle am Arlberg flüchte- zusammengefasst und unkritisch rezipiert wur- ten, ab 3. Mai 1945, Null Uhr als aufgelöst. 130 de. Vorbehalte gegenüber Zimmermanns Dar-

129 Vgl. hierzu: Wiedeking, Elmar: Das Ende. Eine Spurensuche im Hegau, am Bodensee, in Vorarlberg. Sipplingen 2013. 130 Vgl. Hille, Willi.: „Die letzten Tage der SS-Unterführerschule“, BArch MA Freiburg N 756/330b. 131 Zimmermann, Josef: „Ausführliche Darstellung der Vorgänge bei der Übergabe der Stadt R. am 25.4.1945“, Typoskript. StAR. 132 Otto Gräble (12.10.1898–?). Heilpraktiker. NSDAP-Gemeinderat unter Bürgermeister Eugen Speer (15.2.1934). NSDAP-Ortsgruppenleiter (1937–1945). Im Rahmen politischer Säuberungen der französischen Militärregierung 1946 in Internierungshaft genommen, vgl., StAR IX 389 und 376, vgl. Spruchkammerakte Otto Gräble, StAF D 180/2 Nr. 103216, Archiv des franz. Außenministeriums, La Courneuve. 133 Karl Frei (geb. 25.8.1899); STAF D 180/2 21813. 134 Josef Zimmermann (1888–1974), Volksschullehrer und Heimatforscher, aktives NSDAP-Mitglied, Ortsgruppenobmann des Nationalsozialistischen Lehrerbundes (NSLB). Vgl. Zimmermann, J.: „Kurze Stadtchronik“. In: Adressbuch der Stadt Radolfzell am Bodensee und Umgebung, Konstanz 1938, S. 37–41; vgl. Spruchkammerakte Josef Zimmermann, STAF D 180/3 Nr. 1402. 297 Chronik_Radolfzell_Korr.qxd 01.09.2017 11:33 Uhr Seite 298

9 Markus Wolter: Die SS-Garnison Radolfzell 1937–1945

stellungen sind angebracht und deren Revi- sich aus „Gewissen und Verantwortungsge- sion nötig, da sie eine auffällige Kongruenz fühl“ erneut „auf den führenden Posten von mit den Angaben und Selbstzuschreibungen Radolfzell“ zu stellen. Erst Ende März 1945 sei von Bürgermeister Kratt aufweisen, die in er von Gauleiter Robert Wagner wegen „politi- dessen Spruchkammerverfahren eingegangen scher Unzuverlässigkeit“ abgesetzt und durch sind.135 Kratts Apologeten, darunter Ord- einen „alten Kämpfer“, Rainer Schlegel aus nungspolizist Karl Frei und Stadtpfarrer Josef Straßburg, ersetzt worden, der Radolfzell je- Zuber, trugen mit ihren „Entlastungszeugnis- doch am 21. April „aus Sicherheitsgründen“ sen“ schließlich zur formellen „Entnazifizie- (Kratt) in Richtung Bregenz verlassen habe. rung“ des NSDAP-Aktivisten Kratt als „Minder- Noch am Tag von Kratts Selbst- und Wieder- belasteten“ bei. Sie hatten keine Bedenken, berufung ins Amt, deren nähere Umstände Kratt zu jenen „anständigen Nationalsozialis- ebenso unbekannt blieben wie seine Absetzung ten“ zu zählen, die „an einen Sieg der gemä- zuvor, ließ Kratt per Stadtfunk mitteilen, dass ßigten Elemente im Nationalsozialismus Radolfzell nicht verteidigt werde; nach Schrei- glaubten und dafür innerhalb der Partei arbei- ber habe eine „Zusage“ der Gauleitung vorgele- teten“. Den „Einsatz seiner Person“ habe gen. Von der Wehrmachts- und SS-Führung Kratt schließlich „gewagt, um die Zerstörung sei Kratt tags darauf ins „Haus der Partei“ zu der Stadt durch verbrecherische Elemente der Gräble zitiert worden, wo es zu einer „sehr SS zu verhindern.“ 136 Zuber hielt dem NS-Bür- scharfen Aussprache“ (Kratt) mit General germeister und „gläubigen protestantischen Schmidt und dem SS-Kampfkommandanten Christen“ zugute, die „ärgsten Auswüchse der Schmidt gekommen sei. Wie befohlen wider- Partei und ihrer Gliederungen“ in ihrem „Kampf rief Kratt am 23. April die jetzt als „Falschmel- gegen die katholische Kirche“ verhindert zu dung“ bezeichnete Stadtfunk-Durchsage vom haben und der „steigenden Macht der kirchen- Vortag und setzte damit faktisch den Verteidi- feindlichen Kräfte innerhalb der Partei“ mäßi- gungsbefehl selbst in Kraft. Entsprechend gend entgegengetreten zu sein. 137 wurden die Panzersperren der Stadt geschlos- sen, als man am Morgen des 25. April 1945 Als am 21. April 1945 bei einem Tieffliegeran- die anrollenden Panzer der 1. Französischen griff auf das Krankenhaus und den Güter- Armee sichtete. Als nach acht Uhr der „feind- bahnhof mindestens drei Menschen starben liche Beschuss des Gegners“ mit Panzergrana- und ein Versorgungs- und Munitionszug der ten und „mittlerer Artillerie“ begann und das Wehrmacht explodierte, kam es wie schon in Feuer von einer kleinen SS-Einheit aus der den Tagen zuvor zu erheblichen „Abwande- Kaserne und an einigen Kampfständen erwidert rungen“ (Schreiber) der Bevölkerung in die wurde, seien sich die „verantwortlichen Führer umliegenden Dörfer und Wälder. Kratt sah der Gemeinde“ (Schreiber), Bürgermeister sich laut eigenen Angaben deshalb aufgerufen, Kratt und Ortsgruppenleiter Gräble, bei einer

135 Spruchkammerakte August Kratt 1946–1948, STAF D 180/2, Nr. 163641. Dort die aufschlussreichen „Selbstentlastungsversuche“ Kratts und die Zeugnisse seiner Unterstützer Karl Frei, Josef Zuber, Dieter Gohl u. a. „Sühnemaßnahmen“ für den „Minderbelasteten“: „Verlust der „Wählbarkeit sowie des Rechts, sich politisch zu betätigen oder Mitglied einer Partei zu werden“, Geldbuße von 5000 Reichsmark. 136 Vgl. Gross, Raphael: Anständig geblieben. Nationalsozialistische Moral (Schriftenreihe des Fritz Bauer Instituts). Frankfurt 2010. Dieser Einschätzung schien man noch 1962 zu folgen und verlieh Kratt aufgrund seiner „besonderen Verdienste als erster Beigeordneter und Bürgermeisterstellvertreter wäh- rend des zweiten Weltkrieges“ die Ehrenbürgerwürde. 137 298 STAF D 180/2 Nr. 163641, S. 20; ähnlich argumentierend auch in Zubers Spruchkammerzeugnis für Josef Jöhle, STAF D 180/2 Nr. 214038. Chronik_Radolfzell_Korr.qxd 01.09.2017 11:33 Uhr Seite 299

„Lagebesprechung“ in Kratts Wohnung „mit schließlich „der Einzige gewesen, der es wag- der Bevölkerung einig gewesen, dass die te, gegen alle Befehle die Stadt Radolfzell zu Verteidigung der Stadt sinnlos und die Zeit übergeben und die von mir gelieferte weiße der freiwilligen Übergabe gekommen sei.“ 138 Fahne hissen zu lassen.“ 139 Da man sich offenbar an die formelle Befehls- lage von Wehrmachts- und SS-Führung ge- „Zum Empfang der Truppen“ sei es nach An- bunden sah, bat man um 12.45 Uhr bei den in gaben Zimmermanns am Rathaus gekommen, der Telefonzentrale im Postamt beginnenden wo u. a. Bürgermeister August Kratt und Polizei- Verhandlungen zunächst um eine „Entschei- hauptmann Karl Frei die französischen Panzer dungsfrist“ und versuchte, den nach Güttingen erwarteten. Bei der „kampflosen Übergabe“ verlegten Befehlsstand des AOK 24 und der starben an diesem Tag mindestens zwei Zivi- USR zu kontaktieren. Gegen 13 Uhr sei bei listen und sieben „deutsche Soldaten“, darun- Ordnungspolizei-Chef Karl Frei ein erstes Ulti- ter vier Flakhelfer. Einzelne Häuser in der matum des französischen Kommandanten Innenstadt, Werksgebäude der „Allweiler AG“, eingegangen, mit dem dieser mit der völligen das Wirtschaftsgebäude und das Führerheim Zerstörung der Stadt drohte, sollten die Pan- der SS-Kaserne wurden schwer beschädigt und zersperren nicht sofort geöffnet und die SS gerieten in Brand.140 abgezogen werden. Die Lage habe sich für die Unterhändler im Postamt dramatisch verschärft, zumal die Befehle des AOK 24 und des SS- „Stunde Null“? – Ein Epilog Kampfkommandanten kurze Zeit später be- kannt wurden: Radolfzell sei unter allen Um- Als wäre ihr keine Schreckenszeit vorausge- ständen zu halten. „Wer an kampffähigen gangen, wurde die sogenannte „Stunde Null“141 Männern zurückgeht, ohne zu kämpfen, wird von manchen gar erst als der Beginn einer „auch erschossen.“ Diesen „unverantwortlichen Be- für Radolfzell schweren Zeit“ gesehen, für die fehl“ habe Kratt fernmündlich an den franzö- man die französische „Besatzungsmacht“ ver- sischen Kommandanten übermittelt, der nun antwortlich machte und über deren Zwangs- seinerseits die Stadt aufforderte, binnen fünf maßnahmen und Repressionen man zu klagen Minuten „ein äußeres Zeichen (‚weiße Fahne‘) begann.142 Die französischen Truppen entwaff- zu setzen“; andernfalls erfolgte die angedrohte neten am 25. April 1945 die Ordnungspolizei, Zerstörung der Stadt. Als es nach den Worten besetzten das Rathaus und richteten dort ihre Kratts für Radolfzell „um das Letzte ging“, habe Ortskommandantur ein. Requiriert wurden er „sein Leben für die Rettung der Stadt Ra- das „Haus der Partei“, sämtliche Schulen, Ge- dolfzell eingesetzt“; er sei, wie Kratt „in eigener werbebetriebe, die Markthalle, Hotels und Gast- Sache“ nicht müde wurde zu behaupten, stätten und über 100 private Wohnungen.143

138 Zit. nach Zimmermann (wie Anm. 134), S. 13. 139 STAF D 180/2, Nr. 163641, S. 10 f. 140 Vgl. Bibby a.a.O. 2015, S. 94. 141 Vgl. Braun, Hans, et al. (Hg.): Die lange Stunde Null. Gelenkter sozialer Wandel in Westdeutschland nach 1945. Baden-Baden 2007. 142 Zit. nach Zimmermann: „Mit dem Tag des Einmarsches französischer Truppen (…) begann auch für Radolfzell eine schwere Zeit.“, (wie Anm. 134), S. 20. Zeitzeugen widmeten sich der Frage, ob in Radolfzell der Beginn der Besatzungszeit „eher als Repression oder Befreiung empfunden wurde, und gaben differenzierte Antworten; vgl. Bibby a.a.O. 2015, S. 96 ff. 143 StAR IX.412. 299 Chronik_Radolfzell_Korr.qxd 01.09.2017 11:33 Uhr Seite 300

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Wenig später rückten die französischen Trup- Am 6. Mai 1945 wurde der offenbar noch als pen in die nur wenig beschädigte Kaserne ein. „unbelastet“ geltende Altbürgermeister Otto Bereits am 30. April 1945 erließ die fran- Blesch (1911–1934) als kommissarischer Bür- zösische Militärregierung die ersten allge- germeister von Radolfzell eingesetzt. 149 In der meinen Anordnungen für die besetzten ersten von drei Ausgaben der „Neuen Freien Städte und Gemeinden.144 Ausgangssperren Stimme“ veröffentlichte Blesch am 9. Mai 1945 wurden verhängt, alle Waffen und Munition einen anklagenden „Aufruf“: Auf den ersten mussten abgegeben werden, ebenso Rund- Blick eine scharfe Abrechnung mit dem Natio- funkgeräte, Fotoapparate und Ferngläser.145 nalsozialismus, bemühte Blesch „Gottes gnädi- Alle Angehörigen deutscher Truppenteile, ge Fügung“, die Radolfzell vor der „Vernich- Wehrmacht, SS und Volkssturm waren, so weit tung“ bewahrt habe, um dann neben der „hel- bekannt, in Namenslisten beim Ortskomman- denmütigen und ruhmreichen Wehrmacht“(!) danten anzuzeigen, ebenso wie sämtliche ausdrücklich seinen Vorgänger August Kratt zu männlichen Zivilpersonen und die in der Stadt würdigen „für seine opfervollen Bemühungen internierten Zwangsarbeiter und Deportier- zur Abwendung größeren Unheils, das irrsin- ten. 146 Zu einer der ersten Strafverfügungen nige SS-Offiziere nach einer schon lange Zeit der französischen Militärbehörde gehörte am völlig aussichtslosen Kriegslage auf unsere 5. Mai 1945 die Internierung von 50 Radolf- liebe Heimat häufen wollten.“ 150 Bereits zum zeller NSDAP-Mitgliedern im ehemaligen 1. November 1945 trat das ehemalige NSDAP- Zwangsarbeiterlager („Russenlager“) in Hü- Mitglied Blesch als Bürgermeister zurück und fingen/Donaueschingen, weitere 31 frühere der bisherige Erste Beigeordnete, Wilhelm Parteigenossen wurden am 30. August 1945 in Gohl (1896–1958), wurde als sein Nachfolger das Internierungslager nach Singen eingewie- im Amt bestellt. Der Gemeinderat wählte Gohl sen. 147 Ab Mitte Mai 1945 verpflichtete die schließlich im September 1946 und im Novem- Militärverwaltung bis zu 100 ehemalige Mit- ber 1948 einstimmig zum ersten demokra- glieder und Funktionsträger der NSDAP zu tisch legitimierten Nachkriegsbürgermeister. täglichen Arbeitseinsätzen. Sie wurden u. a. bei der Errichtung eines Stacheldrahtzauns als Die bei der Ortskommandantur eingereichten Demarkationslinie zur Schweiz eingesetzt, die Namenslisten ermöglichten es, die genannten in den Gemarkungsgrenzen von Radolfzell, Personen im Rahmen der Ende 1945 einset- Böhringen und Überlingen a. R. entlang der zenden „politischen Säuberungen“ zu erfassen. Bahnlinie nach Singen verlief. 148 Das „Gouvernement Militaire en Allemagne“ gab hierzu im Dezember 1945 die Formblätter („Questionnaires“) an die „Betroffenen“ aus.

144 StAR IX.367. 145 StAR IX.373. 146 StAR IX.282 (männliche Einwohner), 315 (NS-Organisationen), 324 (NSDAP), 351 (Waffen-SS), 354 (Zwangsarbeiter, Deportierte); StAR IX.376; StAR IX.394. 147 Vgl. Bibby a.a.O. 2015, S. 100. 148 Vgl. „Amtsblatt der Stadt Radolfzell, Nr. 1, 30.6.1945, vgl. ferner: StAR IX 286, 287 und 290; zit. in Bibby a.a.O. 2015, S. 98. 149 Vgl. Spruchkammerakte Otto Blesch, STAF D 180/2, Nr. 12250. 150 300 „Neue Freie Stimme“ Nr. 1, 9.5.1945; Beilage in Kratts Spruchkammer-Akte; STAF D 180/2, Nr. 163641. Chronik_Radolfzell_Korr.qxd 01.09.2017 11:33 Uhr Seite 301

Im März 1946 wurde im französisch besetzten In der existenziellen Not der ersten Nachkriegs- Teil Badens ein politischer Kontrollausschuss jahre dürfte das Interesse der Bevölkerung an in Freiburg errichtet, der die Arbeit von Reini- Spruchkammerentscheiden und Kriegsver- gungskommissionen und Untersuchungsaus- brecherprozessen eher gering gewesen sein; schüssen auf Landkreisebene koordinieren von den Lebensschicksalen der Verfolgten und sollte. Im Dezember 1946 trat das „Staats- Opfern der NS-Herrschaft ganz zu schweigen. kommissariat für politische Säuberung“ an Wie überall in Deutschland hatte man damals seine Stelle, dem eine Spruchkammer mit je „andere Sorgen“. Der extreme Hungerwinter einem Vertreter der zugelassenen politischen 1946/47 verschärfte die ohnehin prekäre Ver- Parteien und Gewerkschaften sowie einem sorgungslage der Stadtbevölkerung und führte Vertreter des Staatskommissars für politische dazu, dass im Landkreis Konstanz die knappen Säuberung angegliedert war. Ihre Aufgabe Lebensmittelzuteilungen und Rationierungen war es, eine „Entscheidung im politischen 1947 auf das existenzbedrohliche Maß von zu- Säuberungsverfahren“ zu treffen und die „Be- letzt 630 Kalorien täglich reduziert wurden. Um troffenen“ den Kategorien der „Entlasteten“, überhaupt zu überleben, waren 1946 und 1947 „Mitläufer“, „Minderbelasteten“, „Belasteten“ viele Einwohner gezwungen, Wald- und Feld- oder „Hauptschuldigen“ (Kriegsverbrecher) zu- früchte zu sammeln oder auf sogenannten zuordnen und geeignete „Sühnemaßnahmen“ „Hamsterfahrten“ die nötigen Lebensmittel zu verhängen.151 Was die durch ihre Mitglied- einzutauschen. Die gravierendsten Folgen der schaft in NSDAP, SS und anderen Parteiorga- Unterernährung der Kinder konnten dabei nisationen potenziell belasteten Personen durch regelmäßige, bis zu dreimal wöchentli- aus Radolfzell anbelangt, so hatten sich diese che „Schülerspeisungen“ durch die „Radolf- in der für sie zuständigen Spruchkammer des werke“ und die schweizerische Grenzlandhilfe Staatskommissariats in Freiburg der „Entna- abgewendet werden.154 Zudem waren im Fe- zifizierung“ zu unterziehen.152 Wegen Kriegs- bruar 1946 vom Schulamt Schüler zur „Kin- verbrechen und Verbrechen gegen die Mensch- derverschickung“ nach Amriswil, Schweiz, lichkeit wurden ehemalige Angehörige der ausgesucht worden. Die Thurgauer Gemeinde III. SS-VT „Germania“ wie Max Pausch und hatte sich angeboten, jeweils 20 bis 25 Kinder Otto Förschner, die USR-Führer Kurt Groß, für die Dauer von vier bis sechs Wochen zur Adolf Mattes und Rudolf Spletzer und minde- Erholung aufzunehmen. Als die Schülerspei- stens zehn Angehörige der KZ-Wachmann- sungen in den Sommerferien ausfielen, trafen schaft (Josef Seuß, Hugo Lausterer, Hermann im Rahmen der Grenzlandhilfe aus Amriswil Rostek u.a.) von amerikanischen Militärge- ab 1946 regelmäßig Lebensmittelpakete, Me- richten im Dachau-Hauptprozess und seinen dikamente und Schuhlieferungen in Radolf- Folgeprozessen 1945–1948 zum Tod verurteilt zell ein und vermochten die Not zu lindern. oder erhielten lebenslange und zeitige Haft- strafen. 153

151 Vgl. Stingl, Martin.: Zur Geschichte der Spruchkammer Südbaden und des Staatskommissariats für politische Säuberung. Freiburg 2001; Online: https://www2.landesarchiv-bw.de/ofs21/olf/einfueh.php?bestand=8133. 152 Bestand STAF, D 180/2. 153 Vgl. Lessing a.a.O. 154 Zur Lebensmittelversorgung in Radolfzell vor und nach 1945 vgl. Bibby a.a.O. 2015, S. 32 ff. 301 Chronik_Radolfzell_Korr.qxd 01.09.2017 11:33 Uhr Seite 302

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ralische oder politische Verantwortung zu über- nehmen. In der Erfahrung des eigenen in Krieg und Nachkrieg erfahrenen Leids sahen sich viele selbst als „Opfer“ des Nationalsozialismus und/oder der „Siegermächte“ und reduzierten, wenn überhaupt, die Frage nach Täter und Täterschaft auf wenige Repräsentanten der obersten NS-Führung. Die von deutschen Laienrichtern geleiteten Spruchkammerver- fahren auf Grundlage von wechselseitigen „Entlastungen“ der „Betroffenen“ unterein- ander („Persilscheine“) sind eindrückliche Zeugnisse einer kollektiven Selbstimmunisie- rung der Nachkriegsgesellschaft. Im Kontext von Flucht und Vertreibung, Reparation, wirt- schaftlichem Wiederaufbau und Kaltem Krieg wurde die persönliche oder historische Ver- antwortung zumeist mit Verweis auf system- bedingten „Befehlsnotstand“ oder allgemei- ne „Zeitumstände“ verneint und der manipu- lativ-autoritäre Charakter des NS-Staates betont, was letztlich jeden als „Opfer“ des Nationalsozialismus erscheinen ließ – auch die Täter.

Als der Gemeinderat anlässlich der vom da- maligen Bürgermeister Hermann Albrecht ge- forderten „gründlichen Bearbeitung“ und Um- gestaltung des sogenannten „Kriegerdenk- Das NS-Ehrenmal am „Horst-Wessel-Platz“, 1938 (heute: Luisenplatz). mals“ am Luisenplatz 1958 zu entscheiden hatte, welchen – militärischen – Opfern des Krieges 1939–1945 das Trauern und Geden- Sofern die Frage nach den historischen Ur- ken in Zukunft namentlich zu gelten habe, sachen der Nachkriegsnot weitgehend ausge- hatte dies weitreichende, die städtische Ge- blendet wurde und auch die juristische denk- und Erinnerungskultur bis heute bela- Aufarbeitung der NS-Verbrechen zögerlich stende Folgen.155 Berücksichtigt werden sollten und spät einsetzte, war nach 1945 die Bereit- erstens alle gefallenen Wehrmachtssoldaten, schaft der Deutschen gering, persönlich mo- die in Radolfzell wohnberechtigt waren, als

155 Die Sockelinschrift von 1958 lautete: „Die Stadt Radolfzell ihren in den Weltkriegen 1914–1918 und 1939–1945 gefallenen Söhnen“, seit 2011 abgedeckt und ersetzt durch den Schriftzug: „Radolfzell gedenkt der Opfer der Gewaltherrschaft und der Toten aller Kriege“ über den Namenstafeln, der auch die 302 Täter aus Waffen-SS und Wehrmacht zu „Opfern“ der (nationalsozialistischen) Gewaltherrschaft erklärten. Chronik_Radolfzell_Korr.qxd 01.09.2017 11:33 Uhr Seite 303

sie zur Wehrmacht eingezogen wurden, zwei- Das Relikt des „Kriegerdenkmals“ 1938/1958 tens alle gefallenen SS-Angehörigen der Gar- wurde für Radolfzell so zum ambivalenten nison Radolfzell, die hier ihren gemeldeten Symbol einer verlängerten „Stunde Null“: der Wohnsitz und Familie hatten und drittens alle Notwendigkeit des gesellschaftlich-politi- vermissten Soldaten, soweit dies die Angehö- schen Umbruchs und demokratischen Neube- rigen wünschten. Aufgrund dieser Vorgaben ginns am Ende der nationalsozialistischen kam es 1958 zur „Auswahl“ von 561 gefalle- Gewaltherrschaft, deren Paradigmen das „NS- nen und vermissten Angehörigen der Wehr- Ehrenmal“ seit seiner Einweihung 1938 zu- macht und der Waffen-SS, deren Namen undif- gleich repräsentiert und nach 1945 lange noch ferenziert auf vier Bronzetafeln an der Ab- fortschrieb. So kam es bis in die späten 1970er- schlussmauer des Gedenkensembles ange- Jahre am Luisenplatz zu alljährlichen SS-„Ka- bracht wurden. Dort liest man seitdem nicht meradschaftstreffen“ und „Gefallenen-Ehrun- nur den Namen des SS-Kasernenkommandan- gen“, die an Volkstrauertagen und zu anderen ten Heinrich Koeppen, sondern findet die Anlässen vom Kreisverband der „Hilfsgemein- Namen von insgesamt 102, bei Kampfhand- schaft auf Gegenseitigkeit der Angehörigen lungen gestorbenen Angehörigen der Waffen- der ehemaligen Waffen-SS“ (HIAG) organi- SS verzeichnet, die zwischen 1937 und 1939 siert und von Radolfzells Nachkriegsbürger- in Radolfzell stationiert, polizeilich gemeldet meistern und Gemeinderäten unterstützt und/oder verheiratet waren.156 wurden.157

156 Von den 102 gelisteten SS-Angehörigen lassen sich 98 dem III. SS-VT „Germania“ zuordnen. Gefallene Angehörige des „Totenkopf“-Infanterie-Ersatz- Bataillons I“ und der USR wurden 1958 nicht berücksichtigt, sofern sie nicht in Radolfzell gemeldet waren. 157 So etwa das große HIAG-Treffen („Gefallenen-Ehrung“) der ehemaligen Angehörigen des III. SS-„Germania“ am 27./28.4.1963 in Radolfzell; vgl. hierzu die ausführliche Berichterstattung im HIAG-Verbandsorgan „Der Freiwillige“; BArch-MA Freiburg, N756/108 b. 303