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Fundort Wien 13/2010

Berichte zur Archäologie 13/10 Fundort Wien

Berichte zur Archäologie

13/2010

Fundort Wien 13, 2010. – Urheberrechtlich geschützt, Keine unerlaubte Vervielfältigung gestattet. © Museen der Stadt Wien – Stadtarchäologie Vorwort

Neben dem Alltagsgeschäft der MitarbeiterInnen der Stadtarchäologie Wien – und im Jahr 2009 waren dies flächenmäßig besonders große Grabungen wie auf den Aspanggründen oder die Untersuchungen auf dem ehemaligen Asper- ner Flugfeld – ist es ein schwieriges Unterfangen, wissenschaftliche Beiträge zu verfassen und die Aufarbeitung des Gefundenen kontinuierlich weiter zu betrei- ben. Nicht zuletzt, da der Sektor der Öffentlichkeitsarbeit in den letzten Jahren enorm gewachsen ist. Ausstellungen, Vorträge und Populärpublikationen sind ebenso gefragt wie die effiziente Nutzung der Neuen Medien und jede Form der Pressearbeit. Umso mehr freut es uns, wieder einen sehr reichhaltigen Jahres- bericht präsentieren zu können. Er enthält diesmal neben einem historischen Überblick zur Stadtentwicklung Wiens im 18./19. Jahrhundert und einem Nachtrag zu neuzeitlicher Keramik vom Michaelerplatz, der Einblick in die Koch- und Tafelsitten des gehobenen Bürgerhaushaltes in unmittelbarer Nähe des Kaiserhofes gibt, vor allem Berichte ganz aktueller Grabungen. In der Feuerwehrzentrale Am Hof ermöglichten mehrjährige Umbauarbeiten die Erforschung des römischen Lagermauerbereiches mit seiner wechselnden Nutzung, zudem trat ein mächtiger mittelalterlicher Graben zutage und es konnte ein Haus des ehemaligen jüdischen Viertels dokumentiert werden. Die Bergung einiger Bestattungen anlässlich des Einbaus eines Aufzugs- schachtes in der Zollergasse im 7. Bezirk führte zu umfassenden Recherchen vor allem in den Kirchenakten, um die wenig bekannte Geschichte des St. Ulri- cher Friedhofs aufzurollen. Der anthropologische Befund enthält Hinweise auf eine hohe Kindersterblichkeit, was generell als Anzeichen für schlechte hygie- nische, sozioökonomische und medizinische Lebensbedingungen gewertet wird, wie sie vielleicht in der von Handwerksbetrieben und frühindustriellen Ge- werben geprägten Vorstadt in der Barockzeit herrschten. Die noch laufenden Ausgrabungen auf dem Gelände des ehemaligen Aspang- bahnhofes im 3. Bezirk lieferten bislang vor allem Details zur Entwicklung der Transport- und Verkehrswege im Zeitalter des industriellen und technischen Aufschwungs Wiens, denn hier folgte auf das Großbauprojekt des Wiener Neu- städter Kanals die mit diesem konkurrierende Anlage einer Eisenbahn, die Wien unter Nutzung bereits existierender Bahnstrecken in den Durchgangsländern mit Saloniki verbinden sollte.

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Fundort Wien 13, 2010. – Urheberrechtlich geschützt, Keine unerlaubte Vervielfältigung gestattet. © Museen der Stadt Wien – Stadtarchäologie Inhalt

Inhaltsverzeichnis Fundort Wien 13, 2010. Berichte zur Archäologie

Aufsätze Fundchronik

4 Ingrid Mader 222 Übersichtskarte Wien vor dem Fall der Mauern – Ein Überblick 224 Grabungsberichte 2009

20 Martin Penz 252 Tagungsberichte Eine Siedlungsgrube der späten Glockenbe- 257 MitarbeiterInnenverzeichnis cherkultur aus Wien 3, Rennweg 16 (Vorbe- 259 Namenskürzel richt) 259 Abkürzungsverzeichnis 261 Abbildungsnachweis 32 Sigrid Czeika 261 Inserentenverzeichnis Pferde aus der Jungsteinzeit. Endneolithische 261 Impressum Tierreste vom Rennweg 16, Wien 3

50 Martin Mosser Befunde im Legionslager Vindobona. Teil V: Das Intervallum an der westlichen Lagermauer – Vorbericht zu den Grabungen Am Hof in den Jahren 2008/09

76 Rita Chinelli Gegen den Bösen Blick …–Ein Goldamulett aus Wien 1, Am Hof

104 Martin Mosser/Theresia Pantzer Ein römischer Altar im Wiener Augustinerklos- ter

114 Michaela Binder/Heike Krause Der ehemalige Friedhof zu St. Ulrich in Wien- Neubau. Ausgrabung Zollergasse 32

146 Michaela Müller Vom Wiener Neustädter Kanal zum Aspang- bahnhof. Ausgrabungen in Wien 3, Aspang- gründe Jupiteraltar des Pomponius Respectus (Foto: O. Harl) Apothekenabgabegefäße (Foto: R. Kalten- 158 Alice Kaltenberger berger-Löffler) Neuzeitliche Keramikfunde aus den Gra- bungen Wien 1, Michaelerplatz (1990/1991) – Teil 2

Kurzzitat: FWien 13, 2010

Die Deutsche Bibliothek – CIP-Einheitsaufnahme

Fundort Wien : Berichte zur Archäologie / hrsg. von Museen der Stadt Wien – Stadtarchäologie Erscheint jährlich – Aufnahme nach 1 (1998) kart.: EUR 34,– (Einzelbd.) 1(1998)–

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Fundort Wien 13, 2010. – Urheberrechtlich geschützt, Keine unerlaubte Vervielfältigung gestattet. © Museen der Stadt Wien – Stadtarchäologie Aufsätze I. Mader, Wien vor dem Fall der Mauern

Wien vor dem Fall der Mauern – Ein Überblick

Ingrid Mader

Einleitung In den letzten Jahren ergaben sich gleich mehrere Möglichkeiten, Teilbereiche der Stadtbefestigung Wiens auch archäologisch zu untersuchen.1 Ergänzend dazu versucht dieser Beitrag einen Überblick über die Entwicklung der Stadt, unter besonderer Berücksichtigung ihrer Befestigungsanlagen, vom beginnen-

1 Siehe dazu zusammenfassend und mit den 18. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts zu geben. Die Darstellung erfolgt Literatur zu den Ausgrabungen H. Krause/G. aus drei Blickwinkeln, um das Spannungsfeld, innerhalb dessen sich die Stadt Reichhalter/I. Gaisbauer/I. Mader/S. Sakl- verändert hat, aufzuzeigen: mit Fokus auf die politisch sozialen Veränderungen, Oberthaler/Ch. Ranseder, Mauern um Wien. Die Stadtbefestigung von 1529 bis 1857. WA auf die militärischen Erwägungen und auf die Eindrücke Reisender bzw. Stadt- 6 (Wien 2009). fremder. 2 Zum Festungsbau im Osten des Habs- burgerreiches siehe R. Rill, Die Festung als Die Befestigungsanlagen von Wien hatten sich während der zweimonatigen Baustelle im 18. Jahrhundert. In: H. Hepp- Zweiten Türkenbelagerung im Jahr 1683 bewährt. Die Stadt galt als sicher ner/Zs. Barbarics-Hermanik (Hrsg.), Türken- und avancierte in der Folge zur Haupt- und Residenzstadt sowie zum Verwal- angst und Festungsbau. Wirklichkeit und My- thos. Neue Forsch. ostmittel- und südosteuro- tungszentrum des Habsburgerreiches. Damit verbunden war die Entfaltung der päisch. Gesch. 1 (Frankfurt/Main, Wien 2009) Stadt über ihre Mauern hinaus (Abb. 1). 143–174. 3 S. Békési, Erneuerung und Erinnerung der Stadt. WGBl 58/3, 2003, 177 und E. Lich- Die Entwicklung Wiens im 18. Jahrhundert tenberger, Die Wiener Altstadt. Von der mittel- Nachdem die unmittelbare Kriegsgefahr durch die Türken nach 1683 gebannt alterlichen Bürgerstadt zur City (Wien 1977) worden war, konnte sich das Habsburgerreich als Großmacht manifestieren. 107–113. 4 Etwa WStLA, Alte Registratur, 1.2.1. Die türkischen Streitkräfte wurden nach Osten zurückgedrängt. Der Kriegs- 2 A2.1770.12/1770 vom 9.1. 1770: Der Bürger- schauplatz verlagerte sich vermehrt nach Südosteuropa. meister der Stadt Wien informiert die Regie- Durch territoriale Zugewinne im Südosten rückte Wien vom ehemaligen Grenz- rung über die Absicht, die Baulinie des Herren Martin Edlen von Sensel erworbenen Hauses gebiet ins Zentrum des Reiches. Damit verbunden war neben einem vermehr- zu begradigen. Beigelegt sind fünf Pläne, die ten Zuzug von Menschen aus allen Teilen des Reiches, angezogen v. a. durch dieses Vorhaben illustrieren. den wirtschaftlichen Aufschwung, auch die Konsolidierung der Verwaltung in 5 F. Czeike, Historisches Lexikon Wien 42 (Wien 2004) 344 s. v. Nagel Joseph Anton. der Residenzstadt. Dies hatte maßgebliche Veränderungen im Stadtbild zur 6 Békési (Anm. 3) Anm. 30; F. Czeike, His- Folge: Man trachtete die Ämter und Behördenstellen möglichst in repräsentati- torisches Lexikon Wien 32 (Wien 2004) 278 f. ven Gebäuden unterzubringen. Die benötigten Gebäude brauchten viel Raum. s. v. Huber-Plan. WStLA, Alte Registratur, Be- richt 428 vom 17.11. 1768 und Bericht 215 Dieser wurde einerseits dadurch geschaffen, indem man bestehende Adelspa- vom 23. Mai 1769, in dem die Beauftragung läste ankaufte und adaptierte. Andererseits wurden die auf das Mittelalter zu- Hubers festgehalten ist. rückgehenden typischen Streifenparzellen zu einer größeren Einheit zusam- 7 F. Baltzarek/A. Hoffmann/H. Stekl, Wirt- schaft und Gesellschaft der Wiener Stadter- mengefügt. Aber auch größere Parzellen wurden zu noch größeren zusam- weiterung. Die Wiener Ringstraße 5 (Wiesba- mengefasst.3 Berichte aus den Jahren 1769 und 1770 lassen erkennen, dass den 1975) 74; H. Bobek/E. Lichtenberger, verschiedene Überlegungen angestellt wurden, die Stadt innerhalb der Befesti- Wien. Bauliche Gestalt und Entwicklung seit der Mitte des 19. Jahrhunderts. Schr. Komm. gungsmauern von ihrer mittelalterlichen Beengtheit zu befreien: Gelegentlich Raumforsch. Österr. Akad. Wiss. 1 (Graz et al. wurde über die Einführung einer neuen Häuserfrontlinie beratschlagt, einer 1966) 23–26. 8 K. Ph. K. von Reitzenstein, Reise nach Neuordnung der Gassenplanung und die Anlegung von durchgängigen Wegen 4 Wien (1795) 79 ff. am . Im Zusammenhang mit dem Veränderungs- und Gestaltungswillen 9 Lichtenberger (Anm. 3) Fig. 18. des Kaiserhauses ist die Beauftragung von Joseph Anton Nagel (1717–um 10 Gemeinderathe der Stadt Wien (Hrsg.), Wien 1848–1888. Denkschrift zum 2. Decem- 1804) zu sehen, einen Plan der Stadt Wien und ihrer Vorstädte zu verfassen, 5 ber 1888. II. Bd., Abschnitt III: Die bauliche den er ab 1770 erarbeitete. Dieser diente mutmaßlich dem Zeitgenossen Jo-

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Abb. 1: Vogelschau auf Wien und Umgebung vor der Zweiten Türkenbelagerung 1683 von Folbert van Alten-Allen, Kupferstich 1686. (nach M. Eisler [Hrsg.], Das barocke Wien. Historischer Atlas des Wiener Stadtbildes [Wien, Leipzig 1925] Taf. 2)

– seph Daniel von Huber (1730/31 1788) als Grundlage für seinen einige Jahre Neugestaltung der Stadt (Wien 1888) 237. 6 später entstandenen Vogelschauplan. Zum Zusammenhang von der Stadtentwick- Der Befestigungsgürtel um die Stadt verhinderte eine Erweiterung und damit lung innerhalb der Mauern mit der sozioökono- mischen Entwicklung in den Vorstädten und Verbesserung der Lebenssituation. Die Menschen wohnten daher sehr beengt. den daraus entstehenden sozialen Problemati- Als Folge dieser Zustände wurden die bestehenden Wohnhäuser innerhalb der ken siehe R. Banik-Schweitzer, Soziale Mauern teilweise immer höher aufgestockt.7 So berichtete etwa ein Reisender, Schichtung und G. Meißl, Bevölkerungsent- wicklung ab 1740. In: P. Csendes/F. Opll der sich gegen Ende des 18. Jahrhunderts in Wien aufhielt, dass in der Däm- (Hrsg.), Die Stadt Wien. Österr. Städtebuch 7 merung die „wahrhaft Elenden“ aus dem 5. und 6. Stock auf die Straße kom- (Wien 1999) 64–68 und 68–71; A. Weigl, De- men würden, um Brot zu suchen.8 mographischer Wandel und Modernisierung in Wien. Kommentare Hist. Atlas Wien 1 (Wien Ganz anders entwickelte sich die Situation in den Vorstädten Wiens nach dem 2000) 75–86. Abzug der Türken. Die Vorstädte wurden einerseits teilweise vom Adel besie- 11 F. Czeike, Historisches Lexikon Wien 32 (Wien 2004) 649 s. v. Kuruzzen. F. A. Edler delt, der der städtischen Enge entfliehen wollte. Einige Palais entstanden in die- von Guarient, Codex Austriacus ordine alpha- ser Zeit als Sommerwohnsitze (z. B. Palais Trautson, Palais Auersperg oder betico compilatus, das ist: eigentlicher Begriff Palais Schwarzenberg) am Rande des Glacis mit Blickrichtung auf die umgür- und Innhalt aller unter deß Ertzhauses zu Ös- terreich, … einlaufenden Generalien II (Wien tete Stadt. Andererseits siedelten ebenfalls aus Platzgründen Gewerbetreiben- 1704) 498: Verordnung Leopold I. vom 16.1. 9 de und Handwerker aus der Stadt ab. Dies wurde durch steuerliche Anreize 1704 betreffend Maßnahmen, die gegen den und entsprechende Erlässe von Maria Theresia und Joseph II. noch attraktiver Einfall der Kuruzzen in die Wege geleitet wer- den sollten. gemacht.10 12 F. Czeike, Historisches Lexikon Wien 42 Zum Schutz der Vorstädte – die Gefahr von einfallenden aufständischen Kuruz- (Wien 2004) 69 f. s. v. Linienwall. Der Linien- zen aus dem Osten des Reichs11 warindieserZeitrelativhoch– wurde am Be- wall war zunächst als Erdwerk errichtet wor- den. Um dem Bauwerk mehr Festigkeit zu ge- ginn des 18. Jahrhunderts der Linienwall errichtet, der heute in etwa dem Ver- ben, wurde es einige Jahre später mit Ziegeln lauf des Gürtels entspricht. Er wurde um die Stadt in einem Radius von ca. ummauert. Siehe weiters L. Eberle, Wien als 13 km angelegt, quasi als zweiter Befestigungsring.12 Das Areal zwischen Festung. In: Geschichte der Stadt Wien 4 – „ “ (Wien 1911) 265 267; E. Gaál, Die Befesti- den beiden Ringen war für die folgenden Jahrzehnte maßgeblich für die wirt- gung der Stadt Wien. Wiener Ziegelmus. H. schaftliche Entwicklung. 5/6, 1989, 108–111.

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Abb. 2: Detail aus dem Rapportsplan von der Festung Wien mit der Neutorbastion, 1753. (© ÖStA, KA, Geniestabspläne CI/Wien a1, Nr. 29, 1753)

Die Befestigung In einigen europäischen Städten setzte im Laufe des 18. Jahrhunderts die gro- ße Entfestigungswelle ein. Das hatte teils mit der geänderten Kriegsführung so- wie der Reichweite der Artillerie zu tun und der Einsicht, dass die bestehenden Mauern einer Stadt im Kriegsfall keinen ausreichenden Widerstand mehr bieten könnten. Anderseits hatte es auch mit der gravierenden Raumnot zu tun, die in 13 Zusammengefasst bei Th. Melicher, Die den Städten herrschte. städtebauliche Entwicklung im Bereich der 13 ehemaligen Befestigungsanlagen, gezeigt an In Wien hielt man dessen ungeachtet an der bestehenden Befestigung fest. den sechs größten österreichischen Städten: Offensichtlich konnte man sich das Verwaltungszentrum des Habsburgerrei- Graz, Klagenfurt, Salzburg, Wien, Innsbruck ches nicht ohne schützende Mauer vorstellen. Im Gegenteil, man trachtete da- und Linz zwischen 1800 und 1900 (unpubl. Diss. Techn. Univ. Wien 1965) 46–435. nach, die Befestigung von Wien zu modernisieren und für die neuen kriegstech- 14 Das Ingenieurkorps wurde unter Maria nischen Anforderungen zu wappnen. Dies dokumentieren die jährlichen Rap- Theresia gegründet. Der Geniestab war ver- 14 portspläne des Geniestabs aus den Jahren 1753–1759, 1770–1773 und antwortlich für die Leitung des kriegsbautech- nischen Dienstes, er wirkte mit beim Angriff 1777–1778. Die türkische Bedrohung war zwar weitgehend gebannt worden, und der Verteidigung von festen Plätzen. Das aber um die Mitte des 18. Jahrhunderts verunsicherte der Einfall bayrischer Korps inspizierte vorhandene Festungen und Truppen in Oberösterreich im Zuge des Österreichischen Erbfolgekrieges die Verteidigungswerke und entwarf Pläne für neue Anlagen. Bevölkerung und eine hektische Instandsetzung der Befestigung begann. 15 ÖStA, KA, Geniestabspläne CI/Wien a1, Vor allem die in den Jahren 1753 bis 1759 verfassten Rapportspläne zeigen, Nr. 29–35 und CI/Wien a2, Nr. 15. dass in diesem Zeitraum fast alle Bastionen der Stadtbefestigung mit niederen 16 Neutorbastion, Mönch- bzw. Minnigbas- tei, Arsenalbastion und auch Elendbastion: F. Mauern (bas-flanq) versehen wurden. Sie waren in der Verlängerung der Face 2 Czeike, Historisches Lexikon Wien 2 (Wien einer angebaut und dienten dazu, die Bastionsflanken zu schützen.15 2004) 167 s. v. Elendbastei, Jüngere E. 17 ÖStA, KA, Geniestabspläne CI/Wien a1, Beispielhaft hervorgehoben seien an dieser Stelle die baulichen Veränderungen 16 Nr. 29, 1753: „Rapports Plan von der Festung an der Bastion „No. X“, der sog. Neutorbastion . Der Rapportsplan aus dem Wienn, über die im 1753ten Militär Jahr da- Jahre 175317, verfasst von Johann Wilhelm Hemeling, Obristwachtmeister18, selbst gemachte arbeith“. 18 Oder Oberstwachtmeister – nach heuti- bestätigt den in Planung befindlichen Anbau der niederen Mauern rechts und gen Maßstäben ein Major. links der Face (Abb. 2). Laut Planlegende deuten die grün unterlegten Mauern

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Abb. 3: Detail aus dem Rapportsplan von der Festung Wien mit der Neutorbastion, 1759. (© ÖStA, KA, Geniestabspläne CI/Wien a1, Nr. 35, 1759) auf die Planungsphase der nächsten Jahre hin. Einige Jahre später, auf einem Plan von 1759, ebenfalls von Hemeling verfasst,19 wird die veränderte Situation wiedergegeben (Abb. 3): Die linke bas-flanq der Neutorbastion ist in Gelb ge- halten, d. h. die Arbeiten an dieser Mauer sind für das aktuelle Militärjahr bean- tragt („angetragen“) worden. Die Waffenplätze auf der Kontereskarpe befanden sich laut Plan noch immer im Projektstatus. Bestätigt wird die Dokumentation durch ein Schreiben aus dem Jahr 1758, worin der Status quo der Befestigung Wiens geschildert wird.20 Zur Neutorbastion wird vermerkt, dass die linke nie- dere Flankenmauer bereits errichtet worden sei. Weiters wird erwähnt, dass der Arsenalkanal, der die Bastion an ihrer Ostseite von der Kurtinenmauer trennte, ziemlich verschlammt sei und das Areal zwischen dem Militärstock- haus in der Bastionskehle und der „retirierten“ Flanke beim Kanal sehr schmal sei und dadurch keine Kanone aufgestellt werden könne. Die benachbarte linke Seite der weiter östlich liegenden Gonzagabastion könne daher nicht von der Flanke der Neutorbastion, sondern müsse von der Kurtine aus bestrichen wer- den. 19 ÖStA, KA, Geniestabspläne CI/Wien a1, Die ab 1770 bis 1778 neuerlich erstellten Rapportspläne lassen erkennen, dass Nr. 35, 1759: „Rapports Plan von der Festung die Verkleidungsarbeiten an den Niederflanken größtenteils abgeschlossen wa- Wienn, über die im 1759ten Militär Jahr da- selbst gemachte Fortifications arbeith“. ren sowie nach und nach auch die Waffenplätze, die sich auf der umlaufenden 20 ÖStA, KA, CI/Wien a3, Nr. 6 (Mémoires) 21 Kontereskarpe befanden, mit Ziegeln versehen wurden. S. 22. Der Graben und das anschließende Glacis wurden im Laufe des 18. Jahrhun- 21 ÖStA, KA, Geniestabspläne CI/Wien a1, Nr. 36, 1770/71; Nr. 38, 1772; Nr. 39, 1773; derts fast zur Gänze der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Die Wiener Bevöl- Nr. 42, 1777 und Nr. 01, 1778. kerung nutzte diese Bereiche in vielfältigster Weise, etwa als Lagerstätten – im 22 ÖStA, KA, Geniestabspläne CI/Wien a1, Bereich des Neutores etwa für Bauholz (Abb. 4a) – oder als Marktplatz: Vor Nr. 42, 1777. M. Masanz/M. Nagl, Ringstra- ßenallee. Von der Freiheit zur Ordnung vor dem Kärntner Tor wurde z. B. Heu verkauft (Abb. 4b) und vor dem Stubentor den Toren Wiens. Forsch. u. Beitr. Wiener 22 war der Ochsenmarkt. Generell scheint das Areal eher uneben gewesen zu Stadtgesch. 30 (Wien 1996) 57–60.

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Abb. 4a: Ansicht von Wien vor dem Schottentor von Johann Adam Delsenbach, Kupferstich 1719. (nach M. Eisler [Hrsg.], Das barocke Wien. Historischer Atlas des Wiener Stadtbildes [Wien, Leipzig 1925] Taf. 4 links oben)

sein und wies keine befestigten Wege auf. Einige Berichte dokumentieren die Zustände auf dem Glacis, die anscheinend als störend empfunden wurden. So wird in einem Schreiben vom Oktober 1769 darauf hingewiesen, dass künf- tig vermieden werden solle, Kot und Unrat auf dem Glacis anzuhäufen.23 Aus demselben Jahr stammt die Nachricht, dass die Übernahme der Fahrwege und deren Erhaltung zwischen dem Schotten- und dem Stubentor durch die Gemeinde erfolgen solle.24 23 WStLA, Alte Registratur, Bericht 393 vom Im Jahre 1770 verfügte der Kaiser eine Regulierung des Glacis.25 Laut einem 18. Oktober 1769. 24 WStLA, Alte Registratur, Bericht 225 vom am 19. August 1770 genehmigten Plan führte ein umlaufender Weg auf dem 1. Juni 1769. Glacis vom Maria-Theresien-Tor an der Judenschanze im Nordosten rund 2 25 F. Czeike, Historisches Lexikon Wien 2 um die Befestigung bis zum Schanzeltor im Nordwesten.26 (Wien 2004) 547 s. v. Glacis. 26 ÖStA, KA, Geniestabspläne CI/Wien a1, Das dem Magistrat überlassene Areal war mit der Auflage verbunden, das Ge- Nr. 37, 1771 und Nr. 42, 1777. lände zu planieren, ein Wegenetz anzulegen und Gräser anzusäen.27 Auch wei- 27 WStLA, Alte Registratur, Bericht 477 vom tere Fußwege wurden angelegt und ab 1776 mit Laternen beleuchtet. 10. Dezember 1770. 28 Masanz/Nagl (Anm. 22) 60 f. F. Fischer, 1781 wurde per kaiserlichem Handschreiben dem Magistrat der Auftrag erteilt, Die Grünflächenpolitik Wiens bis zum Ende die Straßen und Wege mit Bäumen in Form von Alleen zu bepflanzen. Die An- des 1. Weltkrieges. Ein Beitrag zur Erhellung pflanzung musste innerhalb von zwei Jahren erfolgen, andernfalls wäre das der Erholungsproblematik in historisch ge- 28 wachsenen Städten (unpubl. Diss. Techn. Areal dem zugefallen, der die Bepflanzung vorgenommen hätte. Univ. Wien 1969) 30. Die Bevölkerung entdeckte das regulierte Areal bald als willkommenen Erho- 29 F. Czeike, Historisches Lexikon Wien 52 lungsraum. Vertreter aus allen Bevölkerungsschichten trafen einander, um zu (Wien 2004) 590 s. v. Wasserglacis, mit wei- terführender Literatur. flanieren, die Aussicht zu genießen und anderen kurzweiligen Verrichtungen 30 R. Künstler, Stadtbeschreibungen von nachzugehen. Zum Beispiel wurde im Bereich des Wasserglacis, südöstlich Wien – Reiseliteratur im 18. Jahrhundert (un- der Braunbastion – entspricht heute etwa einem Teil des Stadtparks –, ein Kaf- publ. Hausarbeit Univ. Regensburg 1981); K. Kauffmann, „Es ist nur ein Wien!“ Stadtbe- feezelt aufgestellt, das sich bis in das 19. Jahrhundert großer Beliebtheit erfreu- schreibungen von Wien 1700 bis 1873. Lit. te.29 in Gesch., Gesch. in Lit. 29 (Wien 1994); Th. Sadowsky, Das Bild vom josephinischen Wien in den Berichten deutscher Reisender in den Eindrücke von Reisenden und „Zugereisten“ Jahren 1780–1790 (unpubl. Hausarbeit Univ. Zahlreiche Reisebeschreibungen und Stadtbeschreibungen sind über das Hamburg 1990); R. Till, Die Basteien in zeit- 30 genössischer Schilderung. WGBl 14/1, 1959, Wien des 18. Jahrhunderts erhalten. Aus diesen geht hervor, dass schon 3–13. in der ersten Jahrhunderthälfte kritische Gedanken zur Wohnsituation in Wien

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Abb. 4b: Ansicht von Wien vor dem Kärntnertor von Johann Adam Delsenbach, Kupferstich 1720. (nach M. Eisler [Hrsg.], Das barocke Wien. Historischer Atlas des Wiener Stadtbildes [Wien, Leipzig 1925] Taf. 4 links unten)

auftauchten. Oft zitiert wird ein Brief der englischen Reisenden Lady Mary Wortley Montagu (1689–1762), die sich 1716 auf dem Weg in die Türkei in Wien aufhielt.31 Sie schilderte darin die Enge der Stadt, dass die Straßen schmal seien, zu viele Menschen auf einem Platz wohnten und oft nur eine Wand den Minister von einem Schuster trenne.32 In dieselbe Kerbe schlug An- selm Desing (1699–1772), ein Benediktiner, der zur Zeit der Herrschaft Karls VI. einige Jahre in der Stadt lebte. Er merkte an, dass die Häuser der Stadt hoch und die Gassen eng seien, und beobachtete, dass die Leute teilweise unter der Erde wohnten. Im Gegensatz dazu schienen ihm die Vororte freier zu sein, denn sie hätten weite Ebenen und schöne Berge. Das unbewohnte Terrain (Glacis) zwischen den Befestigungswerken und den Vororten mache mehrere hundert Schritte aus und er meinte, dass wenn es einst erlaubt sein sollte dort Häuser zu bauen, würden die schönsten Paläste entstehen.33 Hervorzuheben ist an dieser Stelle der Schriftsteller Johann Rautenstrauch (1746–1801), der ebenfalls einige Jahre in Wien lebte. Er verpackte seine An- liegen in Zukunftsvisionen, die selbst für den heutigen Leser erstaunlich modern anmuten. Der Protagonist aus dem Buch „Das neue Wien. Eine Fabel“ fällt im 31 M. W. Montagu, Reisebriefe 1716–1718. Jahre 1785 in einen zwanzig Jahre währenden Schlaf. Als er im Jahre 1805 Übersetzt mit Einleitung und Anmerkung ver- wieder aufwacht, hat sich alles verändert: Stadt und Vorstädte sind vereint, sehen von Max Bauer (Berlin, Leipzig 1907). 34 32 Ch. Haberler (Hrsg.), Wien in alten Reise- die Gräben verfüllt (sic!) und der Wienfluss reguliert. Es dauerte allerdings bildern. Reiseberichte und Reisebilder aus fünf noch einige Jahrzehnte, bis seine „Träume“ in die Tat umgesetzt wurden. Jahrhunderten. Alte Reisebilder 1 (Innsbruck Es gab auch Stimmen, die den grünen Gürtel der Stadt positiv hervorhoben. 1974) 21. 33 A. Desing, Auxilia Historica, Oder Histori- Stellvertretend für eine Reihe bewundernder, aber auch kritischer Äußerungen scher Behülff, Und Bequemer Unterricht Von über Wien seien zwei Beschreibungen erwähnt, nämlich jene von Johann Pezzl Denen darzu erforderlichen Wissenschaften II und Wilhelm Ludwig Wekhrlin. 1 (Regensburg 1741) 1068–1070. Siehe auch – J. Schwerdfeger, Eine Beschreibung Wiens Der Schriftsteller Johann Pezzl (1756 1823) wurde in Bayern geboren und leb- aus der Zeit Kaiser Karls VI. Jahresber. Akad. te seit dem Jahr 1784 in Wien, wo er anfangs die Bibliothek des Grafen Kaunitz Gymnasium Wien (Wien 1906). betreute. Kurze Zeit später begann er mit der Veröffentlichung eines Kultur- und 34 J. Rautenstrauch, Das neue Wien. Eine 35 Fabel (Wien 1785) v. a. Kap. 8–9. Skizzenbildes sowie einer topografischen Beschreibung von Wien. Pezzl be- 35 F. Czeike, Historisches Lexikon Wien 42 schrieb in seiner „Skizze von Wien“ (in fünf Heften 1786–1790 erschienen) die (Wien 2004) 534 s. v. Pezzl Johann.

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beengenden Verhältnisse der Stadt und bemerkte ironisch, dass unter der Erde manchmal ebenso viele Stockwerke seien wie über dem Boden.36 Er machte sich aber durchaus Gedanken darüber, wie man zur Verschönerung des Stadt- bildes beitragen könnte.37 Ihm waren v. a. die Verbreiterung von Straßenläufen sowie Regulierung von Baufluchten ein Anliegen, um das Fortkommen im Stra- ßenverkehr zu erleichtern und um generell Platz zu schaffen. In einem Vergleich zu früheren Verhältnissen, von ihm Alt-Wien genannt, stellte er bezüglich des Bauwesens fest, dass die Häuser früher im gotischen Stil, aber solide gebaut worden seien, während sie zu seiner Zeit, Neu-Wien genannt, zwar modern, aber von Beginn an baufällig und klein seien, so dass die Menschen wie in Kä- figen zusammengedrängt leben müssten.38 Gelobt wurden hingegen die Vor- züge eines Rundgangs auf den Basteien, wo man zu jeder Tageszeit Vertreter einer anderen sozialen Schicht antreffen könne.39 Wilhelm Ludwig Wekhrlin (1739–1792) war ein deutscher Journalist, der einige Zeit in Wien lebte und u. a. kurz die Redaktion des „Wiener Diariums“ über- nahm. Wekhrlin erzählte in der satirischen Reisebeschreibung „Denkwürdigkei- ten von Wien“, dass der Umgang auf den Kurtinen um die Stadt ca. eine Stunde dauere und dass man zur Sommerzeit alles sehe, was reizend, schön und ge- schmackvoll sei.40 Zur Stadt selbst vermerkte er aber auch, dass manche Häu- ser sieben Stockwerke hoch seien und bezeichnete diese als ungeheure Fel- sen. Die Bewohner seien eine bunte Mischung aus nahezu allen sozialen Schichten. In der Beletage würden der Adel und unter dem Dach die Schneider oder andere Handwerker wohnen. Letztgenannte hätten allerdings den Vor- zug, die beste Luft zu haben.41

Wien im 19. Jahrhundert Nach der Jahrhundertwende, am Beginn des 19. Jahrhunderts, rückte die Stadt Wien wieder in den Mittelpunkt kriegerischer Ereignisse. Das französi- 36 J. Pezzl, Skizze von Wien. Ein Kultur- und sche Heer unter der Führung von Feldmarschall Joachim Murat kam am 13. Sittenbild aus der josefinischen Zeit. Hrsg. v. November 1805 zum ersten Mal vor die Tore von Wien. Die Stadt wurde, ohne G. Gugitz u. A. Schlossar (Graz 1923) 16. 42 37 Pezzl (Anm. 36) 25. dass ein Schuss fiel, an Napoleon übergeben. 38 Pezzl (Anm. 36) 512 f. Im Jahre 1809 wurde erneut beschlossen, befürwortet v. a. von Minister Jo- 39 Pezzl (Anm. 36) 448–450. hann Philipp Karl Joseph Stadion, Außenminister des Kaiserreiches Österreich, 40 W. L. Wekhrlin, Denkwürdigkeiten von Wien (Wien 1777) 18; zum Autor siehe Künstler Napoleon kriegerisch entgegenzutreten, um seine Expansionsbestrebungen (Anm. 30) 77. einzudämmen. Eine fatale Entscheidung, die letztlich mit großen menschlichen 41 Wekhrlin (Anm. 40) 13. Verlusten, einer Verkleinerung des Reichsgebietes und mit hohen Steuersum- 42 M. Pfaffenbichler, Der Dritte Koalitions- krieg. In: Schallaburg Kulturbetriebsges. men und Kriegsentschädigungen bezahlt werden musste. Die napoleonischen m.b.H. (Hrsg.), Napoleon. Feldherr, Kaiser Truppen standen im Mai 1809 erneut vor Wien,43 das nach Beschuss letztlich und Genie. Ausstellungskat. Schallaburg kapitulierte. Nach der Unterzeichnung des Friedensvertrages im Oktober des- 2009 (Schallaburg 2009) 129 f. 43 M. Ch. Ortner, Der Feldzug von 1809. In: selben Jahres – bis dahin mussten die Truppen von der Stadt versorgt werden Ausstellungskat. Schallaburg (Anm. 42) 149 f. – zogen die Truppen ab, nicht ohne nochmals ihre Macht zu demonstrieren: 44 Die Ereignisse in Wien im Jahre 1809 zu- 44 letzt zusammengefasst von K. Ma-Kircher, Napoleon ließ Teile der Befestigung sprengen. Wien 1809. WGBl Beih. 2/2009 = Veröff. Wie- Obwohl sich durch die vorangegangenen Kampfhandlungen längst gezeigt ner Stadt- u. Landesarchiv, R. B, Ausstel- hatte, dass die Stadtmauer keinen militärischen Nutzen mehr hatte, weder lungskat. 79 (Wien 2009). Zur Demolierung der Festungswerke anno 1809: ÖStA, HHStA, zur Verteidigung noch als Schutz gegen Eindringlinge, stellte die angeordnete De Vaux Karton 30 – 12. Teilzerstörung durch Napoleon eine weithin sichtbare Demütigung dar. Später

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versuchte man durch repräsentative Bauwerke von der erlittenen Schmach ab- zulenken. Dessen ungeachtet war das Bewusstsein für die Bedürfnisse der Be- völkerung soweit gediehen, dass man nicht mehr daran dachte, die zerstörten Teile in ihrer alten Form wieder aufzubauen, sondern die Chance nutzte und zaghaft die Öffnung der Stadt ansteuerte. Den offiziellen Schritt in diese Rich- tung setzte Kaiser Franz I. im Jahre 1817, indem er den Festungsstatus der Stadt Wien aufheben ließ und damit die militärische Nutzung der Befestigungs- anlagen. Die Pläne für die „Stadterweiterung“ zum Zwecke der Raumgewinnung und -nutzung begannen zunehmend Gestalt anzunehmen. Viele Projekte wurden aber nie realisiert. Erwähnt seien hier etwa zwei Konzepte, die eine Verbauung des Glacis zum Inhalt hatten. Ein gewisser A. E. Stache widmete einige kolorierte Lithographien mit dem Titel „Promenaden“ dem Bürgermeister von Wien. Diese Promenaden sollten vom Burgtor bis zum Schottentor bzw. vom Kärntner- zum Burgtor führen.45 Bei beiden Projekten war eine prominente gärtnerische Gestaltung am Glacis so- wie im Stadtgraben vorgesehen.46 Ein anderer Entwurf sah die Entstehung ei- nes Stadtteiles in der Umgebung des k. k. Belvedere vor. Der Bebauungsplan umfasste das Areal westlich, südlich und östlich des Oberen Belvederes bis zum Linienwall, welches durch rechtwinkelig einander kreuzende Straßen ak- zentuiert und mit einem eigenen Marktplatz und Parkanlagen ausgestattet wor- 47 den wäre. 45 A. E. Stache, Erklärung von sechs Situa- Viele namhafte Architekten des 19. Jahrhunderts legten Entwürfe für repräsen- tionsplänen zur Verschönerung der Städte Wien und Prag, 1818: WM Inv.-Nr. 54.715. tative Anlagen vor: 46 A. E. Stache, Plan einer Promenade vom Dem Architekt Alois Pichl (1782–1856) erschien das Areal vor dem Kärntner Kärnthner- bis zum Burgthore und Plan einer Tor, zwischen der Wasserkunstbastion und der weiter südwestlich liegenden Promenade vom Burgthor bis zum Schotten Thore, 1817: WM Inv.-Nr. 71.516; 54.714. Augustinerbastion, passend zu sein für die Errichtung eines Platzes mit einem 47 A. E. Stache, Plan einer Vorstadt in den 48 zentralen Opernhaus und zwei gegenüberliegenden Museumsgebäuden. Umgebungen des K. K. Belvedere am Renn- Der Architekt Anton Ortner hingegen bevorzugte das Terrain zwischen der wege in Wien, vermutlich 1817: WM Inv.-Nr. 84.712. Braunbastion und der Wasserkunstbastion zur Anlage eines neuen Stadtteiles. 48 Aquarellierter Plan, signiert von Alois Er legte den Plan 1840 vor. In diesem Fall wären jeweils der südliche Teil der Pichl, 1835, Architekt der Erzherzöge von Es- te, Mitglied der Akademie zu Rom: WM Inv.- Wasserkunstbastion und der nördliche Teil der Braunbastion erhalten geblie- Nr. 107076/8. Siehe auch R. Kassal-Mikula/ ben. Der nördliche und südliche Teil der Bastionen wären nach Osten hinaus- Ch. Benedik, Das ungebaute Wien. Projekte geschoben worden, so dass ein neuer Abschnitt der Stadtmauer entstanden für die Metropole 1800 bis 2000. Sonder- ausst. HMW 255 (Wien 1999). wäre. Zentrum des neuen Stadtteiles wäre ein großer rechteckiger Platz mit 49 A. Ortner, Plan des neu projectierten 49 zahlreichen repräsentativen Gebäuden gewesen. Stadttheiles zwischen der Carolinen- und Was- Ein anderer Architekt, Ludwig Christian Förster (1797–1863), widmete sich serkunst Bastey: WM Inv.-Nr. 48.030. Im Zu- sammenhang mit dem Palais Coburg wurde dem Thema gleich mehrmals. Im Jahre 1844 hielt er einen Vortrag in Prag, der Ortner-Plan zuletzt diskutiert von R. Kur- der wieder einmal den begrenzten Raum in der Stadt thematisierte, um gleich- diovsky, Die urbanistische Lage des Palais Co- zeitig einen Plan zu präsentieren, der aufzeigte, wie und wo mehr Entfaltungs- burg. In: K.-P. Högel/R. Kurdiovsky (Hrsg.), 50 Das Palais Coburg. Kunst- und Kulturge- möglichkeiten geschaffen werden könnten. Seine Idee war, die südliche Face schichte eines Wiener Adelspalastes zwischen der Mölkerbastion nach Nordwesten zu verlängern und im stumpfen Winkel ei- Renaissance-Befestigung und Ringstraßenära ne Mauer anzusetzen, die in gerader Linie bis zum Donaukanal reichen sollte. (Wien 2003) 110 f. 50 L. Förster, Ueber die Ausstellung wäh- Die Umgrenzungsmauer sollte weiter der Krümmung des Donaukanals folgen rend der Architektenversammlung in Prag. bis zur großen Gonzagabastion. Die Elend- und Neutorbastion wären abgetra- Allg. Bauztg. 9, 1844, 292–295.

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Abb. 5: Entwurf für die Erweiterung der Inneren Stadt von Ludwig Förster, 1850. (© Wien Museum, Inv.-Nr. 13.462)

gen worden. Damit wäre ein völlig neuer Stadtteil geschaffen worden. Geplant waren Plätze, eine neue Kirche und Kaserne sowie Wohnhäuser (Abb. 5).51 51 Förster (Anm. 50) Abb. S. 295. Förster legte noch mehrmals Pläne zur Stadterweite- rung vor, basierend auf einem Vorschlag von Die Vorstädte waren auch am Beginn des 19. Jahrhunderts weiter im Wachsen 52 General Cerini im Jahre 1817 (ÖNB, Karten- begriffen. Vor allem die Textilindustrie breitete sich im Wiental aus. Beschäf- sammlung, FKB W.20): Innere kais: kön: tigte in der Seidenverarbeitung machten sogar ein Fünftel aller Berufstätigen in Haupt- und Residenz-Stadt Wien 1850. Ent- wurf für die Erweiterung der Inneren Stadt Wien aus. Nach 1800 wurden auch die südlichen und östlichen Gebiete inner- von Ludwig Förster vorgelegt den 21. August halb des Linienwalls als Wohn- und Arbeitsraum erschlossen. In der ersten 1850 (WM Inv.-Nr. 13.462). Der Entwurf von Hälfte des 19. Jahrhunderts ließen sich z. B. nach und nach die Beamten in Cerini wird auch bei A. Schmidl,Wien. Die Kai- 53 serstadt und ihre nächsten Umgebungen der Vorstadt nieder, um den teuren Mietpreisen der Stadt zu entgehen. All- (Wien 1843) 13, erwähnt. mählich entstanden auch gewerbliche Zonen in den Vororten außerhalb des Li- 52 Weigl (Anm. 10) 77. G. Meißl, Vom Bril- nienwalls. Die niedrigeren Bodenpreise boten Anreize für die im Zuge der In- lantengrund zur Favoritenlinie. Zum Wandel der Produktion im Wiener Vormärz. In: Bürger- dustrialisierung benötigten Fabriken. sinn und Aufbegehren – Biedermeier und Vor- Ein Großteil der grundherrschaftlichen Gebiete innerhalb der Linien war im Be- märz in Wien, 1815–1848. Sonderausst. sitz der Geistlichkeit. Bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts kaufte die Gemein- HMW 109 (Wien 1988) 552–558. 53 Lichtenberger (Anm. 3) 179 f. de nach und nach zwei Drittel der Besitzungen der verschiedenen Grundobrig- 54 Dazu W. Sauer, Grund-Herrschaft in Wien keiten innerhalb der Linien auf.54 Rechtlich gipfelte die Entwicklung schließlich in 1700–1848. Zur Struktur und Funktion inter- dem Zusammenschluss der Inneren Stadt mit den Vorstädten (1850) zu einer mediärer Gewalten in der Großstadt. Kom- 55 mentare Hist. Atlas Wien 5 (Wien 1993) 73–96. gemeinsamen Verwaltungseinheit. 55 Verordnung des Ministeriums des Inneren Die revolutionären Ereignisse im Jahre 1848 brachten die Stadterweiterungs- vom 9. März 1850, Z 1286-M. I., wegen Erlas- sung der provisorischen Gemeindeordnung für pläne Wiens zum Stillstand. Die militärischen Stellen waren jetzt sogar der Mei- die Stadt Wien. nung, dass die bestehende Befestigung weiter ausgebaut werden müsste. Als 56 W. Wagner, Die Stellungnahme der Mili- zusätzlicher Schutz sollten noch weitere Kasernen, sog. Defensionskasernen, tärbehörden zur Wiener Stadterweiterung in 56 den Jahren 1848–1857. JbVGW 17/18, an strategischen Punkten der Stadt errichtet werden. Beispielhaft erwähnt 1961/62, 220 f. seien die Entwürfe von Major Kronenfels, der sich umfassend mit unterschied-

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Abb. 6: Kommissionsplan aus dem Jahr 1850, eingereicht von Franz Ferdinand Mayern um 1852. Ausschnitt mit der geplanten Neuverbauung zwischen Äußerem Burgtor und Palais Coburg. (© Wien Museum, Inv.-Nr. 13.463) lichen militärischen baulichen Anforderungen zum Thema „Kasernenbau“ be- schäftigte.57 In den Jahren, die nach dem Revolutionsjahr folgten, war der mi- litärische Einfluss beim Kaiser besonders weitreichend. Die beständige Angst vor der aufrührerischen Bevölkerung begünstigte eine Vielzahl von strategi- schen Verteidigungsplänen. Der Kaiser genehmigte alsbald den Bau des Arse- nals (1849–1856) außerhalb des Linienwalls sowie den Bau der Kronprinz-Ru- dolf-Kaserne (= Roßauer Kaserne; 1865–1869) und der Kaiser-Franz-Joseph- Kaserne (1854–1857).58 Diese Bauwerke bildeten den Teil eines zukünftigen, umfangreichen militärischen Verteidigungskonzeptes, um die aufständische Bevölkerung gegebenenfalls besser unter Beschuss haben zu können. Die Platz- und Wohnungsnot blieben weiterhin aktuelle Themen. Nachdem man die militärischen Bedenken nicht unbeachtet lassen konnte, versuchte man sowohl die zivilen wie auch die militärischen Notwendigkeiten gleicherma- ßen zu berücksichtigen. Es wurde ein Plan entwickelt, der vorsah, die Bastio- 57 ÖStA, KA, Geniestabspläne CI/Wien a2, nen der bestehenden Stadtmauer abzubrechen und mit dem Abbruchmaterial Nr. 06, Befestigung von Wien. Übersicht und die Stadtgräben aufzufüllen. Anstelle der abgebrochenen Befestigungen soll- Details von Major Kronenfels, 1846 (16 Pläne). 58 Um die Baupläne verwirklichen zu kön- ten weiter hinausgeschobene neue Bollwerke gemeinsam mit einer verbinden- nen, wurden Gelder durch Grundstücksver- den Mauer die neue Umfassung bilden. Damit wäre Raum gewonnen worden, käufe lukriert, z. B. das Areal zwischen Berg- um neue Marktplätze und öffentliche Gebäude innerhalb der Stadtbefestigung gasse und Türkenstraße, das fortan Neu-Wien genannt wurde. A. Kieslinger/E. Mejchar, Die zu errichten (Abb. 6).59 An der Außenseite der Kurtinen hätten Verkaufsläden Steine der Wiener Ringstraße. Ihre technische untergebracht werden können. Im Norden wäre die Linie bis an den Donauka- und künstlerische Bedeutung. Die Wiener nal vorgezogen worden und im Nordwesten mit dem Abbruch der Neutor- und Ringstraße 4 (Wiesbaden 1972) 353. Die Franz-Joseph-Kaserne wurde zwischen 1900 Elendbastion überhaupt ein neuer Stadtteil entstanden. Etwa zur selben Zeit und 1901 abgebrochen. 60 entstanden noch andere Pläne, die ähnliche Verbauungsstrategien vorsahen. 59 Wagner (Anm. 56) 256–259. Diese Entwürfe zogen eine langwierige, mehrjährige Diskussion zwischen den 60 Entwurf der Architekten Paul Wilhelm Eduard Sprenger (WM Inv.-Nr. 13.468), Carl zivilen und militärischen Ratgebern (Armeeoberkommando, Generalgeniedirek- Roesner (WM Inv.-Nr. 13.465) und Ludwig tion, Finanzministerium, Handelsministerium) des Kaisers nach sich. Vor allem Förster (WM Inv.-Nr. 13.466).

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Abb. 7: Plan der im Militärjahr 1810 ausgeführten Arbeiten. Ausschnitt mit dem zerstörten Ravelin zwischen Löwel- und Mölkerbastion. (© ÖStA, KA, Kartensammlung VIIe 107b Wien, Inv.-Nr. 169E)

in den Jahren nach der Revolution behielt die militärische Seite die Oberhand. Schließlich verlor der Kaiser zusehends das Interesse an den dargelegten Be- drohungsszenarien. Das Problem der Raumnot war noch immer ungelöst. Letztendlich wurde das Thema „Stadterweiterung“ immer dringlicher und wich- tiger, so dass zu den Beratungsgesprächen keine militärischen Vertreter mehr eingeladen wurden. Schließlich fällte der Kaiser eine Entscheidung: Am 25. De- zember 1857 wurde der Inhalt des kaiserlichen Handschreibens an den Innen- minister Alexander Freiherr von Bach der Bevölkerung von Wien zur Kenntnis gebracht.61 Kaiser Franz Joseph I. gestattete die Auflassung der Fortifikation, der Umwallung und des Grabens. Das gewonnene Areal sollte zusammen mit dem Glacis, soweit es keiner anderen Bestimmung zugedacht sei, als Bauareal genutzt werden. Damit wurden die Vorstädte auch real mit der Inne- ren Stadt verbunden.

Die Befestigung Wiens vor ihrem Abriss Am Beginn des 19. Jahrhunderts entstanden einige repräsentative Bauwerke auf der Stadtmauer selbst. Bestehende Anlagen wurden umgebaut und ausge- baut. Zum Beispiel veranlasste Herzog Albert von Sachsen-Teschen (1738– 1822) den Umbau des Palais Taroucca (die heutige Albertina; 1801–1804) un- ter Einbeziehung eines Teilbereiches der Stadtmauer und des südöstlich gele- genen Augustinerklosters. Zu einem späteren Zeitpunkt (1843–1847) ließ Fer- dinand von Sachsen-Coburg-Saalfeld-Koháry das sog. Coburgpalais errich- 61 Wiener Zeitung, Nr. 296, Freitag, den 25. ten, welches sich zum Teil auf und an der Stadtmauer südwestlich der Braun- Dezember 1857. 62 62 Zur wechselhaften Geschichte des Co- bastion befindet. Fertiggestellt wurde es allerdings erst unter seinem burgpalais siehe Högel/Kurdiovsky (Anm. 49). Nachfolger Herzog August.

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Abb. 8: Ausschnitt aus einem Detailplan von 1834 mit den baulichen Änderungen im Bereich der Neutor-/Münchbastion. (© ÖStA, KA, Geniestabs- pläne CI/Wien a2, Nr. 02, 1834)

Wie schon weiter oben erwähnt, ließ Napoleon, bevor er von Wien abzog,Teile der Befestigung sprengen.63 Davon waren Bastionen und Ravelins sowie Ab- schnitte der Kontereskarpe der Befestigung (von der Kärntnerbastion bis zur Elendbastion) betroffen. In der Folge stand die Neugestaltung des Burgberei- ches im Vordergrund. Situationspläne aus den Jahren 1810 und 1811 zei- gen,64 dass zuerst die noch existierenden Reste der niederen Flankenmauern der Löwel- und Burgbastion abgetragen werden sollten (Abb. 7). Die notwen- dige Infrastruktur wie Kalköfen, Brunnen und Bauhütten war schon errichtet worden. Eine stufenweise Grabenauffüllung um den Ravelin, der sich zwischen den beiden Bastionen befand, sollte in der nahen Zukunft durchgeführt werden. Der ehemalige Grabenbereich vor der Burg wurde aufgefüllt und ein ebenes Gelände geschaffen. Auf dem neu gewonnenen Terrain entstanden das heute 63 Siehe dazu Circulare der k. k. Landesre- noch bestehende Äußere Burgtor (Grundsteinlegung 1821), der sog. Kaiser- gierung vom 26.10. 1809 (WStLA, Hauptre- garten (in etwa der heutige Burggarten; 1818–1823) und der Volksgarten. Zu gistratur A1/82, 26.10. 1809), in dem aus- drücklich untersagt wird, Baumaterial von den Letzterem sei bemerkt, dass er die erste Parkanlage Europas war, die von Be- gesprengten Festungswerken wegzuschlep- 65 ginn an für die Öffentlichkeit bestimmt war. Im Zentrum des Gartens entstand pen. der Theseustempel (1820–1823) nach den Plänen von Pietro Nobile (1774– 64 ÖStA, KA, Kartensammlung VIIe 107b Wien, Inv.-Nr. 169E: „Rapports Plan der im mi- 1854), der auch das Äußere Burgtor, nach den Plänen von Luigi Cagnola, bau- litair Jahre 1810 und 1811 ausgeführten Arbei- te. Den Namen erhielt das Bauwerk durch die im Inneren aufgestellte Theseus- ten“. gruppe von Antonio Canova, die Theseus Sieg über den Minotaurus zum The- 65 Österreichische Gesellschaft für histori- sche Gärten (Hrsg.), Historische Gärten in Ös- ma hat.66 terreich. Vergessene Gesamtkunstwerke Die ehemalige Linie der Kurtine von der abgebrochenen Löwelbastion, der (Wien 1993) 234–238. Burgbastion bis zu der Kärntnerbastion wurde nach Südwesten vorgeschoben 66 Die Skulptur befindet sich seit 1890 im – 67 Stiegenaufgang des Kunsthistorischen Mu- und als Hornwerk neu errichtet (1817 1821). seums Wien. In den folgenden Jahren wurden einige Bastionen umgebaut und modernisiert. 67 ÖStA, HHStA 1247, Mappe D-1; D-2; Die Niederflanken-Mauern, die im 18. Jahrhundert den sensiblen Flankenbe- D-9. In diesen Mappen sind zahlreiche Detail- aufnahmen enthalten, in denen neben der reich geschützt hatten, wurden nach und nach abgetragen. Übersichtspläne Neuverbauung vor der Burg auch die Grün- aus dem Jahr 1834 zeigen die umgebauten Bastionen im Detail, inklusive der flächenmaßnahmen eingetragen sind.

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Abb. 9: Wasserglacis mit dem Karolinentor. Aquarell von Johann Tobias Raulino, um 1820. (© Wien Museum, Inv.-Nr. 105.890)

Kasematten.68 Die Flankenmauern, die ursprünglich mit Geschützöffnungen versehen waren, wurden vermauert. Zum Beispiel wurde die östliche Flanke der Münch- oder Neutorbastion völlig neu gestaltet (Abb. 8). Der Arsenalkanal, der einst die Zufahrt der Schiffe von der Donau zum Hafen innerhalb der Stadtmauer ermöglichte, existierte nicht mehr. Das Terrain wurde soweit angeschüttet, dass mittels einer Mauer die Verbindung zwischen der bestehenden Bastionsface und der Kurtine geschaf- fen werden konnte. Mit dieser Maßnahme hatte man sich eines Problems ent- ledigt, das seit der Entstehung des Kanals im 16. Jahrhundert immer wieder zu Klagen geführt hatte. Einerseits musste gegen die Versumpfung angekämpft werden, andererseits bestand die Gefahr, dass bei niederem Wasserstand der Feind durch den Kanal in die Stadt eindringen hätte können.69 Ein Schrei- ben, das an die „k. k. Fortifications District Direction“ gerichtet war, gibt Aus- kunft, dass die Arbeiten am ehemaligen Kanal im Jahre 1828 beantragt wur- den. Außerdem wird angeführt, dass die Brustwehren zwischen der Münch- und Elendbastion abzutragen und auf der Kurtine Bäume zu pflanzen seien.70 Einige Bastionen erhielten Zubauten, wie z. B. die westliche Flankenseite der Elend-/Schottenbastion. Die ehemalige, eingezogene linke Flankenmauer wur- de zu einem integrierten Bestandteil einer neuen Raumkonzeption. Die vorge- setzte neue Mauer bewirkte eine geschlossene äußere Linie zwischen Bastion und Kurtine. Im Inneren waren durch diese Maßnahmen neue Räume entstan- den. 68 ÖStA, KA, Geniestabspläne CI/Wien a2, Nr. 02, 1834. Die Bastionen, die dazwischenliegenden Kurtinen und der Stadtgraben wurden 69 Eberle (Anm. 12) 251. auch gärtnerisch gestaltet. Ein Situationsplan aus dem Jahre 1838 verdeutlicht 70 ÖStA, KA, Geniestabspläne CI/Wien a3, dies. Im Garten auf der Münch-/Neutorbastion stand ein kleines Observato- Nr. 21 (Mémoires) 7. Sammelakt, der 1826 „ “ angelegt und 1831 geschlossen wurde. Sig- rium. Diese Anlage wurde laut Plan vom k. k. General Quartiermeister be- niert sind die Schriftstücke mit Carl Malony. nützt. An einer anderen Stelle, im Graben zwischen der Braun- und Wasser-

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kunstbastion, war ein abgesteckter Bereich als „k. k. Hofgarten“ angelegt wor- den.71 In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde auch der Glacisbereich teilwei- se verbaut. Östlich des Wienflusses entstanden ein Bau für die „Münze Öster- reich“ (1834 am Heumarkt) und das „k. k. polytechnische Institut“ (1816 südlich der Karlskirche, die heutige Technische Universität). Im Südwesten, am Rande des Josefstädter Glacis, wurde das „k. k. Militärgeographische Institut“ errich- tet (1839). Um eine bessere Verbindung zwischen der Stadt und den Vorstäd- ten herzustellen, wurden neue Tore erbaut. Das Franzenstor bei der Löwelbas- tion (1815–1817) sollte zur besseren Kommunikation mit der Josefstadt dienen und das Karolinentor (1816–1817) südlich der Braunbastion sollte eine Verbin- dung von der Stadt zum Wasserglacis herstellen (Abb. 9).72 Zusätzlich wurde das im Mittelalter vermauerte Kärntner Tor wieder geöffnet und als „neues“ Kärntner Tor bezeichnet. Die Salpeteranlage am Glacis bei der Josefstadt wurde aufgegeben und nach dem Abbruch der Hütten parzellierte man den Bereich in mehrere Baugrün- de.73 Das Glacis wurde von der Wiener Bevölkerung weiterhin zur Erholung genutzt. Die gerne besuchte Mineralwassertrinkanstalt am sog. Wasserglacis wurde schon weiter oben erwähnt. Die zahlreichen Alleen und Wiesen luden zu Spa- 71 ÖStA, KA, Geniestabspläne CI/Wien a1, Nr. 18, 1838: „Situations-Plan sämtlicher auf ziergängen, zum Spielen und anderem Müßiggang ein. Mehrere Situationsplä- fortifikatorischen Terrain befindlichen Gärten ne, die ab 1816 angefertigt wurden, lassen erkennen, dass am Glacis einige Wien anno 1838“. Alleen und Straßen neu angelegt oder die alten reguliert worden waren.74 72 H. Krause, Das Karolinentor. In: Krause et al. (Anm. 1) 61–63. Zum Beispiel wurde die Hauptverbindung zwischen dem Äußeren Burgtor 73 Im Wiener Stadt- und Landesarchiv ist ei- und den Hofstallungen durch einen Rundplatz mit sternförmig abgehenden Al- ne Handzeichnung aufbewahrt, die aus Anlass leen gestaltet.75 der öffentlichen Versteigerung der Baugründe am 1.8. 1827 angefertigt wurde (WStLA, Kar- Im 19. Jahrhundert war die wirtschaftliche Nutzung der Flächen vor den Stadt- tographische Sammlung, 3.2.1.P1/135). Tat- toren Wiens ein nicht unbedeutender Faktor. Diverse Betriebe konnten sich sächlich wurden die Baugründe erst einige ausbreiten, da die militärische Funktion des Glacis obsolet geworden war. Es Jahre später verkauft, da der Kaiser die beab- sichtigte Lizitation nicht bewilligte. wurden beständige oder saisonbedingte Märkte für Waren aller Art abgehalten 74 WStLA, Kartographische Sammlung, oder Mühlen betrieben. Handwerkliche Betriebe, die viel Staub und Lärm ver- 3.2.2.P7/165–174; angefertigt um 1816. 75 WStLA, Kartographische Sammlung, ursachten, wie Steinmetze oder Zimmerer, hatten sich niedergelassen oder 3.2.2.P7/171, vermutlich 1816: „Situations Fuhrwerksbetriebe, die den Personen- und Warentransport in die Vorstädte si- Plan Uiber die von Allerhöchst Sr: Majestät cherstellten.76 dem Kaiser anbefohlenen neuen Alleen nach ihrer directen Linien zum neuen Burgthor“. 76 Masanz/Nagl (Anm. 22) 63; Ch. Sonn- Eindrücke von Reisenden und „Zugereisten“ lechner/H. Tauber, Von der Gstätten zum Das frühe 19. Jahrhundert ist politisch geprägt von den Kriegen gegen Napo- Stadtpark. Zur Nutzung der Flächen vor den Wiener Stadttoren vom 16. bis zum 19. Jahr- leon und von den aufkeimenden politischen und sozialen Forderungen, die hundert. Veröff. Wiener Stadt- u. Landesar- schließlich zur Revolution im Jahre 1848 führten. chiv, R. B, Ausstellungskat. 81 (Wien 2010) Zahlreiche Reisende machten in Wien Station und beschrieben neben der Wie- 8–15. 77 77 A. Glassbrenner, Die Kaiserstadt. Licht- ner Heiterkeit und Gemütlichkeit auch die Topographie der Stadt, Vorstädte und Schattenseiten aus dem öffentlichen und 78 und Vororte. Das Straßenbild hatte sich seit dem 18. Jahrhundert nicht häuslichen Leben der Wiener 1 (Leipzig 1847) zum Positiven geändert, sondern verschlechtert. Nach wie vor lebten die Men- 36 f.; Haberler (Anm. 32) 90. 78 E. Zöllner, Wien um die Mitte des 19. schen in der Stadt dicht gedrängt auf engem Raum. Durchwegs positiv hervor- Jahrhunderts in der Sicht seiner fremden Gäs- gehoben wurden aber die Möglichkeiten, auf den Kurtinen (Basteien) der Stadt te. WGBl 33/3, 1978, 116–137.

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spazieren und von dort aus das Panorama der Umgebung genießen zu kön- nen. Auch der grüne Gürtel, das Glacis, wurde sehr geschätzt.79 Friedrich Emanuel von Hurter (1787–1865), ein Schweizer Theologe, wurde 1846 als Historiker nach Wien berufen. Auch er beklagt den Lärm und das Ge- dränge in den engen Gassen der Stadt.80 Er betonte jedoch, dass der Wiener, egal ob er in der Vorstadt lebe oder in der Stadt, von keinem Punkt weit zu ge- hen hätte, um im Grünen frische Luft schöpfen zu können.81 Der Schriftsteller Adolf Schmidl (1802–1863), geboren in Böhmen, lebte einige Zeit in Wien. Er verfasste zahlreiche Reisehandbücher über verschiedene Land- schaften Österreichs. Alleine über Wien und seine „nächsten Umgebungen“ schrieb er mehrere Werke. Er bemängelte etwa die im Vergleich zu Prag gerin- ge Zahl an hervorragenden Gebäuden in der Stadt. Das Glacis trenne die Vor- städte von der Inneren Stadt. In den Vorstädten lebe, wie überall, die arbeiten- de Klasse und die Stadt bilde den Mittelpunkt allen Lebens und Reichtums. Die Trennung zwischen Vorstädten und Stadt werde nirgendwo so streng genom- men wie in Wien, nämlich in dem Sinn, dass der wohlhabende Mittelstand mit einem Achselzucken auf die Bewohner der Vorstädte herabsähe. Er bemerkte weiter, dass diese Mittelschicht eine düstere, stickige Wohnung im fünften Stock der Stadt einer luftigen, großzügigen Wohnung in der Vorstadt vorziehe. Er charakterisierte die Wiener als „Vorstadtscheu“82 und, dass sie diesbezüg- lich lächerliche Vorurteile hätten. Weiters befand er, dass der Raum, welchen die Stadtwälle einnähmen, zu einem Gürtel von Prachtbauten genützt werden hätte können. Trotz aller Kritik kam er nicht umhin, die Gartenanlagen auf den Basteien und die Alleen am Glacis als größte Reize der Kaiserstadt hervorzuhe- ben.83 Zuletzt sei der deutsche Schriftsteller und Politiker Robert Blum (1807–1848) erwähnt. Er wurde in Wien als Beteiligter der Oktoberrevolution hingerichtet. In einem Brief, den er einige Tage vor seinem Tod an seine Frau schrieb, lobte er die Stadt, wie prächtig, herrlich und liebenswürdig sie sei.84

Zusammenfassung Nachdem Wien von der Dauerbedrohung durch die Türken befreit war, konnte sich die Stadt über die Mauer hinaus entfalten. Die Stadt wurde zur Haupt- und 79 P. E. Turnbull, Reise durch die österrei- Residenzstadt der Habsburgermonarchie und benötigte daher vermehrt reprä- chischen Staaten (Leipzig 1841) 134–137. sentative Unterbringungsmöglichkeiten v. a. für den Verwaltungsapparat inner- 80 F. Hurter, Ausflug nach Wien und Press- burg im Sommer 1839. Bd. I (Schaffhausen halb der Mauern. Einerseits wurden die Raumansprüche durch Enteignung 1840) 290 f. zahlreicher Klosteranlagen bewerkstelligt, andererseits stockte man die beste- 81 Hurter Bd. II (Anm. 80) 65–67. henden Häuser auf. Die Vorstädte wurden im Laufe des 18. Jahrhunderts ein 82 A. Schmidl,Wien und seine nächsten Um- gebungen in malerischen Original-Ansichten zunehmend wichtiger Besiedlungsraum und hatten wiederum ihre Begrenzung nach der Natur aufgenommen und in Stahl ge- durch den Linienwall, was aber zu dieser Zeit noch nicht maßgeblich war. Hier stochen von verschiedenen Künstlern (Wien 1847) 127 f. ließen sich Adelsangehörige Zweitwohnsitze und Sommerpalais errichten. We- 83 Schmidl (Anm. 51) 13 f. gen der niedrigen Mieten im Vergleich zur Stadt siedelten sich auch vermehrt 84 R. Blum, Briefe und Dokumente. Rec- Gewerbe- und Handwerksbetriebe an. In die zweite Hälfte des 18. Jahrhun- lams Universal-Bibl. 865 (Leipzig 1981) 106 f. Brief vom 17. Oktober 1848, geschrieben derts fällt auch die Regulierung des Glacis. Mit dieser Maßnahme war das Ge- von Robert Blum an seine Frau Eugenie. biet zum Erholungsraum, zur grünen Lunge Wiens geworden.

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Am Beginn des 19. Jahrhunderts rückte Wien wieder in den Mittelpunkt krie- gerischer Auseinandersetzungen. Die Stadt wurde zweimal belagert und von den französischen Truppen besetzt. Der vereinbarte Friedensschluss erbrachte den Abzug Napoleons und seiner Truppen. Bevor er endgültig die Stadt verließ, ordnete er die Sprengung einzelner Befestigungsteile an. Die gesprengten Teile wurden beseitigt, aber ein Abtragen der gesamten Befestigung lag noch nicht im Bereich des Vorstellbaren. Die letzten Kriege hatten mehr als deutlich ge- macht, dass die Stadtmauer in einem modernen Krieg weder ausreichend Schutz vor Angreifern noch zur Verteidigung bieten konnte. Schließlich wurde der Status „Festungsstadt“ im Jahre 1817 aufgehoben. Der Burgbereich wur- de großzügig gestaltet. Innerhalb der Mauern entstanden der Kaisergarten und der Volksgarten, Letzterer war der erste planmäßig angelegte Park für die Be- völkerung. Ab dem Jahre 1817 wurden beständig Pläne ausgearbeitet, wie man die Innere Stadt unter Erhaltung des Grüngürtels und der Stadtmauern erweitern könnte. Von Anbeginn war der nordwestliche Bereich, zwischen Mölker- und Neutor- bastion, ein Hoffnungsgebiet, da im Burgbereich der militärische Exerzierplatz lag, während im Südosten und Osten der Wienfluss eine räumliche Einschrän- kung vorgab. Das Revolutionsjahr brachte die Stadterweiterungspläne vorerst zum Stillstand. In den ersten Jahren nach 1848 wurden zahlreiche Verteidigungspläne ausge- arbeitet, wovon die meisten nicht umgesetzt wurden. Allerdings setzte das Mi- litär den Bau von einigen Kasernen, sog. Defensionskasernen, durch, die an strategisch wichtigen Punkten der Stadt errichtet wurden. Letztendlich wurde die Raumnot dermaßen belastend, dass der Kaiser im Jahre 1857 anordnete, die Stadtbefestigung zu schleifen und die Vorstädte und die Innere Stadt durch ein entsprechendes Erweiterungskonzept zu verbinden. Durchreisende und länger Verweilende thematisierten immer wieder die Enge der Inneren Stadt und das Fehlen von repräsentativen Gebäuden, aber auch die „freie“ und „frische“ Luft in den Vorstädten. Nachdem die Kurtinen (Bas- teien) für die Spaziergänger freigegeben worden waren, fehlten sie in keinem Reisebericht. Das bunte Bevölkerungsgemisch, das dort und am Glacis anzu- treffen war, übte von jeher einen besonderen Reiz auf die Stadtbesucher aus, ebenso die Kaffeehäuser und andere Vergnügungsstätten.

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Eine Siedlungsgrube der späten Glockenbecherkultur aus Wien 3, Rennweg 16 (Vorbericht)

Martin Penz

Fundort und Fundgeschichte Im Zuge des Neubaus einer Hotelanlage anstelle der ehemaligen Staatsdrucke- rei am Rennweg 16 (Wien 3-Landstraße) wurde seitens der Stadtarchäologie Wien im Frühsommer 2005 eine Rettungsgrabung durchgeführt.1 In einem nicht unterkellerten Bereich, einem 232 m2 großen Innenhof, waren – inmitten bereits länger bekannter Überreste der römischen Zivilsiedlung von Vindobona – antike Befunde zu erwarten. Überraschenderweise stieß man hier in der Folge unterhalb des römischen Siedlungsniveaus auf insgesamt acht frühbronzezeitliche Hockerbestattungen, die sich trotz alter Beraubungen bzw. Störungen2 der Wieselburger Kulturgruppe zuordnen lassen, sowie auf ein größeres eingetieftes Siedlungsobjekt endneolithischer Zeitstellung, wel- ches hier kurz vorgestellt werden soll (Abb. 1).

Zum Befund Geologisch gesehen liegt der Fundort auf der sog. Stadtterrasse, die unmittel- bar an die Donau-Ebene (sog. Praterterrasse) anschließt. Richtung Nord/Nord- ost zum ehemaligen Uferbereich hin (resp. zum ca. 1,3 km entfernten heutigen Donaukanal) fällt das Gelände nur schwach ab; Richtung Süden zum nächst- höheren Schotterterrassenkörper (sog. Arsenalterrasse) beginnt das Hangge- fälle jedoch etwa ab Höhe des Rennwegs stärker anzusteigen. Genau hier be- fand sich auch die Grabungsfläche, in deren Nordost-Ecke – unter den römi- schen Fundschichten sowie unter einem bis zu 0,5 m mächtigen Schichtpaket (braunes, lehmig-humoses Kolluvium) – eine Grube von unregelmäßiger Form (Bef.-Nr. 236) erschien, welche ca. 1,50 m in den anstehenden gelbbraunen Lösslehm eingetieft war (Abb. 2 und 3). Aufgrund der neuzeitlichen Kellerein- bauten waren leider nur die West- und Südseite mit den Ausmaßen von ca. 3,4064,20 m erhalten geblieben. Der Grubenboden war – abgesehen von seichten Mulden ohne erkennbare Struktur – flach; die ursprünglich nahezu

1 GC 2005_04: M. Mosser, Wien 3, Renn- senkrechte Wandung erschien großteils stark erodiert bzw. eingebrochen weg 16. FWien 9, 2006, 282 f. und war dementsprechend schwer exakt zu fassen (Abb. 4). Unter einer etwas 2 Zusätzlich zu den urgeschichtlichen sind deutlicheren Ausbuchtung im Südwesten zeigte sich ein markanterer Stufenab- auch römerzeitliche Eingriffe in die Grabver- bände zu vermerken; vgl. M. Mosser, Eine satz, der möglicherweise eine ursprüngliche Eingangssituation (bzw. Abstiegs- Translatio cadaveris in der Nachbarschaft des vorrichtung) anzudeuten vermag. Die Grube war mit dunkelbraunem bis grau- M. Antonius Tiberianus in Vindobona. In: G. Grabherr/B. Kainrath (Hrsg.), Akten des 11. em, mitunter sehr dichtem, fettigem Lehm verfüllt, welcher unregelmäßig stark Österreichischen Archäologentages in Inns- mit hellem Lösslehm vermischt war; ein kleiner Teil der Einfüllung im unteren bruck, 23.–25. März 2006. IKARUS 3 (Inns- Drittel war von aschiger verbrannter Beschaffenheit. Das reichlich vorhandene bruck 2008) 183–194. Publikation der Gräber durch Roman Skomorowski (Univ. Wien) in Fundmaterial war relativ stark fragmentiert und gleichmäßig im (wohl als primäre Vorbereitung. Verfüllung anzusprechenden) Grubeninhalt verteilt.

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Abb. 1: Übersichtsplan zur Grabung Rennweg 16 – urgeschichtliche Befunde. (Plan: M. Mosser)

Eine Interpretation dieses Grubenbefundes ist nicht nur wegen seiner Unvoll- ständigkeit nicht einfach: Trotz der unregelmäßigen Kontur scheint ein Ver- gleich mit zeitgleichen amorphen Grubenkomplexen,3 die zumeist als Material- entnahmegruben angesprochen werden, im vorliegenden Fall aufgrund der starken Eintiefung, des relativ ebenmäßigen Bodens (und der Wände?) und des Fehlens von unterschiedlichen Teilgruben nicht sehr treffend. Auf jeden Fall haben wir ein systematisch angelegtes und deutlich eingetieftes Siedlungsob- jekt vor uns, das wahrscheinlich am besten als Erdkeller (evtl. in Verbindung mit einer Hütte?) gedeutet werden kann, wenngleich auch keine weiteren Kon- struktionselemente wie Hüttenlehm oder Pfostengruben gefunden werden konnten.4

3 Vgl. beispielsweise Turek/Dvorˇák/Peška Zu den Funden 2003, 184 und Fig. 1; A. Mateˇ jícˇ ková, Sídlišteˇ ° Ž Neben den Tierknochen (darunter auch einige wenige Artefakte, u. a. zuge- kultury zvoncovitých poháru v ádovicích (okr. Hodonín). Siedlung der Glockenbecher- spitzte und spatelförmige Stücke) setzt sich das Fundmaterial ausschließlich kultur in Žádovicích (Okr. Hodonín). Praveˇ k aus Keramik zusammen, Steinobjekte wurden keine gefunden.5 An kerami- Suppl. 5 (Brno 1999) Taf. 9. 4 Ein sonst gut vergleichbarer Siedlungsbe- schen Gerätschaften können ein radförmiger Spinnwirtel (Taf. 2,12) sowie eine fund der Jevišovice-Kultur aus Schrick, NÖ, stark fragmentierte flache Tonscheibe genannt werden. wurde jüngst als Grubenhütte angesprochen: Im Repertoire der Gefäßkeramik sind Schalen- und Tassenformen, Töpfe und G. Artner/Ch. Farka/M. Krenn, TrassenAr- chäologie. Neue Straßen im Weinviertel. amphorenartige Gefäße vorherrschend. Wie bei Siedlungsmaterialien zu erwar- FÖMat A, Sonderh. 4 (Wien 2006) 16 f. bes. ten, ist aber auch ein vielfältiges Spektrum unterschiedlichster Varianten, Son- Abb. auf S. 17. derformen oder insignifikanter Formen vertreten (z. B. Taf. 1,5.7). 5 Die Mehrzahl der Knochengeräte hat je- doch den Charakter von Spontanwerkzeugen Bei den Schalen ist die absatzförmig abgestrichene Verdickung des Randes an zur Ad-hoc-Verwendung (siehe Beitrag S. der Innenseite überaus charakteristisch (Taf. 2,7.9.10), welche markant ab- Czeika, 42 ff.). Für die Mithilfe bei der zeichne- gestuft oder aber auch flauer („lanzettförmig“) erscheinen kann.6 Kleine Scha- rischen Aufnahme der Keramik sei Michaela Kronberger herzlich gedankt. lenformen weisen nach innen rundlich verdickte Ränder auf; an der Rand- 6 L. Franz et al., Die prähistorische Samm- außenseite langoval gestaltete Knubben bzw. Auszipfelungen können mitunter lung des Niederösterreichischen Landesmu- senkrecht durchlocht sein (Taf. 2,8) oder sie sind als senkrechte Ösenhenkel seums. Mat. Urgesch. Österr. 2 (Wien 1924) 25 sprechen Schalen mit dieser signifikanten ausgeformt (Taf. 2,10). Randständige Doppelhenkel sind als Ösenform und Randgestaltung nicht zu Unrecht als „Glocken- auch als englichtige Bandhenkel vertreten (Taf. 2,10.7). becherschüssel“ an.

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Abb. 2: Die fast fertig ausgegrabene endneolithische Grube sowie eine Abb. 3: Die vollständig ausgegrabene Grube, Richtung Osten. (Foto: frühbronzezeitliche Hockerbestattung, Richtung Westen. (Foto: M. Mos- M. Mosser) ser)

Bei den Tassen ist eine sehr große Variationsbreite festzustellen. Grundsätzlich ist ein gedrückt-bauchiger bis kugelig-bauchiger Gefäßkörper zu beobachten, auf dem ein (meist deutlich) abgesetzter zylindrischer Hals aufgesetzt ist (Taf. 2,1–6). Die größeren Stücke (Taf. 2,1 und 2,4) tendieren formenkundlich beina- he zu den gleichartig aufgebauten gegliederten Töpfen, sind aber aufgrund ih- rer feinen Machart den Tassen bzw. Krügen zuzuordnen. An Verzierungsfor- men auf Tassen sind sowohl eingeritzte senkrechte Rillenbündel als auch Stempelmuster zu finden, welche umlaufend (linear und zickzackförmig) oder aber in metopenartiger Ausführung (Winkelhaken, Leiterbandmotiv, Zickzack- band)7 angeordnet sind (Taf. 1,1–3). Ursprünglich vorhandene weiße Inkrusta- tion ist noch anhand minimaler Reste beim Fragment Taf. 1,2 feststellbar. Auch den Großgefäßen wie Töpfen und Amphoren ist stets ein abgesetzter, an- nähernd zylindrischer Hals eigen, der Umbruch zur Schulter wird dabei gerne durch eine Leiste mit eingedrückten Verzierungen (v. a. Formstiche, nur selten

7 Die nächsten Entsprechungen findet die- Fingerkuppeneindrücke oder Fingertupfen) markiert. An den Rändern sind ne- ser sonst einzigartige Dekor z. B. auf einer Tas- ben eingekerbten bzw. eingedrückten Verzierungen auch knubbenförmige Ver- se aus Scharlinz, OÖ (F. Stroh, Funde der Glo- dickungen bzw. Auszipfelungen auffällig (Taf. 3,2.3.5). Die gängigen Applika- ckenbecherkultur in Oberdonau. Skelettgräber in Scharlinz. WPZ 28, 1941, Abb. 3 und 4) tionen wie Knubben, Leisten oder auch Henkel sind in aller Regel randständig oder im südmährischen Gräberfeld Šlapanice; bis knapp unterrandständig angebracht, nur im Falle der Amphoren liegen sie Zusammenstellung von Tassen aus verschie- üblicherweise auf dem bauchigen Gefäßkörper (Taf. 1,4.6 und 3,1). denen Gräbern bei P. Dvorˇák, Pohrˇabišteˇ lidu s kulturou se zvoncovitými poháry ve Šlapani- Die Qualität der Gefäßkeramik, insbesonders auch jene der Oberflächenbe- cích (okr. Brno-venkov). In: Praveˇ ké a slovans- schaffenheit, ist als außergewöhnlich gut zu bezeichnen. Dafür mitverantwort- ké osídlení Moravy (Sborník k 80. narozeninám lich waren wahrscheinlich die vorteilhaften Erhaltungsbedingungen durch die Josefa Poulíka) (Brno 1990) Tab. II. 8 Vgl. auch ebensolche Ansprachen bei Ch. oberflächenferne Lagerung (in Summe etwa 2,40 m unter rezentem Niveau). Neugebauer-Maresch/J.-W. Neugebauer, Der im Bruch meist graue, graubraune bis grauschwarze Ton wirkt gut aufbe- (Glocken-)Becherzeitliche Gräber in Gemeinle- barn und Oberbierbaum, NÖ. Festschr. Karl reitet (dichte, feine Struktur) und wurde nur mäßig mit Sand bzw. kleinen Stein- Kromer zum 70. Geburtstag. MAG 123/124, chen gemagert. Die Tonware wurde überwiegend in reduzierender Atmosphä- 1993–1994, in den Katalogbeschreibungen re hart gebrannt, ihr äußeres Erscheinungsbild ist hauptsächlich graubraun bis (passim). 9 Neugebauer/Neugebauer-Maresch 1998, schwarzbraun, seltener weist auch hellbraune bis rötlich braune Farbe der 307; ausführliche Forschungsgeschichte bei V. Oberfläche auf Sauerstoffzufuhr in der letzten Brennphase hin. Tassen, Krüge

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und Schalen zeigen zusätzlich eine aufwändige Überarbei- tung der Oberfläche, grobe bis feine Glättung bzw. Politur ist dabei die Regel. Bisweilen handelt es sich bei den flä- chig glänzend-glatten Oberflächen wohl auch um über- glätteten feinen Schlickerüberzug (Engobe), der sich quasi als hauchdünne Haut vom übrigen Tonscherben abhebt.8 Selbst bei großen Töpfen oder Amphoren können die obe- ren Gefäßpartien (Rand, Hals, Schulter) sehr gut überglät- tet sein, wohingegen die Unterteile (mitunter durch umlau- fende Leisten strikt abgegrenzt) intentionell geraute Ober- flächen aufweisen (Taf. 1,6 und 3,2). Diese sog. Schlick- rauung wirkt wie gleichmäßig verteilter Schlickbewurf, weitere Überarbeitungsspuren wie Fingerverstreichung, Besenstrich, Wirrfurchen etc. sind nur sehr gelegentlich Abb. 4: Verfüllungsbänder am Rand, die den anstehenden Lösslehm zu beobachten. stark unterschneiden, deuten auf eine eingebrochene Grubenwandung hin. (Foto: M. Mosser)

Auswertung und kulturelle Stellung

Der ostösterreichische Raum wird innerhalb der weiten Verbreitung der Glo- Heyd, Die Spätkupferzeit in Süddeutschland. ckenbecherkultur (bzw. glockenbecherführender Kulturen) zur mitteleuropäi- Untersuchungen zur Chronologie von der aus- schen Ostgruppe gezählt, wobei wegen der starken Gemeinsamkeiten inner- gehenden Mittelkupferzeit bis zum Beginn der Frühbronzezeit im süddeutschen Donauein- halb von Mähren, Niederösterreich, Burgenland und Westungarn auch von ei- zugsgebiet und den benachbarten Regionen 9 ner „Mährischen Regionalgruppe“ gesprochen werden kann. Nach wie vor bei besonderer Berücksichtigung der kerami- grundlegend ist die durch die tschechische Forschung vorgenommene Dreitei- schen Funde. Saarbrücker Beitr. Altkde. 73, 10 2000, 11 f. oder 157 ff. Für regen und frucht- lung des Fundbestandes, die grosso modo auch als eine chronologische baren fachlichen Austausch bedanke ich mich Gliederung verstanden werden kann. Analog dazu wird auch das österreichi- bei Daniela Kern und Oliver Schmitsberger. ˇ sche Material in drei Fundgruppen eingeteilt, die an das Ende der neolithischen 10 P. Dvorák, Die Glockenbecherkultur in Mähren. In: M. Buchwaldek (Hrsg.), Das Äneo- resp. kupferzeitlichen Epoche zu stellen sind, wobei starke Berührungspunkte lithikum und die früheste Bronzezeit (14C bzw. Überschneidungen zur Schnurkeramischen Kultur sowie ein Nachwirken 3000–2000 b. c.) in Mitteleuropa. Akten 14. – in der frühesten Bronzezeit feststellbar sind.11 Internat. Sympos. Prag-Liblice, 20. 24.10. 1986. Praehistorica 15 (Praha 1989) Die Keramikformen vom Rennweg 16, v. a. die charakteristischen Tassen- und 201–205; zuletzt bei B. Metzinger-Schmitz, Schalenformen, lassen sich problemlos der dritten (sog. Ragelsdorf-Oggau-) Die Glockenbecherkultur in Mähren und Nie- derösterreich (Diss. Univ. Saarbrücken 2004; Gruppe anschließen und finden beispielsweise in den Grabfunden aus Ragels- http://scidoc.sulb.uni-saarland.de/volltexte/ 12 dorf, Oberbierbaum oder Zwingendorf beste Entsprechungen. Grundsätzlich 2004/320 [31.5. 2010]) zu einer fünfstufigen kennzeichnend für die späteste Gruppe wäre das Vorherrschen eines breiten Gliederung erweitert. 11 Neugebauer 1994, 35–48; Neugebauer/ Spektrums an unverzierter „Begleitkeramik“ neben den namengebenden, Neugebauer-Maresch 1998 und Neugebauer/ stempelverzierten Glockenbechern in den Gräbern. Nach und nach verschwin- Neugebauer-Maresch 2001. den die verzierten Becher zugunsten variantenreicher Tassenformen; die Stem- 12 Neugebauer 1994, 35–48; Neugebauer- Maresch/Neugebauer (Anm. 8); Neugebauer/ pelornamentik wird seltener, tritt höchstens in metopenartigen Mustern in Er- Neugebauer-Maresch 1998 und Neugebauer/ scheinung und wird gegen Ende der typologischen Entwicklung von Ritz- Neugebauer-Maresch 2001; D. Kern, Endneo- bzw. Rillenverzierungen sowie plastischem Leistendekor abgelöst.13 Aus der lithisches Gräberfeld mit Glockenbechern von Zwingendorf/Alicenhof, VB Mistelbach, Nieder- Sicht des ostösterreichischen Fundmaterials erschien in jüngerer Zeit eine wei- österreich. ArchA 84/85, 2000/2001, 307– tere Unterteilung dieser dritten Stufe möglich bzw. nötig, wobei sie nunmehr als 328. „Ragelsdorf-Oberbierbaum-Gruppe“ benannt und eine entwickeltere Stufe als 13 Dvorˇák (Anm. 10) 204; Neugebauer/Neu- „ “ gebauer-Maresch 1998, 308 f. Oggau-Wipfing-Gruppe abgetrennt wurde, welche bereits in die früheste 14 Neugebauer/Neugebauer-Maresch 1998; 14 Bronzezeit führt. Es scheint jedoch plausibel, diese beiden Gruppen als auf- Neugebauer/Neugebauer-Maresch 2001.

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einanderfolgende Zeitstufen noch innerhalb der späten Glockenbecherkultur 15 GBK IIIa/IIIb nach O. Schmitsberger, Aus- 15 grabungen auf der Trasse der Ortsumfahrung anzusiedeln. Maissau 2008/Fläche „1-Süd“. Befunde vom Das innerhalb eines Fundverbandes gemeinsame Auftreten von Ritz- und Altneolithikum bis zum Frühmittelalter. FÖ 47, Stempelzier auf Tassen vom Rennweg 16 (Taf. 1,1–3) ist bislang kaum belegt16 2008, 475 und ebd. 475–478 mit aktueller Dis- kussion der in der Literatur noch kontrovers und würde sich nach den Umschreibungen der chronologischen Stufenabfolge gesehenen Feinchronologie. sogar tendenziell ausschließen. Einerseits können die stempelverzierten Tas- 16 Vgl. innerhalb der reichen mährischen senfragmente als Altstücke angesehen bzw. eine längere Grubenverfüllungs- Siedlungsbestände: Ondrácˇ ek/Dvorˇák/Mateˇ - jícˇ ková 2005. zeitspanne angenommen werden, andererseits jedoch sollte nicht vergessen 17 Dieses Problem konnte auch in der mäh- werden, dass unsere Chronologiegerüste aus Grabensembles erstellt wurden rischen Forschung, trotz des besseren Quel- und nicht reibungslos auf Siedlungsfunde anwendbar sind.17 Henkeltassen mit len- und Forschungsstandes, noch nicht ge- löst werden; vgl. Ondrácˇ ek/Dvorˇák/Mateˇ jícˇ ko- ausschließlich freien umlaufenden Linien und Zickzacklinien sowie senkrechten vá 2005, 16; Turek/Dvorˇák/Peška 2003, 188. Ritzlinien- bzw. Rillenbündeln erscheinen aber zumindest vereinzelt im Gräber- 18 P. Dvorˇák/L. Hájek, Die Gräberfelder der feld Šlapanice III, Bezirk Brno-venkov, Grab III/1/36 sowie Grab III/5/36.18 Glockenbecherkultur bei Šlapanice (Bez. Brno-venkov). Katalog der Funde. Mährische Bezüglich des süddeutschen Chronologieschemas der Glockenbecherkultur Arch. Quellen (Brno 1990) Taf. XXXV,1; nach Volker Heyd ist unser Material gut mit den spätkupferzeitlichen Phasen XXXVII,1. – 19 19 Heyd (Anm. 9) 310–318; 358–388 Taf. GBK B1 B2a parallelisierbar. 81; 107. Aus der Grubenverfüllung vom Rennweg 16 wurden auch fünf Proben von Tier- 20 Hier ist Karlheinz Steppan (Freiburg im knochen für 14C-Datierungen entnommen,20 die als kalibriertes Ergebnis einen Breisgau) zu danken, der im Rahmen eines – Forschungsprojekts zur DNA von neolithischen absolutchronologischen Rahmen von 2465 2146 calBC (1-Sigma-Genauig- Pferden die 14C-Messungen im AMS-Labor Er- keit, d. h. das reale Probenalter liegt mit einer Wahrscheinlichkeit von 68,2% langen veranlasste. im angegebenen Intervall) erbrachten. Bedingt durch die zahlreichen Wiggles 21 P. Stadler, Ein Beitrag zur Absolutchrono- logie des Neolithikums in Ostösterreich auf- der flachen Kalibrationskurve in diesem Bereich ergeben sich relativ große In- grund der 14C-Daten. In: E. Lenneis/Ch. Neu- tervalle, welche sich aber alle fünf bei 1 Sigma innerhalb eines Zeitfensters gebauer-Maresch/E. Ruttkay, Jungsteinzeit im 2396–2301 v. Chr. überlappen (Abb. 5). Diese Datierung ins 24. Jahrhundert Osten Österreichs. Wiss. Schriftenr. Niederös- terr. 102/105 = Forschber. Ur- u. Frühgesch. v. Chr. entspricht sehr gut den Erwartungen, vergleicht man sie z. B. mit der 17 (St. Pölten, Wien 1995) 224 mit Tab. 2. Gruppenkalibration von bislang 29 Radiokarbondaten für die gesamte Glo- 22 E. Ruttkay/P. Stadler, Schwechat. FÖ ckenbecherkultur im ostösterreichischen Raum, die ein Intervall von 2600– 18, 1979, 308–310. 23 Ondrácˇ ek/Dvorˇák/Mateˇ jícˇ ková 2005, 37– 2000 calBC (1 Sigma) ergab; allerdings wird der Beginn der Frühbronzezeit 21 43 Taf. 22–33. heute generell bereits um 2200 v. Chr. angesetzt. 24 Neugebauer 1994, 44. Beste Parallelen innerhalb glockenbecherzeitlicher Siedlungsmaterialien finden 25 Schmitsberger (Anm. 15) 468–480. 26 Zu Siedlungsnachweisen z. B.: A. Endro˝ - sich in allernächster Nähe in Wien 11, Csokorgasse/Etrichstraße (siehe Anhang di, Results of Settlement Archaeology in Bell 1) und Schwechat22 sowie in Brno-Obrˇany,Tschechien23. Bis vor kurzem noch Beaker Culture Research in Hungary. In: M. waren in Österreich glockenbecherzeitliche Siedlungen nur durch „Andeutun- Benz/S. v. Willigen (ed.), Some New Approa- 24 ches to the Bell Beaker “Phenomenon”:Lost gen“ wie Lesefunde oder schlecht befundete Altfunde erschließbar. Erst in Paradise …? Proc. of the 2nd Meeting of the den vergangenen Jahren wurden auch einige größere bzw. gesicherte Fund- “Association Archéologie et Gobelets” Feld- verbände aus verschiedenartigen Siedlungsgruben bekannt, neben den Wie- berg (Germany), 18th–20th April 1997. BAR In- ternat. Ser. 690 (Oxford 1998) 141–160; J. ner Fundorten Rennweg 16 und Csokorgasse/Etrichstraße jüngst auch in Turek/J. Peška, Bell Beaker Settlement Pat- Maissau (NÖ), wo u. a. ein Grubenkomplex mit stempelverzierten Becher- tern in Bohemia and Moravia. In: F. Nicolis scherben auch deutlich früher anzusetzen ist.25 Klare Siedlungsnachweise blie- (ed.), Bell Beakers Today. Pottery, People, Culture, Symbols in Prehistoric Europe. Proc. ben lange Zeit auch in den übrigen Regionen des Verbreitungsgebietes der Internat. Coll. Riva del Garda (Trento, Italy), Glockenbecherkultur eine Seltenheit, so dass man früher etwa an eine noma- 11–16 May 1998 (Trento 2001) 411–428; Tu- rek/Dvorˇák/Peška 2003; V. Heyd/L. Husty/L. disierende Kulturform oder an eine eingewanderte Reiterkriegerschicht dachte. 26 Kreiner (mit einem Beitrag von H. Manhart), Mit einer etwas besseren Quellenlage verschwanden auch solche pauschalen Siedlungen der Glockenbecherkultur in Süd- Etikettierungen, übereinstimmend wird heute von kleinen Siedlungseinheiten in deutschland und Mitteleuropa. Arbeiten Arch. Süddeutschland 17 (Büchenbach 2004); On- Streulage ausgegangen, welche landwirtschaftlich geeignete Talränder bzw. drácˇ ek/Dvorˇák/Mateˇ jícˇ ková 2005. -ebenen in Gewässernähe bevorzugten. Eine lange Siedlungsdauer ist dabei

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Abb. 5: Kalibrationsergebnisse der 14C-Datierungen anhand des Programms Oxcal v4.1.5 von B. Ramsey (dunkelgrau: Wahrscheinlichkeit von 68,2%; hellgrau: von 95,4%).

nicht zu erwarten, sondern eher ein häufiger Wechsel der Lokalität; da Pfosten- bauten selten stichhaltig belegbar sind, setzt man gerne Wohnhäuser in Block- oder Ständerbauweise voraus, die weniger stark eingetiefte Spuren im Boden hinterließen. Darüber hinaus gibt es in Mitteleuropa genügend Hinweise auf ei- ne sesshafte Mischwirtschaft aus Tierzucht und Landwirtschaft, eine breitgefä- cherte Stein- und Knochenindustrie,Textilhandwerk und sogar lokale Metallur- gie.27 Eine wirtschaftliche Spezialisierung dürfte sich in der ungarischen Glo- ckenbecher-Csepel-Gruppe herausgebildet haben: Hier wurde in den Fund- 27 Beispielweise für das benachbarte Mäh- ren: Ondrácˇ ek/Dvorˇák/Mateˇ jícˇ ková 2005, 14 f. stellen, die sich hauptsächlich rund um Budapest eng entlang der Donau 28 R. Kalicz-Schreiber, Die Probleme der konzentrieren, eine Dominanz von Pferden (bis zu 65% aller Tierknochen) fest- Glockenbecherkultur in Ungarn. In: J. N. Lan- gestellt, wie dies sonst nur bei Reiternomaden in weiter entfernten Steppenge- ting/J. D. van der Waals (Red.), Glockenbe- cher-Symposion Oberried 1974 (Bussum et bieten Osteuropas zu finden ist, was an Pferdezucht bzw. Pferdehaltung und al. 1976) 214; R. Kalicz-Schreiber/N. Kalicz, 28 -handel denken lässt. Nun ist im Vergleich zu den Wiener Fundstellen nicht Were the Bell Beakers as Social Indicators of nur die Parallele mit dem räumlichen Bezug zur wichtigen Ost-West-Verkehrs- the Early Bronze Age in Budapest? In: Nicolis (Anm. 26) 451–454; N. Benecke, Archäozoo- ader Donau bemerkenswert, sondern gerade auch das hier ebenfalls festge- logische Studien zur Entwicklung der Haustier- stellte, ähnlich hohe Pferdevorkommen (Csokorgasse 47,89%, Rennweg haltung in Mitteleuropa und Südskandinavien 29 von den Anfängen bis zum ausgehenden Mit- 82,3%; siehe auch Beitrag S. Czeika, 32 ff.). Wenngleich die archäozoologi- telalter. Schr. Ur- u. Frühgesch. 46 (Berlin schen Daten im Detail nicht gut parallelisierbar sind, lässt sich diese Gemein- 1994) 127. samkeit unter Umständen durch ähnliche, einigermaßen günstige landschaftli- 29 S. Czeika, Über die Datierbarkeit archäo- zoologischer Funde – Fallbeispiel Csokorgas- che Voraussetzungen für Pferdehaltung erklären. In unserem Fall wären dies se. FWien 5, 2002, 23; dies., Archäozoologi- die Auwälder entlang der Donauniederung sowie das anschließende ausge- sche Fundkomplexe im Wiener Stadtgebiet dehnte Wiener Becken nördlich als auch südlich der Donau, das als flache, (Diss. Univ. Wien 2008) Kap. 5.2; zusammen- fassend M. Penz, New Evidence of Settle- baumarme Graslandschaft infrage kommen könnte. Darüber hinaus erscheint ments of the Late Bell Beaker Period in , es sehr verlockend, die endneolithische Kupferklinge aus Wien-Eßling (siehe . In: Proc. Conference “Bell Beaker Anhang 3), welche den westlichsten Vertreter eines pontisch-kaukasischen Days along the Riverside” of the “Association 30 Archéologie et Globelets”, Budapest-Szen- Typs darstellt, im eben angerissenen Kontext zu sehen, gilt doch eben jene tendre 7.–11.5. 2009, in Druck. 31 Region gemeinhin als eine der Ursprungsstätten für Pferdedomestikation. 30 Th. Zimmermann, Zwischen Karpaten und Kaukasus – Anmerkungen zu einer unge- wöhnlichen Kupferklinge aus Wien-Essling. Im Anschluss soll noch auf drei weitere Neuigkeiten aus der Forschung zur Glo- Arch. Korrbl. 33, 2003, 469–477. ckenbecherzeit im Wiener Raum eingegangen werden: 31 Benecke (Anm. 28) 64–75.

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Abb. 7: Silexpfeilspitze von der Grabung Wien 3, Klimschgasse 19–21, 2004/05. (Foto: M. Penz)

Abb. 6: Auswahl an Keramikfunden der Grabung Wien 11, Csokorgasse 1997. (Foto: M. Penz)

Anhang 1: Wien 11, Csokorgasse Vom Bereich Mühlsangergasse–Csokorgasse in Wien-Simmering sind neben einem ausgedehnten awarischen Gräberfeld auch spätbronzezeitliche Grab- und Siedlungsfunde bekanntgeworden. Bei der Auswertung der urnenfelder- zeitlichen Siedlungsreste wurden auch die Befunde einer Rettungsgrabung von 1997 vom Grundstück Ecke Csokorgasse/Etrichstraße als „Fundstelle 8“ miteinbezogen und ebenfalls in die ältere Urnenfelderkultur datiert.32 Tatsäch- lich können wir jedoch, neben einer fundleeren Grube sowie einem schwer ein- ordenbaren (weil fundmäßig durchmischten) größeren amorphen Grubenkom- plex, zumindest drei Gruben als eindeutig endneolithisch ansprechen (Gruben 3–5). Da diese Revision bereits an anderer Stelle veröffentlicht wird,33 seien hier nur zwei Bemerkungen angebracht: 1. Es soll nochmals darauf hingewiesen werden, dass ein Radiokarbondatum, welches eine kupferzeitliche Datierung verifiziert, mit falscher Grubenzuweisung 32 GC 1997_04: Lindinger 2008, 63; 130– publiziert wurde: Bei Grube 7 nach Sigrid Czeika34 handelt es sich richtigerwei- 155. Grabungsbericht: N. Piperakis, Wien 11, 35 se um Grube 3 nach der Befundzählung bei Volker Lindinger. Somit kann Csokorgasse/Etrichstraße. FWien 1, 1998, 14 163–165. dem C-Ergebnis (2460–2130 calBC) auch ein typologisch homogener Kera- 33 Penz (Anm. 29). mikverband zur Seite gestellt werden. 34 Czeika 2002 (Anm. 29) 23; Czeika 2008 2. Soweit überschaubar, wurden alle Randstücke durch V. Lindinger vorge- (Anm. 29). 36 35 Lindinger 2008, 64. Die unterschiedlichen legt. Nach einer erneuten (groben) Durchsicht der Funde wären aber folgende Zählweisen beziehen sich abwechselnd auf Ergänzungen bezüglich aussagekräftiger Boden- bzw. Wandfragmente sinn- jene der Grabung sowie der Auswertung (freundl. Mitt. des Ausgräbers N. Piperakis). voll (Abb. 6): Erstmalig in Österreich erscheint eine Füßchenschale aus gesi- 36 Lindinger 2008, 130–145. chertem Siedlungskontext, wie sie sonst etwa von Gräbern aus Leopoldsdorf, 37 K. Willvonseder, Gräber der älteren Bron- Oggau oder Oberbierbaum bekannt ist.37 Weiters bemerkenswert ist neben zezeit von Leopoldsdorf, Niederösterreich. Germania 21, 1937, Taf. 1,4; Neugebauer unregelmäßigem Besenstrich bzw. Wirrfurchen das mehrmalige Auftreten 1994, Abb. 18,1; 19,2. von feinem Kamm- oder Zinkenstrich (senkrecht als auch waagrecht), wie er

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z. B. am Rennweg 16 nicht auftritt. Diese ansonsten im mittleren Donauraum typisch älterurnenfelderzeitliche Zier- weise ist aber auch im endneolithischen Kontext mehrfach bestens belegt.38 Erwähnt werden soll zuletzt noch die Wandscherbe einer großen, bauchigen Amphore mit plas- tischen Leisten, die zum Ansatz eines Bandhenkels führen, eine im späten Endneolithikum grundsätzlich sehr beliebte Verzierungsweise.39

Anhang 2: Eine endneolithische Silexpfeilspitze aus Wien 3, Klimschgasse 19–21 Zu Beginn des Jahres 2005 konnte bei den Grabungen in Wien 3, Klimschgasse 19–21,40 eine Silexpfeilspitze als verlagerter Einzelfund aus dem oberen Bereich einer rö- merzeitlichen Grabenverfüllung geborgen werden (Abb. 7): Geflügelte und gestielte Pfeilspitze; trianguläre, langschmale Form mit gerade gearbeiteten Kanten, bifacial flächig retuschiert, äußerste Spitze alt abgebrochen; graubläulicher Hornstein mit punktförmigen weißen Einschlüssen; L: 3,05 cm; B: 2,40 cm; D: 0,75 cm; Fnr. 97.

Geflügelte und gestielte Formen gelten üblicherweise als endneolithisch bis frühbronzezeitlich bzw. werden auch als typisch glockenbecherzeitlich, und zwar als explizit 41 westeuropäische Form, angesprochen. Tatsächlich ist Abb. 8: Lage der Fundstelle der endneolithischen Doppelbestattung in im mitteleuropäischen Raum diese Form ausgesprochen Wien 22, Eßling. selten, hier waren während des gesamten Spätneolithi- kums Pfeilspitzen mit gerader oder konkaver Basis bzw. nur geflügelte Formen geläufig. 38 Neugebauer 1994, Abb. 17,16; Ruttkay/ Stadler (Anm. 22) Abb. 182; Ondrácˇ ek/Dvo- rˇák/Mateˇ jícˇ ková 2005, Taf. 25,85.87.88; Anhang 3: Verortung der endneolithischen Doppelbestattung von Wien-Eß- 27,128 etc. ling 39 Z. B. Ch. Neugebauer-Maresch, Die Lo- kalgruppe der Schnurkeramik des Unteren Von dem altbekannten Doppelgrab aus Wien-Eßling, aus welchem eine kultur- Traisentales. In: Neugebauer 1994, 23–35 geschichtlich bedeutende Dolch- bzw. Lanzenspitze aus Kupfer nordpontisch- Abb. 9,8.10; Ondrácˇ ek/Dvorˇák/Mateˇ jícˇ ková 42 2005, Taf. 26,105; 76,30; 92,91.94 etc. kaukasischer Provenienz zutage kam, waren in der einschlägigen Literatur bis 40 GC 2004_08: M. Müller,Wien 3, Klimsch- zuletzt keine näheren Fundumstände bekannt. Nur sehr lapidar erwähnt Josef gasse 19–21. FWien 8, 2005, 213–218. F. Kastner in seinem Fundbericht: „Eßling. Bei Anlage von Gräben im März–Ap- 41 J. Hahn, Erkennen und Bestimmen von Stein- und Knochenartefakten. Einführung in ril 1944 in 1,60 m Tiefe eine Doppelhockerbestattung freigelegt mit gegosse- die Artefaktmorphologie. Arch. venatoria 10 nem Griffzungendolch aus Kupfer und 2 kl. Wandstücken eines Gefäßes. Spä- (Tübingen 1991) 217; L. Hájek, Die älteste te Jungsteinzeit.“43 Phase der Glockenbecherkultur in Böhmen und Mähren. Pam. Arch. 57/1, 1966, 230– Aufgrund laufender Baubeobachtungen und Rettungsgrabungen rückte in den 232. letzten Jahren das ehemalige Flugfeld in Wien-Aspern erneut ins Zentrum 42 Zimmermann (Anm. 30). stadtarchäologischer Interessen (siehe Beitrag M. Penz, 224 ff.). Bei der 43 GC 1944_08: J. F. Kastner, Wien XXII. – 44 Eßling. FÖ 4, 1940–1945 (1952) 14. Durchsicht des Fundstellenverzeichnisses der Sammlung Kastner konnte 44 Kastners Sammlung kam nebst diversen eben auch jenes Eßlinger Grab identifiziert werden, unter Fundstelle LXXX ist Unterlagen als Nachlass an das Niederösterrei- hier vermerkt: „Östliches Flugfeld. Bei Fliegerabwehrgeschütz Nr. 8 (Haupt- chische Landesmuseum für Urgeschichte in Aspern/Zaya; eine Kopie des Fundstellenver- mann Meixner): Doppelhockerbestattung. Beigaben: ein kupferner Griffzun- zeichnisses befindet sich auch im Archiv der gendolch, 2 Topfscherben. Spätjungsteinzeitlich. 3. IV. 1944.“ Stadtarchäologie Wien.

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Tatsächlich waren bzw. sind die östlichsten Teile des ehemaligen – 1939 stark vergrößerten und nach 1945 wiederum etwas verkleinerten – Asperner Flugfel- 45 Wien – Aspern, „Teile des ehem. Flugfel- des“. Kampfmitteltechnische Geländebewer- des der Katastralgemeinde Eßling zugehörig. Aufgrund der Recherchen der 45 tung mit Luftbildteilvorauswertung, unveröf- REW Munitionsbergungs GmbH, welche sich u. a. auf die Auswertung von fentl. Bericht im Auftrag der Wien 3420 Aspern kriegszeitlichen Luftbildern stützte, lässt sich der Nahbereich der infrage Development AG (2008). 46 – 46 Gauß-Krüger-Koordinaten M 34: 6 = kommenden Flakstellung eindeutig lokalisieren (siehe Abb. 8) und damit 13565; y = 342726. nunmehr auch die Fundstelle dieser endneolithischen Doppelbestattung.

Abgekürzt zitierte Literatur Lindinger 2008 V. Lindinger, Urnenfelderzeitliche Siedlungen in Wien. Untersuchungen zum Siedlungswesen der älteren Urnenfel- derzeit in Ostösterreich (Saarbrücken 2008). Neugebauer 1994 J.-W. Neugebauer, Bronzezeit in Ostösterreich. Wiss. Schriftenr. Niederösterr. 98/101 = Forschber. Ur- u. Früh- gesch. 16 (St. Pölten, Wien 1994). Neugebauer/Neuge- J.-W. Neugebauer/Ch. Neugebauer-Maresch, Zum Forschungsstand der Glockenbecherkultur in Ostösterreich. In: bauer-Maresch 1998 B. Fritsch (Hrsg.), Tradition und Innovation. Festschr. Ch. Strahm. Internat. Arch., Stud. honoraria 3 (Rahden/Westf. 1998) 307–324. Neugebauer/Neuge- J.-W. Neugebauer/Ch. Neugebauer-Maresch, Bell Beaker Culture in Austria. In: F. Nicolis (ed.), Bell Beakers Today. bauer-Maresch 2001 Pottery, People, Culture, Symbols in Prehistoric Europe. Proc. Internat. Coll. Riva del Garda (Trento, Italy), 11–16 May 1998 (Trento 2001) 429–437. Turek/Dvorˇák/Peška J. Turek/P. Dvorˇák/J. Peška, Archaeology of Beaker Settlements in Bohemia and Moravia. An Outline of the Current 2003 State of Knowledge. In: J. Czebreszuk/M. Szmyt (ed.),The Northeast Frontier of Bell Beakers. Proc. Symposium held at the Adam Mickiewicz University (Poznan´ , Poland), 26–29 May 2002. BAR Internat. Ser. S 1155 (Oxford 2003) 183– 208. Ondrácˇ ek/Dvorˇák/ J. Ondrácˇ ek/P. Dvorˇák/A. Mateˇ jícˇ ková, Siedlungen der Glockenbecherkultur in Mähren. Katalog der Funde. Praveˇ k Mateˇ jícˇ ková 2005 Suppl. 15 (Brno 2005).

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Taf. 1: Glockenbecherzeitliche Keramik (Auswahl) von der Ausgrabung Wien 3, Rennweg 16. (Zeichnung: M. Penz/G. Reichhalter)

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Taf. 2: Glockenbecherzeitliche Keramik (Auswahl) von der Ausgrabung Wien 3, Rennweg 16. (Zeichnung: M. Penz/G. Reichhalter)

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Taf. 3: Glockenbecherzeitliche Keramik (Auswahl) von der Ausgrabung Wien 3, Rennweg 16. (Zeichnung: M. Penz/G. Reichhalter)

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Pferde aus der Jungsteinzeit. Endneolithische Tierreste vom Rennweg 16, Wien 3

Sigrid Czeika

Die Anfänge der Pferdehaltung reichen in Mitteleuropa möglicherweise bis in das 4. Jahrtausend v. Chr. zurück. Die Frage nach der Herkunft der Haus- pferde ist jedoch im Gegensatz zu den Nutztieren Rind, Schwein, Schaf und Ziege noch nicht völlig geklärt. Dementsprechend von großer Bedeutung ist je- der Fund, der zu Erkenntnissen über die Frühphase der Pferdedomestikation führt (Abb. 1). Im Jahr 2005 wurde im Dritten Wiener Gemeindebezirk bei einer Notgrabung auf einem 232 m2 großen Areal im Hofbereich der ehemaligen Staatsdruckerei u. a. ein eingetieftes Objekt dokumentiert, in dessen Verfüllung viele Tierkno- chen und Keramik der Glockenbecherkultur enthalten waren (siehe Beitrag M. Penz, 20 ff.). Die Grube war zwar aufgrund neuzeitlicher Störungen unvoll- ständig und durch das Fehlen weiterer Siedlungsspuren aus dieser Zeit bleibt auch ihr Funktionszusammenhang unbekannt, aber es ist sicher, dass sie fast ausschließlich zur Entsorgung von Tierresten, hauptsächlich von Pferden, ge- nutzt wurde. Dies gibt Anlass zur Hoffnung, mehr über die Anfänge der Pferde- domestikation zu erfahren. Die Tierarten-Zusammensetzung der einzelnen Fundkomplexe der Verfüllung zeigt keine wesentlichen Unterschiede. Alle Fundnummern mit mehr als 50 be- stimmbaren Tierresten weisen über 70% an Funden vom Pferd auf. Ein rearti- kulierbarer Skelettabschnitt aus zwei Fundkomplexen deutet darauf hin, dass es sich um eine einzige Verfüllung handeln dürfte.1 Die Hauptmenge an versin- terten Knochen befand sich in der Mitte der Grube – ein Hinweis auf unter- schiedliche Bodenbedingungen innerhalb der Grube.

Die Tierreste weisen vorwiegend alte Brüche auf, manchmal sind Schlagmar- ken stumpfer Gegenstände vorhanden. Vereinzelt sind auch Schnitt- und Hackspuren erkennbar. Selten ist Feuereinwirkung nachzuweisen. Die teilwei- se stark mit Sinter behafteten und manchmal auch fest aneinandergesinterten Knochen mussten erst von der Kalkauflagerung befreit werden. Allerdings war es notwendig, einige Stücke in ihrem ursprünglichen Zustand zu belassen, weil sie sonst durch die mechanische Reinigung zerstört worden wären. Die Kno- chengewichte sind daher mit Vorsicht zu betrachten und werden nur ergän- zend angegeben. Die Auswertung der Tierreste folgt demnach hauptsächlich der Fundzahl. Von den 1668 (46,1 kg) Tierresten sind 768 (37,8 kg) bestimmbar.2 Davon ge- 1 Bef.-Nr./Fnr. 211/187 Fl. 4 und 246/209. hören über 80% der Skelettreste zum Pferd, was für Siedlungsbereiche sehr 2 Mein Dank gilt dem Paläontologischen In- ungewöhnlich ist (Tab. 1). Weiters gibt es von den Haustieren 5,6% Rind, stitut der Universität Wien, dessen osteologi- sche Vergleichssammlung ich zu Bestim- 3,9% Schaf/Ziege, 3,6% Hausschwein und 0,4% Hund. Die Wildtiere Ur,Wild- mungszwecken nutzen durfte. schwein, Rothirsch und Biber sind mit Anteilen von jeweils unter 1% vertreten.

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Abb. 1: Pferd mit urtümlichen Merkmalen: kompakte, gedrungene Statur und Stehmähne. (Foto: S. Czeika)

2% der Rinderartigen konnten nicht eindeutig einer der Tierarten zugeordnet werden. Auch könnten sich unter den Rinder- bzw. Schweineresten noch ein- zelne Skelettelemente von Ur und Wildschwein befinden, denn besonders bei Jungtierknochen dieser Tierarten ist es nicht immer möglich, sie eindeutig zuzu- ordnen. Das Fehlen von kleineren Säugetieren, Vögeln und Fischen kann durchaus auf die händisch erfolgte Aufsammlungsmethode zurückzuführen sein. Trotz des recht hohen Fragmentierungsgrades der Skelettreste ließen sich et- liche Messstrecken abnehmen (Tab. 2). Die meisten Maße stammen von voll- ständigen Zehenknochen vom Pferd.

Die Tierarten Rind Die Skelettelemente vom Rind verteilen sich überwiegend auf Einzelzähne und Unterkieferfragmente, Fragmente von Schulterblatt, Rippe und Schienbeinkno- chen sowie auf periphere Beinelemente. Es fehlen Reste vom Becken und Mit- telfußknochen, beinahe alle Hand- und Fußwurzelknochen und die dritten Ze- henknochen. Die Altersverteilung streut breit, wobei etwas mehr Knochen von ausgewachsenen Individuen repräsentiert sind. An Altersstufen sind Jung- tiere (eineinhalb Jahre und jünger), unter und über dreijährige Individuen sowie ein altadultes Tier bestimmbar.3 Die wenigen vorhandenen Maße deuten auf mittelgroße bis kleinere Individuen hin. Verbissspuren gibt es auf etlichen Ske- lettelementen, Bearbeitungsspuren und Spuren von Feuereinwirkung sind sel- ten.

Schaf/Ziege 3 Altersbestimmung nach K.-H. Haber- Von den kleinen Hauswiederkäuern konnte nur das Schaf sicher nachgewiesen mehl, Die Altersbestimmung bei Haus- und La- werden. Rumpffragmente überwiegen, Unterarmknochen, Hand- und Fußwur- bortieren2 (Hamburg, Berlin 1975).

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zelknochen und dritte Zehenknochen fehlen. Es gibt Skelettelemente von Jungtieren, eines davon war ein bis eineinhalb Jahre alt, und von ausgewach- senen Individuen. Wenige Knochen wurden von Hunden verbissen, selten sind Bearbeitungsspuren auf dem stark fragmentierten Material zu sehen.

Schwein Die Schweinereste verteilen sich vorwiegend auf den peripheren Extremitäten- bereich, gefolgt von Knochen vom Rumpf und mittleren Extremitätenknochen. Es fehlen Unterkiefer, Oberarm- und Oberschenkelknochen, Wirbel und die meisten Wurzelknochen. Von Jungtieren stammen mehr Reste als von adulten Individuen. Vereinzelt sind Bearbeitungsspuren vorhanden, einige Knochen wurden verbissen.

Hund Zwei Unterkieferteile und das Fragment eines Oberschenkelknochens eines adulten Tieres repräsentieren die spärlichen Reste vom Hund.

Wildtiere Die ebenfalls wenigen Nachweise von Wildtieren verteilen sich auf folgende Skelettelemente: Rippe,Wirbel, Oberarmknochen, Kniescheibe und Zehenkno- chen vom Ur, Unterkieferfragment,Wirbel, Fußwurzel- und Zehenknochen vom Wildschwein, Geweihfragment und Unterarmknochen vom Rothirsch und das Fragment eines Oberschenkelknochens von einem jungen Biber. Bei den Wild- tieren handelt es sich fast durchwegs um Aubewohner, was aufgrund der Nähe zu den Donauauen nicht weiter verwunderlich ist.

Pferd Die meisten Knochenreste vom Pferd stammen aus dem Rumpfbereich. Die Schädelregion ist unterrepräsentiert, hier gibt es hauptsächlich Einzelzähne und kleinere Unterkieferfragmente. Ansonsten sind die Funde weitgehend gleichmäßig über das gesamte Skelett verteilt. Bis auf die kleineren kompakten Skelettelemente ist häufig höchstens ein Viertel und nur selten über die Hälfte eines gesamten Knochens erhalten. Trotzdem sind einige Verbandfunde vor- handen: Drei hintere Brustwirbel, Hand- und Fußwurzelknochen, welche teil- weise in situ aneinandergesintert sind, und Zehenknochen 1–3. Es liegen vorwiegend Reste von adulten Tieren vor. Zudem konnten einige Al- tersstufen erkannt werden: Einzelne Funde stammen von Individuen, welche unter einem Jahr, unter zweieinhalb Jahren, zwischen 10 und 15 Jahren und über 15 Jahre alt waren. Mindestens 12 Individuen konnten anhand der Beckenfunde eruiert werden. Alle anderen Skelettelemente ergeben eine geringere Mindestindividuenzahl.4 Das Geschlechtsverhältnis, soweit an den Beckenfragmenten erkennbar, ist 4 Mittelfußknochen 10, Oberarmknochen 9, zugunsten weiblicher Tiere verschoben. Es konnten sechs weibliche und zwei Unterarmknochen 8, Fersenbein und Mittel- männliche Individuen bestimmt werden. Zwei Unterkieferreste mit Eckzähnen handknochen je 7, Oberschenkel- und Unter- schenkelknochen je 6, Schulterblatt 5 und weisen auf Hengste hin. Ein Fragment stammt von einer Stute, ein weiterer Teil Schädelfragmente/Zähne 4. könnte von einem weiblichen Jungtier sein.

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Krankhafte Veränderungen finden sich selten. Auf zu starke oder einseitige Be- lastung des Bewegungsapparates weisen verstärkte Muskelansatzleisten auf Schienbein- und Zehenknochen hin. Die häufigsten Bearbeitungsspuren sind Schnittspuren. Hiebspuren aber auch Schlagmarken stumpfer Gegenstände gibt es vereinzelt. Die Abtrennung des Schädels vom Rumpf erfolgte vorwiegend auf der Höhe des ersten Halswirbels, manchmal auch beim zweiten. Schnittspuren auf den peripheren Extremitä- tenanteilen weisen mehrheitlich auf Zerlegungsvorgänge hin, denn sie liegen in körperfernen Bereichen vorwiegend auf der Rückseite der Knochen, wo kräf- tige Sehnen ansetzen. Einige seitliche und vorderseitige Spuren an Zehenkno- chen stammen vom Abhäuten. Die meisten der Eingriffe dienten jedoch der Ex- artikulation (Abtrennung) im Zuge der Fleischgewinnung. Besonders häufig ist dies beim Ellbogen- und Schultergelenk zu erkennen: Die Knochen wurden na- he dem Gelenk aus dem Sehnenverband geschnitten. Das Unterkiefer wurde unmittelbar beim Gelenk vom Oberschädel abgetrennt. Spuren vom Abflei- schen finden sich auf Schulterblattresten, auf Rippen und Wirbeln, vereinzelt auch am Becken. Die Maße der Pferdereste lassen erkennen, dass die Tiere vorwiegend klein und gedrungen gebaut waren.

Beurteilung Bis auf die Skelettreste vom Hund und dem Geweihfragment vom Hirsch han- delt es sich durchwegs um Reste der Fleischversorgung, welche möglicherwei- se nur zu einem äußerst geringen Teil durch die sonst üblichen Hauswieder- käuer und das Schwein abgedeckt wurde. Die Hauptmenge an fleischlicher Nahrung aus dieser Grube stammt eindeutig von Pferden. Pferdefleischkon- sum war in unterschiedlichen Epochen, wie beispielsweise in der Bronzezeit, durchaus üblich.5 Eine Aussage bezüglich der Fleischversorgung anhand eines einzigen Grubeninhaltes, noch dazu ohne jeglichen unmittelbaren Siedlungszu- sammenhang, muss trotzdem mit Vorsicht betrachtet werden.

Haus- oder Wildpferd? Generell besteht die Problematik, dass Haus- und Wildpferdreste osteologisch kaum auseinandergehalten werden können.6 Die allgemeine Größenreduktion während des Domestikationsvorgangs, wie er bei den Hauswirtschaftstieren beobachtet werden kann, ist beim Pferd kaum als Merkmal verwendbar. Einer- seits zeigen Pferde wenig Größenabweichungen durch die Domestikation, andererseits waren die Tiere abhängig von den Populationen in Europa unter- schiedlich groß. Dies erschwert zusätzlich die Frage nach einer Ausgangspo- 5 Bökönyi 1988, 248–249. 7 pulation für die Domestikation. Zudem veränderte sich im Laufe des Neolithi- 6 Bökönyi 1988, 236. kums bei lokalen Gruppen von Wildpferden die Größenvariation.8 Die Frage 7 Vgl. Uerpmann 1990, 120–125; 135–140. 8 Vgl. K. Steppan,Taphonomie – Zoologie – nach der Ausgangspopulation für die Domestikation ist somit weiterhin offen Chronologie – Technologie – Ökonomie. Mate- – möglicherweise gab es mehrere Stellen, wo Pferde gezähmt und letztendlich rialh. Arch. Baden-Württemberg 66, 2003, in den Hausstand übergeführt wurden. Sándor Bökönyi9 nimmt drei Ausgangs- 121–128; ders., The Neolithic Human Impact on Wild Horses in Germany and . gebiete an: zum einen eine Ausbreitung von Südwestasien aus nach Nordosten In: Olsen et al. 2006, 209–220. bis zum Balkan, weiters von Südrussland und der Südukraine aus bis in das 9 Bökönyi 1988, 240.

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Abb. 2: LSI-Verteilung der Messstrecken von Lang- und Kurzknochen der Pferdereste vom Renn- weg 16 (Wien 3) im Vergleich mit den Funden aus der Csokorgasse (Wien 11), einer südwestfran- zösischen neolithischen Fundstelle (Roucadour), süddeutschen neolithischen Fundstellen (beide aus Uerpmann 1990), einer mesolithischen Fundstelle (Mirnoe/Ukraine,Wildpferde), einer endneo- lithischen Fundstelle (Dereivka/Ukraine, möglicherweise Wildpferde) und einer glockenbecherzeit- lichen Fundstelle (Csepel-Háros/Ungarn, Hauspferde) (alle aus Benecke 2006). Eingezeichnet sind Median, 1. und 3. Quartil, Minimum und Maximum.

Karpatenbecken sowie ein Domestikationszentrum in Mitteleuropa. Nach Has- kel Greenfield10 befanden sich die Vorfahren der Hauspferde in den Steppen nördlich des Schwarzen Meeres und vielleicht noch weiter östlich und kamen von dort nach Ost- und Mitteleuropa. Norbert Benecke11 meint, dass die Hauspferde des Karpatenbeckens offensichtlich nicht von östlichen Pferde- populationen ableitbar sind, sondern von einem kleinen, breitwüchsigen Pfer- detyp, zu dem auch die mesolithischen Wildpferde von Mirnoe (Südwest- 10 H. J. Greenfield, The Social and Econo- ukraine) zu zählen sind. Außerdem haben seiner Ansicht nach große Pferde mic Context for Domestic Horse Origins in Southeastern Europe: a View from Ljuljaci in von Südosteuropa eine bedeutende Rolle in der Entwicklung der Domestika- the Central Balkans. In: Olsen et al. 2006, tion in Mitteldeutschland und Ostbayern gespielt.12 221–244; 230. 11 Benecke 1994, 74. Die Grazilisation wird von Erich Pucher als wesentlichstes Merkmal früher Do- 13 12 Benecke 2006, 203. mestikation gewertet. Das bedeutet, die Knochen der Hauspferde sind 13 E. Pucher, Das endneolithische Tierkno- schlanker und zierlicher als jene ihrer wilden Vorfahren. Eine große Streuung chenmaterial von Melk-Spielberg (Niederöster- reich). Ann. Naturhist. Mus. Wien A 107, der Knochenmaße weist ebenso auf Hauspferde hin, wobei die durch Domesti- 2006, 221–238 bes. 228–230. kation erhöhte Variation in der Regel weit unter das Minimum der Wildform

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streut, aber kaum Abmessungen die Werte der Stammform nach oben über- steigen sollten. Weiters gelten als Indiz für die Haustierhaltung eine erhöhte Häufigkeit im Fund- material sowie das Vorkommen außerhalb des Verbreitungsgebiets der Wild- form.14 Nachdem die vorliegende Fundstelle innerhalb des Verbreitungsgebiets von Wildpferden liegt, bleibt das letztere Indiz hier wirkungslos. Die erhöhte Häufigkeit im Fundmaterial weist allerdings auf eine leichte Verfügbarkeit hin. Dies ist sicherlich bei einer Haustierhaltung gegeben. Wenn aber eine Verbes- serung der Lebensbedingungen für Wildpferde eintritt, beispielsweise durch die Intensivierung des Ackerbaus, könnte das zu einer stärkeren Bejagung führen, was ebenso in einer erhöhten Häufigkeit im Fundmaterial resultieren kann.15

Vergleiche mit anderen Fundstellen In der Hoffnung, mehr über die Herkunft der Pferde aus der Grubenverfüllung vom Rennweg zu erfahren, wurden metrische und morphologische Merkmale verglichen.

Metrischer Vergleich Für eine metrische Vergleichbarkeit der Pferdeknochen mit anderen Fundstel- len wurde der LSI-Index16 als Größenindex verwendet. Die Berechnung ergibt, dass die Variabilität hoch ist, ebenso die Standardabweichung (Abb. 2). Bei den Funden aus der Csokorgasse (Wien 11) stammt der größte Minimalwert von einem geschätzten Maß. Aufgrund der geringen Materialbasis sind auch unvollständige und daher geschätzte Maße in die Analyse eingeflossen.17 Die LSI-Verteilung ist durchaus mit anderen mitteleuropäischen Fundstellen vergleichbar.18 Interessanterweise passt der Index der Rennweg-Pferde jedoch besser zur Population Mirnoes als zu den ebenfalls glockenbecherzeit- lichen Hauspferden der ungarischen Fundstelle Csepel-Háros (Abb. 2). Der Index süddeutscher Funde ist eher kleiner, noch deutlicher ist dies bei südwestfranzösischen Funden erkennbar. Im Vergleich liegen die Funde aus Wien zwischen jenen des südukrainischen Mesolithikums und süddeutschen neolithischen Funden.

Morphologischer Vergleich Ein direkter morphologischer Vergleich wurde anhand eines repräsentativen Teils der Skelettelemente mit Material der Archäologisch-Zoologischen Samm- lung des Naturhistorischen Museums Wien aus möglichst nahe gelegenen Fundstellen durchgeführt.19 Es zeigte sich, dass die Zähne auffallend klein sind 14 Benecke 1994, 64–75. 15 Uerpmann 1990, 109–153. und daher zum Osttyp der Pferde passen würden. Allerdings sind die Molaren 16 Nach Uerpmann 1990, 116–120. des Unterkiefers teilweise stark und unregelmäßig gekrümmt, was zusammen 17 Fundstelle 8, Grube 7; vgl. S. Czeika, Ar- mit der Kleinheit der Zähne20 viel eher als ein Domestikationsmerkmal anzuse- chäozoologische Fundkomplexe im Wiener Stadtgebiet (unpubl. Diss. Univ. Wien 2008). hen wäre (Abb. 3). Die Extremitätenknochen sind hingegen sehr kompakt und 18 Vgl. Benecke 2006, 195–208. gedrungen, ebenso die Ischiumsäule des Beckens (Abb. 4). Die Fersenbeine 19 Mein herzlicher Dank geht an Dr. Erich wirken sehr massiv (Abb. 5) und die Hufbeine sind relativ spitz (Abb. 6). Unter Pucher, Naturhistorisches Museum Wien, der mir mit Vergleichsmaterial und seinem Wissen dem Postulat der Grazilisierung im Laufe der Domestikation weisen die Merk- zur Verfügung stand. male des Postcranialskeletts auf Wildpferde hin. 20 Vgl. Bökönyi 1988, 236 f.

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Abb. 3: Kleine, teilweise stark gekrümmte Zähne des Unterkiefers von Pferden der endneolithi- schen Fundstelle Rennweg 16.

Skelettelemente eines Wildpferdes aus einem stichbandkeramikzeitlichen Ma- terialkomplex aus Frauenhofen (Niederösterreich)21 sind wesentlich stattlicher als jene der Rennweg-Tiere. Lengyelzeitliches Material aus Friebritz (Niederös- terreich)22 ist dagegen generell kleiner, zeigt einige Variabilität und hat gewisse morphologische Ähnlichkeiten mit den Knochenfunden vom Rennweg. Die Hauspferde der Bronzezeit waren deutlich schlanker und größer. Eisenzeit- liche Pferde waren viel kleiner und zarter, römische Landpferde waren zwar größer, aber deutlich schlanker. Der distale Extremitätenbereich passt erstaun- licherweise gut zu römischen Kavalleriepferden, proximal waren letztere aber eindeutig größer und weniger gedrungen gebaut. Gute Übereinstimmung gibt es auch mit einem der awarenzeitlichen Pferde aus Vösendorf (Niederöster- reich)23, welches zudem sehr ähnliche Oberarmknochenproportionen aufweist. Die Knochen dieses Pferdes haben laut E. Pucher einen wildpferdähnlichen Charakter. Zusammenfassend kann gesagt werden, dass die Zähne zu Hauspferden ge- hören müssten, die Extremitätenknochen jedoch durchaus Ähnlichkeiten mit Wildpferden aufweisen. Die Wuchsform der Extremitäten ist distal mit den rö- mischen Kavalleriepferden vergleichbar, sie sind insgesamt jedoch weitaus ge- drungener als diese. Die Ähnlichkeit zu dem kompakt gebauten awarenzeitli- chen Tier unterstreicht eher die Nähe zu Wildpferden. 21 E. Pucher, Das bronzezeitliche Pferde- skelett von Unterhautzenthal, P. B. Korneu- burg (Niederösterreich), sowie Bemerkungen Resümee zu einigen anderen Funden „früher“ Pferde in Soweit an den wenigen vorhandenen Funden abschätzbar ist, scheint die Va- Österreich. Ann. Naturhist. Mus. Wien B 93, 1992, 19–39. riationsbreite heimischer Wildpferde im Neolithikum recht groß gewesen zu 22 E. Pucher, in Vorbereitung. sein. Nach dem Postcranialskelett zu schließen, wäre eine Zwischenstellung 23 E. Pucher/T. Bruckner/A. Baar et al.,Tier- der Pferde vom Rennweg zwischen den wenigen bereits bekannten Wildpferd- skelette und Tierknochen aus dem awarischen Gräberfeld von Vösendorf-Laxenburgerstraße. funden durchaus denkbar. Die kleinen verkrümmten Zähne stehen jedoch in FÖ 45, 2006, 481–521. gewissem Widerspruch dazu. Könnte es sich daher um eine Haustierpopula-

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Abb. 4: Kompakte Beckenform mit kurzer Ischiumsäule von Pferden der Abb. 5: Kräftig gebaute Fußwurzelknochen von Pferden der endneolithi- endneolithischen Fundstelle Rennweg 16. schen Fundstelle Rennweg 16. tion handeln, welche aus heimischen Wildformen hervor- gegangen ist? Nimmt man die Reste des Wildpferdes von Frauenhofen als Vergleich her, dann stammen die Knochen vom Rennweg wegen ihrer Kleinheit von Hauspf- erden. Aber Letztere sind auch massiver als die Wildpferd- knochen und es wäre das Gegenteil einer Grazilisierung bei der Haustierwerdung eingetreten. Ohne den Untersu- chungsergebnissen über das Material von Friebritz vorgrei- fen zu wollen, ergibt sich im ersten Vergleich wiederum ein anders Bild. Die Knochen dieser Wildpferde scheinen weit- gehend kleiner zu sein als diejenigen vom Rennweg. Eine Größenvariation der Hauspferde, die eher im unteren Be- reich der Werte der Stammform streuen sollte, könnte da- mit nicht bestätigt werden. Somit ist ein Interpretationsver- such hinsichtlich einer aus heimischen Wildformen ent- Abb. 6: Relativ spitz zulaufende Form des dritten Zehenknochens eines standenen lokalen Haustierpopulation in der einen oder Pferdes der endneolithischen Fundstelle Rennweg 16. anderen Weise widersprüchlich. Was natürlich zu beach- ten bleibt, ist die Tatsache, dass bis zu über 2000 Jahre zwischen den Wildtier- funden und den Funden vom Rennweg liegen. Wenn die Pferde vom Rennweg jedoch in anderen Populationen ihren Ur- sprung haben sollten, so müssten deren Vertreter nicht nur größer, sondern auch mindestens ebenso breitwüchsig gewesen sein. Das würde eine Herkunft der Pferde wegen ihrer massiven Knochen aus dem Osten vermuten lassen. Allerdings scheinen die Individuen der östlicheren Steppenpopulationen als Ausgangspopulation eher zu groß zu sein. Vielmehr könnten sie, so wie die Hauspferde vom Karpatenbecken, von einem kleineren, breitwüchsigen Pfer- detyp abstammen, welcher den Wildpferden der Fundstelle Mirnoe nahe- 24 Vgl. Uerpmann 1990 und Benecke 1994, 24 steht. 74.

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Verblüffend ist auch der urtümliche Charakter der Skelettelemente, der keine Ähnlichkeit zum älteren Fund der Badener Kultur25 sowie zur Bronzezeit mit ih- ren schlankeren und größeren Individuen aufweist. Zusätzlich wirken die klei- nen, verkrümmten Zähne als „fortschrittlichere“ Skelettteile als die Knochen, welche sich aufgrund ihrer Massivität scheinbar sehr „konservativ“ verhalten. Das steht genau im Gegensatz zur allgemeinen Kenntnis der sich im Laufe der Domestikation langsamer als das übrige Skelett verändernden Zähne. Das vorliegende Material wirft offensichtlich mehr Fragen auf, als es Antworten zur frühen Phase der Pferdedomestikation geben kann. Als Interpretation der Knochenfunde scheint eine Zwischenstellung innerhalb der heimischen neoli- thischen Wildpferde mit ungewöhnlich kleinen Zähnen ebenso möglich zu sein, wie die Annahme von sehr urtümlich wirkenden Hauspferden, die morpholo- gisch den mesolithischen Wildpferden von Mirnoe nahestehen.

Überlegungen zum Vorherrschen der Pferdereste Die große Menge an entsorgten Pferderesten aus der Fundstelle Rennweg 16 ist erstaunlich. Wenn die Grube für die Entledigung von Großtierresten „reser- viert“ war, wäre die Häufung der Pferdeknochen abhängig von der Entsor- gungsstruktur zu betrachten. Allerdings bliebe in diesem Fall das Rind als eigentliches Hauptwirtschaftstier trotzdem eindeutig unterrepräsentiert. Nach- dem es sich fast ausschließlich um Nahrungsabfall handelt, geht aus der Zu- sammensetzung der Funde eine eindeutige Präferenz vom Pferd gegenüber dem Rind hervor. Unterstützt wird diese Beobachtung durch das Material aus der Csokorgasse, wo ein Grubeninhalt derselben Zeitstellung (siehe oben)26 ebenso eine deutlich erhöhte Fundzahl an Pferderesten enthielt. Sie ist zwar bei weitem nicht so hoch wie beim Fundmaterial vom Rennweg, aber mit fast der Hälfte an bestimmbaren Tierresten dennoch beachtlich groß. Zeit- stellung und Maße der Knochen beider Fundstellen passen zusammen, so dass das Vorherrschen der Pferdeknochen im Fundmaterial vom Rennweg nicht als zufällige Häufung angesehen werden muss. Weil aus keiner anderen Epoche eine derartige Zusammensetzung der Tierar- ten bekannt ist, wirkt die Bevorzugung vom Pferd gegenüber dem Rind wie ei- ne vorübergehende deutliche Änderung des ökonomischen Verhaltens. Auch wenn große Zeitspannen zwischen den nähesten bekannten Fundstellen lie- gen, stellt sich die Frage, warum ein so großer Unterschied zu ihnen besteht. Warum sollte im Endneolithikum eine „plötzliche“ Änderung in der Fleischver- sorgung stattgefunden haben? Ökologische Vorteile könnten dafür ausschlag- gebend gewesen sein. Pferde kommen beispielsweise mit strengen, schnee- 25 E. Pucher, Ein neuer Tierknochenfund- reichen Wintern besser zurecht als Hausrinder. Allerdings sind solche Erklärun- komplex aus einer Siedlung der Badener Kultur in Ossarn bei Herzogenburg in Niederöster- gen allein kaum ausreichend, um derart starke Unterschiede begründen zu reich. AÖ 17/2, 2006, 104–116. können.27 Vielleicht waren auch eine leichte Verfügbarkeit und/oder eine kultu- 26 S. Czeika, Über die Datierbarkeit archäo- zoologischer Funde. FWien 5, 2002, 23. rell bedingte Präferenz der Tiere ausschlaggebend. 27 Vgl. E. Pucher, Eine Gegenüberstellung Erstere könnte einerseits auf intensive Jagd auf Pferde oder auf eine speziali- prähistorischer Tierknochenfundkomplexe des sierte Tierhaltung zurückzuführen sein. Wenn die Tiere gejagt worden sind, Ostalpenraums – Verbindungen und Gegen- sätze. Fundber. Baden-Württemberg 53, dann muss das Umfeld günstig für Pferde bzw. die Jagdtätigkeit verstärkt da- 1994, 231–249. rauf ausgerichtet gewesen sein. Eine spezialisierte Tierhaltung war vielleicht

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möglich, es bleibt aber zu bedenken, dass landwirtschaftliche Systeme von biologischen Abläufen bestimmt und traditionell aufgebaut sind. Das bedeutet, dass sie sich nur langsam verändern. Rasche Veränderungen könnten sich in diesem Bereich durchaus existenzbedrohend auswirken. Bei einer kulturell bedingten Präferenz muss von kulturellen und ökonomischen Änderungen gegenüber dem bereits Bekannten ausgegangen werden. Somit könnten bis dahin unbekannte Kulturelemente übernommen worden sein oder es handelte sich sogar um Personengruppen, die hierhergezogen oder durch- gewandert sind. Im Endneolithikum und der frühen Bronzezeit gab es tatsäch- lich Personengruppen, die Pferde gegenüber dem Rind bevorzugten. Es waren dies Nomaden und Halbnomaden der Steppengebiete des Ostens. Fundstel- len in diesen Gebieten wiesen teilweise deutlich mehr Pferde als Rinder auf.28 Die Anteile vom Pferd variierten stark und konnten sogar fast 99% erreichen. Der Grund für eine derartige Bevorzugung könnte, neben den Vorteilen einer besseren Mobilität der wandernden Personen, durchaus in der hohen Anpas- sungsfähigkeit und ökologischen Flexibilität der Pferde liegen. Nachdem die Tiere vom Rennweg dem heutigen Wissensstand gemäß keine kontinuierliche Entwicklung innerhalb der Größen und Formen bereits bekannter früher Pferde- funde erkennen lassen, könnten sie auch aus einer anderen Region stammen und mit wandernden Gruppen hierhergelangt sein. Allerdings stößt diese Inter- pretation auf einen deutlichen Widerspruch. Wenn die Tiere aus dem Osten ka- men, kann nicht erklärt werden, warum die Pferdereste der nächstgelegenen östlichen glockenbecherzeitlichen Fundstelle von Csepel-Háros offensichtlich anders dimensioniert sind als jene vom Rennweg.

Einige Faktoren lassen jegliche weitergehende Interpretation auf wackeligen Beinen stehen: Anhand von relativ wenigen Funden Aussagen über eine gene- relle Vorrangigkeit von Pferden als fleischliche Nahrungsgrundlage zu tätigen, ist sicherlich gewagt. Der Grubeninhalt könnte durchaus nur einen sehr kleinen Zeitausschnitt repräsentieren, in dem zufälligerweise oder absichtlich vorwie- gend Pferdefleisch konsumiert wurde. Der fehlende Siedlungszusammenhang lässt Hinweise auf den kulturellen Kontext offen. Des Weiteren ist der derzeitige Wissensstand über Pferde der damaligen Zeit, besonders über die morpholo- gische Variationsbreite der heimischen Wildpferde, noch zu gering, um über die Herkunft der Pferde genauere Aussagen zuzulassen. Um nicht irgendwelche Spekulationen zu unterstützen, muss sich die endgülti- ge Interpretation des vorliegenden Materials aus den genannten Gründen deut- lich einschränken: Die Zusammensetzung der Tierarten lässt eine kurz- oder längerfristige Bevorzugung von Pferden als fleischliche Nahrungsgrundlage an- nehmen. Nach dem derzeitigen Kenntnisstand kann weder die Einordnung der 28 P. A. Kosintsev, The Human-Horse Rela- tionship and the European-Asian Border in the Pferdereste als Wild- oder Haustier noch deren Herkunft eindeutig geklärt wer- Neolithic and Early Iron Age. In: Olsen et al. den. 2006, 127–135.

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Abb. 8: Spontangeräte (Bef.-Nr./Fnr. 211/187): Langknochen und Rip- penfragmente standen in unterschiedlichem Gebrauch.

Abb. 7: Geräthaft verwendete Rippenfragmente (Bef.-Nr./Fnr. 211/187 Fl. 4): Die Nutzkanten sind jeweils unten im Bild erkennbar.

Geräthaft genutzte Skelettelemente An 13 Knochenstücken sind Spuren einer geräthaften Verwendung erkennbar. Alle Exemplare sind vor ihrer Verwendung bestenfalls grob zugerichtet worden. Sie wirken wie Spontangeräte, wobei die Bruchform eines Knochenstückes ge- nutzt wurde. Sie sind von 4,5 bis 20 cm groß und wurden quer oder längs zu ihrer Form eingesetzt. Die Arbeitsflächen sind poliert und weisen öfters kleine, parallelliegende Kratzer auf. Sie sind je nach der Deutlichkeit der Arbeitskanten offensichtlich unterschiedlich lange in Gebrauch gestanden.

Bef.-Nr. 211, Fnr. 187, Fl. 4 Pferd, Rippenfragment, 16 cm (Abb. 7 a) Die gesamte Oberfläche ist leicht poliert (Handpolitur), die ventrale Bruchfläche zeigt auf der La- teralseite eine kleine Stelle einer zerkratzten Nutzfläche. Der Rest der Bruchstelle ist alt bzw. frisch gebrochen, so dass die ursprüngliche Gesamtdimension der Nutzfläche nicht abschätzbar ist.

Pferd (?), Rippenfragment, 10 cm (Abb. 7 b) Es handelt sich um ein Längsbruchstück einer Rippe, deren spongiöse Innenseite stark versintert ist. Die Knochenoberfläche weist zu einem Ende hin eine stärker werdende Politur und einige pa- rallelliegende Kratzer auf. Eine der Längskanten ist durch den Gebrauch keilartig zugeschliffen.

Pferd (?), Rippenfragment, 7 cm (Abb. 7 c) Das Längsbruchstück ist auf einem Ende stark verbissen, das andere ist durch Benutzung U-för- mig zugespitzt. Dort ist sowohl die Knochenoberfläche als auch die Innenseite poliert und dieses Ende weist quer zum Knochen liegende Kratzspuren auf.

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Bef.-Nr. 211, Fnr. 187

Pferd, distales Fragment eines Mittelfußknochens, 11 cm (Abb. 8 a) Es handelt sich um ein längs gespaltenes Fragment aus dem distalen Gelenksbereich. Die proximale Seite des Bruchstückes ist frisch gebro- chen, womit die ursprüngliche Größe des Stückes nicht erkennbar ist. Das Fragment ist leicht versintert und auf der gesamten frontalen Längs- bruchfläche abgerieben. Die polierte Nutzkante ist zum Teil schartig ein- geschnitten. Auf dem Hinterrand der Bruchfläche findet sich eine weni- ger deutliche, ähnlich polierte und ebenso schartige Nutzkante.

Pferd/Rind, Langknochenfragment, 11 cm (Abb. 8 b) Das Bruchstück aus der Kompakta hat völlig verrundete Längskanten, welche feine Kratzer quer zur Arbeitskante aufweisen. Die Knochen- oberfläche ist leicht poliert.

Großes bis mittelgroßes Huftier, Rippenfragment, 4,5 cm (Abb. 8 c) Das schmale Längsbruchstück weist abgeriebene Längskanten auf. Die Knochenoberfläche ist leicht poliert und zerkratzt. Die beiden Queren- den des Bruchstückes sind alt gebrochen und nicht überarbeitet.

Großes bis mittelgroßes Huftier, Rippenfragment, 4,5 cm (Abb. 8 d) Das hell gefärbte, leicht versinterte Längsbruchstück ist völlig poliert. Ein Ende ist auf der Innenseite des Knochens spatelförmig abgerieben. Die Arbeitskanten ziehen sich seitlich weit an den Bruchflächen entlang.

Großes bis mittelgroßes Huftier, Rippenfragment, 5,5 cm (Abb. 8 e) Das Längsbruchstück ist leicht versintert und zeigt auf beiden Enden Nutzflächen. Das eine Ende ist auf der Knocheninnenseite spatelförmig abgerieben. Das andere Ende weist weniger deutlich sichtbare, spitz zu- laufende Arbeitskanten auf. Abb. 9: Unterschiedlich große Geräte (Bef.-Nr./Fnr. 228/196): Die Ar- Großes bis mittelgroßes Huftier, Langknochenfragment, 6 cm (Abb. 8 f) beitskanten zeigen im Bild nach unten, das zweite Stück von links ist auf der nach oben zeigenden Seite ausgehöhlt. Der Splitter aus dem Schaftbereich eines Langknochens zeigt auf einem Ende in der Längsrichtung zwei spitz zulaufende Arbeitskanten. Das an- dere Ende ist nicht überarbeitet.

Bef.-Nr. 228, Fnr. 196

Mittelgroßes Huftier, Rippenfragment, 4,5 cm (Abb. 9 a) Beide Enden sind frisch gebrochen, damit ist auch hier die ursprüngliche Dimension des Längs- bruchstückes nicht mehr erkennbar. Die gesamte Knochenoberfläche ist poliert. Die Arbeitskan- ten liegen in der Längsrichtung des Stückes auf beiden Seiten. Eine der beiden Kanten ist eher rundlich und stark poliert, die andere läuft spitz zu und weist schräg zur Kante liegende Kratzer auf.

Pferd, Dornfortsatz eines Brustwirbels (Fragment), 10 cm (Abb. 9 b) Das leicht versinterte und polierte (Handpolitur) Stück wurde beidseitig genutzt. Bei einem Ende ist die Spongiosa ausgehöhlt. Das andere Ende weist eine asymmetrische, spatelförmige Arbeits- kante auf.

Pferd, Rippenfragment, 6 cm (Abb. 9 c) Ein Ende des Artefaktes ist frisch gebrochen. Damit ist die ursprüngliche Größe nicht mehr ab- schätzbar. Die gegenüberliegende Bruchfläche ist asymmetrisch U-förmig abgerieben. Es ist nur eine schwache Politur zu erkennen.

Pferd, Rippenfragment, 20 cm (Abb. 9 d) Das gesamte Stück ist leicht poliert (Handpolitur), zum dorsalen Ende hin wird die Politur stärker. Die Bruchstelle dieser Seite ist vorwiegend auf der lateralen Seite werkzeughaft gebraucht wor- den. Die Arbeitskante ist breit und mediolateral spitz zulaufend. Ein paar Schnittspuren finden sich lateral und medial auf der Knochenoberfläche.

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Zusammenfassung Die glockenbecherzeitlich zu datierende Verfüllung einer Grube in Wien 3, Rennweg 16 enthielt eine große Zahl an Tierresten. Es handelt sich überwie- gend um Skelettelemente vom Pferd, Hauswirtschaftstiere wie Rind und Schaf/Ziege sind unterrepräsentiert. Weiters sind Hund und einige Wildtiere be- stimmbar. Die Pferdeknochen zeigen eine große Variationsbreite der Maße und weisen auf kleine und stämmige Tiere hin. Bezüglich ihrer Herkunft werden aufgrund des noch geringen Wissensstandes mehrere Interpretationsrichtungen diskutiert. Ökologische, ökonomische oder kulturelle Hintergründe könnten zu der außergewöhnlich deutlichen Bevorzu- gung von Pferden als fleischliche Nahrungsgrundlage geführt haben. Einige Knochenreste standen werkzeughaft in Verwendung. Sie wurden kaum überarbeitet in ihrer ursprünglichen Form genutzt.

Abgekürzt zitierte Literatur Benecke 1994 N. Benecke, Archäozoologische Studien zur Entwicklung der Haustierhaltung in Mitteleuropa und Südskandinavien von den Anfängen bis zum ausgehenden Mittelalter. Schr. Ur- u. Frühgesch. 46 (Berlin 1994). Benecke 2006 N. Benecke, Late Prehistoric Exploitation of Horses in Central Germany and Neighboring Areas: the Archaeozoolo- gical Record. In: Olsen et al. 2006, 195–208. Bökönyi 1988 S. Bökönyi, History of Domestic Mammals in Central and Eastern Europe2 (Budapest 1988). Olsen et al. 2006 S. L. Olsen/S. Grant/A. Choyke/L. Bartosiewicz (eds.), Horses and Humans: the Evolution of Human-Equine Rela- tionships. BAR Internat. Ser. 1560 (Oxford 2006). Uerpmann 1990 H.-P. Uerpmann, Die Domestikation des Pferdes im Chalkolithikum West- und Mitteleuropas. Madrider Mitt. 31, 1990, 109–153.

Bef.-Nr./Fnr. KNZ det. Equide Bovide Bos O/C Sus Canis Cervus Sus scr. Castor fiber 211/187 884 267 202 7 28 8 16 3 1 2 211/187 Fl. 3 28 20 6 5 6 2 1 211/187 Fl. 4 197 138 122 3 7 1 5 211/187 Fl. 5 222 117 104 4 1 5 2 1 228/196 129 66 47 3 2 10 3 1 245/206 34 26 26 246/209 174 134 125 5 4 Summe 1668 768 632 22 43 30 28 3 2 7 1 Bef.-Nr./Fnr. KGew det. Equide Bovide Bos O/C Sus Canis Cervus Sus scr. Castor fiber 211/187 13780 9970 8090,5 601 987,5 76 112,5 48,5 Geweih 54 211/187 Fl. 3 446,5 388 123 167 50,5 36 11,5 211/187 Fl. 4 8977,5 8581,5 8248 194 106 1 32,5 211/187 Fl. 5 11494 8152,5 7449,5 346,5 129,5 61 28 138 228/196 2157,5 1791 1489 140 52 42 48 20 245/206 1585,5 1548,5 1548,5 246/209 7667,5 7325,5 6883,5 372,5 69,5 Summe 46108,5 37757 33832 1654 1442 230,5 257 48,5 138 143,5 11,5

Tab. 1: Knochenanzahl (KNZ) und Knochengewicht (KGew) der Tierreste aus der endneolithischen Grube Rennweg 16. det. – bestimmbar.

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BOVIDE Bef.-Nr./Fnr. Scapula GLP LG BG 228/196 71,9 57,3 49,8

Epistropheus BFcd 211/187 Fl. 5 59,1

Vert cerv Bpacd 211/187 105,0*

Humerus Bd BT 246/209 105,7 91,9

Patella GL GB 246/209 81,0 211/187 Fl. 4 74,1* 63,5

Tibia Bd 211/187 Fl. 3 56,6 211/187 61,2 211/187 Fl. 5 60,5

Calcaneus GL GB 211/187 117 46

Metacarpus TD Bd Td 211/187 20,9 61,8 32,3

Phalanx 1 GLpe Bp KD Bd 211/187 Fl. 5 76,2 45,4 35,3 36,8 211/187 Fl. 4 74,5 43,2 211/187 57,8*

Phalanx 2 GL Bp KD Bd 211/187 52,3 39,4 31,2 31,6

EQUUS Bef.-Nr./Fnr. Cranium 34 35 36 37 211/187 83,8 110,5* 35,9 41,2

Dens P2 sup L B 211/187 Fl. 5 33,4 22,4 Zahnreihe?

Dens P3 sup L B 211/187 Fl. 5 25,5 23,3 Zahnreihe?

Dens P4 sup L B 211/187 Fl. 5 24,4 25,9 Zahnreihe? 211/187 Fl. 5 26,3 26,5

Dens M1 od. M2 sup L B 211/187 Fl. 5 22,5 22,2 Zahnreihe?

Dens M2 sup L B 211/187 Fl. 5 22,3 25,2

Mandibula 8 (P2–P4 Alv) 22c (Höhe vor P2) 246/209 85,8* 55,0

Atlas GB GL BFcr BFcd GLF LAd H 211/187 Fl. 5 89,6 211/187 Fl. 5 147,9 98 86,8 91,4 211/187 Fl. 4 88 81,1 86 87 41,8 65

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Epistropheus BFcd 211/187 Fl. 5 42,9

Vertebrae PL BFcr BFcd HFcr HFcd 211/187 Fl. 5 Vert thor 59,8 32,9 sad 211/187 Fl. 5 Vert thor 68,3 57,7 34,8* 211/187 Vert lumb 43,6 39,3 43,1 36,9 31,7 211/187 Vert sacr 45,6 49,5 47,3 25,1 23,3 211/187 Vert sacr 47,9 44,3 52,5 32,2 27,1 211/187 Fl. 4 Vert sacr 44,9

Scapula KLC GLP LG BG 246/209 86,5 52,8 41,5 246/209 61,8 84,7 55,4 44,5 246/209 62,1 84,5 54,2 48,2 211/187 50,3* 211/187 Fl. 4 83,9* 56,6 48,7 211/187 Fl. 5 64,9 87,6 56,3 45,4* 211/187 56,7 50,4

Pelvis LA LAR KH 246/209 60,8 68,3 211/187 Fl. 4 38,3 211/187 Fl. 4 38,6 sad 245/206 41,8 211/187 62,1 60,1 41,8 f? 211/187 Fl. 4 62,3 55,8 m? 211/187 Fl. 5 65,7 59,6 f 211/187 Fl. 5 69,3 62,8 f

Humerus Bp Bd BT 246/209 88,8 246/209 71,4 68,7* 246/209 73,2 67,9* 211/187 Fl. 4 75,0 69,8 sad 211/187 Fl. 5 75,2* 69,7 211/187 Fl. 4 74,0 70,2* 211/187 Fl. 5 76,3 70,7 211/187 77,5 72,6 211/187 78,9 73,9 211/187 Fl. 4 80,0 71,4 211/187 Fl. 4 82,0 77,1* 211/187 Fl. 5 82,4 73,6 211/187 Fl. 5 83,2 75,9 211/187 Fl. 5 86,1 211/187 Fl. 5 90,0* 211/187 83,6 211/187 Fl. 4 87,2 211/187 Fl. 4 87,5 211/187 Fl. 5 88,2 211/187 Fl. 4 71,6

Femur TC Bd 211/187 Fl. 4 87* 211/187 Fl. 5 88 211/187 Fl. 5 90 211/187 54,7 211/187 58,2

Patella GL GB 246/209 65,6 62,3 211/187 Fl. 5 65,4* 211/187 Fl. 4 52,0* 211/187 Fl. 5 62,8 65,4 245/206 66,6 72,5

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Tibia Bd Td 246/209 70,5 43,8 246/209 72,4 45,2 246/209 78,3 45,6 211/187 75,4 44,9 211/187 Fl. 5 76,1

Radius/Ulna Bp BFp TPa KTO BPc Bd BFd 246/209 76,8* 68,3 55,6 44,2 37,7* 246/209 84,0 75,9 246/209 84,1* 78,5* 44,0* 246/209 37,8* 246/209 63,6 45,1 211/187 Fl. 4 42,4* 211/187 Fl. 5 44,4 211/187 Fl. 4 51,2 211/187 Fl. 5 62,0 48,7 44,5 245/206 70,7 60,0 211/187 71,7 58,4 211/187 Fl. 4 73,5 59,4 211/187 Fl. 5 74,7 63,3 211/187 74,9 61,4 211/187 Fl. 4 76,7 64,9 211/187 Fl. 4 78,8 62,8 211/187 83,3 74,4

Carpale II GB 211/187 44,1

Astragalus GH GB BFd LmT 246/209 63 70 53,7 61,3 211/187 Fl. 5 61 63 53,6 62,2 Calc+Astr 211/187 Fl. 4 60 Calc 211/187 Fl. 4 60 211/187 Fl. 5 59 60 50,8 56,1

Calcaneus GL GB 246/209 104,6 52 211/187 Fl. 4 52 Astr 211/187 Fl. 5 107,9 53 211/187 Fl. 5 114,2 57 Calc+Astr

Centrotarsale GB 211/187 49,3 211/187 50,6

Tarsale III GB 211/187 46,6 211/187 Fl. 5 46,2 211/187 Fl. 5 46,5

Sesamoid Ph 3 GB 211/187 45,8

Metacarpus GL Bp Tp KD TD Bd Td 246/209 Mc III 48,8 34,3 246/209 Mc III 49,6 37,5 246/209 Mc III 52,2 36,0 246/209 Mc III+IV 46,5* 34,4* 246/209 Mc III+IV 52,9 36,0 246/209 Mc III+II+ IV 51,9 34,2* 211/187 Mc 48,9 36,4 228/196 Mc III 48,5 35,3 211/187 Fl. 4 Mc III 49,7 34,7 211/187 Fl. 4 Mc III 204 46,1 32,0 30,0 21,1 47,7* 33,8

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211/187 Mc III+II 47,3 32,6 211/187 Fl. 5 Mc III+II+IV 47,7* 32,6* 33,7 22,1 50,5 35,1

Metatarsus GL Bp Tp KD TD Bd Td 246/209 MT II+III 49,9 44,1 246/209 MT III 49,4 36,8 246/209 MT III 52,7 44,3 211/187 48,4 41,1 30,2 sad 211/187 51,7 39,8 31,6 211/187 251 42,3 34,8 27,3 50,4 35,2 211/187 Fl. 5 48,3* 36,5 211/187 Fl. 5 50,8 35,2 211/187 Fl. 5 50,6 45,5 211/187 Fl. 4 24,4 47 34,5 211/187 Fl. 5 26,1 49,8 36,1 211/187 Fl. 4 27 51,4 39,1

Phalanx 1 GL Bp BFp Tp KD Bd BFd 211/187 post 82 59,1 53,2 38,2 35,4 44,1 42,1 211/187 post 84 55,9 51,3 35,3 35,6 46,5 45,0 211/187 Fl. 4 ant 82 54 49,9 35,4* 37,9 47,4 44,4 211/187 Fl. 4 ant 81* 59,5* 53,3* 37,5* 43,7 43,1 211/187 Fl. 4 post 77 57,9 53,2 38,5 34,4 46,3 43,2 211/187 Fl. 5 ant 81 55,3 52,1 35,6 36,8 47,1 44,4 211/187 Fl. 5 ant 81 53,3 50,8 35,2 33,2 42,7 42,6 sad 211/187 Fl. 5 post 76 55,6 52,4 38,2 34,2 44,5 42,1 228/196 post 83 58,2 52,1 38,1 34,9 46,2 44,8 245/206 post 83 58,7 53,9 40,9 37,2 47,2 45,7 246/209 ant 84 56,2 53,3 35,8* 34,2 42,8 43,8 246/209 post 76 52,5 49,8 33,3 33,4 41,9 41,9 246/209 post 78 57,7 52,2 35,9* 35,8 47,3 43,9 246/209 post 80 56,3 50,1 36,8 32,4 45,1 41,4 246/209 81 52,3 48,3 32,4 34,0 43,9 43,5

Phalanx 2 GL Bp BFp Tp KD Bd 246/209 ant 45 54,2 46,2 29,9 45,2 48,3 246/209 ant 46 53,4 45,8 30,4 47,2 47,9 211/187 Fl. 4 ant 47 51,9 45,0 33,6 42,7 46,0 211/187 Fl. 4 ant 48 53,3 45,0 31,8 43,0 46,5 211/187 ant 49 55,9 48,0 32,6 47,0 49,5 211/187 Fl. 4 ant 50 53,9 45,1 34,5 45,7 49,9 211/187 ant 56,1 50,2 32,7 48,0 246/209 post 44 50,5 42,9 31,3 40,8 44,3 211/187 Fl. 4 post 46 52,2 45,4 31,1 46,0* 48,4 246/209 post 48 53,2 46,8 32,8 43,6 45,8 211/187 Fl. 5 44 52,7 46,7 30,9 45,3 48,1 246/209 46 53,4 45,9 32,9 44,3 47,2 211/187 Fl. 5 46 53,8 47,9 31,5 47,0 49,7 211/187 Fl. 5 46 51,9 45,8 29,7 45,0 49,2 245/206 46 53,0 44,8 32,0 43,2 45,5 211/187 Fl. 5 47 54,0 43,1 32,2 47,2 48,9

Phalanx 3 GL GB LF BF Ld HP 246/209 70,1 31,7 56,3 228/196 68,5 25,7 53,2* 52,3 31,5 211/187 Fl. 5 69 80,5 27,8 46,9 55,5 41,0 211/187 73 73 26,7 44,9 58,6 40,0 211/187 Fl. 4 75 79,9 33,7* 53,9* 51,2 41,0 211/187 27,7 45,2

SUS SCROFA (DOM.) Bef.-Nr./Fnr. Mandibula M3 L M3 B 211/187 32,9 16,5 M3 im Durchbruch

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Scapula KLC 228/196 22,2 geschätzt

Tibia Bd 211/187 28,3 sad

Astragalus GLl GLm Tl Tm 211/187 Fl. 5 50,1 44,6 Sus scr 211/187 44,6 42,7 24,9 26,8

Calcaneus GL GB 246/209 99,2 28,0 Sus scr

Mc III Bd 211/187 22,4 zu Mc IV? sad

Mc IV Bd 211/187 24,7 zu Mc III? sad

Mt III oder IV Bd 211/187 23,6

Phalanx 2 GL Bp KD Bd 246/209 28,7 19,9 16,1 18,1 211/187 26,8 20,4 16,8 19,4

Phalanx 3 DLS Ld MBS 228/196 36,4 36,8 17,8 211/187 40,2 38,8 17,6

CAPRA/OVIS Bef.-Nr./Fnr. Scapula KLC 211/187 20,4 Ovis

Humerus Bd BT 211/187 33,4 31,2 Ovis

Phalanx 1 GLpe Bp KD Bd 211/187 35,2 11,7 9,6 11,1

Phalanx 2 GL Bp KD Bd 211/187 Fl. 5 21,2 11,5 9,4 9,8

CANIS FAM. Bef.-Nr./Fnr. Mandibula 9 10 12 13a 13b 14 17 18 19 20 211/187 60,5 30,1 31,6 7,7 7,6 18,2 22,1 44,8* 20,2 211/187 67,8 34,9 31,8 18,9 22,2 18,2

CERVUS ELAPHUS Bef.-Nr./Fnr. Radius Bd 211/187 Fl. 5 59,3

Tab. 2: Maße der Tierreste aus der spätneolithischen Grube Wien 3, Rennweg 16. * – geschätzt, weil unvollständig; sad – subadult.

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Befunde im Legionslager Vindobona. Teil V: Das Intervallum an der westlichen Lagermauer – Vorbericht zu den Grabungen Am Hof in den Jahren 2008/09

Martin Mosser

Einleitung Nach den umfangreichen archäologischen Untersuchungen im Zuge der Um- bauarbeiten der Feuerwehrzentrale in Wien 1, Am Hof 7–10 in den Jahren 2007 und 20081 konnten vom 16. Dezember 2008 bis zum 23. Dezember 2009 weitere Grabungen anlässlich der Unterkellerung der Atemschutzräume im Haus Am Hof 10 (= ehemaliges Bürgerliches Zeughaus) durch die Stadt- archäologie Wien vorgenommen werden.2 In der nordöstlich anschließenden Offiziersgarage fanden bereits vom 19. März bis zum 10. Mai 2007 (Schnitt 1) und vom 6. Oktober bis zum 26. November 2008 (Schnitt 7) archäologische Grabungen der Stadtarchäologie statt.3 Zusammen mit den zuletzt erfolgten Unterkellerungen (Schnitte 8, 9 und 10) wurde damit eine geschlossene Fläche von ca. 3066 m (= ca. 180 m2) bis in ca. 3 m Tiefe archäologisch untersucht.4 Darüber hinaus konnte auf ca. 12 m2 Fläche der Bereich des Stiegenhauses im Südtrakt der Feuerwehrzentrale bzw. des „Bürgerlichen Zeughauses“ eben- falls bis in 3 m Tiefe dokumentiert werden (= Schnitt 11). Die Grabungen führten in Bezug auf die römerzeitlichen Befunde (zu den mittel- alterlichen Befunden siehe Beitrag I. Gaisbauer/M. Mosser, 233 ff.) zur Auf- deckung eines bislang nahezu unbekannten Abschnittes innerhalb des römi- 1 Jandl/Mosser 2008; Mosser 2009. schen Legionslagers Vindobona. Neben der Lokalisierung der fabrica bereits 2 Vom 1.9. bis zum 28.9. 2009 nahmen 5 Studentinnen der Universität Wien an dieser im Jahr 2007 waren es hauptsächlich Befunde im Bereich des westlichen In- Ausgrabung im Rahmen einer Lehrgrabung tervallums, die im Fokus der Forschungen standen. Auf einer Länge von 30 m teil. erfolgte eine detaillierte Dokumentation der chronologischen und funktionalen 3 Siehe M. Mosser, Wien. 1. Bezirk, Am Hof 7–10. FÖ 46, 2007, 716; ders., Wien. 1. Entwicklung der Baustrukturen zwischen der via vallaris und der westlichen La- Bezirk, Am Hof 10. FÖ 47, 2008, 599–601; germauer. Auch wenn die Lagermauer selbst knapp außerhalb des Grabung- Jandl/Mosser 2008, 9–12; Mosser 2009, sabschnittes lag, so gelang dennoch eine Rekonstruktion der an sie anschlie- 198–200. 4 OK Innenhof Am Hof 10: 18,20 m über ßenden Anlagen (Abb. 5). Wr. Null; UK Grabungsfläche ca. 15,10 m über Das Intervallum stellt neben den Palisaden, Gräben, Türmen, Toren und dem Wr. Null bzw. im Verlauf des römischen Ab- Mauerring einen Teil der Befestigungsanlage römischer Lager und Kastelle wasserkanals bis 13,60 m über Wr. Null. 5 Siehe Mosser 2007 (Anm. 3) 717 f.; dar und bezeichnet den Bereich zwischen der Legionslagermauer und den In- Jandl/Mosser 2008, 20–29. nenbauten.6 Dieser Abschnitt besteht bei einer aus Stein errichteten Umfas- 6 A. v. Domaszewski (Hrsg.), Hygini Gro- matici Liber de Munitionibus Castrorum (Leip- sungsmauer in der Regel aus einem an die Innenseite dieser Mauer gesetzten 7 zig 1887, Reprint Hildesheim 1972) 59 f. Erdwall, über den auch der Wehrgang erreicht werden kann (ascensus), und 7 Vgl. zusammenfassend M. J. Jones, Ro- der anschließenden umlaufenden Lagerstraße (via vallaris oder via sagularis). man Fort-Defences to A.D. 117, with Special Reference to Britain. BAR 21 (Oxford 1975) Zwischen Erdwall und Straße können zudem weitere infrastrukturelle Einrich- 68–103; LeQuesne 1999, 71–75. tungen wie Werkstätten, Backstuben, Stallungen oder Abwasserkanäle liegen,

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Abb. 1: Rekonstruktionsplan des Legionslagers Vindobona mit markierten Fundstellen (siehe Tab. 1) im Bereich des Intervallums. (Plan: M. Mosser)

wobei v. a. in spätrömischer Zeit Einbauten im Wallbereich vermehrt festzustel- 8 len sind. 8 Hoffmann 2002.

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Bisherige Grabungsergebnisse zum Intervallum des Legionslagers Die Möglichkeiten, die Befestigungsanlagen des Legionslagers archäologisch zu untersuchen, waren bisher eher unzureichend. Trotzdem kann der Verlauf der Umfassungsmauer und des vorgelagerten Grabensystems über Altgra- bungsbefunde als einigermaßen gesichert gelten.9 Der anschließende Erdwall konnte hingegen bis zum Jahr 2009 kein einziges Mal dokumentiert werden. Etwas besser sieht der Forschungsstand bezüglich Kanal und Straßenverlauf der via vallaris aus. Hierzu sind folgende Befunde bekannt (Abb. 1): Der Kanal der via vallaris, zum Teil mit ziegelgedeckter, zum Teil mit gemörtelter Sohle, konnte demnach – oft in unterschiedlicher Breite – bislang in sieben Fäl- len, die Straßenschotterung selbst hingegen nur vier Mal dokumentiert werden.

Nr. GC Adresse Bauvorha- Befund Literatur ben 1 1983_04 Fleischmarkt 1A Hausneubau Steingemauerter Abwasserkanal mit ziegelgedeckter Sohle, O. Harl,Wien 1 – Fleischmarkt. FÖ 22, der im nordöstlichen Intervallum schräg zur Lagerachse 1983, 312. Richtung Graben entwässert (Niveau Sohle: 10,06 m über Wr. Null). 2 1913_03 Fischhof 1 (An- Hausneubau Abwasserkanal mit Seitenmauern aus Bruchsteinen und FA-RZ I, Hoher Markt/Ecke Juden- kerhof) ziegelgedeckter Sohle; bis 0,80 m hoch erhalten; im Verlauf gasse (Ankerhof), 1913. der östlichen via vallaris. 3 1911_02 Graben 29/Tratt- Umbau des Abwasserkanal (1,80 m breit) und Straßenschotterung der FT IX, 9; FA-RZ I, Graben/Trattner- nerhof Trattnerhofes via vallaris (5–7 m breit) in der Krümmung der SO-Ecke des hof, 1911. Legionslagers. 4 1904_02 Petersplatz 3–4/ Kanalbau Bis 3,20 m unterhalb des Straßenniveaus Kanal der via valla- F. v. Kenner, Römische Funde in Jungferngasse ris; Seitenmauern aus Bruchsteinen je 0,60 m breit, gemör- Wien aus den Jahren 1904 und 1905. telte Kanalsohle 0,50 oder 0,80 m breit. JZK N. F. 3/1, 1905, 143 f. Fig. 290. 5 1902_01 Naglergasse 2–4 Hausneubau 8 m westlich der porta decumana folgt nicht ganz senk- FT IV, 15; FA-RZ I, Naglergasse, recht auf die Lagermauer ein in zwei Räume geteilter, 1901; Kenner 1904, 119 f. Fig. 99; 764 m großer Anbau; nördlicher Innenraum 3,8063,20 m, Genser (Anm. 59) 482 Abb. 106 A’. südlicher Innenraum 1,7063,20 m. 6 1902_01 Bognergasse 7 Hausneubau Bis in 3,80 m Tiefe (OK ca. 13,80, UK ca. 13,30 m über FA-RZ I, Naglergasse, 1902; Kenner Wr. Null) Kanal der via vallaris, Seitenmauern aus Bruch- 1903 (Anm. 59) 35 Fig. 1 B. steinen 0,40–0,45 m breit, Sohle 0,70 m breit; auf 10 m Länge dokumentiert. 7 1913_08 Am Hof 4 Abbruch der Kanal der via vallaris (mit zwei einmündenden Nebenkanä- FA–RZ I, Naglergasse 24/Am Hof, Nuntiatur len): Seitenmauern aus Bruchsteinen 0,45 m breit; ge- 1913. mörtelte Kanalsohle 0,90 m breit, ca. 14 m über Wr. Null (?). 8 1913_08 Am Hof 4 Abbruch der Straßenschotterung der via vallaris mit Fund eines Kanalgit- FA–RZ I, Naglergasse 24/Am Hof, Nuntiatur tersteines (WM Inv.-Nr. MV 2412), OK bei ca. 15 m über 1913. Wr. Null. 9 1953_02 Am Hof 9 Hausneubau Kanal der via vallaris: Seitenmauern aus Bruchsteinen Neumann 1967, 21–23 Abb. 3; 0,60–0,80 m breit, max. Höhe 1,53 m; ziegelgedeckte 4; 6. Sohle 0,60–1 m breit (Niveau 13,50 m über Wr. Null). 10 1953_02 Am Hof 9 Hausneubau Straßenschotterung der via vallaris bis 3 m unterhalb des Neumann 1967, 22 Abb. 3; 6. modernen Niveaus (ca. 15 m über Wr. Null), OK ca. 0,40 m höher. 11 2007_03 Am Hof 8 Tiefgaragen- Auf einer Länge von 7,30 m Schotterpakete der via vallaris Jandl/Mosser 2008, 12–14. bau in einer Breite von 6 m erhalten (davon bis zu 2 m breiter Gehsteigbereich entlang der fabrica); OK ca. 15,50, UK ca. 14,70 m über Wr. Null.

Tab. 1: Befunde zum Intervallum von Vindobona von 1902 bis 2007.

9 Vgl. M. Mosser, Befunde im Legionslager Vindobona. Teil III: Das Lagergrabensystem. Ein einziges Mal wurde, abgesehen von den Zwischentürmen, im Jahr 1902 ein FWien 7, 2004, 212–223. Anbau an die Lagermauer im Bereich des Intervallums im südlichen Abschnitt 10 Kenner interpretierte den Befund als der Befestigungsanlagen nahe der porta decumana festgestellt (Tab. 1 Nr. 5).10 wahrscheinlichen Zwischenturm, was auch nicht völlig auszuschließen ist. Ein weiteres Gebäude ist auf einem Plan von Alfred Neumann ohne Kommentar 11 11 Neumann 1967, 10 Abb. 1. an der Lagermauer im Bereich Naglergasse 22–24 eingetragen. Es handelt

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sich dabei um einen langrechteckigen (663 m?), von der Lagermauer ins Inne- re führenden Bau. Dessen tatsächliche Auffindung ist allerdings mit einem Fra- gezeichen zu versehen, da er unter Umständen das Produkt einer Fehlinterpre- tation der Fundnotizen bzw. Skizzen von Josef Nowalski de Lilia ist.12 Die angeführten Kanal- und Straßenbefunde sind zwar nur punktuelle Auf- schlüsse, passen aber gut in den Gesamtplan des Legionslagers bzw. bilden nicht unwesentliche Bestandteile der Grundrissrekonstruktion.

Die Befunde der Grabung 1953 im Haus Am Hof 9 Die Befunde der Grabung im Jahr 1953 im Haus Am Hof 9 (GC 1953_02) wer- den hier detaillierter besprochen, da es sich um die der Grabung 2008/09 be- nachbarte Fundstelle handelt und damit die entsprechenden Ergebnisse unmit- telbar miteinander in Beziehung gesetzt werden können. Auch wenn damals nur in geringem Maße Schichtabfolgen bzw. stratigraphi- sche Beziehungen berücksichtigt wurden, so geben die dokumentierten Be- funde doch wichtige Aufschlüsse über den erhaltenen Zustand der römischen Umfassungsmauer entlang des während der Römerzeit im Westen des Le- gionslagers vorbeifließenden Ottakringer Baches. Zum Teil gut erhalten zeigte sich der Kanal entlang der via vallaris,13 letztere konnte allerdings nur in einem schmalen Abschnitt im Südosten des Grundstücks festgestellt werden.

Lagermauer Nach den Beschreibungen, Planaufnahmen und Fotos (Abb. 2–4) von A. Neu- mann14 zeigte sich entlang des westlichen Randes der Parzelle an sechs von jüngeren Einbauten ungestörten Stellen eine zum Tiefen Graben hin abfallende

Böschung (A1–A6). Die Beschreibung dieses Befundes lässt aber einige Fragen offen. Neumann interpretierte die Böschung als künstlich angelegt, indem über einem Mauerfundament eine weitere, schräg gestellte Mauerung aus Bruch- steinen und Kalkmörtel geschaffen und an der Außenseite verputzt worden sei (Abb. 2,2 A3). Inwieweit der gewachsene Boden darunter sich Richtung Tie- fen Graben senkt, ist nicht dokumentiert. Nach den Fotoaufnahmen (Abb. 3) lässt sich allerdings der Eindruck gewinnen, dass es sich bei der „geböschten“ 12 Unter Umständen verwechselt mit dem oben erwähnten, im Jahr 1902 aufgefundenen Mauer eher um einen abgerutschten oder gekippten Teil der Legionslager- Anbau nahe der porta decumana. mauer handelt, wobei nach der Profilzeichnung Abb. 2,2 zumindest ein Teil 13 Ein Teilstück des Kanals ist noch heute im des originalen Fundamentabschnitts der Lagermauer auf einer erhaltenen Brei- Keller der Feuerwehrzentrale Am Hof 9 in ei- 15 nem Schauraum des Wien Museums zu be- te von 1,80 m und einer Höhe von 0,50 m noch vorhanden war. Die Unter- sichtigen. Darüber hinaus enthält dieser Raum kante dieses Fundaments wäre etwas mehr als 4 m unterhalb der damaligen eine nach 1953 eingerichtete Foto- und Plan- Oberfläche (ca. 14 m über Wr. Null?)16 zu suchen. In weiterer Folge wurde dokumentation der Grabung, mittelalterliche Keramikfunde, eine vollständige tegula und ein 0,80 m breites (lehmgebundenes?) Bruchsteinfundament an die Ostseite die Kopie eines römischen Kanaldeckels. der schräg gestellten Mauer angebaut, welches Neumann als mittelalterlich 14 Neumann 1967, 12–15 Abb. 3–5 Taf. I 1. einstufte (Abb. 2,2 h). Ein an diese Mauern anschließender Erdwall wurde of- 15 Neumann führte auch in weiterer Folge aus, dass die Flucht dieser Böschung wohl ei- fensichtlich nicht angetroffen, wobei zwischen dem Mauerbefund A6 und nem spätrömischen Verlauf der Legionslager- dem dokumentierten Zwischenturm B ein 0,50 m breiter Streifen ungestörten mauer entspräche, die später abgetragen gewachsenen Bodens bestand (siehe Abb. 2,1). Es fehlte also zumindest im und durch die gemauerte Böschung ersetzt worden wäre; Neumann 1967, 13. Fundamentbereich eine Verbindung zwischen dem Turm und der in der Linie 16 Vom heutigen Platzniveau vor Am Hof 9 A1–A6 anzunehmenden Legionslagermauer. aus gerechnet (ca. 18 m über Wr. Null).

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Abb. 2: Ausgrabungen in Wien 1, Am Hof 9 im Jahr 1953. 1 – Grabungsplan, 2 – Nordprofil zu Lagermauer und Kanal der via vallaris, 3 – Südprofil zu Kanal und Straßenkörper der via vallaris. (nach Neumann 1967, Abb. 3; 4; 6)

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Zwischenturm Knapp an der Feuermauer zum Haus Am Hof 10, etwa 2 m von der SW-Ecke der Grabungsfläche (Schnitt 10) des Jahres 2009 entfernt, kamen Überreste eines Zwischen- turms der Legionslagermauer zutage (Abb. 2,1 B).17 Die- ser bestand aus einem 1 m hohen Gussmauerwerkfunda- ment (UK ca. 14,35 m über Wr. Null), aus bis zu fünf Lagen von teilweise in opus-spicatum-Technik gesetzten Bruch- steinen, das 0,25–0,30 m gegenüber dem aufgehenden Mauerwerk vorsprang. Die Turmreste setzten sich aus drei im rechten Winkel zueinander stehenden und offensichtlich ohne Baufuge aneinandergesetzten Mauern zusammen, deren Verbindung zur Lagermauer, wie oben erwähnt, un- terbrochen bzw. im Fundamentbereich offensichtlich nie vorhanden war. Das Fundament hatte eine Breite von 1,50–2 m und Außenmaße von 6,906erh. 3 m. Der Raum im Turminneren zeigte eine Grundfläche von 3,506erh.

1,50 m, dürfte aber ursprünglich wohl 3,5062 m betragen Abb. 3: Ansicht der abgerutschten oder gekippten Lagermauer A3 im Be- haben. Nach der Fotodokumentation bestand der aufge- reich der Baustelle Wien 1, Am Hof 9 im Jahr 1953, Blickrichtung Norden. (Foto: Wien Museum, Inv.-Nr. 16013/34) hende Teil aus Bruchsteinen in massiver Kalkmörtelbin- dung. Die Mauerstruktur ist dadurch und aufgrund starker Störungen kaum auszumachen. Das Aufgehende dürfte aber ca. bis 1 m hoch erhalten gewesen sein.

Kanal der via vallaris (Abb. 2 und 4) Etwa 4,80–5 m von der Lagermauer entfernt, folgte in der südlichen Hälfte der Hausparzelle parallel zur Lagermauer der Abwasserkanal entlang der via valla- 17 Neumann 1967, 12 Abb. 3 Ba–c;5Bc; 18 ris. Zwischen Kanal und Lagermauer darf in etwa dieser Breite zum Zeitpunkt Taf. I 2. – der Errichtung des Legionslagers am Ende des 1. Jahrhunderts n. Chr. ein 18 Neumann 1967, 21 23. 19 Im nördlichen Bereich des Grundstücks Erdwall angenommen werden, wie er weiter nördlich in Schnitt 10 im Jahr Am Hof 9 scheint die erhaltene westliche 2009 tatsächlich dokumentiert werden konnte (siehe unten). Der Kanal be- Bruchsteinmauer des Kanals breiter zu sein (siehe Abb. 2,1). Evtl. hängt dies mit einer dar- stand aus zwei 0,60–0,80 m breiten Seitenmauern aus Bruchsteinen in Kalk- übergesetzten spätrömischen Mauer zusam- 19 mörtelbindung und einer dazwischenliegenden, mit tegulae der 13. Legion men, die ausgerissen weiter nördlich als östli- ausgekleideten Sohle, wobei im Regelfall jeweils zwei tegulae mit den Leisten che Gebäudegrenze 2008/09 rekonstruiert werden konnte (siehe unten). nach oben nebeneinandergesetzt wurden (Abb. 4). Die äußeren Leisten blie- 20 Der Wert konnte durch einen Nivellement- ben hingegen eingemauert unter den Seitenmauern unsichtbar. Die Sohle hatte zug am 16.3. 2005 durch Mitarbeiter der eine unterschiedliche Breite von 0,60 bis 1 m. Die Kanalsohle des noch im Stadtarchäologie Wien (W. Chmelar, Ch. Rei- singer, M. Mosser) ermittelt werden. Schauraum des Wien Museums ausgestellten Teilstücks liegt bei 13,50 m über 21 Die (ungefähren) Niveauwerte der Kanal- 20 Wr. Null, also ca. 4,50 m unterhalb des Platzniveaus vor Am Hof 9. Dieser sohlen im Bereich der südlichen Lagermauer Wert ist um 12 cm niedriger als jener des nächstgelegenen, im Jahr 2009 frei- würden beim Teilstück Bognergasse 7 (Tab. 21 1 Nr. 6; Niv. 13,30 m über Wr. Null) eine Fort- gelegten Teilstücks in Schnitt 10 (13,62 m über Wr. Null). Dies zeigt, dass das setzung des Kanalverlaufs Richtung östlichen Gefälle des Kanals Richtung Süden verläuft. Etwa in der Mitte der Parzelle Am Lagergraben nahelegen; der angenommene Hof 9 schwenkte der Kanal um 3,60 m parallel verschoben Richtung Osten, um Wert von 14 m über Wr. Null im Bereich Am Hof 4 (Tab. 1 Nr. 7) würde allerdings dagegen sich dann ca. 7,50 m von der Lagermauer entfernt Richtung porta principalis sprechen, da er 0,50 m höher liegt als im Be- sinistra fortzusetzen. Der Grund für die Änderung des geradlinigen Verlaufs reich Am Hof 9.

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des Abwasserkanals sollte durch die Grabungen im Jahr 2009 ersichtlich werden.

Via vallaris Circa 12 m von der westlichen Legionslagermauer ent- fernt, wurde im Südosten der Parzelle ein kurzes Teilstück der via vallaris freigelegt und auch durch eine Profilzeich- nung dokumentiert (Abb. 2,1 D und 2,3 D).22 Die unterste Schichtung bestand nach A. Neumann aus einem „festen Konglomerat von Steinen, Sand und Erde“, auf dem sich eine Lage Schotter befand. Diese Beschreibung deckt sich mit der Befundsituation zur untersten Lage der via val- 23 Abb. 4: Teilstück des Kanals der via vallaris im Bereich der Ausgrabungen laris in Schnitt 5 aus dem Jahr 2007 und in Schnitt 11 im in Wien 1, Am Hof 9 im Jahr 1953, Blickrichtung Westen. (Foto: Wien Mu- Jahr 2009 (siehe unten). Sie lag ca. 3 m unter der Oberflä- seum, Inv.-Nr. 16013/19) che, d. h. bei ca. 15 m über Wr. Null. Bei der nur wenige Meter weiter südlich dokumentierten untersten Straßenschotterung in Schnitt 5 lag die Oberkante bei 14,86–15,13 m über Wr. Null, 35 m weiter nach Norden steigt dieselbe Schotterung auf 15,30–15,50 m über Wr. Null (Schnitt 11). Pa- rallelen zeigt auch der weitere Befund Neumanns: Über den untersten Schot- terlagen folgten zwei weitere Schotterschichten, eine Brandschicht, eine 14– 16 cm hohe Schuttschicht aus Ziegelbruch, Steinen und Kalkmörtel, eine dün- ne Erdschicht und schließlich als jüngster erhaltener Straßenbelag eine 10– 12 cm hohe Kieslage.

Zusammenfassung Von den 1953 aufgedeckten Baustrukturen des römischen Legionslagers konnten bei den jüngsten Grabungen Am Hof Verlauf und Gefälle des Abwas- serkanals bestätigt und weiter verfolgt sowie Aufbau, Breite und Verlauf der via vallaris exakter bestimmt werden. Auch wenn bei den Untersuchungen 2008/09 die Lagermauer nicht erfasst werden konnte, so ergaben sich trotz- dem Indizien für deren ursprünglichen Verlauf, welche Rückschlüsse auf den schwer zu interpretierenden Befund an der Abbruchkante zum Tiefen Graben zulassen (siehe unten).

Die Grabungen der Jahre 2008/09 im Haus Am Hof 10 (Abb. 5) Auch wenn im Detail feinchronologische Unterscheidungen erst in einem fort- geschritteneren Stadium der wissenschaftlichen Grabungsaufarbeitung mög- lich sein werden, so zeichnet sich mithilfe einer durch das entsprechende Fund- material unterstützten Stratigraphie für die Befunde im westlichen Intervallum des Legionslagers Vindobona eine Abfolge von Baumaßnahmen ab, die grob in vier Phasen eingeteilt werden kann. Die ersten beiden Phasen sind chrono- logisch der Mittelkaiserzeit zuzuordnen und sind durch die Errichtung des Erdwalls an der Innenseite der Lagermauer und den Bau des Abwasserkanals charakterisiert. Zwischen Wall und via vallaris war zunächst eine Backstube

22 Neumann 1967, 22 Abb. 6 D. festzustellen, welche in der darauffolgenden Phase einer Abfolge von massiven 23 Jandl/Mosser 2008, 12 f. Abb. 8. Pfostengruben weichen musste. In spätrömischer Zeit standen nach Abtra-

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Abb. 5: Wien 1, Am Hof 10 – Bauphasenplan von Intervallum und via vallaris im Legionslager Vin- dobona. (Plan: M. Mosser) gung des Erdwalls entlang der Lagermauer zwei Gebäude, in welchen zumin- dest zwei weitere Bauphasen unterschieden werden können, wobei einzelne Räume T- bzw. Y-förmige Schlauchheizungen aufwiesen.

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Mittelkaiserzeit – Phase 1 (Abb. 6) Die früheste Struktur entlang der westlichen Legionslagermauer war der zur Befestigungsanlage zu zählende Erdwall, der erstmals im Lager Vindobona – zumindest in einem schmalen Abschnitt auf einer Länge von knapp 5 m und einer erhaltenen Breite von ca. 1,70 m – wissenschaftlich dokumentiert werden konnte. Es handelte sich dabei um den befestigten, geschichteten östlichen Randbereich des Walls, der aus unregelmäßig gesetzten, ockergelben und dunkelbraunen Lehmziegeln bestand. Die Lehmziegel waren so dicht gesetzt, dass die Abgrenzungen untereinander kaum zu erkennen waren, nur die farb- liche Unterscheidung ließ die Struktur erahnen (Abb. 7), wobei der größte er- kennbare Lehmziegel Maße von 30620610 cm aufwies. Die Befestigung war ca. 0,50 m hoch erhalten (OK 16,33, UK 15,85 m über Wr. Null) und von dünnen, graubraunen Erdschichten oder von Lagen aus kleineren Bruchstei- nen und Tegelbrocken durchzogen. Die dunklen Schichten könnten dabei auf Holzbretter hinweisen, die regelmäßig zwischen je einem Block aus Lagen von Lehmziegeln gelegt wurden. Die gesamte Wallkonstruktion wurde auf eine großflächige, 0,20–0,30 m hohe Brandschuttlage gesetzt, die vor der Errich- tung des Erdwalls offensichtlich zwischen via vallaris und Lagermauer aufge- bracht worden war. Diese Planierung enthielt zahlreiches Fundmaterial und nach einer ersten Durchsicht dürfte der Datierungsrahmen der Keramik zumin- dest nicht mehr in die zweite Hälfte des 2. Jahrhunderts n. Chr. reichen. Inwie- weit dieser Horizont tatsächlich einen geeigneten Fundkomplex für die Errich- tungszeit des Legionslagers am Ende des 1. Jahrhunderts darstellt, muss erst die weitere Aufarbeitung zeigen.24 In den übrigen Abschnitten der Grabungsfläche im Westtrakt des Hauses Am Hof 10 waren keine Reste des Erdwalls mehr vorhanden, da in spätrömischer Zeit für die Errichtung der Gebäude an der Lagermauer der Wall vollständig be- seitigt worden war. Doch unterhalb der spätrömischen Gehniveaus kamen 10 bis 20 m weiter nördlich, in der Flucht der östlichen Wallbegrenzung, die noch erhaltenen Reste von drei eher flachen Gruben mit jeweils ca. 1 m Durchmesser zum Vorschein, die flavisch-trajanische Keramik enthielten. Zwei der drei Gru- ben, die wohl noch vor Errichtung des Walls angelegt worden waren, waren zu- 24 Für die erste Sichtung danke ich K. Adler- Wölfl (Stadtarchäologie Wien) und M. Kronber- dem mit Kalkmörtel ausgestrichen. ger (Wien Museum). Eine ähnliche Wallanlage wie in Vindobona beschreibt Philip Crummy für das 25 Ph. Crummy, Colchester (Camulodunum/ Holz-Erde-Lager von Camulodunum/Colchester aus dem 1. Jahrhundert Colonia Victricensis). In: Webster 1988, 29 f. Viele, v. a. ältere Befestigungssysteme von n. Chr. Nach Crummy bestand die Außenverkleidung des auf eine Holzlage ge- Holz-Erde- und frühen Steinlagern zeigen Erd- setzten Erdwalls von Camulodunum aus geschichteten, sonnengetrockneten, wälle in Holzkastenkonstruktionen eingebettet sandigen Lehmblöcken unterschiedlicher Größe, allerdings mit einer gleich- und von Wallstützmauern innen abgegrenzt. 25 In Vindobona konnte bisher weder eine Holz- bleibenden Dicke von 10–12 cm. Gut vergleichbar ist auch die etwa 1 m di- kastenkonstruktion noch eine Wallstützmauer cke Außenbefestigung des Erdwalls aus verschieden großen Lehmziegeln im nachgewiesen werden, obwohl durchaus ent- sprechende Beispiele aus trajanisch-hadriani- Legionslager Argentorate/Straßburg, die den schottrigen Kern des vallum um- 26 schen Kastellen existieren; vgl. Gugl/Kastler gibt. Daher ist die Möglichkeit nicht auszuschließen, dass auch westlich der 2007, 53 mit weiterer Literatur. Wallbefestigung im Bereich der Grabung Am Hof ursprünglich ein Kern aus an- 26 Unpubliziert; freundl. Mitteilung G. Kuhnle (Straßburg); vgl. auch die Rekonstruktionsver- derem Erd- oder Schottermaterial bestanden hatte. Der Erdwall im frühen Holz- suche bei LeQuesne 1999, 90 f. Fig. III 81–83. Erde-Legionslager der Periode 1 in Carnuntum bestand aus umgelagertem

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Abb. 6: Wien 1, Am Hof 10 – Bauphase 1 und 2 mit Backstube und Pfostengruben im westlichen Intervallum des Legionslagers Vindobona. (Plan: M. Mosser)

Lehm mit Kieseln, der offensichtlich vom Aushub des vorgelagerten Graben- systems stammte.27 Nach der Konsistenz der ockergelben und dunkelbraunen Lehmblöcke aus dem vallum von Vindobona zu schließen, dürften auch diese aus dem anstehenden gelben Löss und der darüber folgenden humosen - 27 Gugl/Kastler 2007, 33; 52 f. Abb. 16.

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Abb. 7: Wien 1, Am Hof 10 – Reste des Erdwalls im Hintergrund, des Präfurniums (?) der Phase 3 im Vordergrund sowie rechts der aufgehenden Lehmkuppel des südlichsten der vier Backöfen der Phase 1, Schnitt 10, Blickrichtung Westen. (Foto: M. Mosser)

kelbraunen Vegetationsschicht produziert worden sein.28 Das Material würde dann am ehesten vom Aushub für die Baugrube der westlichen (steinernen) Le- gionslagermauer stammen, da aufgrund der Plateaulage unmittelbar am Otta- kringer Bach an der Westseite des Lagers kein Graben ausgestochen werden musste. Wie folgende Tabelle zeigt, kann für Vindobona die nicht erhalten gebliebene Breite des ursprünglichen Erdwalls etwa auf 3 bis 6,20 m eingeengt werden, wobei ein Wert zwischen 4 und 6 m wie in den vergleichbaren Legionslagern von Straßburg, Carnuntum, Isca/Caerleon oder Inchtuthil am wahrscheinlichs- ten scheint.29 Jedenfalls hat dies Auswirkungen auf die Rekonstruktion des Verlaufs der westlichen Umfassungsmauer, wie weiter unten noch ausgeführt werden wird.

Legionslager Breite des Erdwalls Literatur Lindum/Lincoln 3 m M. Jones in: Webster 1988, 149 Fig. 7.2 (1a–b). Camulodunum/Colchester 3,80 m Crummy (Anm. 25) 29–31. Inchtuthil 3,96–5,18 m Pitts/St. Joseph 1985, 60. Carnuntum 4–4,80 m Gugl/Kastler 2007, 35; 53 Abb. 16. Isca Dumnoniorum/Exeter 4,75–5,30 m (16–18 Fuß) Ch. Henderson in: Webster 1988, 105. Viroconium/Wroxeter 5 m (15 drus. Fuß) Webster 1988, 125. Argentorate/Straßburg 5,20 m unpubl. (freundl. Mitteilung G. Kuhnle) Deva/Chester 5,80–6,20 m LeQuesne 1999, 74. 28 Dass beim Befestigungsbau auf das lokal Isca/Caerleon 5,85 m LeQuesne 1999, 74 Anm. 6. verfügbare Erdmaterial zurückgegriffen werden Tab. 2: Breite des Erdwalls in ausgewählten römischen Legionslagern. soll, wurde auch von Vitruv empfohlen: Vitr. I, V, 8. 29 Nach Jones (Anm. 7) 69 f. Fig. 14 liegt die Wallbreite bei Kastellen vor 117 n. Chr. Backstube bei 4,60–9,10 m, im Durchschnitt bei ca. 6 m. Zwischen Erdwall und via vallaris konnte eine Backstube, bestehend aus vier 30 Zur Interpretation derartiger Befunde als – Backöfen vgl. Hoffmann 2002, 895; zur Kon- nebeneinandergesetzten, im Grundriss beinahe kreisrunden Öfen (Dm 2,30 30 struktion vgl. Jacobi 1930, 17. 2,50 m) identifiziert werden (Abb. 8). In zahlreichen Kastellen, v. a. in Britan-

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Abb. 8: Wien 1, Am Hof 10 – Steinkränze und Rollierungen der Ofenanlagen in der Backstube der Phase 1 im Intervallum des Legionslagers, Blickrichtung Süden. (Foto: M. Mosser)

31 Im Kastell Saalburg wurden insgesamt 44 solcher Backöfen im Intervallum dokumentiert; Abb. 9: Plan der Backofengruppe C in der Nordwest-Ecke des Kastells Saalburg. (nach Jacobi Jacobi 1930, 8–19. Weitere Beispiele: A. H. A. 1930, Taf. II C) Hogg, Pen Llystyn: A Roman Fort and Other Remains. Arch. Journal 125, 1968, 120–124; Pitts/St. Joseph 1985, 195–200 Fig. 49–53; nien und in den germanischen Provinzen, sind derartige Backofenbatterien an 83–84 Pl. XXXIII A–B; G. C. Boon, The Legio- nary Fortress of Caerleon – Isca (Caerleon verschiedenen Wallabschnitten festzustellen und werden in den meisten Fällen 1987) 46; Webster 1988, 129; Kuhnle et al. 31 in die ersten beiden Jahrhunderte n. Chr. datiert (Abb. 9). 2001, 160–165; Hoffmann 2002, 895 f.; zu Diese über einem Steinkranz aufgebauten Lehmkuppelöfen entstanden auch in Backöfen in der Zivilstadt von Vindobona vgl. S. Jäger-Wersonig/Ch. Öllerer, Wien 3, Schüt- Vindobona bereits während der Errichtungszeit des Legionslagers am Ende zengasse 24 und Rennweg 57. FWien 9, des 1. Jahrhunderts n. Chr. und waren dementsprechend mit zum Teil von 2006, 287 f. Abb. 1; 3. der 13. Legion gestempelten tegulae als Ofenplatten versehen.32 Ein 0,45– 32 Erdwall und Backöfen entstanden offen- sichtlich in einem Bauvorgang, wie der „nahtlo- 0,75 m breites Trockenmauerfundament (einer Lehmziegelmauer?) westlich se“ Übergang von den erhaltenen Lehmkup- der Öfen begrenzte die Backstube gegen den Erdwall. Eine südliche und nörd- pelresten des südlichsten der vier Öfen zu liche Begrenzung des Backraumes konnte nicht festgestellt werden.33 Dage- den Lehmziegeln des Erdwalls beweist. Zum Stationierungszeitpunkt der 13. Legion in Vin- gen scheint eine auf einer Länge von 1,50 m von der Trockenmauer Richtung dobona von 97 bis 101 n. Chr. vgl. M. Mos- Backöfen verlaufende, 0,50 m breite Lehmziegelmauer den Backraum in zwei ser, Die römischen Truppen in Vindobona. Hälften geteilt zu haben. Zehn in gleichmäßigen Abständen an den Rand der FWien 8, 2005, 128–134. – 33 Der Backraum könnte durchaus nach drei Öfen gesetzte Pfostenlöcher (Dm ca. 0,30 0,35 m) geben einen Hinweis auf ei- Seiten hin offen gewesen sein; vgl. Jacobi ne einfache Holzkonstruktion, welche zur Überdachung der Backstube diente. 1930, 11.

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Abb. 10: Wien 1, Am Hof 10 – Südlichste der vier Pfostengruben mit Steinverkeilung im Intervallum des Legionslagers. Schnitt 8, Blickrichtung Süden. (Foto: M. Mosser)

Die Arbeitsfläche vor den Backöfen war nicht mehr vorhanden, da dieser Be- reich durch spätere Baumaßnahmen zerstört worden war.34 Insgesamt hatte die Backstube entlang der via vallaris eine Länge von mindestens 10 m und ei- ne Breite von ca. 4,20 m.35 In der älteren Forschung wies man diese Backöfen jeweils einer Zenturie zu,36 doch ist deren Lage innerhalb der Kastelle zu unregelmäßig, ohne bestimmte Anordnungsmuster und oft nur auf gewisse Bereiche des Intervallums konzen- triert. Das heißt die Backöfen dürften allgemein den Legionssoldaten für die un- mittelbare Brotversorgung gedient haben, wobei durchaus noch mehr Varian- ten der Versorgung bestanden haben werden, wie letztlich das Schleifen der Backöfen im Intervallum spätestens am Ende des 2. Jahrhunderts nahelegt.37

Mittelkaiserzeit – Phase 2: Pfostengruben (Abb. 6) Vor einer differenzierten Auswertung des Fundmaterials muss die Frage nach der Benutzungszeit dieser Backofenbatterie noch unbeantwortet bleiben. Ge- sichert ist, dass spätestens im 3. Jahrhundert n. Chr. eine mächtige Pfosten- grube den Steinkranz des nördlichsten der vier Öfen schnitt bzw. störte. Diese

34 Als Beispiele für vollständig erhaltene Pfostengrube gehörte zu einer Reihe von mindestens drei weiteren Pfosten, die Grundrisse derartiger Backöfen mit vorgesetz- auf einer Länge von 15 m im nördlichen Teil der Grabungsfläche parallel zum ter, ca. quadratischer Plattform vgl. Pitts/St. Kanal der via vallaris bzw. zur Legionslagermauer angetroffen wurden. Die Ab- Joseph 1985, 195–199 Fig. 49–52 (Ofen 42, 43 und 53); vgl. auch Kuhnle et al. 2001, stände zwischen den Pfosten waren unterschiedlich groß; sie betrugen zwi- 160–165. schen jeweils zwei Pfosten 3,50 und 4 m. Eventuell könnten noch zwei weitere 35 Vgl. eine ähnliche Backofengruppe in der Pfostenstellungen in tief reichenden mittelalterlichen bzw. neuzeitlichen Störun- NO-Ecke des Kastells Saalburg (Backofen- gruppe C), die einen Raum von 1063,10 m gen vermutet werden, doch südlich der Backofenanlage sind sie mit Sicherheit einnahm und von einer niedrigen Trocken- auszuschließen. Es handelte sich dabei um im Durchmesser bis zu 1,40 m gro- mauer eingefasst war; Jacobi 1930, 11 f. – – Abb. 3 Taf. II C. Das Backhaus im Legionsla- ße und 0,50 0,80 m tiefe Gruben, an deren Sohle noch einmal 0,40 0,50 m ger Argentorate/Straßburg umfasste 14,806 tiefe Pfostenlöcher feststellbar waren (Gesamttiefe bis zu 1,20 m), wobei darin 4,40 m; Kuhnle et al. 2001, 160. eingesetzte große Bruchsteine die Verkeilung der Pfosten anzeigten (Abb. 10). 36 Vgl. Pitts/St. Joseph 1985, 200. 37 Zur Diskussion siehe Hoffmann 2002, Das Interface lässt auf im Querschnitt quadratische bis rechteckige Hölzer von 895 f. mindestens 0,20 m bis maximal 0,33 m Seitenlänge schließen. Das jeweilige

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Abb. 11: Wien 1, Am Hof 10 – Bauphase 3 mit Resten des spätrömischen Gebäudes an der west- lichen Legionslagermauer. (Plan: M. Mosser)

Verfüllmaterial enthielt äußerst wenig, aber jedenfalls kein spätantikes Fundma- terial. Die Pfostenreihe verlief etwa 1,80 m von der angenommenen östlichen Wallbegrenzung und etwa 1,20 m vom Kanal der via vallaris entfernt. Zu ihrer Funktion lassen sich beim derzeitigen Aufarbeitungsstand folgende Schlüsse

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ziehen: Es muss sich um eine Holzkonstruktion handeln, die nur auf einem be- stimmten, mindestens 15 m langen Abschnitt im Intervallum errichtet wurde. Ob der Erdwall entlang dieser Konstruktion zur gleichen Zeit noch vorhanden war, ist aufgrund der späteren Einbauten nicht zu eruieren. Bei dem vorhande- nen vallum ist an einen (zweigeschoßigen?) gedeckten Gang bzw. eine Portikus mit 1,80 m Breite zu denken, der/die eventuell gewerblich genutzt wurde oder als Magazin diente. Im anderen Fall – bei einer Abtragung des Erdwalls in die- sem Abschnitt – könnten die Pfostengruben Relikte eines hölzernen Vorgän- gerbaus des späteren steinernen Gebäudes entlang der Lagermauer darstel- len. Dafür könnte auch sprechen, dass südlich, außerhalb des spätrömischen Gebäudes, keine weiteren Pfosten mehr nachzuweisen sind.

Spätrömische Zeit – Phase 3: Wallverbauung (Abb. 11) Wenn nicht bereits zuvor im Zusammenhang mit den mächtigen Pfostenstel- lungen der zweiten Bauphase, so wurde spätestens mit der Errichtung von Ge- bäuden an der Innenseite der Legionslagermauer (ca. ab Ende des 3. Jh. n. Chr.?) der Wall abschnittsweise abgetragen. Diesen ersetzte man durch lang- rechteckige Bauten, wobei jener Am Hof identifizierte eine Länge von über 22 m aufwies. Dieses Gebäude war durch 0,40–0,50 m breite und ca. 0,40 m hohe Bruchsteinfundamente mit 0,30–0,40 m hohem, aufgehendem Steinmauerso- ckel38 (OK Fundament: 16,05–16,10 m über Wr. Null) in mindestens drei 6,50– 6,80 m lange Raumeinheiten gegliedert (Abb. 12). Südliche, nördliche und öst- liche Abschlussmauern des Gebäudes waren nur noch in Form von Ausriss- gräben rekonstruierbar.39 Die beiden nördlichen Raumeinheiten wiesen eine (Mittel?-)Achse in Form von 0,40–0,60 m breiten bzw. 0,25–0,40 m hohen Bruchsteinfundamenten für, allerdings nicht erhaltene, aufgehende Lehmzie- gelmauern auf. Die Breite der beiden östlich anschließenden, an der via vallaris gelegenen Räume betrug ca. 3,30 m. Sie waren sowohl mit Mörtelestrichen als auch mit Lehmstampfböden und vereinzelt mit Ofenanlagen ausgestattet. Res- te von Lehmziegelreihen deuten auf weitere Raumgliederungen hin. Die Räume westlich der Mittelachse dürften unmittelbar an die Lagermauer gegrenzt ha- ben, lagen aber zum Großteil außerhalb des Grabungsbereiches. In der dritten, im Süden anschließenden Raumeinheit fehlte die Mittelachse. Eine Abfolge von zahllosen Ascheschichten und verbrannten Lehmplanierungen zusammen mit 38 Auffallend war die geringe Anzahl an Zie- im Fundamentbereich erhalten gebliebenen großen Ofenanlagen (bis gelbruch, der bei der Errichtung der spätrömi- 1,5061,70 m im Grundriss) weisen diesen als großen Werkstattraum aus. schen Mauern Verwendung fand. Dieser ist bei neu errichteten spätantiken Räumen im Be- Da nahezu keine Schlacke oder entsprechende Halbfabrikate gefunden wur- reich der Kasernen des Legionslagers ansons- den, ist zumindest Metallverarbeitung oder Glasproduktion für diese Werkstät- ten ein wichtiges Datierungskriterium; vgl. M. te vorerst auszuschließen. Mosser et al., Die römischen Kasernen im Le- gionslager Vindobona. Die Ausgrabungen am Das Fundmaterial aus jenen der Phase 3 zugeordneten Befunden dieses Ge- Judenplatz in Wien in den Jahren 1995– bäudes zeigt nur selten typisch spätrömische Artefakte, sondern hauptsächlich 1998. MSW 5 (in Vorbereitung) Kap. 6.1.1. 39 Die östliche Gebäudemauer war ur- mittelkaiserzeitliche Altfunde, wie u. a. eine Waschschüssel, Reibschüsseln, sprünglich etwas versetzt unmittelbar auf die Pannonische Glanztonware,Tardopadana und mittelgallische Sigillata oder ita- westliche Seitenmauer des Abwasserkanals lische Feinware (Fabrikat E). Spätrömische Keramik ist vornehmlich anhand der via vallaris gestellt worden; vgl. auch Anm. 19 mit dem Befund der Grabung Wien des Scherbentyps bei reduzierend gebrannter Ware zu identifizieren, wie ein 1, Am Hof 9 im Jahr 1953. Wandstück aus dem untersten Fundamentbereich der Mauer in der Mittelach-

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Abb.12:Wien1,AmHof10– Bruchsteinfundamente und aufgehende Steinsockel (Vordergrund/ Hintergrund) der Mauern der dritten Bauphase sowie Seitenmauern des mittelalterlichen Abwas- serkanals (Mitte). Schnitt 8, Blickrichtung Süden. (Foto: M. Mosser)

se des Gebäudes oder zwei weitere Wandstücke mit Glättspuren aus Lehmbö- den der dritten Bauphase.40 Südlich dieses langgestreckten Gebäudes folgte auf einer Länge von 3,30 m ein unverbauter Abschnitt an der Lagermauer, der noch die oben beschriebe- nen erhaltenen Reste des Erdwalls aufwies. In der dritten Bauphase wurde öst- lich dieses erhaltenen Wallabschnitts, nahe an der via vallaris, eine Ofenanlage aus Lehmziegeln errichtet, die allerdings nur noch im zerstörten Zustand doku- mentiert werden konnte (Abb. 7). Innerhalb der Anlage fand sich ein Wandfrag-

ment eines Trierer Spruchbechers aus dem 3. Jahrhundert n. Chr. Diese 40 Freundl. Mitteilung K. Adler-Wölfl. Feuerstelle dürfte als praefurnium einer Y-förmigen Kanalheizungsanlage an- 41 Typ LRG 27 nach T. Cvjetic´ anin, Late Ro- zusprechen sein, die im südlich anschließenden Gebäude entlang der Legions- man Glazed Pottery: Glazed Pottery from Moe- sia Prima, Dacia Ripensis, Dacia Mediterranea lagermauer in Ansätzen anzutreffen war. In der Verfüllung der beiden Kanal- and Dardania, National Museum in Belgrade. stränge konnte bereits typisch spätantike Keramik wie Einglättware oder eine Arch. Monogr. 19 (Belgrade 2006) 34–39; 138–142; vgl. auch V. Gassner, Late Roman verbrannte, gut erhaltene glasierte Schale mit Horizontalrand festgestellt wer- Lead-glazed Pottery at Carnuntum. Contexts 41 den. Dieser spätrömische Bau konnte nur noch auf 1,80 m Länge und and Chronology. In: Ch. Magrini/F. Sbarra (a 4,70 m Breite erschlossen werden. Außer Resten von Lehmstampfböden cura di), La ceramica invetriata tardoromana nell’arco alpino orientale e nelle province danu- und einer schmalen Lehmziegelreihe einer Zwischenmauer waren innerhalb biane. Atti del I incontro Internazionale di Ar- dieses Gebäudes keine weiteren Befunde erhalten, da die mittelalterlichen cheologia a Carlino, Carlino 14–15 dicembre Befunde (siehe Beitrag I. Gaisbauer/M. Mosser, 233 ff.) sowohl die wohl ur- 2007 (Carlino 2009) 54 Taf. 3,3; Dat.: Mitte 4.–Anf. 5. Jh. n. Chr. sprünglich vorhandenen Mauerzüge als auch alle Bodenniveaus der nachfol- 42 Ein Centenionalis aus der Zeit des Valen- genden vierten Bauphase zerstörten. tinian I. (364–375 n. Chr.) unmittelbar an der Oberkante der nördlichen der beiden erhalte- – nen Ost-West orientierten Mauerzüge (Schnitt Spätrömische Zeit Phase 4: Umbaumaßnahmen (Abb. 13) 8) deutet auch auf eine Neuerrichtung der auf- Die letzte große Umbauphase (in valentinianischer Zeit?) im Bereich des inter- gehenden Lehmziegelmauern über den Stein- vallum ist durch massive Veränderungen an der Innengliederung des großen fundamentsockeln der dritten Bauphase; für 42 die vorläufige Bestimmung der Münzen der spätrömischen Gebäudes an der Lagermauer gekennzeichnet. Im nördlichs- Grabung Am Hof danke ich C. Litschauer ten Abschnitt hatte ein Kellereinbau des Bürgerlichen Zeughauses aus dem 16. (Stadtarchäologie Wien).

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Abb. 13: Wien 1, Am Hof 10 – Bauphase 4 mit Resten des spätrömischen Gebäudes an der west- lichen Legionslagermauer. (Plan: M. Mosser)

Jahrhundert die Bodenniveaus der jüngsten spätrömischen Phase gestört. Aus dem erhalten gebliebenen Bereich des Gebäudes war abzulesen, dass zu- nächst die Mittelachse der dritten Bauphase aufgelöst wurde. Die nördliche der beiden dokumentierten Raumeinheiten erhielt eine gegenüber der Phase

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Abb. 14: Wien 1, Am Hof 10 – Lehmziegelmauer innerhalb des spätrömischen Gebäudes der 4. Bauphase im Intervallum des Legionslagers. Schnitt 8, Blickrichtung Süden. (Foto: M. Mosser)

3 nach Osten versetzte, bis zu drei Lagen hoch erhaltene, zweimal abgewinkel- te, 0,45 m breite Lehmziegelmauer (Abb. 14; OK 16,50 m über Wr. Null), die auf einen massiven Mörtelestrich gesetzt war (OK 16,15 m über Wr. Null). Durch die Lehmziegelmauer entstanden symmetrisch angeordnete Nischen, in wel- chen auch Reste von Ofenanlagen festzustellen waren. Eine eindeutige Funk- tionsbestimmung dieser neu angelegten Räumlichkeiten ist vorerst noch nicht möglich. Der südlich anschließende Raum erhielt hingegen eine T-förmige Schlauchheizung, gemauert aus Lehmziegeln, Bruch- und Flusssteinen sowie Ziegelbruch (Abb. 15). Das dazugehörige Gehniveau wurde für den Bau der Heizanlage gegenüber der vorangegangenen Bauphase um ca. 0,60 m ange- hoben und war in Form eines Mörtelestrichs (OK 16,70 m über Wr. Null) nur noch rudimentär vorhanden. In der Planierung für diesen Estrich konnte spät- römische Keramik in Form einer reduzierend gebrannten bikonischen Schüssel mit ausgebogenem Rand sowie Einglättware festgestellt werden. Innerhalb der Verfüllung der Schlauchheizung befand sich eine Ansammlung von 23 Münzen der ersten und zweiten Hälfte des 4. Jahrhunderts n. Chr.43 Als Altfund aus ei- ner Planierung über dem Gehhorizont der vierten Bauphase innerhalb des spät- römischen Gebäudes ist ein Fingerring aus Gold zu werten. Dieser besitzt am Kopf eine Einlage in Form einer Gemme, in welche eine männliche Figur geritzt ist (Merkur?). Typologisch entspricht der Ring mit leicht verbreitertem Kopfteil der Form I/b nach Annamária Facsády und würde demnach in die zweite Hälfte des 2. Jahrhunderts n. Chr. datieren.44 Im Unterschied zur Befundlage im Bereich der Kasernen oder der fabrica des Legionslagers Vindobona45 konnten bei den Gebäuden entlang der Lager- 43 Eine genaue Auswertung der Münzen mauer keine typischen Verfalls- oder Versturzhorizonte des 5. Jahrhunderts steht noch aus. und nur an wenigen Stellen die sog. Schwarze Schicht festgestellt werden, 44 A. Facsády, Jewellery in Aquincum. Az was offensichtlich hauptsächlich auf Planiermaßnahmen im Zuge der Errich- Aquincumi Múzeum gyu˝ jteménye 1 (Budapest 2009) 36; 42 Tab. 1 I/b; 91 Nr. 2–3. tung des jüdischen Viertels im Hochmittelalter zurückzuführen ist, welchen die- 45 Vgl. Jandl/Mosser 2008, 18 f. 29–31 se Horizonte konsequent zum Opfer gefallen sind. Abb. 10; 19; 31–32.

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Kanal und Straßenkörper der via vallaris Abwasserkanal Über den gesamten Grabungsabschnitt konnte der Verlauf des Kanals der via vallaris an insgesamt fünf Stellen auf ei- ner Länge von ca. 30 m mit einem Gefälle von 6 cm (von 13,68 m im Norden bis 13,62 m über Wr. Null im Süden) verfolgt werden.46 Wie oben ausgeführt, war dieser unter- halb des südlich benachbarten Hauses Am Hof 9 bereits 1953 aufgedeckt worden und ist somit nun auf einer Länge von über 60 m bekannt. Der Schwenk des Kanals weg vom Verlauf entlang des Erdwalls zu einem größeren Ab- stand von der Lagermauer (siehe oben, Abb. 2,1) wurde nun durch die im Jahr 2009 aufgedeckten Befunde erklär- bar. Denn dieser dürfte durch den Platzbedarf der 4,20 m breiten Backstube notwendig geworden sein, um den Ka- nal zwischen dieser an den Erdwall gesetzten gewerbli- chen Anlage und der via vallaris durchzuleiten. Es handelte sich dabei offensichtlich um ein Konzept, das bereits wäh- rend der Anfangszeit des Legionslagers umgesetzt wurde, da sowohl die Anlage des Kanals als auch der Backöfen nach derzeitigem Forschungsstand zu den ersten nach- weisbaren Baumaßnahmen gezählt werden können. Wie bereits in den vorangegangenen Fundberichten erwähnt,47 konnte bei allen fünf ergrabenen Teilstücken des Kanals nur noch die ziegelgedeckte Kanalsohle, jeweils tegulae Abb. 15: Wien 1, Am Hof 10 – Kanalstrang der Schlauchheizung der Pha- paarweise mit den Leisten nach oben nebeneinanderge- se 4 innerhalb des spätrömischen Gebäudes an der Lagermauer. Schnitt legt, festgestellt werden. Die östliche Seitenmauer oder 10, Blickrichtung Süden. (Foto: M. Mosser) deren Ausriss lag unterhalb des Fundaments des 1562 er- richteten Bürgerlichen Zeughauses und konnte daher nicht dokumentiert werden. Von der westlichen Seitenmauer des Kanals waren nur noch die Ausrissverfüllungen vorhanden. Dazwischen befand sich eine homo- gene Verfüllschicht oberhalb der Kanalsohle. Sowohl diese als auch die Mauer- ausrissverfüllung enthielten neben zahlreichen mittelkaiserzeitlichen Funden auch spätrömische Einglättware, glasierte Keramik und eine Münze der zweiten Hälfte des 4. Jahrhunderts. Stratigraphisch wäre allerdings der Mauerausriss sowohl als spätrömische als auch als älteste (hoch-)mittelalterliche Maßnahme 46 Aus statischen Gründen konnte der Kanal nicht auf seiner gesamten Länge freigelegt möglich. Die Frage, wann der Kanal verfüllt und die Seitenmauern ausgerissen werden. wurden, kann aber erst eine detaillierte Fundbearbeitung klären.48 47 Mosser 2009, 199 f. Abb. 6. Innerhalb der Ausrissverfüllung der westlichen Seitenmauer des römerzeitlichen 48 Ein einziges hochmittelalterliches Wand- stück innerhalb der Kanalverfüllung ist als Be- Abwasserkanals fand sich ein 8,4 cm großer Bronzeadler mit angelegten Flü- leg für eine mittelalterliche Maßnahme noch geln, auf einem Globus stehend (Abb. 16). Die ursprüngliche Funktion der Sta- zu wenig aussagekräftig; Bestimmung des Wandstücks: I. Gaisbauer (Stadtarchäologie tuette ist wohl vielfältig interpretierbar. Der Adler galt jedenfalls als heiliges Tier Wien). des Jupiter und als wichtigstes Symbol der römischen Legion. Es handelt sich 49 Vgl. M. Kemkes/N. Willburger, Der Soldat aber bei jener Am Hof gefundenen Bronzeskulptur aufgrund ihrer geringen Grö- und die Götter. Römische Religion am . Schr. Limesmus. Aalen 56 (Esslingen 2004) ße nicht um die Adlerfigur auf der aquila, dem wichtigsten Feldzeichen der Le- 49 55 f. gion. Vielmehr dürfte der Adler im Zusammenhang mit Votivgaben in Heilig-

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tümern zu sehen sein. So sind beispielsweise Adler auf Globen neben einer Sitzstatuette des Jupiter aus einem Lararium der römischen Zivilsiedlung von Rouen oder als häufiges Attribut von sog. Votivhänden vergleichbar mit dem Wiener Stück.50 Sie werden u. a. als Aufsätze von Kultstandarten im Zusam- menhang mit den orientalischen Gottheiten (Jupiter Dolichenus, Sabazios) ge- sehen.51 Weitere Adlerfunde wurden im Heiligtum des Jupiter Dolichenus in Vetus Salina/Adony als Dekoration einer kultischen Lanze und im rätischen Oberndorf als Aufsatz einer dreieckigen Votivplatte ebenfalls für Jupiter Doli- chenus interpretiert.52

Via vallaris Nur auf einer kleinen Fläche von 12 m2 in Schnitt 11 im südöstlich anschließen- den Stiegenhaus der Feuerwehrzentrale konnte die via vallaris bei den Gra- bungen im Jahr 2009 dokumentiert werden. Die Abfolge der Straßenschotte- rungen zeigte dabei starke Parallelen zu jenen Teilabschnitten, die 1953 und 2007 entdeckt wurden (siehe oben).53 Vor allem die unterste Lage aus grob ge- schichtetem, zum Teil recht großem Steinmaterial (OK 15,57 m über Wr. Null) zeigte sich bei allen drei bekannten Befunden entlang der westlichen via vallaris (Abb. 17). Die Abfolge der darüberliegenden Schotterungen, zum Teil unterbro- Abb. 16: Bronzene Adlerstatuette aus der Aus- chen von Kalkmörtellagen und dazwischenliegenden Lehmplanierungen, war rissverfüllung der westlichen Seitenmauer des Abwasserkanals der via vallaris (Schnitt 8), Hö- über einen halben Meter mächtig (OK 16,20 m über Wr. Null). In einer der he 8,4 cm. (Foto: N. Piperakis) jüngsten Schotterungen der Straße fand sich als besonders interessantes Ob- jekt ein Amulett aus getriebenem Gold (siehe Beitrag R. Chinelli, 76 ff.). Die 50 A. Kaufmann-Heinimann, Götter und La- Breite der via vallaris betrug nach den nun bekannten Befunden vom Abwas- rarien aus Augusta Raurica. Forsch. Augst 54 26 (Augst 1998) 260 f. Abb. 216; C.-G. Ale- serkanal bis zu den Innenbauten (festgestellt im Bereich der fabrica )ca. xandrescu, Blasmusiker und Standartenträger 7,50 m (= 25 römische Fuß, inkl. bis zu 2 m breitem Gehsteigbereich). Ein- im römischen Heer. Untersuchungen zur Be- schließlich Kanal, dessen Überdeckung wohl auch dem Straßenabschnitt zuzu- nennung, Funktion und Ikonographie (Cluj-Na- poca 2010) 238–240 Taf. 103 mit weiteren rechnen ist, würde die Breite der via vallaris ca. 9,40 m (= 32 röm. Fuß) ausma- Beispielen. chen. 51 Der Globus gilt dabei als Symbol der kos- Anders als im Bereich des Erdwalls und der spätrömischen Einbauten war mischen Natur des Dolichenus-Kultes; P. Zsi- di/A. R. Furger (Hrsg.), Out of . Augusta oberhalb der jüngsten Schotterung der via vallaris und unterhalb von Lehmbo- Raurica/Aquincum – Das Leben in zwei römi- denniveaus des mittelalterlichen Gebäudes eine mächtige „Schwarze Schicht“ schen Provinzstädten (Basel 1997) 281; vgl. auch Victoria-Statuetten auf Globen als Auf- festzustellen, deren unterer Teil allerdings aus grauem Erdmaterial bestand satz für Dolichenus-Standarten interpretiert; (Abb. 18). Wichtig ist festzuhalten, dass die dunklere, schwarze Schicht neben F. Humer (Hrsg.), Marc Aurel und Carnuntum. zahlreicher spätrömischer Keramik und Münzen der zweiten Hälfte des 4. Jahr- Ausstellung 100 Jahre Archäologisches Mu- seum Carnuntinum. Kat. Niederösterr. Lan- hunderts auch bereits einzelne hochmittelalterliche Keramikwandstücke ent- desmus. N. F. 450 (Wien 2004) 106 Kat.-Nr. hielt. Die klar abzugrenzende „graue“ Schicht über der römischen Straßen- 6–7. schotterung und unterhalb der „Schwarzen Schicht“ enthielt hingegen als 52 Zs. Bánki, Heiligtum des Iuppiter Doliche- nus in Vetus Salina. Alba Regia 19, 1982, 106; jüngste Fundstücke nur spätrömische glasierte Keramik, Einglättware, einen 110 Nr. 7–8Taf.IX1–2; L. Wamser (Hrsg.), Die Centenionalis des Valentinian I (364–367 n. Chr.) und eine Zwiebelknopffibel Römer zwischen Alpen und Nordmeer. Zivilisa- des Typs Pröttel 3/4D55 (Abb. 19). torisches Erbe einer europäischen Militär- macht. Ausstellungskat. Rosenheim (Mainz 2000) 404 Kat.-Nr. 177d. Hypothesen zur Umfassungsmauer des Legionslagers Vindobona 53 Jandl/Mosser 2008, 12 f. Abb. 8. (Abb. 20) 54 Vgl. Jandl/Mosser 2008, 23 Abb. 23. 55 Siehe S. Schmid, Die römischen Fibeln Auch wenn die Grabungen Am Hof keine Möglichkeit ergaben, die in unmittel- aus Wien. MSW 6 (Wien 2010) 48; 68; 119 barer Nähe des intervallum zu erwartende Umfassungsmauer des Legionsla- Kat.-Nr. 273 Taf. 35,273.

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Abb. 17: Wien 1, Am Hof 10 – Straßenschotterung der via vallaris im Westteil von Schnitt 11, Blick- richtung Norden. (Foto: M. Mosser)

gers zu dokumentieren, so existieren doch Indizien, die den präzisen Verlauf der Mauer rekonstruierbar machen können oder diesen zumindest zur Diskus- sion stellen können. Da der römischen Lagervermessung genormte Maßeinhei-

56 Domaszewski (Anm. 6) 42. ten zugrunde liegen, die das Lager nach Pseudo-Hyginus in sog. Hemistrigia, 56 57 Vgl. z. B. die Legionslagermauer von Ebu- also Streifen mit 30 Fuß Breite, unterteilen, ist es legitim, den Abstand zwi- – racum/York, die eine Breite von 1,20 1,48 m schen der Front der Lagermauer und der via vallaris mit 30 Fuß (= ca. aufweist: P. Ottaway, The Archaeology of York 3. The Legionary Fortress. Excavations and 8,89 m) zu veranschlagen. Bei einer angenommenen Breite der Mauer der mit- 57 Observations on the Defences and Adjacent telkaiserzeitlichen Befestigungsanlage von ca. 1,20–1,50 m blieben etwa – Sites, 1971 90 (York 1996) 263 f. In Carnun- 7,50 m Platz für Erdwall und Infrastruktur entlang der umlaufenden Lagerstraße. tum zeigen die Befunde zur mittelkaiserzeitli- chen Lagerbefestigung eine Mauer von Auch der dokumentierte Erdwallbefund bestätigt diesen Verlauf der Lager- 1,25 m Breite, welche in Periode 3a (180/220 mauer, da dessen festgestellter östlicher Rand etwa 4,50 m von der postulier- bis ca. Mitte 3. Jh.) und in Periode 5 (letztes ten Innenseite der Mauer entfernt wäre. Dieser Wert entspräche dabei den Drittel 4. Jh.) jeweils eine 1,10 bzw. 0,50 m breite Verstärkung erfuhr; vgl. Gugl/Kastler Wallbreiten vergleichbarer Militäranlagen (siehe Tab. 2). Bei dieser Hypothese 2007, 45; 60 f. 109–111 Abb. 37–38; 83. käme auch der Verlauf der abgerutschten bzw. gekippten Mauer an der Bö- 58 Welchen Zustand der Lagermauer das schung zum Tiefen Graben, wie sie 1953 dokumentiert wurde (siehe oben), ge- 1953 aufgenommene Profil (Abb. 2,2) doku- 58 mentierte, kann nur spekuliert werden. Es nau in der entsprechenden Flucht nach Süden zu liegen. Wie bereits bei der kann sowohl den mittelkaiserzeitlichen, den dritten Bauphase besprochen, lägen damit die raumteilenden Achsen des ers- spätantiken oder auch einen abgebrochenen ten spätrömischen Anbaus genau in der Mitte mit demselben Abstand (3,30 m, spätantiken Zustand darstellen. Jedenfalls würde die Mauer auch der Flucht des westli- ca. 11 Fuß) zur Lagermauer wie zur östlichen Abschlussmauer entlang der via chen der beiden dokumentierten südlichen vallaris. Die Veränderungen und Achsenverschiebungen in der vierten Baupha- Maueransätze an der porta principalis sinistra se wären somit auch ein starkes Indiz für die Verbreiterung der Legionslager- nach Süden entsprechen; vgl. Kenner 1904, 105–109 Fig. 95 Mauer e. mauer auf bis zu über 3 m, wie sie in spätrömischen Lagern oft dokumentiert 59 F. v. Kenner, Neueste Funde in Wien. ist und auch in Vindobona im Bereich der Naglergasse im Jahr 1902 fest- Mitt. ZK 27, 1901, 169; ders., Römische Fun- 59 de in Wien. Mitt. ZK 28, 1902, 17; ders., Römi- gestellt wurde. Verstärkt wird dieses Indiz bei Betrachtung der T-förmigen sche Funde aus Wien (1902). Mitt. ZK 3. F., 2. Kanalheizung im südlichen Raum des Gebäudes der vierten Bauphase. Falls Bd., 1903, 32 f. Fig. 1; Kenner 1904, 117–120 diese Heizungsanlage symmetrisch in den Raum gesetzt war, dann wäre die Fig. 99; K. Genser, Der österreichische Do- naulimes in der Römerzeit. RLÖ 33 (Wien Umfassungsmauer nur noch 2,90 m von der Mitte des Kanalstrangs entfernt 1986) 481 Abb. 105. gewesen und diese damit entsprechend nach Osten verbreitert. Als offene Fra-

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ge bleibt allerdings im Raum stehen, warum im Haus Am Hof 9 keinerlei Anhaltspunkte für diese verbreiterte Lager- mauer zu finden waren.

Künftige Fragestellungen Nachdem die letzten Jahrzehnte in der Erforschung des Legionslagers Vindobona mit den Grabungen am Wild- pretmarkt und am Judenplatz im Zeichen der Innenbauten bzw. der Mannschaftsunterkünfte standen und zahlreiche neue Erkenntnisse zur Baugeschichte des Garnisons- standortes der legio X gemina brachten,60 bilden die hier vorgestellten Grabungskampagnen in Wien 1, Am Hof eine willkommene Ergänzung. Beim derzeitigen Bearbeitungs- stand kristallisierten sich dabei eine Reihe von übergeord- neten, das gesamte Legionslager betreffende Fragestel- lungen heraus, die im Zentrum der kommenden archäolo- gischen Aufarbeitung stehen werden:

Die Frühphase des Legionslagers Durch die Truppengeschichte und durch epigraphische Forschungen ist der Stationierungszeitpunkt der legio XIII Abb. 18: Wien 1, Am Hof 10 – Nordprofil in Schnitt 11 mit „grauer“ und gemina und damit der Baubeginn des Lagers Vindobona „schwarzer“ Schicht über den Schotterungen der via vallaris. (Foto: M. Mosser) zwischen 97 und 101 n. Chr. einigermaßen gesichert an- zunehmen.61 Doch die Grabungen innerhalb des Legionslagerareals brachten kaum Gelegenheiten, entsprechende Fundkomplexe diesem nachgewiesenen Zeitraum gegenüberzustellen. Sowohl 2007 in den Ofengruben der fabrica62 als auch 2009 im Brandschutthorizont unterhalb des Erdwalls (siehe oben) sind nun erstmals umfangreiche frühe Fundensembles zutage getreten, die nicht nur für die Keramikforschung von Vindobona enorme wissenschaftliche Relevanz haben. Die entsprechende wissenschaftliche Beurteilung der Komplexe steht aber noch aus.

Konkordanz der Bauphasen der Kasernenbauten mit den Befunden im In- tervallum Die Aufarbeitung der Grabungen im Bereich der römischen Kasernen in Wien 1, Judenplatz erbrachte folgende Phasenabfolge (Tab. 3):

Phase Datierungsrahmen stationierte Legion – Charakteristika der Bauten 197–114 13. und 14. Legion – Holz-/Fachwerkbauten 2 114–180/200 10. Legion – Holz-/Fachwerkbauten 3 180/200–280/320 10. Legion – Neuerrichtung in Stein (Kontubernien) 60 M. Mosser, Die Kasernen der ersten Ko- 4 280/320–350/360 Kasernenumbauten (Korridore, Feuerstellen, Öfen) horte im Legionslager Vindobona (unpubl. 5 360/375–390/410 Auflösung der militärischen Strukturen – Werkstätten Diss. Univ. Wien 2007); Mosser et al. (Anm. 6 390/410–420/440 Partielle zivile Nutzung der Gebäude 38). 61 Zs. Mráv/O. Harl, Die trajanische Bauin- Tab. 3: Chronologie zu den römischen Lagergebäuden am Judenplatz. schrift der porta principalis dextra im Legions- lager Vindobona – Zur Entstehung des Le- gionslagers Vindobona. FWien 11, 2008, 36– Die bisherigen Erkenntnisse zu den Grabungen Am Hof lassen auf eine ganz 55. ähnliche baugeschichtliche Entwicklung im Bereich des Intervallums schließen. 62 Jandl/Mosser 2008, 25–28.

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Auch hier wird erst die künftige Aufarbeitung darlegen können, ob diese Ge- genüberstellung auch tatsächlich wissenschaftlich tragbar ist. Vor allem die Entwicklung in der Spätantike verspricht dabei interessante Erkenntnisse. Es drängt sich die Vermutung auf, dass Phase 4 am Judenplatz, mit der Umstruk- turierung der Kasernenbauten, zu Phase 3 im Intervallum, mit dem Einbau der Gebäude entlang der Lagermauer, in Beziehung gesetzt werden kann. Ebenso wie die offensichtlich valentinianischen Baumaßnahmen der Phase 5 am Ju- denplatz, welche mit der nach bisherigem Forschungsstand letzten spätrömi- schen Umbauphase (Phase 4) im Intervallum verglichen werden können.

Militärische oder zivile Nutzung Eine weitere nicht unbedeutende Fragestellung betrifft die Nutzung der spätrö- mischen Gebäude im Intervallum, v. a. aufgrund der Reduktion der Mann- schaftsstärke der Legion am Standort Vindobona in der Spätantike und den damit frei gewordenen Siedlungsplätzen innerhalb des umwehrten Lagerareals.

Abb. 19: Zwiebelknopffibel vom Typ Pröttel 3/ Am Judenplatz konnten spätestens für die valentinianische Zeit Handwerksbe- 4D aus der grauen Schicht oberhalb der via val- triebe in den alten Kasernenbauten festgestellt und anhand des Fundmaterials laris. (Zeichnung: S. Schmid) die Anwesenheit ziviler Bevölkerungselemente verifiziert werden. Die Räume der spätrömischen Gebäude im Intervallum waren im Vergleich dazu relativ großzügig dimensioniert und zum Teil mit Fußbodenheizungen und auch offen- sichtlich abschnittsweise mit Werkstätten ausgestattet. Architektonisch fehlen die militärischen Charakteristika wie langgestreckte, aber sehr schmale Bara- cken mit eher kleinen Vor- und Haupträumen. Auch spätantike Militaria wur- den, wenn überhaupt, nur sporadisch aufgefunden. Das heißt, vorläufig ist eine militärische Nutzung der Bauten an der Lagermauer nicht zu beweisen.63

Ende der antiken Besiedlung Der Übergang zum Frühmittelalter, das Auflösen bzw. der Verfall der römischen Siedlungsstrukturen ist ein weiterer, mit vielen Fragen behafteter Forschungs- schwerpunkt. Am Judenplatz ist bis in die erste Hälfte des 5. Jahrhunderts noch eine allerdings reduzierte Siedlungstätigkeit nachweisbar, bevor das Le- gionslagerareal vollständig verlassen wurde. Im Bereich des Intervallums sind zwischen den noch eindeutig der spätrömischen Zeit und den mit Sicherheit 63 Die Grabungen Am Hof brachten auch dem Hochmittelalter zuzuordnenden Horizonten – abgesehen von der über 200 gestempelte Ziegel zutage, die als „ “– Diplomarbeit der Universität Wien von Th. Schwarzen Schicht noch Siedlungsstrukturen feststellbar, die hier nicht nä- Koch bearbeitet werden. Es handelt sich dabei her beschrieben wurden, weil für diese beim derzeitigen Aufarbeitungsstand hauptsächlich um mittelkaiserzeitliche Ziegel noch keine eindeutige Zuordnung vorgenommen werden kann. Unter Umstän- der 13., 14. und 10. Legion, die kaum Rück- schlüsse auf eine militärische Nutzung der Ge- den tragen diese aber zu einem besseren Verständnis von Nutzung und Verfall bäude im Intervallum zulassen werden. der antiken Überreste während der „Dark Ages“ bei.

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Abb. 20: Zusammenschau der Befunde der Grabungen 1953 und 2007–09 im Bereich Wien 1, Am Hof 9–10. (Plan: A. Neumann/M. Mosser)

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Abgekürzt zitierte Literatur Gugl/Kastler 2007 Ch. Gugl/R. Kastler (Hrsg.), Legionslager Carnuntum – Ausgrabungen 1968–1977. RLÖ 45 (Wien 2007). Hoffmann 2002 B. Hoffmann, The Buildings of Roman Legionary Fortresses. In: Ph. Freeman/J. Bennett/Zb. Fiema/B. Hoffmann (ed.), Limes XVIII. Proceedings of the XVIIIth International Congress of Roman Frontier Studies held in Amman, Jordan (September 2000). BAR Internat. Ser. 1084/2 (Oxford 2002) 895–899. Jacobi 1930 H. Jacobi, Kastell Saalburg – Die Ausgrabungen der Jahre 1925–1928. Saalburg-Jahrb. 7, 1930, 8–34. Jandl/Mosser 2008 M. Jandl/M. Mosser, Befunde im Legionslager Vindobona. Teil IV: Vallum, fabrica und Kasernen in der westlichen retentura – Vorbericht zu den Grabungen Am Hof im Jahr 2007. FWien 11, 2008, 4–34. Kenner 1904 F. v. Kenner, Römische Funde in Wien aus den Jahren 1901 bis 1903. JZK N. F. 2/1, 1904, 105–170. Kuhnle et al. 2001 G. Kuhnle/J. Baudoux/M. Werlé, Strasbourg «Grenier d’Abondance». Document final de synthèse de sauvetage urgent, AFAN/SRA Alsace (Strasbourg 2001). LeQuesne 1999 Ch. LeQuesne, Excavations at Chester. The Roman and Later Defences 1. Investigations 1978–1990. Chester Arch. Excav. and Survey Report 11 (Chester 1999). Mosser 2009 M. Mosser, Wien 1, Am Hof 10. FWien 12, 2009, 195–200. Neumann 1967 A. Neumann, Forschungen in Vindobona 1948 bis 1967. I. Teil. Lager und Lagerterritorium. RLÖ 23 (Wien 1967). Pitts/St. Joseph L. F. Pitts/J. K. St. Joseph, Inchtuthil – The Roman Legionary Fortress. Britannia Monogr. Ser. 6 (London 1985). 1985 Webster 1988 G. Webster (ed.), Fortress into City. The Consolidation of Roman Britain, First Century AD (London 1988).

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GegendenBösenBlick…–Ein Goldamulett aus Wien 1, Am Hof

Rita Chinelli

Im Jahr 2010 wurde während der archäologischen Untersuchungen am Platz Am Hof im Ersten Wiener Gemeindebezirk ein seltenes Goldobjekt gefunden (Abb. 1 und 2; siehe Beitrag M. Mosser, 50 ff.).1 Dieses als Amulett (lat. amu- letum oder fascinum)2 anzusprechende Stück lag im jüngsten Straßenschotter des hier befindlichen westlichen Abschnitts der via vallaris des Legionslagers Vindobona. Es ist rund, mit einem Durchmesser von 2 cm, die Dicke des Goldblechs be- trägt 0,7 mm (Gewicht: 0,99 g). Die getriebene Amulettplatte ist umgeben von einer applizierten, tordierten, leicht überstehenden, im Querschnitt rundli- chen Fassung mit einer Aufhängeschlaufe.3 Die Oberfläche weist mehrere er- habene, zum Teil verformte Figuren auf sowie eine kaum erkennbare umlaufen- de Perlverzierung. Das Objekt war in zwei Teile gebrochen und wurde restau- riert.4 In der Mitte des Objekts befindet sich die Darstellung eines Auges, dessen Pu- pille am oberen Lidrand zentriert zu sehen ist. Alle anderen Darstellungen sind auf dieses Auge ausgerichtet; im Uhrzeigersinn am oberen Rand beginnend: eine Schlange, ein Adler (?) mit ausgebreiteten Flügeln, ein Phallus, ein Skor- pion, ein Hund, ein Dolch, ein Dreizack, ein kleines froschartiges Tier, gefolgt von einem größeren; gegenüber dem Vogel – in der Symmetrieachse – ein wei- terer Adler (?). Ein bislang unpubliziertes Amulett (Abb. 3) aus Fuveau in Südfrankreich (nörd- lich von Marseille) – ein Zufallsfund – ist dem Wiener Stück ähnlich und kann zu dessen Deutung herangezogen werden.5 Auch dieses Amulett besteht aus Gold, doch ist es nicht kreisrund, sondern oval und hat die Öse mittig an der Rückseite; es wurde also wahrscheinlich nicht um den Hals getragen. Im Ge- gensatz zu dem Amulett vom Platz Am Hof besitzt das Objekt nur einen getrie- benen Rahmen, der mit einem Perlkreis verziert ist. Im Zentrum der Vorderseite befindet sich ebenfalls ein Auge mit der Pupille am oberen Lidrand. Auch hier ist das Auge von verschiedenen Darstellungen umringt. Im Uhrzeigersinn aufge- zählt handelt es sich um: ein Blitzbündel, eine Eidechse, einen geflügelten Phal- lus, einen Skorpion, einen Hund, einen Löwen, (eine Schlange?), einen Vogel (Strauß?), zwei Schlangen und einen Stern.

Einleitung Zunächst soll versucht werden, anhand der Position und Form der Figuren/Dar- stellungen eine Deutung der beiden Objekte zu finden. Unterstützt werden die folgenden Erläuterungen durch ähnliche Darstellungen wie sie in Tabelle 2 (Nr. 1–30) gelistet sind: Die meisten der vergleichbaren Stücke wurden in der zwei- ten Hälfte des 19. Jahrhunderts publiziert. Dieser Umstand stellt insofern eine

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Abb. 1: Goldamulett aus Wien 1, Am Hof (restaurierter Zustand), links Vorderseite, rechts Rückseite. (Foto: U. Egger)

Erschwernis dar, als die entsprechenden Publikationen oft schwer aufzufinden sind, selten Abbildungen enthalten – und wenn, dann sogar unterschiedliche Figurenanordnungen zeigen können – und Beschreibungen nicht in der ge- wünschten Ausführlichkeit erfolgten. Das Auge steht im Zentrum und kann wohl die Funktion beider Goldobjekte er- klären. Alle Figuren sind auf das Auge ausgerichtet und dienen offensichtlich der symbolhaften Darstellung eines Angriffs: So nähern sich z. B. der Kopf der Schlange, der Schnabel des Adlers, die Schnauze des Hundes oder die Spitzen des Dreizacks. Sie alle scheinen zu versuchen, eine Bedrohung, die von der zentralen Darstellung ausgeht, abzuwehren6. Welche Gefahr kann das Auge symbolisieren? Der Blick des Auges erscheint sowohl bei dem Amu- lett aus Wien als auch bei jenem aus Fuveau teilweise verhüllt, denn die Pupille befindet sich am oberen Rand des Lides und ist sogar ein wenig von diesem bedeckt. Diese Darstellungsweise begegnet auch bei anderen Funden (siehe Tab. 2 Nr. 1, 3, 9, 12, 14, 21 und 25). Seit jeher ist das Auge ein „Machtinstrument“ in den zwischenmenschlichen Beziehungen. Es dient nicht nur der äußeren Wahrnehmung von Gegenstän- den und Personen, sondern es ermöglicht in der wechselseitigen Betrachtung auch ein inneres Bild/das Innenleben des Gegenüber zu erfassen. Mit dem An- blicken beginnt eine intuitive Kommunikation, die die seelische Haltung ans Licht bringt, z. B. als Liebesblick oder als sog. Böser Blick.7 Letzterer kann viele negative Empfindungen offenbaren: Wut, Rache, Neid etc. Dass mit dem Auge und seinem verhüllten Blick der Neid gemeint ist, lässt sich anhand einer Darstellung an einem Bronzeamulett mit dem Reitermotiv, das als „Salomon-Siegel“ bezeichnet wurde, beweisen: Über dem zentralen Auge ist hier das Wort Phthonos (Uhmo|, Neid) eingraviert.8 Andere Inschriften aus rö-

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mischer Zeit mit Darstellungen des Bösen Blicks in heidnischem Kontext ver- deutlichen die Bedeutung dieses Motivs.9 Ein Mosaik in Kefalonia aus dem 3. Jahrhundert n. Chr. setzt mit einer Inschrift eine menschliche Figur, die sich mit eigenen Händen würgt und von wilden Tieren angefallen wird, mit Uhmo| gleich.10 Es sind aber auch Darstellungen ohne Beischrift bekannt, in welchen die Figur im Zentrum entweder sich selbst würgt oder versucht, sich von einer würgenden Schlange zu befreien (Abb. 4).11 Um diesen Mann sind ebenfalls mehrere Figuren und Objekte gruppiert – Waffen, menschliche Gestalten, wie Kämpfer, und Tiere –, die eine aggressive Haltung demonstrieren. Die Tatsa- che, dass das Böse Auge von ähnlichen Darstellungen umgeben ist, zeigt, dass dieser Mann (Uhmo|) an der zentralen Stelle durch das neidische Auge ersetzt werden kann. Katherine M. D. Dunbabin und Matthew W. Dickie unterstrei- chen in ihrer ikonographischen Untersuchung entsprechender Darstellungen, dass nicht alle diese Symbole an sich gefährlich sind, wohl aber gegen den Bö- sen Blick schützen können.12 Nach Karl Meisen wurden manche Tiere abgebil- det, weil sie damals als giftig galten, z. B. Amphibien oder Reptilien.13 Durch den Bösen Blick sollte Personen und Objekten Schaden zugefügt wer- den. Die Ursache dafür ist der Neid, d. h. das unbewusste Verlangen nach Er- füllung unbefriedigter Wünsche (lat. invidia/in-videre). Das Abwenden der un- heilvollen Kraft des Bösen Blicks konnte auch dadurch erreicht werden, indem gewisse atypische Motive – wie der Zwerg mit Zaubergeräten im Mosaik aus Jekmejeh, bei Antiochia am Orontes (Abb. 5 Nr. 20), oder der cossim cacans (Darstellung einer hockenden Gestalt bei der Darmentleerung: Taf. 1 Nr. 25) in einem Relief in Woburn Abbey – gewählt wurden, die den Betrachter zum La- chen bringen oder bei ihm Entsetzen und Erstaunen auslösen sollten.14 So wird das Lachen als eine Waffe eingesetzt, die zur Verwirrung führt und deshalb die Angst vor den Dämonen abwendet.15 Obwohl hier das Auge mit all den umgebenden Figuren als Böser Blick zu ver- stehen ist,16 kann es auch als „vielleidendes Auge“ gesehen werden,17 eine Deutung, die durch die Metapher des sich selbst würgenden Mannes gestützt wird. Der Neid, eine negative Energie, die einen anderen trifft, ist zugleich das Leiden, das dieser bereits in sich trägt. Zauber und Energie (Neid), die vom Bö- sen Blick ausgehen, werden fascinum oder fascinus genannt und durch einen spiegelbildlichen Gegenzauber (ebenfalls fascinum)18 bekämpft. Das Boden- mosaik aus Jekmejeh (Abb. 5), das den Bezug des Neides zu einem Eintreten- den herstellt (JAI RT, Auch Du!), deutet stark in diese Richtung. Der Böse Blick kann neben anderen Dingen auch Krankheiten verursachen. Amulette wurden daher sowohl zur Prophylaxe als auch Therapie getragen.19 Krankheiten wurden meistens auf den Einfluss übernatürlicher Kräfte zurückge- führt:20 Die Griechen z. B. nahmen an, dass sie von bösen Gottheiten verur- sacht würden und um die Sympathie der Götter zu gewinnen, musste man sich also die verschiedenen Kräfte des Kosmos (Sterne,Tiere, Pflanzen etc.) zunutze machen.21

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Abb. 2: Goldamulett aus Wien 1, Am Hof. M 5:1 (Zeichnung: G. Reichhalter)

Die Form des Objekts In römischer Zeit wurden Schutzsymbole im Alltag oft verwendet. Schon allein die runde Form – wie in unserem Fall – konnte eine magische, symbolische Be- deutung haben: Sie galt für böse Kräfte als undurchdringlich.22 Mehrere Metall- amulette (vgl. Tab. 2 Nr. 1–11) besitzen diese Form.23 Runde, aus Glas gefertigte Amulette (Ende 3.–6. Jh. n. Chr. datiert) lassen sich hier anschließen: Sie waren teilweise gelb bemalt; vielleicht in Reminiszenz an die Farbe des teuren Goldes.24 Diese Anhänger waren v. a. im Norden Syriens weit verbreitet und wurden wahrscheinlich in der heutigen Türkei, im bereits ge- nannten Antiochia am Orontes, produziert.25 Für Syrien und Palästina wurde von Campbell Bonner auch eine über viele Jahrhunderte anhaltende Produk- tion von runden – christlichen/jüdischen – Metallamuletten gegen den Bösen Blick vermutet.26 Am Rand des Wiener Amuletts befindet sich eine Verzierung, die bei antiken Metallamuletten üblich war (Tab. 2 Nr. 1–3, 5–7 und 9 Taf. 1).

Das Material Gold hatte sowohl für die vorrömischen Kulturen als auch in römischer Zeit eine besondere Bedeutung. Es war wegen seiner prophylaktischen Wirkung beson- ders für die Fertigung von Amuletten beliebt (Tab. 2 Nr. 1–8, 10–11).27 Plinius der Ältere unterstrich hinsichtlich der Pflanzen und medicamenta den Wert der signatura rerum, d. h. der äußeren Merkmale der Dinge – darunter die Farbe in therapeutischer Verwendung.28 Die Wirksamkeit eines Amuletts lag demnach nicht nur in den dargestellten Figuren, sondern auch in dem Material, aus

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dem es hergestellt wurde, begründet.29 Gelb ist auch die Farbe des Bernsteins, der oft zum symbolischen Schutz von Frauen und Kindern getragen wurde.30 Gold bedeckte v. a. in Syrien die Statuen der Sonnengottheiten.31 Selbst in der mittleren und späten Kaiserzeit sind es solare Gottheiten, die auf orientali- schen gnostischen oder – besser gesagt – magischen Gemmen am häufigsten dargestellt wurden.32 So ist, wie andere Amulette auch, das hier vorgestellte durch die Eigenschaften der Sonne (rund und golden) gekennzeichnet.33 Das Material Gold gibt aber nicht zuletzt auch Hinweis auf den sozialen Status des Besitzers.34

Die Wirksamkeit Der Riss im Amulett aus Wien, ziemlich genau über dem Auge – die Zweitei- lung –, könnte eine absichtliche Zerstörung mittels eines Rituals nahelegen,35 diese ist jedoch nicht nachweisbar. Derartige magische Objekte bedurften, um wirksam zu werden, der Weihe durch einen Magier und mussten, um ihre Macht zu verlieren, absichtlich zerstört werden.36 Wie man aus kaiserzeitlichen und spätantiken Zauberpapyri erfährt, identifizier- te sich der Magier während der Fertigung magischer Gemmen mit einem der griechisch-ägyptischen Götter, und nach Abschluss der Arbeit rief er Aion an, den Regenten der Zeit mit solarem Charakter.37 Ebenfalls vorgegeben war eine bestimmte Art der Herstellung, die an gewissen Tagen zu erfolgen hat- te.38 Um die Wirksamkeit zu erhöhen, musste das Objekt direkt am Körper getragen werden (adligare), weshalb das vorliegende Exemplar als Anhänger an einer Halskette – wie z. B. nachgewiesen für ein Amulett in London (Tab. 2 Nr. 10) – getragen worden sein dürfte, was die Aufhängevorrichtung nahelegt.39 Es gab auch Ringplatten in Form eines Auges aus Gold oder auch aus Glas.40 Wenn das Böse Auge – oder auch der Phallus (siehe unten) allein – an einem Gebäude oder einer Skulptur angebracht wurde, so geschah dies an einem gut sichtbaren Ort, wie dies Mosaike im Eingangsbereich z. B. in Jekmejeh (Abb. 5 Nr. 20) oder der Basilica Hilariana in Rom (Nr. 21 Taf. 1) belegen; inter- essant ist auch ein Mosaik in Salzburg.41

Die Darstellungen Pagane Metallamulette, wie das hier beschriebene, wurden selten gefunden. Bis jetzt ist es mir nicht gelungen, eine Darstellung zu finden, die in der Reihen- folge und Auswahl der Figuren dem Wiener Beispiel völlig entspricht. Diese Tat- sache würde die Auffassung von Dunbabin und Dickie bestätigen, dass es sich um Einzelanfertigungen handelt.42

Beobachtungen zu Position und Reihenfolge der Figuren Bemerkenswert ist, dass manche Figuren – sofern vorhanden oder identifizier- bar – auf Metallamuletten sehr oft nebeneinander, paarweise auftreten (vgl. auch Tab. 1 – Motive nicht gereiht): • Skorpion/Phallus: Wien (A), Fuveau (B), Nr. 1–4, 7 • Vogel/Schlange: Wien (A), Fuveau (B), Nr. 1, 3–5, 7

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Abb. 3: Goldamulett aus Fuveau (Frankreich). (Foto: M. Feugère)

• Eidechse/Blitzbündel: Fuveau (B), Nr. 1–5 • Hund/Skorpion: Wien (A), Fuveau (B), Nr. 6, 10 • Löwe/Hund: Fuveau (B), Nr. 1–2, 4 Sie erscheinen nicht nur paarweise, sondern sie sind – v. a. auf Amuletten – oft an einer gleichbleibenden Stelle zu finden; an einer Position, die häufig derjeni- gen in mithrischen Darstellungen entspricht: Skorpion rechts unten, Löwe und Hund links unten, Blitzbündel und Eidechse rechts oben.

Phallus Auf dem Amulett von der Grabung Am Hof befindet sich rechts neben dem Au- ge ein Phallus – im Uhrzeigersinn betrachtet nach dem Adler und vor dem Skor- pion. Das Amulett aus Fuveau zeigt an der gleichen Stelle einen Phallus mit Flü- geln, nach einer Eidechse und vor dem Skorpion. Die Darstellung des Phallus war prophylaktisch und glückbringend. Die Deu- tung als glückbringendes Symbol stützt sich auf die Beziehung des Phallus zu Priapus. Priapus war der Gott der Fruchtbarkeit, des Glücks, der Fülle und des Reichtums, aber auch der Beschützer vor Neid.43 Er begegnet sogar als cossim cacans innerhalb der Darstellungen des Bösen Blicks.44 Seine Zeugungskraft verschafft dem Phallus eine zentrale Position als ordnen- de Kraft im Universum.45 Plinius der Ältere benutzt für den Phallus den Termi- nus fascinus (Zauber), er wird als Gott und als medicus invidiae bezeichnet.46 In der römischen Welt gibt es zahlreiche Darstellungen, sogar auf einfacher Gebrauchskeramik.47 So gehörten zum Hausinventar Gesichtsbecher, die manchmal auch Phallus-Darstellungen tragen konnten; unterhalb von Funda- menten deponiert, sollten sie nach Stefan F. Pfahl die Errichtung des Hauses günstig beeinflussen.48 Derartige Gefäße wurden in Wien in der römischen Zivil- siedlung (Wien 3, Rennweg 44) und in den canabae legionis gefunden.49 Diese Darstellungen können als Schutz des Gefäßinhaltes vor Verderben, Tierfraß oder Diebstahl interpretiert werden.50 Auf einer spätantiken Bronzemedaille, aufbewahrt in Paris, ist ebenfalls ein Phallus dargestellt. Der Zweck der Darstellung war es, den Besitzer vor Neid zu schützen, worauf eine beigefügte Inschrift hinweist.51 In Pompeji und Herculaneum wurde bei verschiedenen Werkstätten (mit Back- ofen bzw. Keramikbrennofen) oberhalb der Tür, also an einem auffälligen Ort, die Darstellung eines Phallus angebracht; in einem Fall begleitet von der In-

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schrift HIC HABITAT FELICITAS. Hier ist die rein apotropäische Bedeutung of- fensichtlich.52 An Decken oder neben Türen hingen möglicherweise phallische tintinnabula (Schellen, Glocken), ebenso an Wagen. Weiters wurden menschliche Figuren mit riesigem erigiertem Phallus gefertigt, auch in Kombination mit Lampen, wie im termopolium, einer Art Gaststätte in Pompeji.53 Phalli im Bereich von Hauseingängen finden sich z. B. im Mosaik im Museum von Antakya (Abb. 5 Nr. 20) und in Ostia.54 Drei Mal ist er in der Gallia Belgica auch auf einer sog. Votivhand von Sabazios nachgewiesen55. Der Phallus ist in vielen unserer Vergleichsbeispiele aufgerichtet (ithyphallisch) und zielt auf das Auge: Auf dem Amulett aus Fuveau besitzt er zudem Flügel (Abb. 3), im Mosaik von Jekmejeh geht diese Bewegung von einer Figur aus. Auf Lampen mit der Darstellung des Phthonos (Abb. 4) ist der Phallus nicht ithy- phallisch, sondern nur mit abnormer Länge abgebildet und befindet sich in der Mitte der Darstellung als Teil der nackten menschlichen Figur und wird so selbst Ziel des Angriffs.

Skorpion Auf den Phallus folgt die Abbildung eines sechsfüßigen Skorpions (Abb. 2), auf dem Beispiel aus Fuveau (Abb. 3) erscheint er achtfüßig.56 Er ist fast immer in Darstellungen des Bösen Blicks nachgewiesen.57 Er kann auch bis zu drei Mal auf demselben Amulett abgebildet sein, wie auf einem Achat, der die invidia in der Mitte zeigt.58 Laut antiker Magie wirkte der Skorpion gegen Insektenstiche oder heilte Au- genkrankheiten. Tatsächlich stand er mit der untergehenden Sonne in Verbin- dung.59 Er erscheint in Darstellungen des Bösen Blicks oft zusammen mit der Schlange und wurde auf Gemmen mit syrischen Gottheiten sogar als Attribut zur Verstärkung der apotropäischen Wirkung beigefügt.60 Beide Tiere sind in der Natur schwer auszumachen wie die invidia.61 Die der invidia eigene Ambi- valenz (siehe oben) wohnt auch der Kraft beider Tiere inne:62 So wirkt das Gift des Skorpions auch gegen seine eigenen Stiche.63 Erscheint der Skorpion als Sternbild – von oben gesehen, mit geöffneten Sche- ren und sechs Beinen (mit Schwanz nach links gebogen) –, dann steht er nach astrologischer Auffassung mit dem Mars in einem engen Verhältnis (sein „Wohnsitz“)64 und schützt gemäß astromedizinischer Theorie die Geschlechts- organe.65 In diesem Zusammenhang sei an das häufige Auftreten des Skor- pions gemeinsam mit dem Phallus erinnert. Außerdem tritt der Skorpion in Mithras-Darstellungen stets neben dem Stier-Phallus in Erscheinung. Im Ge- gensatz zu Mithras (Frühling) stellt er den Herbst dar.66

Hund Links neben dem Skorpion befindet sich ein Hund. Auch er ist so gut wie immer bei Darstellungen des Bösen Auges nachgewiesen, wo er in einer typischen Angriffshaltung zu sehen ist. Hunde wurden in der persischen Welt sehr geach- tet, auch weil sie die Körper der Toten fraßen.67 Astrologisch entspricht er dem

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Sternbild canis minoris. Der Hund ist auch das Tier der He- kate; in der Tat hatte sie selbst das Aussehen eines bellen- den Hundes und vermochte vor Geistern und Dämonen zu schützen. Gleichzeitig verkörpert der Hund den Dämon und vertreibt diesen auch durch sein Bellen.68

Dolch In der Reihenfolge als Nächstes erscheint der Dolch. Des- sen Darstellung hebt sich insofern von den anderen ab, als seine Spitze dem Auge abgewandt ist. Auf das Auge zie- lend erscheint er auf einer Gemme (Nr. 15), in zwei Male- reien in Dura-Europos (Nr. 28 und 29) und auf einem Fels- relief in Burdur (Nr. 22). Der Dolch ist auch fester Bestand- teil des Mithraskultes, da mit ihm der Stier getötet wird. Er bezeichnet den fünften Weihegrad, d. h. Perses. Perses ist der Sohn des Perseus, der nach David Ulansey mit Mithras verwandt ist.69 Perseus ist zugleich ein Sternbild und scheint in der Ahnentafel von Mithridates VI. Eupator, Kö- nig von Pontos, auf. Mithridates setzte sich mit Mithras gleich.70 Der Dolch könnte in erster Linie – im Zusammenhang mit dem folgenden Dreizack – einem retiarius, dem leicht be- waffneten Gladiator, zugeordnet werden. Er lässt sich aber auch als Waffe (pugio) eines weiteren Gladiatoren, dem se- Abb. 4: Lampe aus Ephesos, Kunsthistorisches Museum Wien. (Foto: cutor interpretieren. KHM Wien, Inv.-Nr. V 2535)

Dreizack Die anschließende Waffe ist der Dreizack (fuscina). Auf einem Relief mit der Darstellung des Bösen Blicks in England (Taf. 1 Nr. 25), das in die Zeit des Sep- timius Severus datiert wird, ist ein retiarius mit dieser Waffe in der Hand zu se- hen. In einem Steinrelief aus Leptis Magna (Lybien) befindet sich der Dreizack in der Hand eines ithyphallischen Zentauren (Tab. 2 Nr. 26). Der Dreizack ist wei- ters in dem schon mehrfach angeführten Fußbodenmosaik im Museum An- takya (Abb. 5 Nr. 20) sowie auf einem Felsrelief aus Burdur (Nr. 22), beide Ana- tolien, auf einem Goldamulett in London (Nr. 6) und auf einem aus Mainz (Nr. 11) zu sehen. In einigen der oben genannten Darstellungen mit retiarius konnte zusätzlich ein secutor oder mirmillo (schwer bewaffneter Gladiator) abgebildet gewesen sein, da jeder von ihnen üblicherweise gegen den Erstgenannten kämpfte.71 Der Dreizack des retiarius – des populärsten der Gladiatoren – hatte eine starke symbolische Bedeutung, so war er auch Symbol für negative Vorsehungen wie uns Artemidor von Ephesos (von Daldis) in seiner Abhandlung zur Traumdeu- tung überlieferte: Er kündigt Verluste an.72 Außerdem übte sein Träger einen ungeheuren Zauber auf das Publikum aus und sein gewaltsamer Tod wurde im übertragenen Sinn als magisches Mittel gegen Dämonen verstanden.73 Sein Blut wurde als Heilmittel gegen Epilepsie (morbus comitialis) getrunken.74

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Unter den unzähligen bekannten phallischen Amuletten gibt es auch ein Bei- spiel in Bologna, das den Phallus selbst als Gladiator zeigt.75 Die Figur eines isolierten ithyphallischen Gladiators erscheint auch auf einem tintinnabulum aus Herculaneum.76 Dieser kämpft gegen seinen eigenen Phallus, der sich in einen Panther verwandelt hat: eine spiegelbildliche Allegorie der Macht des Nei- des (fascinum). In der griechischen Welt wird der auf Amuletten dargestellte Dreizack als militä- rische Waffe angesehen.77 Interessanterweise gab es im spätantiken Trier einen Töpfer namens Strambus (ab dem 4. Viertel des 3. Jh. n. Chr.), der eine besondere Produktion leitete: Hier wurden Kannen mit phallischem Ausguss, Plaketten mit Gladiatoren (da- runter retiarii und secutores) sowie Kalender hergestellt, auf denen Planeten- götter abgebildet waren und die ausschließlich dem Zweck dienten, die dies fasti et nefasti (Glücks- und Unglückstage) anzuzeigen.78

Frosch Im Anschluss an den Dreizack ist ein kleines froschartiges Tier zu sehen, gefolgt von einem größeren,79 dessen Beine nach innen gerichtet sind; nicht nach au- ßen wie bei der Eidechse oder beim Salamander.80 Der Hals dieser auch als Frosch anzusprechenden größeren Figur ist ziemlich lang und ähnelt dem einer Schildkröte, seltsamerweise scheint sie auch den Schwanz einer Eidechse zu besitzen. Der Frosch ist in einem ähnlichen Kontext auf einer Gemme (Taf. 1 Nr. 12), auf einer Glaspaste (Nr. 16), auf einem magischen Nagel (Taf. 1 Nr. 17)81 sowie auf einer Lampe (Nr. 19) – alle ohne Fundort – vorhanden. Er symbolisiert Frucht- barkeit (tatsächlich findet man einen kleineren Frosch an seiner Seite) und so- wohl im Christentum als auch im Alten Ägypten war er ein Symbol für Wieder- belebung und Auferstehung.82 Das Tier hat metamorphischen Charakter.83 Der Frosch kann in antiker griechischer Vorstellung dem durstigen Wanderer das Vorhandensein von Wasser anzeigen,84 durch sein Quaken aber Götter eben- so wie Menschen belästigen. Um einen Feind auf Abstand zu halten, starrt er diesen an, bis er sich entfernt.85 Laut griechisch-römischer Vorstellung kündig- te er auch schlechtes Wetter an.86 Außerdem gehört er zur Unterwelt. Zusam- men mit anderen Lebenssymbolen wie Schlange, Eidechse oder Schildkröte wird der Frosch – jedoch manchmal in Gestalt einer Kröte dargestellt – auf Ge- fäßen, die dem Sabazios geweiht sind, oder auf solchen, die dem Kultbereich des Jupiter Heliopolitanus angehören, abgebildet.87 Bei Letzteren, nachgewie- sen in Carnuntum, ist es, wie im Fall des vorliegenden Wiener Objekts, schwie- rig, den Unterschied zwischen Kröte, Frosch und Schildkröte festzustellen.88 Die Kröte scheint im magischen Sinn wirksamer als auch gefährlicher zu sein.89

Adler (?) Dem Frosch folgt ein Vogel, der, mit einem weiteren, ein symmetrisch angeord- netes Paar im oberen Teil des Amuletts bildet. Wie auf anderen Amuletten ist es auch hier schwierig, die betreffende Art zu erkennen.90 Gestalt und Länge der Flügel legen jedenfalls eine Deutung als Adler nahe. Er ist z. B. auf Gemmen in

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Abb. 5: Mosaik aus Jekmejeh (bei Antiochia am Orontes, Türkei) im Museum von Antakya. (Foto: Antakya Arkeoloji Müzesi)

„Inszenierungen“ des Bösen Blicks zusammen mit dem Blitz und einem Serapiskopf dargestellt (Nr. 13) und teilweise auch in mithrischen Darstellun- gen, zusammen mit dem Raben, belegt.91 Wegen des Erhaltungszustandes des Wiener Objekts ist eine gesicherte Ansprache des Vogels nicht möglich. Laut Siegfried Seligmann ist „ein Tier mit ausgebreiteten Flügeln besonders wirksam gegen die Faszination“,dasfascinum.92 Symmetrische Anordnungen von Tieren – wie im Mosaik der Basilica Hilariana (Taf. 1 Nr. 21) – betreffen sonst v. a. Schlangen (Tab. 2 Nr. 28–29),93 doch auf einigen Beispielen von Darstellungen des Bösen Blicks erscheinen in solcher Weise auch Vögel: z. B. auf einem Steinrelief in (2. Jh. n. Chr., Nr. 27) und wahrscheinlich auch auf einem Relief von der Via Appia in Rom (Nr. 24) ebenso wie auf einem Amulett in London (Nr. 6). Die Darstellung auf Amuletten sollte dessen Träger bei Koliken helfen und Gebärende unterstützen. Sein Kot wurde gegen Zahn- schmerzen und Husten von Kindern verwendet. Der Adler selbst soll seheri- sche Fähigkeiten besessen haben.94 Der Adler kann sich in vielfältiger Weise auch auf Jupiter beziehen95 und tritt schließlich auch auf sog. Votivhänden des Sabazios auf.96 In vielen Traditionen ist er, wie viele andere Vogelarten einschließlich des Ra- ben, Symbol der Offenbarung der göttlichen Macht des Himmels.97

Exkurs: Rabe Der Rabe ist in vielen Darstellungen des Bösen Auges nachgewiesen. Der Vo- gel ist einer der vier Helfer bei der tauroctonia (der Tötung des Stiers durch Mithras). Als corvus oder corax ist er mithrischer Weihegrad und lässt sich an-

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hand des Mosaiks im Mithräum des Felicissimus in Ostia und der Inschriften des Mithräums unter der Kirche Santa Prisca in Rom als Planet Merkur identifi- zieren.98 In der Tauroktonie kommt der Rabe vor der Morgendämmerung mit dem Auftrag zu Mithras, den Stier zu töten.99 Das charakteristische Krächzen des Raben in der Nacht wird noch heute als unheilvolles Vorzeichen interpre- tiert.100

Schlange Im oberen Teil des Amuletts aus Vindobona findet man Reste der Darstellung einer einzelnen oder mehrerer Schlangen wie sie auch im oberen Teil des Ob- jekts aus Fuveau begegnet. Unterhalb der Öse des Wiener Stücks lässt sich ein Schlangenkopf erahnen. In Darstellungen des Bösen Auges wie auch in mithrischen Szenen sind Schlangen fast immer nachgewiesen.101 Auf dem Amulett von Am Hof lässt sich nicht entscheiden, ob die Schlange sich um andere Figuren windet, wie es auf dem Amulett von Fuveau sein könnte. Im Mosaik in Antakya (Abb. 5) da- gegen ist dies nicht der Fall. Auf dem hier vorgestellten Fund könnte die Schlan- ge eine Schutzfunktion ausgeübt haben.102 Ganz allgemein wurde der Schlan- ge eine schützende Wirkung gegen Krankheiten zugeschrieben.103 Das Kriech- tier galt als sehr mächtiges Mittel gegen Vergiftung.104 In der Antike war die Schlange der Beschützer par excellence (a$ cah¿| da‹lxm, wohlwollender Ge- nius), sie war oft Bestandteil privater Kultschreine (Lararien) in Pompeji105 und bezeichnete die tutela loci (Schutzgottheit einer Örtlichkeit).106 Schlangen stellen eine kosmische Macht dar: Sie symbolisieren den Lauf der Sonne am Himmel, lenken den Lauf der Dinge und sorgen für ihre Erneue- rung.107 Zurvân (Zeit-, Himmels-, Schicksals- und Totengott) wurde oft wie Aion als schlangenumwundener Mann dargestellt.108 Auf einem Achatamulett ist ein nackter Mann, der sich mit seinen eigenen Händen würgt, von einer Schlange völlig umwunden.109 Hier besitzt die Schlange eine andere Funktion: Sie unter- stützt die invidia bei ihrer Tat, sich selbst zu erdrosseln.110 Die Schlange symbolisiert auch Hekate und den Tag des Saturn,111 sie ist aber auch der Gott des Schattens und in Ägypten der Dämon des Horus.112 Sie ent- spricht auch dem Sternbild Hydra. Dieses Kriechtier ist oft auf magischen Nägeln dargestellt, zusammen mit dem Bösen Blick (Tab. 1 Nr. 17 und Taf. 1).113 Es erscheint auf Gefäßen, die Saba- zios geweiht sind, sowie stets auf dessen bronzener sog. Votivhand.114 Die Schlange war ein Hauptsymbol des phrygisch-thrakischen Sabazioskultes und erscheint auch auf Gefäßen des Bacchuskultes in Italien.115

Das Amulett aus Fuveau Von den eben besprochenen Darstellungen des Wiener Amuletts befinden sich einige auch auf dem Objekt aus Frankreich (Phallus, Skorpion, Hund, Schlan- ge). Während andere (Dolch, Dreizack, Frosch, Adler?) fehlen, sind weitere Tie- re wie auch ein Blitzbündel in den Kreis um das Auge eingefügt (Abb. 3 Tab. 1).

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Blitzbündel Auf dem Amulett von Fuveau ist im oberen Teil neben den Schlangen und ei- nem sechsstrahligen Stern116 ein Blitzbündel dargestellt (Abb. 3). Alle drei Ele- mente können dem Himmel zugeordnet werden – wo sich auch die Tauroktonie abspielt. Das Blitzbündel tritt häufig im oberen Teil von Amuletten, manchmal zusammen mit anderen Himmelssymbolen, auf (vgl. Tab. 1). Das Blitzbündel (Symbol des Zeus/Serapis) ist auch sonst auf Metallamuletten v. a. aus Italien (Nr. 1, 3, 5–6, 8), auf Gemmen (Nr. 13–15) und auf magischen Nägeln (Nr. 18) nachgewiesen. Es stellt den Tag des Jupiter oder des Serapis, des Sonnen- gottes, dar.117 Der Schutz des Serapis war vielgefragt.118 Das Blitzbündel er- scheint auch an der Votivhand des Sabazios, meist unterstützt von einem Ad- ler.119 Das Blitzbündel symbolisiert auch leo, die vierte Weihestufe der Anhänger des Mithras.120

Eidechse Auf dem Amulett aus Fuveau steht wahrscheinlich121 eine Eidechse neben dem Blitzbündel, wie es auf anderen Amuletten oft zu sehen ist. Sie ist vielleicht Teil einer Darstellung des Bösen Blicks am Grabdenkmal des Geminius Saturninus in Auzia, Algerien (Nr. 23), kommt vor in einem Relieffrag- ment von der Via Appia in Rom (Nr. 24), auf sechs Metallamuletten (Nr. 1–4, 5? 7? 11), einer Gemme (Nr. 12), einer Glaspaste (Nr. 16) sowie auf magischen Nägeln (Nr. 17).122 Die Eidechse sollte vor Augenkrankheiten schützen123 und konnte durch ihre Verbindung mit der aufgehenden Sonne sogar Blindheit heilen, weshalb sie auch allein auf Amuletten abgebildet wurde.124 Die Eidechse tritt manchmal auch in Mithras-Darstellungen auf.125 Sie ist zu- sammen mit der Schildkröte ein chthonisches Element, das sich oft bei Saba- zios findet, aber auch ein Sonnensymbol.126 Sie ist in Carnuntum auf Gefäßen nachgewiesen, die aus Kultbereichen von Liber/Libera und Jupiter Heliopolita- nus stammen.127 Die Eidechse gehört zum Herbst, der Jahreszeit der Weinle- se, und so wird sie auch mit Dionysos dargestellt.128

Stelzenläufer (Strauß?) Auf dem Amulett von Fuveau befindet sich ein Vogel, der einem Strauß sehr ähnlich sieht.129 Der Kopf ist nicht zu sehen. Er scheint einen Berührungspunkt mit der Schlange zu haben, indem er sie anzugreifen versucht oder umgekehrt. Stelzenläufer in dieser Aktion begegnen auch auf christlich-jüdischen Amulet- ten oder magischen Gemmen.130 Normalerweise kämpfen innerhalb von Dar- stellungen des Bösen Auges die umgebenden Figuren nicht miteinander. Ein ähnlicher Vogel ist auch auf dem Steinrelief in der Woburn Abbey (Taf. 1 Nr. 25) abgebildet, wo man auch den Dreizack in der Hand des retiarius findet. Se- ligmann sieht in der „Inszenierung“ des Bösen Blicks auf einem „Salomon-Sie- gel“131 ebenfalls einen Strauß, der jedoch auch ein Flamingo sein könnte. Am besten ist der Vogel des Amuletts von Fuveau mit dem Strauß auf zwei Lam- penfragmenten aus Jerash in Jordanien (2./3. Jh. n. Chr.) zu vergleichen.132

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Langbeinige Vögel – Stelzenläufer – kommen nicht selten vor (Nr. 1, 4, 5? 6, 7? 11, 25):133 Sie sollten vor giftigen Schlangen schützen, und da sie angeblich jene wie auch Skorpione fressen ohne selbst Schaden zu nehmen, waren sie auch Sinnbild für eine gute Verdauung.134 Außerdem konnte z. B. der Ibis in an- tiker Vorstellung vor der Einnahme von Giften schützen, da er ausschließlich sauberes Wasser trinkt.135

Löwe Das Symbol des Löwen umfasst eine Vielfalt an Bedeutungen, die in der Spät- antike auf verschiedenen religiösen Ebenen liegen konnten.136 Auf dem Amulett aus Frankreich folgt auf den Skorpion und den Hund der Lö- we. Der Löwe ist in mithrischen Darstellungen in den germanischen und galli- schen Provinzen und jenen an der Rhein-Donau-Grenze üblich, in den Donau- provinzen jedoch selten.137 Man begegnet ihm auch auf mithrischen Kultgefä- ßen.138 Er ist weiters das heilige Tier der Kybele, der Mutter aller Götter.139 Er ist bei den hier gelisteten Objekten nachgewiesen auf Metallamuletten (Nr. 1–2, 4– 7? 10), auf Gemmen (Nr. 14–15), auf einem Relief (Nr. 25) und in einem Mosaik aus Rom (Nr. 21: Löwin?). Dieses Tier wird fast immer im linken unteren Teil der Artefakte dargestellt (Nr. 1–2, 14, 25).140 Bereit zum Angriff, wie auf dem Amulett in Fuveau, ist er auf vielen Gemmen des 2. und 3. Jahrhunderts dargestellt.141 Astrologisch gesehen ist leo – meist im Profil und in Bewegung dargestellt – der „Wohnsitz“ des Helios.142 Er steht für die Sommersonnenwende, da er ober- halb der Ekliptik, der angenommenen Bahn der Sonne, seinen Platz hat.143 Er schützt das Herz, den Rücken, den Magen und die Hüften,144 aber auch das Augenlicht. Er symbolisiert die Krankheit – deshalb konnte er sie auch hei- len – und die Wachsamkeit, da er nach altem Glauben immer mit offenen Augen schlief.145 Die solare Symbolik des Löwen findet sich in der Magie sehr häu- fig.146

Vergleiche zum Amulett aus Fuveau (Abb. 3) In dem französischen Beispiel fällt der geflügelte Phallus auf, dieser ist nicht nur auf Metallamuletten aus Italien (z. B. hier Nr. 1, 5), sondern auch auf verschie- denen anderen Objekten (Kalktafel, Bronzering, tintinnabula)belegt.147 Die meisten Vergleiche mit dieser Reihe von Gestalten finden sich bei Metall- amuletten (Nr. 1–2) und bei Gemmen, die ebenfalls als Amulette benutzt wur- den (Nr. 14). Laut Beschreibung das beste Vergleichsstück ist ein Amulett, ebenfalls aus Gold, in der Sammlung Borgia, auf dem genau dieselben Figuren zu finden sind, ebenfalls mit einer Öse in der Mitte der Rückseite (Nr. 4). Ein weiteres Amulett aus einem römischen Grab (Ende 1. Jh. n. Chr.) in Etrurien (Acces- sa-See, in der Nähe von Massa Marittima) stellt fast dieselben Figuren dar, wenn auch nicht in derselben Reihenfolge (Nr. 5). Auch dieses Amulett trägt ei- ne Öse an der Rückseite. Ähnliche Darstellungen sind auf dem Amulett aus Si- zilien zu finden (Nr. 1), jedoch befindet sich bei diesem Stück die Öse oben an der Einfassung.

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Mögliche Hintergründe der Darstellungen Der symbolische Gehalt dieser Amulette kann auf verschiedenen Ebenen lie- gen: In der mittleren Kaiserzeit und in der Spätantike wurden Darstellungen von Tieren oder geometrische Motive als kosmische und magische Schutzsym- bole für unterschiedliche Objekte benutzt.148 Die Symbole, die das Auge auf dem Goldanhänger in Wien umringen, erinnern an zodiakale Darstellungen, die Teil des Mithraskultes, der Tauroktonie sind,149 insbesondere Schlange, Hund und Skorpion, drei von vier Helfern des Mithras (siehe die Einzelbesprechungen oben); aber auch der Dolch, der in dieser Rei- hung zum Mythos passt: Mit dem Dolch wird der Stier getötet, ein Hund springt hinzu, um das Blut zu trinken, ein Skorpion sitzt an den Genitalien des Stiers. Der Hund ist auf den Amuletten aus Wien und Fuveau und im Mosaik in Antakya (Abb. 1–3, 5) springend dargestellt, wie in den Darstellungen des den Stier tö- tenden Mithras.150 In den drei genannten Beispielen ist auch der Skorpion im- mer entsprechend den mithrischen Darstellungen wiedergegeben: von oben betrachtet, mit geöffneten Scheren und sechs bzw. acht Beinen.151 Innerhalb dieses Mythos gibt es eine komplexe Symbolik, die unterschiedlich interpretiert werden kann. Insbesonders wurde von Ulansey für die Stiertö- tungsszene eine astrologische Deutung vorgeschlagen:152 Sie stellt demnach die Präzession der Äquinoktien dar. Die verschiedenen Gestalten entsprächen Sternbildern in einem bestimmten Zeitalter (Stierzeitalter), das von ca. 4000 bis 2000 v. Chr. reichte: der Skorpion scorpio, der Hund canis minor, die Schlange hydra und der Löwe leo. Demnach wäre die Stiertötungsszene am Frühlings- Äquinoktium positioniert, wo Tag und Nacht dieselbe Länge haben. In dieser Theorie wird der Kontrast zwischen Licht und Dunkel deutlich, der neutralisiert wird durch die Position am Äquinoktium. Der Ursprung der Tauroktonie ist jedoch sehr umstritten und wird allgemein auch so erklärt:153 Aus dem Körper des sterbenden Stiers entstand die Vege- tation, deshalb ist im Schöpfungsmythos die Gestalt des Stiers als Urbild aller Tier- und Pflanzenarten enthalten.154 Dieses Opfer wurde jedes Jahr wieder- holt, um die Erneuerung der Vegetation und insbesondere das Wachstum der Kulturpflanzen (Ähren) – und somit das Überleben der Menschheit – zu si- chern.155 In Rom war das taurobolium, in welchem der taurus geopfert wurde, eine der feierlichsten Zeremonien. Die Stiertötungsszene, die auf diese Weise eine kosmische Bedeutung erhält, steht auch im Zentrum aller Mithräen. Auf dieser Basis wird behauptet, dass innerhalb des Mithraskultes das Fest selbst der Erlösung seiner Anhänger diente.156 Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass diese Szene in der For- schung im Lauf der Zeit zwar auf unterschiedliche Weise erklärt wurde, aber die Auslegungen unterstreichen den ihr innewohnenden Dualismus: die sym- bolische Darstellung des ewigen kosmischen Kampfes zwischen Gut und Bö- se, Licht und Nacht,Tod und Auferstehung. Sie könnten sich demnach sowohl in der schützenden als auch angreifenden Funktion der das Böse Auge umge- benden Figuren widerspiegeln. In der Antike haben die Menschen versucht, sich bei den Göttern einzuschmeicheln, damit sie dieses Gleichgewicht, diese Harmonie erreichen können. Die Amulette waren ein Mittel dazu.157

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Schlange, (Schildkröte), Frosch, Eidechse und Adler sind auch die typischen Elemente, die auf den bronzenen sog. Votivhänden des Fruchtbarkeitsgottes Sabazios, manchmal mit Sol oder Zeus Helios gleichgesetzt, auftreten.158 Die- sen Händen waren apotropäische Attribute beigefügt, so dass sie, wie man auch vermutete, fast zu Amuletten wurden.159 Demgegenüber waren sie aber auch Instrument der Anbetung in den Mysterien.160 Die Verehrer des Sabazios glaubten auch an die zyklische Erneuerung und an die Rettung der Seele nach dem Tod.161 Bei der Wahl der Motive auf dem Amulett in Wien bemerkt man eine Präferenz für Symbole der Kulte orientalischer Götter – in Pannonien in der Spätantike nicht ungewöhnlich –, insbesondere des Mithras und Sabazios, die auch gleichgesetzt wurden.162 Für ähnliche Darstellungen wurden weitere astrologische Interpretationen vor- geschlagen: Interessant ist die Gemme Nr. 14 in New York (Taf. 1), wo rund um ein Auge sieben Motive – Kauz, Schlange, Hirsch, Skorpion, Hund, Löwe, Blitz- bündel – angeordnet sind, für die Charles William King eine Verbindung zu den Wochentagen herstellt. Mithilfe einer Inschrift auf einem Jaspis wurde ein Amulett mit Darstellung des Bösen Auges als Schutz für Nase, Augen und Zähne interpretiert.163 Nach hel- lenistisch astrologischer Lehre gibt es einen Einfluss (Melothesie) des Zodiakos auf die Erde und die menschlichen Organismen, weshalb die antike Magie ihre Methoden aus dem astrologischen Wissen ableitete: Verkörperungen von Göt- tern dienten dazu, die Dekane der astrologischen Lehre darzustellen, die eine therapeutische Eigenschaft hatten. Einen Nachweis dafür erbringen die astro- logischen Tafeln aus Grand (Frankreich) aus dem 2. Jahrhundert n. Chr.164 Einige der Symbole des Amuletts in Wien könnten in astrologischer Auslegung wohl mit dem Wunsch in Verbindung gebracht werden, vor Krankheiten, z. B. Geschlechtskrankheiten, zu schützen. Wegen der Vielfältigkeit an Kombinationen der einzelnen Gestalten und ihrer verschiedenen möglichen Zusammenhänge, wurde eine eindeutige Interpreta- tion dieser Darstellungen generell als schwierig bezeichnet.165 Denn in Verbin- dung mit dem Bösen Auge treten neben Figuren, die astrologisch/mithrisch be- legt sind, auch andere auf – Elefant,166 Tarantel,Tausendfüßler,167 Raubkatze, Bär, Wildschwein (z. B. Nr. 10) und menschliche Gestalten (Waffen als Sinnbild des retiarius, Zwerg, cossim cacans, Nr. 25 Taf. 1). Und sobald astrologische Symbole aus ihrem ursprünglichen Kontext losgelöst erscheinen – wie z. B. auf magischen Gemmen –, liegt auch deren Neuinterpretation nahe.168 Diese „Mi- schung“ könnte generell einer Verstärkung der apotropäischen Wirkung von Objekten gedient haben.169 Doro Levi zitiert in seiner Arbeit über das Böse Auge auch Artemidor von Ephe- sos (von Daldis; 2. Jh. n. Chr.). In dessen Abhandlung zur Traumdeutung wer- den gewisse Tiere wie Skorpion, Spinne und Tausendfüßler mit bösen Männern gleichgesetzt und als Vorboten schlimmer Ereignisse bezeichnet. Aber gleich- zeitig schützen die meisten von ihnen auch vor Krankheit oder Unglück, die sie wiederum selbst mit sich bringen können.170

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Unter Berücksichtigung all der oben angeführten Aspekte kann zusammenfas- send momentan nur festgehalten werden, dass die hier behandelten Darstel- lungen in Verbindung mit dem Bösen Auge in erster Linie als Ausdruck des Aberglaubens, sie könnten die Gefahr des Bösen Blicks eindämmen, angese- hen werden müssen.

Direkte und indirekte Einflüsse auf die Vorstellung vom Bösen Auge Erwin R. Goodenough bemerkte in ikonographischer Hinsicht einige Ähnlich- keiten zwischen dem Auge des Horus auf Amuletten und den Darstellungen des Bösen Auges.171 Im Cabinet des Médailles et Antiques in Paris gibt es unter den griechisch-ägyptischen Gemmen ein kleines rundes Amulett aus Bein, in dessen Mitte ein Auge eingraviert ist, auf das Pfeile zielen.172 Auf der Rückseite trägt es ein Graffito, in dem die Sonnengottheit Chnoubis angerufen wird.173 Bereits in der altägyptischen Kultur war udjat, das Auge, als Schutzsymbol ge- gen den Bösen Blick sehr verbreitet.174 Griechisch-ägyptische Amulette zeigen oft synkretistische Darstellungen von Sonnengottheiten, die in Ägypten, aber auch in Persien, Babylon und Syrien vorherrschten.175 Unter den magischen Papyri – datiert v. a. zwischen dem 2. und dem 5. Jahrhundert n. Chr. –,mit Texten verschiedener Traditionen und Religionen,176 befindet sich eine Anlei- tung zur Herstellung solcher Objekte. Interessanterweise wird darin Helios an- gerufen, ein Gott, der im Laufe des Tages verschiedene Tiergestalten an- nimmt.177 Jede von ihnen verleiht ihm eine schützende Macht und der Gott wird gebeten, diese an den Träger des Amuletts weiterzugeben.178 Die Darstellungen des Auges sollten dem Träger des Amuletts gegen das Böse die Stärke der Sonne verleihen, was nach Frederick E. Brenk am Beispiel einer dem Kaiser Nero geweihten Stele zu sehen ist.179 Jene Stele wird in Cambridge aufbewahrt und enthält apotropäische Formeln, wie sie auch auf dem Mosaik in Antakya (Abb. 5) und anderen Amuletten mit Darstellungen des Bösen Blicks zu lesen sind. Der römische Glaube griff im Kontakt mit der hellenistischen Ma- gie und Religion viele ihrer Inhalte auf, wovon die pseudowissenschaftlichen Mitteilungen Plinius des Älteren in der Naturalis Historia zeugen.180 Die Sonnengottheiten überwogen auf den „magischen“ Edelsteinen der Spät- antike, für deren „Aktivierung“ der Magier – wie bereits gesagt wurde – die Gottheit Aion anrufen musste.181 Man sollte nicht außer Acht lassen, dass bei Aion-Statuen182 an der Brust der Gottheit ein Auge dargestellt sein kann. Der Leontokephalos – Regent des Tierkreises –, der manchmal als Aion183 oder als Zurvân, Vater des Guten und des Bösen, interpretiert wird oder im gnosti- schen Kontext mit Horus gleichgesetzt werden kann184,war– zusammen mit Osiris – der Gott des Todes und der Unterwelt, aber auch der Auferstehung.185 Aus der Sicht des Zoroastrismus, einer Lehre der persischen Magier, ist Zurvân derjenige, in dem sich die Gegensätze (Gut/Böse,Tod/Leben, Licht/Dunkelheit) treffen und am Ende das Gute überwiegt.186 Solche Themen treten häufig auf magischen Gemmen auf.187 Goodenough schreibt über das Auge: “It was, indeed, associated with so many deities that it stood for no one deity specifically.”188 Rita Paris verbindet dieses Symbol mit dem Kult der Kybele oder Magna Mater, da im Eingangsbereich der

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Basilica Hilariana (Taf. 1 Nr. 21), die ihrem Kult gewidmet war, eine Darstellung des Bösen Auges gefunden wurde.189 Attilio Mastrocinque wiederum weist an- hand von Gemmeninschriften darauf hin, dass Darstellungen des Bösen Blicks v. a. mit der Schutzgottheit Serapis, die Sonnengottheit par excellence,190 in Verbindung stehen könnten.191 Serapis eignet sich sehr gut für diese Art von Darstellungen, da er alle hier vorgestellten Ebenen berührt: Er lässt sich sowohl mit Zeus – dem Herrn des Universums – als auch mit Dionysos, dem Gott der Fruchtbarkeit, gleichsetzen, wie auch mit Asklepios – Gott der Heilkunst –,He- lios – Sonnengott – und Hades – Totengott und Herrscher über die Unter- welt.192 Es ist jedoch sehr wahrscheinlich, dass man durch die Verwendung des Bösen Auges unter vielversprechendem Schutz verschiedenster solarer Gottheiten stehen konnte.193 In der Spätantike nahm der Synkretismus der Religionen, der philosophischen und kosmologischen Anschauungen und magischen Praktiken zu. Damals flossen Elemente von Traditionen und Kulturen aus verschiedenen Teilen des römischen Reiches zusammen, so dass Herkunft und Hintergründe der Dar- stellungen des Bösen Blicks aus einem spezifischen kulturellen Bereich schwie- rig zu deuten sind; sie können auf unterschiedlichste Weise interpretiert wer- den.194

Datierung und Verbreitung Es ist sehr problematisch, für diese Art der Objekte eine Datierung zu finden: Es handelt sich meist um Altfunde, aufbewahrt in Antikensammlungen, großteils ohne detaillierte Informationen der Fundumstände, manchmal ist nicht einmal der Fundort bekannt.195 Nach Dunbabin und Dickie ist das ikonographische Konzept der invidia und des Bösen Auges in die spätenhellenistische Zeit zurückzuführen, obwohl seine Existenz schon bei den Sumerern, Babyloniern und Assyrern und auch im Neo- lithikum nachgewiesen ist.196 In der römischen Epoche ist die Blütezeit seiner Verwendung jedoch in der mittleren und v. a. späteren Kaiserzeit anzuset- zen.197 C. Bonner gibt als früheste Datierung römischer Amulette das 3. Jahr- hundert n. Chr. an, dem widerspricht jedoch ein später gefundenes Exemplar in einem Grab vom Ende des 1. Jahrhunderts n. Chr. nahe Massa Marittima in Italien (Nr. 5). In der Spätantike, aber schon seit severischer Zeit, mussten die ägyptischen Priester infolge administrativer Einschränkungen durch den römischen Staat ihr Angebot an religiösen Handlungen einem breiteren Markt anpassen, wo- durch magische Praktiken größere Verbreitung erlangten.198 Im christlichen Umfeld werden sogar Figuren – Heilige oder Ritter – gegendenBösenBlick verwendet.199 Diese heidnischen Praktiken wurden von der Kirche nicht nur ge- duldet, sondern sogar selbst durchgeführt.200 Und so benutzte man auch wei- terhin den Bösen Blick in synkretistischer Weise oft in christlichen und jüdi- schen Darstellungen.201 Pilger trugen insbesondere während ihrer Reise Amu- lette.202

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Die Darstellungen des Bösen Blicks, die für den Vergleich mit dem Wiener Amu- lett interessant sind, wurden in Anatolien bzw. Italien gefunden.203 Im Osten wurden Lampen (datiert 4./frühes 5. Jh. n. Chr.) mit dem Motiv der invidia pro- duziert, die hinsichtlich der Figurenauswahl einen weiteren Vergleich mit unse- ren bieten (Abb. 4).204 Der im Zusammenhang mit dem Bösen Blick selten dargestellte Dreizack findet sich ebenso v. a. im Osten – in Anatolien, im Fußbodenmosaik von Jekmejeh bei Antiochia am Orontes (frühes 2. Jh. n. Chr., Nr. 20) und auf einem Felsrelief in Burdur (Nr. 22).205 Der Mithraismus, die orientalischen Religionen, Sitten und Glaubensvorstellun- gen wurden v. a. von Soldaten verbreitet.206 In dem Vindobona benachbarten Legionsstandort Carnuntum war – nach ihrem Aufenthalt im Orient und der Teil- nahme am jüdischen Krieg – die legio XV Apollinaris im späten 1. bis zum An- fang des 2. Jahrhunderts n. Chr. stationiert. Eine Altarinschrift, die als Weihen- den einen ihrer Zenturionen C. Sacidius Barbarus nennt, stellt den frühesten Hinweis auf den Mithraskult entlang der Limesstrecke Vindobona–Carnuntum dar.207 Die legio XV Apollinaris hätte demnach diese Lehren verbreiten kön- nen.208 Später waren mit der legio X wohl auch Anhänger des Mithraskultes und orientalischer Gottheiten in Vindobona (Ende 2. Jh. n. Chr.) stationiert.209 Das Amulett wurde am Platz Am Hof in einer spätantiken Straßenschotterung (4./Anf. 5. Jh.) gefunden.210 Es ist schwierig zu beweisen, dass gerade die eben genannten Legionen, v. a. die Letztere (in Vindobona stationiert bis in die Spätantike), samt zugehöriger Verwaltung und begleitenden Händlern in unmittelbarem Zusammenhang mit diesem Amulett zu sehen sind,211 da in der Spätantike auch von einer zivilen Nutzung des Lagerareals ausgegangen werden muss.212 Tatsächlich wurden auch v. a. von Frauen und Kindern getra- gene Amulette aus spätantiken Gräbern geborgen.213 Obwohl der kulturelle Hintergrund des Besitzers einen Einfluss auf die Auswahl der Motive haben konnte, musste der Träger nicht zwangsläufig an den „ange- rufenen“ Gott glauben oder die Lehre der Magier kennen.214 Wichtig war die Wirksamkeit des Objekts: Sowohl auf magischen Gemmen als auch auf Metall- plättchen gibt es eine Auswahl von Motiven und Zauberformeln – auch gegen den Bösen Blick –, die eine benutzerdefinierte Bestellung beweisen können. Die Frage ist in unserem Fall, welche Ebene haben diese manchmal mehr- schichtigen Symbole berührt?215 Stand nur ganz allgemein der Wunsch dahin- ter, Übel und Unheil abzuwehren, oder war die Intention des Trägers eine sehr persönliche, nämlich die, eine bestimmte Krankheit zu verhindern bzw. zu über- winden oder Fruchtbarkeit zu erlangen? Nicht nur Phallus-Darstellungen, sondern auch solche mit dem Bösen Blick wa- ren zu allen Zeiten verbreitet und sind auch heute – und das weltweit – in Ver- wendung.216 Bereits in der Antike waren sie Ausdruck der Volksfrömmigkeit;217 und da die Trennung zwischen Magie, Religion und „Wissenschaft“ nicht so streng war wie heute,218 wurden die magischen/apotropäischen Praktiken von allen Gesellschaftsschichten ausgeübt.219

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Anmerkungen 1 Mein Dank für die Diskussion und Litera- pergamenischer Terra Sigillata gestempelt, sie- 24 Giovannini 2008, cat. 135–150. turhinweise geht an M. Feugère, der mir auch he H. Goldman (Ed.), Excavations at Gözlü Ku- 25 Giovannini 2008, 39; Giovannini, in Druck. die Erlaubnis gab, das Amulett aus Fuveau le, Tarsus. 1, The Hellenistic and Roman Pe- 26 Bonner 1950, 219. zu publizieren, und A. Giovannini (Associazio- riods (Princeton, NJ 1950) 176 nn. 909–913 27 Turchi 1939, 156; Bonner 1950, 9; Corti ne Nazionale per Aquileia). Für vielfältige Unter- und 284. 2001, 70 mit Lit.; Jahn 1855, 43; 96 f.; Meisen stützung bedanke ich mich weiters bei A. 10 Dunbabin 1999, 312 Abb. 311. 1950, 148 mit Lit. Auch auf Metallplättchen: Bernhard-Walcher, E. Flaiani, G. Gruber, C. 11 Dunbabin/Dickie 1983, 19–24; noch in Kronberger 2005, 141. Litschauer, G. Reichhalter; für die sprachliche der Spätantike in Athen: C. Grandjouan, The 28 Plin. nat. 27, 43, 66; Martini 1977, 100 f. Überarbeitung des Textes: M. Böck. – GC: Athenian Agora 6. Terracottas and Plastic bes. 155; was auch in anderen antiken Kultu- 2008_02; Fläche: 31, Schnitt: S11, Bef.-Nr.: Lamps of the Roman Period (Princeton, NJ ren der Fall war: Budge 1930, 327 f. Die Spra- 2885. 1961) 31 Pl. 23,889–895; Mastrocinque che der Farben ist die Grundlage des symboli- 2 Z. B. Plin. nat. 25, 67, 115; Daremberg/ 2003, 418. schen Denkens: Giovannini, in Druck. Saglio 1875, 252 Anm. 1 s. v. amuletum (E. 12 Für die Komplexität des Begriffs und sei- 29 Seligmann 1910, 230; Corti 2001, 69; Labtut). – RE 6, 2 (1909) 2009–2014 s. v. fas- ne Ambivalenz siehe auch Anm. 8; Dunba- Maioli 2007, 103; für die Gemmen: Mastrocin- cinum (F. Kuhnert); RE 1, 2 (1894) 1984 s. v. bin/Dickie 1983, 9 f. 26; 37; W. Deonna, Le que 2003, 26; Sfameni 2004, 394. Amulett (E. Riess). symbolisme de l’œil (Berne 1965) 183. 30 Giovannini, in Druck. 3 Vgl. L. M. Caliò, La tecnica orafa in età 13 Meisen 1950, 149. 31 Felletti Mai 1956, 157 f.; Ensoli/Andaloro romana. In: M. Galli/G. Pisani Sartorio (a cura 14 Meisen 1950, 151 f.; Engemann 1975, 2000, 293; 377 f.: zur großen Bedeutung sola- di), Machina. Tecnologia dell’antica Roma. 30; 33; R. Nenova-Merdjanova, Images of rer Götter in der Spätantike auch für die politi- Ausstellungskat. (Roma 2009) 217 f. Bronze Against the Evil Eye (Beyond the Typo- sche Propaganda. 4 Das Blech ist so dünn, dass es wohl eine logical and Functional Interpretation of the Ro- 32 Maioli 2007, 101. Unterlage aus Holz oder Leder benötigte, um man Bronze Vessels for Oil). Kölner Jahrb. 33 Budge 1930, 291; Giovannini, in Druck. ein Zerbrechen während des Tragens zu ver- Vor- u. Frühgesch. 33, 2000, 303–312; auf ei- 34 Dasselbe gilt für die Edelsteine bei magi- meiden: freundl. Mitt. A. Giovannini. – Restau- ner Lampe (Grandjouan [Anm. 11] 40; 80 cat. schen Gemmen: Zwierlein-Diehl 1992, 16 f. ratorin U. Egger: „Beide Hälften wurden mit ei- 1066: Athen, später als 1. H. 3. Jh. n. Chr.) 35 Was z. B. bei einem Goldanhänger aus nem Bambusstäbchen von Erdresten befreit. isoliert, aber mit Priapus identifiziert (auch weil der Völkerwanderungszeit (skandinavischen Es erfolgte eine Kunststoffklebung (Araldit frontal dargestellt): Corti 2001, fig. 5.1 (Soliera- Ursprungs) sicher der Fall ist, K. Andersson, 2020). Auf die noch nicht ausgehärtete Klebe- Modena); 2.2 (Kertch-Krim); Seligmann 1910, Gold des Nordens. Arch. Deutschland Son- stelle wurde Blattgold aufgelegt – alle Arbeiten 196; 200. Weibliche cossim-cacans-Figuren: derh. 2008 (Stuttgart 2008) 63: Figuren mit ei- fanden unter dem Mikroskop statt.“ Um die Fi- Jahn 1855, 93 f. nem scharfen Instrument abgekratzt. Zu Mün- guren besser sichtbar zu machen, wurde von 15 Levi 1941, 225. zen: G. Dembski/H. Winter/B. Woytek, Rega- der Firma 7reasons eine 3D-Rekonstruktion 16 Engemann 1975, 24; A. Z. Bryen/A. Wy- lianus und Dryantilla. Historischer Hintergrund, mittels Laserscan versucht, doch war wegen pustek, Gemellius’ Evil Eyes (P.Mich. VI 423– numismatische Evidenz, Forschungsgeschich- der kleinen Dimensionen des Objekts und der 424). Greek, Roman and Byzantine Stud. 49 te. In: M. Alram/F. Schmidt-Dick (Hrsg.), Nu- Rückstrahlung des Goldes das Ergebnis nicht (Durham NC 2009) 548; Levi 1941, 220. mismata Carnuntina. Forschungen und Mate- zufriedenstellend. Mein Dank geht an die Firma 17 Goodenough 1953, 240; dagegen Enge- rial (Wien 2007) 545. 7reasons. Die Umzeichnung wurde wegen der mann 1975, 39, in einigen Darstellungen wird 36 Mastrocinque 2003, 32; Sfameni 2004, geringen Größe des Objekts auf Basis ver- sogar von „Gutem Auge“ gesprochen. Zum 380; Maioli 2007, 103; Mastrocinque 1998; schiedener Fotografien erstellt. leidenden durchbohrten Auge: Salvetti et al. Zwierlein-Diehl 1992, 15. 5 Privatbesitz: Inv.-Nr. AML- 4001, L: 2004, 466 Anm. 9. Für den Dualismus des Au- 37 Sfameni 2004, 380; Ensoli/Andaloro 14 mm, Gewicht: 0,43 g. ges siehe Maloney 1976, 2–4; E. R. Goode- 2000, 373; A. Dosi, L’integrazione spazio-tem- 6 Bienkowski 1893, 294 f. nough, Jewish Symbols in the Greco-Roman porale in Roma antica. In: Galli/Pisani Sartorio 7 Ch. Breuer, Malocchio – AugenBlicke des Period 9. Symbolism in the Dura Synagogue (Anm. 3) 63. Zu verschiedener Herkunft und Begehrens. Momente eines Theaters der Bli- (Toronto 1964) 55; Bryen/Wypustek (Anm. unterschiedlichem Wissen der Magier im römi- cke (Dipl. Univ. Wien 1995) 6–9; Budge 16) 551. schen Reich, die nicht nur mit den magischen 1930, 354. 18 Deshalb wird das Amulett ebenfalls als Gemmen zu tun gehabt haben: I. Chirassi, Il 8 Goodenough 1953, 238 cat. 1063; En- fascinum bezeichnet. Plinius d. Ä. nennt es Magos e la Pharmakis: Excursus attraverso il gemann 1975, 31 Abb. 1, für die begleitende auch medicus invidiae: Plin. nat. 28, 7, 39; lessico storico in ottica di genere. In: C. Bon- Inschrift auf einer Statuette in Berlin, die auf Jahn 1855, 62; 68; 70; fascinum invidiae: vgl. net/J. Rüpke/P. Scarpi (Hrsg.), Religions diesen Inhalt hinweist: 35 f. mit Lit.; Seligmann Corti 2001, 72; 74; Kuhnert (siehe Anm. 2). orientales – culti misterici. Neue Perspektiven. 1910, fig. 230; Perdrizet 1922, 26 f. fig. 7 f. – 19 Martini 1977, 123. Die Amulette wurden Potsdamer Altertumwiss. Beitr. 16 (Stuttgart Zu den literarischen Quellen: Dunbabin/Dickie zuerst in der Medizin angewendet: Devoto/Mo- 2006) 171. 1983, 10 f. Taf. 8.c. – Zur Erklärung und Ver- layem 1990, 237. 38 Mastrocinque 2003, 25; 32; Maioli 2007, breitung des Motivs: Michel 2001, 268 f. – 20 Mastrocinque 2003, 37. 101. Zu vorgeschriebenen und angemessenen Zur Macht der Salomon-Siegel, wie es oft auf 21 Martini 1977, 154; Maioli 2007, 99. Tagen: vgl. Sfameni 2004, 400. magischen Nägeln erscheint: Bevilacqua 22 Giovannini 2008, 39; Giovannini, in Druck, 39 Martini 1977, 67; 123; Mastrocinque 2001, 143. mit Lit. Diese Form wird in verschiedenen Kul- 2003, 57; Bonner 1950, 2 f. Kontakt war auch 9 Engemann 1975, 34 f. 37 f.; Dunbabin turen und Epochen für Amulette benutzt: vgl. erforderlich, um Schaden zuzufügen: M. W. 1999, 312 fig. 311; Bianchi Bandinelli et al. Hansmann/Kriss-Rettenbeck 1966, 133–139. Dickie, The Fathers of the Church and the Evil 1964, Abb. 196; Levi 1941, 225; Meisen 23 Wie tlw. auch Gemmen, siehe Delatte/ Eye. In: Maguire 2008, 17; Corti 2001, 69; 1950, 156. Inschriften allein wurden auch auf Derchain 1964, 224 cat. 306. Maioli 2007, 101; manchmal auch direkt auf

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dem Schmerzpunkt: Gal., de simpl. med. 136. Siehe auch Anm. 76. District in Trier. RCRF Acta 41, 2010, 606 temp. 10, 19. 54 In der Vorhalle; Dunbabin 1999, 313. fig. 4; 607 fig. 5 f.; 608 fig. 8 f. (retiarius 40 Aus Glas: Giovannini 2008, 16 cat. 12; 55 M. J. Vermaseren, The Hands. Corpus und secutor). Siehe auch Anm. 38. Daremberg/Saglio 1875, 987 s. v. fascinum Cultus Iovis Sabazii. EPRO 100/1 (Leiden 79 Frosch-Darstellungen: Marshall 1911, Pl. (G. Lafaye). 1983) 18 cat. 42. LXX cat. 3095. 41 In Salzburg: E. Krüger, Römische Mosai- 56 Zu Darstellungsweisen des Skorpions: 80 Michel 2001, 264 Kat. 424. ken in Deutschland. Jahrb. DAI 48, 1933, 706 z. B. G. Faider-Feytmans, Les Bronzes ro- 81 Allgemeine Hinweise zur Funktion des Abb. 24. – Zu Beispielen in Syrien, Griechen- mains de Belgique 2 (Mainz 1979) Pl. magischen Nagels: Jahn 1855, 106 f. land und Tunesien siehe Engemann 1975, 129,388.7. 82 Auch auf babylonischen, assyrischen und 27 f. Taf. 8a; 14c; auch auf Schiffsbügen: Se- 57 Siehe auch Kotting 1954, 478; Bevilac- ägyptischen Amuletten: Budge 1930, 85; 91; ligmann 1910, 197; Nowak 2006. qua 2001 (zu magischen Nägeln). 143 f.; Bonner 1950, 205; 243. Im Mittelalter: 42 Dunbabin/Dickie 1983, 32. 58 Dunbabin/Dickie 1983, 24; Bonner 1950, Hansmann/Kriss-Rettenbeck 1966, 176. 43 Nowak 2006, 157; Der Neue Pauly 10 97; 277 Pl. VII,D148. 83 Fellmann 1981, 324. (2001) 308 s. v. Priapos (T. Heinz); Corti 59 Giovannini 2008, 41. 84 Manganaro 2003, 787 Anm. 106. 2001, 73. 60 Felletti Mai 1956, 159 fig. 6. 85 Seligmann 1910, 468; Lane 1989, 23. 44 Corti 2001, 74 und Anm. 15. 61 Dunbabin/Dickie 1983, 18 f. 86 Der Neue Pauly 4 (1998) 681 s. v. Frosch 45 Schon im Mythos von Osiris: Sempere 62 Siehe Anm. 12. (Ch. Hünemörder). Ferrándiz 2006, 268. Osiris verliert den Phallus 63 Levi 1941, 231; Bonner 1950, 77; zum 87 Sempere Ferrándiz 2006, 268; Gassner und deshalb die Regenerationskraft, dagegen Konzept similia similibus: Bienkowski 1893, 2004, 232 f. 236 Abb. 10; Buora/Jobst steht die Sonne Ra, die immer diese Kraft be- 295 f.; Levi 1941, 231. (Anm. 64) 150; G. Stefani (a cura di), Uomo, hält: Goodenough 1953, 239. 64 Giovannini 2008, 41; J. Engemann, Spät- ambiente nel territorio vesuviano. Guida all’an- 46 Siehe Anm. 18. antike Funde an Rhein und Mosel. In: S. Ris- tiquarium di Boscoreale (Pompei 2003) 67; 47 S. F. Pfahl, Die römischen Gesichtsgefä- tow (Hrsg.), Neue Forschungen zu den Anfän- Fellmann 1981, 323; Jahn 1855, 106 Taf. IV ße von Nida-Heddernheim. In: B. Liesen/U. gen des Christentums im Rheinland. Jahrb. 2b; Seligmann 1910, 181 fig. 169; 179; die Brandl (Hrsg.), Römische Keramik. Herstellung Ant. u. Christentum Ergbd. Kl. R. 2 (Münster Verbindung der Sabazios-Symbole mit ande- und Handel. Kolloquium Xanten, 15.–17.6. 2004) 26; Elworthy/Murray 1895, 132; M. ren Göttersymbolen stärkte die apotropäische 2000. Xantener Ber. 13 (Mainz/Rhein 2003) Buora/W. Jobst (a cura di), Roma sul Danubio. Wirkung dieser Votivhände, vgl. Corti 2001, 173–196; R. Chinelli/P. Donat/I. Pavic´ , Impor- Da Aquileia a Carnuntum lungo la via dell’amb- 70; Maioli 2007, 103. tazioni dall’Italia ed elementi di tradizione italica ra. Cat. e monogr. arch. civici musei di Udine 88 Manganaro 2003, 787 Anm. 106: Der nella ceramica romana rinvenuta a Vienna 6, Catalogo della mostra (Roma 2002) 275 f. Unterschied zwischen Frosch und Kröte wird (Austria), con particolare riferimento agli scavi Nr. Vc.3 (?); Mastrocinque 2003, 122. in der griechischen Welt nicht klar ausge- urbani effettuati nel Michaelerplatz (1990/ 65 Delatte/Derchain 1964, 269; Bonner drückt. 1991). RCRF Acta 38, 2003, Anm. 42. 1950, 78 f.; Michel 2001, 216. 89 Außerdem galt sie als unheimlich und 48 S. F. Pfahl, Ein römisches pars pro toto- 66 Campbell 1968, 26. hässlich: Der Neue Pauly 4 (1998) 682 s. v. Doppelbauopfer mit Gesichtstopf der Zeit um 67 Herodot berichtet, dass die magi das Le- Frosch (Ch. Hünemörder); Plin. nat. 32, 18, 200 n. Chr. aus dem Keller eines Wohnhauses ben eines Hundes und das eines Menschen 49: gegen Gift, Ameisen, Hunde wie auch Fie- der Augusta Treverorum. Trierer Zeitschr. 63, gleich einschätzten: Hdt. I 140; Campbell ber oder Ehebruch; zur Belebung oder Steige- 2000, 260; Bauopfer möglicherweise in Frank- 1968, 13. rung der libido. reich: O. Leblanc/A. Desbat, Un lot de cèrami- 68 Levi 1941, 224 mit Lit. 90 Levi 1941, 223. que du début du IIIe siècle à Saint-Romain-en- 69 Mastrocinque 1996, 47; Ulansey 1998, 91 Auch in synkretistischer Weise mit Jupiter Gal (Rhône). Rev. Arch. Narbonnaise 25, 26 f.; Huld-Zetsche 1999, 100. Dolichenus: Campbell 1968, 22. Auf einem 1992, 141; 143 Abb. 11,1. 70 Huld-Zetsche 1999, 100. Blitzbündel: M. Clauss, The Roman Cults of 49 WM Inv.-Nr. 675/1111; M. Kronberger, 71 Nowak 2006, 155. Mithras (Edinburgh 2000) 90. Eine Gemme Herrengasse (in Vorbereitung) Taf. Nr. 30/ 72 Artemidor von Ephesos (von Daldis) 2, mit mithrischer Darstellung zeigt einen Adler 100/1 (Verfärbung T). 32. Außerdem repräsentiert der retiarius das als Symbol des Zeus: Mastrocinque 1996, 50 Pfahl (Anm. 47) 185; Pfahl (Anm. 48) 257; Wasser, stellt zusammen mit dem secutor 48; Mastrocinque 2003, cat. 256. E. Schindler-Kaudelka/F. Butti Ronchetti/G. den Kampf zwischen Mensch und Natur dar 92 Seligmann 1910, 144. Schneider, Gesichtsbecher vom Magdalens- und lässt an Neptun denken, Ethymologie 93 Z. B. Engemann 1975,Taf. 14c, auch Lö- berg im Umfeld der Funde aus Oberitalien. Isid., orig. 18, 54. we Abb. 1. Die Position der beiden Adler unse- RCRF Acta 36, 2000, 275; M. Renard, Pote- 73 PGM IV, 1390–1495; H. D. Betz, The res Objekts erinnert an die Stellung von Cautes ries à masques prophylactiques. A propos Greek Magical Papyri in Translation (Chicago und Cautopates innerhalb mithrischer Darstel- des vases “planétaires”. Latomus 14, 1955, 1992) 64. lungen. 223. 74 Plin. nat. 28, 2, 4. 94 Bonner 1950, 65 f.; Der Neue Pauly 1 51 Manganaro 1996, 138. 75 Siehe z. B. Faider-Feytmans (Anm. 56) (1996/1999) 116 s. v. Adlerstein (Ch. Hüne- 52 Seligmann 1910, 198; Stefani 2005, 139; 160 f. cat. 311–318; Corti 2001, 73. mörder). Engemann 1975, Taf. 13.c, auch in einem Ba- 76 Maioli 2007, 206 cat. 97; De Caro 1994, 95 Er wird auf Votivhänden auch mit Blitz in debassin in Köln, ebd. Taf. 11.d. cat. 265. Aus der Nähe von Wien (Laab im den Klauen dargestellt: Jahn 1855, 105. Auch 53 Stefani 2005, 123 cat. 174; A. Dierichs, Walde) stammt ein bronzener secutor mit ei- für Jupiter gleichgesetzt mit Baal-Hadad, vgl. Klingendes Kleinod. Ein unbekanntes Tintinna- nem riesigen Phallus und einer Ratte: Vindobo- Gassner 2004, 234. bulum in Dänemark. Ant. Welt 2, 1999, 147; na-Katalog 1978, 250 M9 mit Lit. 96 Fellmann 1981, 321; 324 f. 330 Taf. IV; dies., Erotik in der römischen Kunst. Ant. Welt 77 Manganaro 2003, 789. Blinkenberg 1904, 78 fig. 37; 83 f. 106. Sa- Sonderh. 1997 (Mainz/Rhein 1997) 121 Kat. 78 M. K. N. Weidner, The Roman Pottery bazios kann auch als Jupiter verehrt werden:

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Lane 1989, 27; P. Eschbauer/V. Gassner/S. 121 Die beiden hinteren Extremitäten sind an- Wassermann) abgebildet. Jilek et al., Der Kultbezirk des Iuppiter Optimus einandergelegt; ein Schwanz ist nicht zu er- 138 G. Ristow, Mithras im römischen Köln. Maximus Heliopolitanus in den östlichen Cana- kennen. EPRO 42 (Leiden 1974) 22 Abb. 14 Taf. XIII bae von Carnuntum. CarnuntumJb 2003, 159 122 Bevilacqua 2001, fig. 6. (Köln). mit Lit.; LIMC 8 Suppl. 1 (1997) 1068 s. v. Sa- 123 Jahn 1855, 99; Seligmann 1910, 116; Le- 139 Sie wird oft in einem von Löwen gezoge- bazios (R. Gicheva). vi 1941, 222; Devoto/Molayem 1990, 238; Mi- nen Wagen oder auf einem Löwen reitend dar- 97 Campbell 1968, 25. chel 2001, 264 mit Lit.; Plin. nat. 29, 38, 129– gestellt, oder man sieht das Tier neben ihrem 98 Campbell 1968, 23. 130; Ail. nat. 5, 47. Thron: Der Neue Pauly 6 (1999) 952 s. v. Ky- 99 Campbell 1968, 25. 124 Levi 1941, 231; Der Neue Pauly 3 (1997/ bele (S. A. Takacs); Bottini 2005, 227 cat. 100 Levi 1941, 223. 1999) 910 s. v. Eidechse (Ch. Hünemörder); 50; 231 cat. 52; 233 cat. 53. 101 Dunbabin/Dickie 1983, 24; Seligmann Michel 2001, 264 cat. 424 (Ringstein, 3. Jh. 140 Engemann 1975, 25 Abb. 1. 1910, 130. n. Chr.); zusammen mit dem Skorpion: Mast- 141 M. Lavizzari Pedrazzini, Un’impronta di 102 Dunbabin/Dickie 1983, 32 f.; Campbell rocinque 2003, 408. gemma su bicchieri tipo-Aco. In: G. Sena 1968, bes. 21, aber auch 17; Levi 1941, 221. 125 Campbell 1968, 16 f.; Gassner 2004, Chiesa/E. Gagetti (a cura di), Aquileia e la glit- 103 Levi 1941, 231. 234. tica di età ellenistica e romana. Atti del Con- 104 Sfameni 2004, 398. 126 Giuffrè Scibona 1982, 557; Levi 1941, vegno “Il fulgore delle gemme. Aquileia e la glit- 105 Siehe z. B. De Caro 1994, cat. 252. 231 f.: Sie läuft immer in den Bodenritzen. La- tica di età romana”, Aquileia, 19–20 giu. 2008 106 Jahn 1855, 98; Seligmann 1910, 130. ne 1989, 24; Sempere Ferrándiz 2006, 268; ( 2009) 115–117 fig. 6–11. 107 Bottini 2005, 264; Bevilacqua 2001, 141; Fellmann 1981, 323; 327; 330; 338 Taf. 4; 142 Dann aber mit einem astralen Symbol: Dunbabin/Dickie 1983, 33; Zwierlein-Diehl 339 Taf. 5; Collins-Clinton 1977, 35; 40; 43; Mastrocinque 1998, 12; Michel 2001, 156; 1992, 39 f. Sie sind auch Symbole der Ewig- 85 cat. 72a; Pl. XXII.fig. 60: Die ungewöhnli- Giovannini 2008, 41; Bonner 1950, 144. keit: Seligmann 1910, 181. che Konnotation der Eidechse auf einem Ge- 143 Huld-Zetsche 1999, 101. 108 Dunbabin/Dickie 1983, 33; zur For- fäß im Heiligtum des Bacchus lässt daran den- 144 In der zodiakalen Melothesie: A. J. Fes- schungsgeschichte: P. Casari, Un leontocefalo ken, dass immer die Fundsituation berücksich- tugière, La révélation d’Hermès Trismégiste 1 mitriaco nel Civico Museo di Storia ed Arte di tigt werden muss. – Zur Verbindung des Saba- (Paris 1989) 129: Hüfte und Magen; gegen Ko- Trieste. Atti e Mem. Soc. Istriana di Arch. zios mit Amuletten: Giuffrè Scibona 1982, 559. liken: Bienkowski 1893, 296; Mastrocinque 101 N. S. 49, 2001, 161 f. (mit Löwenkopf 127 Gassner 2004, 233. 2003, 41. und Flügeln, umwickelt von Schlangen identifi- 128 Levi 1941, 232. 145 Giovannini, in Druck. zierbar auch mit Ahriman, Gott des Bösen); C. 129 Nachgewiesen auf römischen Artefakten, 146 Michel 2001, 156; 171 mit Lit. (Gemmen); Sfameni Gasparro in: Bottini 2005, 101; zu Va- im europäischen Teil des römischen Reiches: Mastrocinque 2003, 303. rianten: Mastrocinque 2003, 303 mit Lit. H. J. Jesnick,The Image of Orpheus in Roman 147 Manganaro 1996, Taf. XII 7; XI 3a–bund 109 Dunbabin/Dickie 1983, 24; Bonner 1950, Mosaic. BAR Internat. Ser. 671 (Oxford 1997) Lit.; D. Bondoc, Bronzuri figurate romane. Mu- 97; 277 Pl. VII,D148. 89. Der Strauß war eines der gefährlichsten zeul Olteniei Craiova I (Craiova 2000) 56 cat. 110 Dunbabin/Dickie 1983, 9 f. Tiere im Amphitheater, ebd. 82. 56; Dierichs 1999 (Anm. 53) 145–149; Nowak 111 Elworthy/Murray 1895, 132. 130 Bonner 1950, 212–215. 2006, 157; typische Eigenschaft des Dämons: 112 Levi 1941, 221; zu einer Bulle im Louvre 131 Siehe Anm. 8. Jahn 1855, 76; Dierichs 1997 (Anm. 53) 112; mit griechischer Inschrift, in der Dämonen die 132 Dunbabin/Dickie 1983, Taf. 5c–d 28. Corti 2001, 73. Gestalt einer Schlange zugeschrieben wird: 133 Z. B. ist der Schwan Symbol des Früh- 148 Siehe z. B. Maioli 2007, 209 cat. 106; Seligmann 1910, 232. lings: Jahn 1855, 98; Meisen 1950, 155; Dun- Giovannini, in Druck; Maguire 2008. 113 Für die Nägel: Bevilacqua 2001, 141. babin/Dickie 1983, 26 Taf. 7a–b (Marmor- 149 Jahn 1855, 96. Gegen eine Verbindung 114 Seligmann 1910, 131 f.; Stefani 2005, 35; block in Xanthos); der bekannteste Feind des des Konzeptes „Böses Auge“ und „Mithras“: Levi 1941, 221 mit Lit. Die Hände haben auch Bösen Blicks war der Ibis, heiliges Tier des Bonner 1950, 98. eine apotropäische Bedeutung: C. G. Ale- Thoth, des ägyptischen Hermes: H. Seyrig, In- 150 Siehe z. B. Brigetio: Campbell 1968, Pl. xandrescu, Blasmusiker und Standartenträger vidiae medici. 1. La faim de l’ibis et la soif de XXXIII.1727. im römischen Heer (Cluj-Napoca 2010) 239; Tantale. Berytus 1, 1934, 1. Wenn das Auge 151 Z. B. Campbell 1968, Pl. XIII.435. Fellmann 1981, 322. als Horus interpretiert wird, dann ist der Vogel 152 Ulansey 1998; Weiß 2001; Humer 2009, 115 Fellmann 1981, 323; Collins-Clinton Thoth, im Mythos sein Beschützer: Sfameni 25; 27. 1977, 17; 32 f. 41; 34: auch Dionysos konnte 2004, 384. 153 Zur umstrittenen Verbindung von Mithras in Gestalt einer Schlange erscheinen; Blinken- 134 Zwierlein-Diehl 1992, 85; Goodenough und Zoroastrismus: vgl. B. Lincoln, Mithra(s) berg 1904, 106. 1953, 242 mit Lit.; Plin. nat. 10, 40, 75; Iuv. as Sun and Savior. In: Bianchi/Vermaseren 116 Auf magischen Nägeln oft ein achtstrahli- 15, 3. 1982, 506 (proto-indoeuropäische Ursprünge); ger Stern: Bevilacqua 2001, 135–137. 135 Mastrocinque 2003, 63; ein Amulett mit Mastrocinque 1998, 50; 90; 154; Ulansey 117 Elworthy/Murray 1895, 132. dieser Darstellung konnte das Wasser reinigen: 1998, 13; 51 f.; F. Prescendi, Riflessioni e ipo- 118 Kotting 1954, 479; Jahn 1855, 46. Zwierlein-Diehl 1992, 85. tesi sulla tauroctonia mitriaca e il sacrificio 119 De Caro 1994, cat. 253; M.-O. Charles- 136 Giovannini, in Druck. umano. In: Bonnet et al. (Anm. 37) 114; zur Laforge, Le “complexe des rites magiques” et 137 Huld-Zetsche 1999, 101; Ulansey 1998, gesamten Problematik: Der Neue Pauly 8 le culte de Sabazios à Pompéi. Contributi di ar- 22; 48. Für die Verbindung mit Mithras: Bonner (2000) 288 s. v. Mithras (R. Gordon). cheologia vesuviana II. Stud. Soprintendenza 1950, 150; Weiß 2001, 261; Humer 2009, 35 154 Martini 1977, 108; 111; Mastrocinque Arch. Pompei 18 (Roma 2006) 169; in seiner Kat. 30; Campbell 1968, Pl. V 75. Der Löwe 1996, 45. Identifikation mit Zeus: Blinkenberg 1904, ist in mithrischen Darstellungen normalerweise 155 Turchi 1939, 271; I. Chirassi Colombo, Il 106. Siehe auch Anm. 91 und 96. zusammen mit einem Krater/Kelch (oder mit ei- sacrificio dell’essere divino e l’ideologia della 120 Mastrocinque 1996, 47. nem Mann, der diesen ausgießt – aquarius/ salvezza nei tre più noti sistemi misterici dei pri-

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mi secoli dell’impero. In: Bianchi/Vermaseren 2001, 193 f.; Mastrocinque 2003, 78. 192 Für die Gleichsetzung: LIMC 7 Suppl. 1 1982, 309. 174 Budge 1930, 360; Kotting 1954, 474 f.; (1994) 666–687 s. v. Sarapis (G. Cerc/J. Lec- 156 Martini 1977, 111; Clauss (Anm. 91) 81; aber auch Mittel um ewiges Leben zu gewin- lant). Der Neue Pauly 8 (2000) 289 s. v. Mithras (R. nen: Goodenough 1953, 239; F. E. Brenk, 193 Zwierlein-Diehl 1992, 17; Salvetti et al. Gordon); Weiß 2001, 260; Humer 2009, 25. Caesar and the Evil Eye or What to Do with 2004, 467. Das Taurobolium wurde im Frühling zu Ehren “ja› r¸ se* jmom”. In: G. Schmeling/J. D. Mikol- 194 Z. B. finden sich auf demselben Objekt jü- der Kybele abgehalten: Bienkowski 1893, 300. son (Ed.), Qui miscuit utile dulci. Festschrift Es- dische, christliche und heidnische Darstellun- 157 Sfameni 2004, 388; Mastrocinque 1998, says for Paul Lachlan MacKendrick (Waucon- gen: Jahn 1855, 46; Meisen 1950, 157–177; 90; 156: mithrische Themen begegnen auch da, Ill. 1998) 41 f. Bonner 1950, 38 f.; Ensoli/Andaloro 2000, auf anderer Art bei Amuletten. Goodenough 175 Bonner 1950, 133; 154. 379; Mastrocinque 2003, 68; Sfameni 2004, 1953, 240. 176 Sfameni 2004, 390 f. 403; Michel (Anm. 187) 41; Maioli 2007, 101. 158 Hansmann/Kriss-Rettenbeck 1966, 193 177 Mastrocinque 2003, 30; Sfameni 2004, Sogar heidnische Darstellungen in christlichen cat. 608; 198; Fellmann 1981, 316; 323; Giuff- 384. Kontexten: Giovannini, in Druck; synkretisti- rè Scibona 1982, 557; W. Jobst (Hrsg.), Car- 178 Betz (Anm. 73) 68; PGM IV, 1596–1715. sche Glaubenswelt auch auf Metallplättchen: nuntum. Das Erbe Roms an der Donau. Aus- 179 Brenk (Anm. 174) 42; 49; vgl. zum Kon- Kronberger 2005, 141; in Zauberpapyri: Wes- stellungskat. ([Wien] 1992) 51 cat. 8; P. Zsi- zept auch Goodenough 1953, 239. sely (Anm. 191) 183. di/A. R. Furger, Out of Rome. Augusta Rauri- 180 Martini 1977, 131. 195 Dunbabin/Dickie 1983, 28; J. Russell,The ca/Aquincum. Das Leben in zwei römischen 181 Zu seinem solaren Charakter: Ensoli/An- Archaeological Context of Magic in the Early Provinzstädten (Basel et al. 1997) 273; Stefani daloro 2000, 373; Mastrocinque 1998, 12; Be- Byzantine Period. In: Maguire 2008, 44. 2005, 37 (Sabazios war beliebt bei Gladiato- vilacqua 2001, 144. 196 Budge 1930, 358; Deonna (Anm. 12) ren). – Frosch, Schildkröte, Skorpion, Schlan- 182 M. J. Vermaseren, Corpus Inscriptionum 189; M. L. Thomsen, The Evil Eye in Mesopo- ge erscheinen oft auch auf ägyptischen Amu- et Monumentorum Religionis Mithriacae 1 (Den tamia. Journal Near Eastern Stud. 51/1, letten: vgl. Budge 1930, 152. Haag 1956) 147 f. fig. 89 f. cat. 326; Casari 1992, 27: ab Ende 3. Jahrtausend v. Chr. 159 Turchi 1939, 275. (Anm. 108) 164; P. Liverani, L’antiquarium di 197 Dunbabin/Dickie 1983, 29; Donati 2000, 160 Charles-Laforge (Anm. 119) 173; Corti villa Barberini a Castel Gandolfo, Monumenti cat. 21; Salomon-Siegel: Engemann 1975, 37. 2001, 70. e Gallerie Ponteficie (Città del Vaticano 1989) 198 Sfameni 2004, 399; Kondoleon 2000, 161 Collins-Clinton 1977, 42; Bevilacqua 97 f. fig. 36.1–2. 163–167 (Antiochia). 2001, 141. 183 Siehe Anm. 108; Mastrocinque 1998, 91; 199 Engemann 1975, 37; Salvetti et al. 2004, 162 LIMC 8 Suppl. 1 (1997) 1070 s. v. Saba- vgl. dagegen: Felletti Mai 1956, 151. 467. zios (R. Gicheva); Corti 2001, 70. 184 Sfameni 2004, 389; Michel 2001, 170. 200 Engemann 1975, 22 f. 43 f.; H. Maguire, 163 Mastrocinque 2003, 420 cat. 390. 185 Delatte/Derchaine 1964, 134 cat. 172; Magic and Geometric in Early Christian Floor 164 Festugière (Anm. 144) bes. 128 f.; Mast- Jahn 1855, 50; Ensoli/Andaloro 2000, 377. Mosaics and Textiles. In: H. Maguire (Ed.), rocinque 2003, 40–42; 116 f.; Sfameni 2004, 186 Lincoln (Anm. 153) 511. Rhetoric, Nature and Magic in Byzantine Art 387 (Hl. Buch der Dekane); Maioli 2007, 102; 187 S. Michel, Die magischen Gemmen: zu (Brookfield et al. 1998) 268; Dickie (Anm. 39) L. Bellizia, Da Teucro il Babilonio a Palazzo Bildern und Zauberformeln auf geschnittenen 11. Schifanoia: I Decani (Ferrara 2009). Steinen in der Antike und Neuzeit. Stud. War- 201 Seligmann 1910, 420 zu den Kirchenvä- 165 Seligmann 1910, 154; Bonner 1950, 98; burg-Haus 7 (Berlin 2004) 38; 41 mit Lit. tern und passim; Hansmann/Kriss-Rettenbeck Engemann 1975, 31; Dunbabin/Dickie 1983, 188 Goodenough 1953, 239; dazu auch Do- 1966, 178 f.; Engemann 1975, 37 f.; Donati 32; Salvetti et al. 2004, 468. nati 2000, 196. 2000, cat. 21; L. Cracco Ruggini, A proposito 166 Angesichts der Konzentration von Amu- 189 Paris 1981, 242; Salvetti et al. 2004. di Dura Europos: l’acculturazione ebraica nel letten in der syrisch-ägyptischen Welt/Palästi- 190 V. Tran Tam Tinh, Iconographie d’Isis, tardo ellenismo. Mediterraneo Ant. 6/2, 2003, na – vgl. z. B. Bonner 1950 – ist die Darstel- Etat des études iconographiques à Isis, Séra- 679. Sogar Bischöfe und Priester trugen selbst lung von exotischen Tieren nicht verwunder- pis et Sunnaoi Theoi. In: ANRW II.17.3 (Berlin, Amulette: Devoto/Molayem 1990, 238. lich, aber auch in Italien: hier Tab. 2 Nr. 5. New York 1984) 1721; die Mithrasanhänger 202 G. Vikan, “Guided by Land and Sea”. Nach Artemidor von Ephesos (von Daldis) 2, haben manchmal auch Serapis verehrt: M. J. Pilgrim Art and Pilgrim Travel in Early Byzan- 12 ist der Elefant kein gutes Vorzeichen; auch Vermaseren/C. C. Van Essen,The Excavations tium. In: J. Engemann/E. Dassman (Hrsg.), Jahn 1855, 97. Er kann möglicherweise Kro- in the Mithraeum of the Church of Santa Prisca Tesserae. Festschrift für Josef Engemann. nos zugewiesen werden: Mastrocinque 2003, in Rome (Leiden 1965) 134. Jahrb. Ant. u. Christentum Ergbd. 18 (Münster 410. 191 Michaelis 1885, 317 mit Lit.; Dunbabin/ 1991) 74 (bzgl. 4.–7. Jh. n. Chr.). 167 Tausendfüßler ebenfalls oft auf Amuletten Dickie 1983, Taf. 7a–b; 26; Bonner 1950, 96; 203 Allgemein zu Beispielen im Osten: Dunba- und Gemmen: vgl. Dunbabin/Dickie 1983, 24 Kotting 1954, 479; Engemann 1975, 31; Mast- bin/Dickie 1983, 27 f. Besonders Antiochia, und auf Lampen (ebd. Taf. 5a–b). rocinque 2003, 418. Serapis wird auch auf wo verschiedene Religionen aufeinandertrafen: 168 Mastrocinque 2003, 121. den goldenen lamellae angerufen (vgl. A. Gio- Kondoleon 2000, 197. 169 Corti 2001, 70. vannini, Un pendente-amuleto del Museo Ar- 204 Dunbabin/Dickie 1983, Taf. 5a–b. 170 Levi 1941, 222; 231 f. – Artemidor von cheologico Nazionale di Aquileia. Significati e 205 Paris 1981, 242, Terminus ante quem: Ephesos (von Daldis) 2, 13, 101 f. correlazioni cultuali. Aquileia Nostra 72, 2001, Erdbeben in Antiochia 115 n. Chr. – Auch für 171 Goodenough 1953, 239; Goodenough 170) und auf gnostischen Gemmen (Devoto/ das in Tab. 2 Nr. 25 gelistete Stück wird eine (Anm. 17) 54; auch: Budge 1930, 364; Hans- Molayem 1990, 238), gleichgesetzt mit Askle- phrygische Mütze beschrieben: Daremberg/ mann/Kriss-Rettenbeck 1966, 179; Maloney pios (Sfameni 2004, 396). Zu Serapis, Mithras, Saglio 1875, 886 s. v. fascinum (G. Lafaye). 1976, 2; Donati 2000, cat. 21. Helios in Zauberpapyri: C. Wessely, Bericht 206 Mastrocinque 1998, 156: mit Hilfe des 172 Delatte/Derchain 1964, 73 cat. 89. über griechische Papyri in Paris und London. Mithraismus wurden die orientalischen Lehren 173 Zur Interpretation von Chnoubis: Michel Wiener Stud. H. 2, 1886, 183; 202. und Religionen für Legionssoldaten und Ver-

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waltungsbeamte vereinfacht; so auch Humer national sur les études Isiaques, Lyon 16–17 christlichen Amulett vom norischen Limes. In: 2009, 26. Orientalische Kulte sind in Aquileia, mai 2002 (Leiden 2004) 451. G. Grabherr et al. (Hrsg.), Vis Imaginvm. Fest- einem wichtigen Truppenverteilungsort in der 210 Freundl. Mitt. M. Mosser. schrift für E. Walde zum 65. Geburtstag (Inns- Spätantike, nachgewiesen: Giovannini (Anm. 211 Für die teilweise Anwesenheit der legio X bruck 2005) 542–547 könnten Soldaten in der 191) 170; M. Scotti Maselli, Presenze di culto im Orient: Vindobona-Katalog 1978, 49. Der Spätantike üblicherweise Amulette getragen mitraico nell’alto Adriatico. In: M. Buora (a cura Besitzer könnte auch direkt von den orientali- haben. di), Le regioni di Aquileia e Spalato in epoca ro- schen Kultgemeinschaften in Carnuntum (vgl. 213 Kronberger 2005, 138–141: Taf. 29 Grab mana. Convegno Castello di Udine 4 apr. V. Gassner, Heiligtümer in Carnuntum – ein kri- B6,2 (Lunulaanhänger, 2.–1. H. 3. Jh. n. Chr.); 2006 (Treviso 2007) 81–106. tischer Überblick. In: Stadt und Landschaft in Mädchengrab B3 mit Anhängern, darunter ein 207 M. Mosser, Die Steindenkmäler der legio der Antike. Anodos Suppl. 3 [Trnava 2003] lunulaförmiger: Taf. 28 (2. H. 3.–Anf. 4. Jh. XV Apollinaris. WAS 5 (Wien 2003) 125; 267 135–151; Eschbauer/Gassner/Jilek et al. n. Chr.); goldene Amulettkapsel Taf. 32 Grab Kat.-Nr. 204 Taf. 27,204 (Dat. 71–114 [Anm. 96]) beeinflusst worden sein: siehe E. C2,3 (spätes 3.–Anf. 4. Jh. n. Chr.). n. Chr.). Schwerthem, Die Denkmäler orientalischer 214 Sfameni 2004, 403. 208 D. Schön, Die orientalischen Kulte im rö- Gottheiten im Römischen Deutschland. EPRO 215 Manchmal sind die Symbole auch auf ein mischen Österreich (Diss. Univ. Innsbruck 40 (Leiden 1974) 309 f. – Zur Verbreitung: G. und derselben Ebene mehrschichtig (z. B. 1984) 32. Lipovac-Vrljan, Mithraic Center on the Road mehrere Krankheiten). 209 Vindobona-Katalog 1978, 64 S 51 = CIL Comunications in Croatia (Parts of Roman Dal- 216 Seligmann 1910; Hansmann/Kriss-Ret- III 4560–4561 (aus Legionslager; 198–200 matia, Pannonia Inferior, Pannonia Superior tenbeck 1966, 178 f. Kat. 568; Maloney n. Chr.); S 70 = CIL III 14.359 (Sieveringer and Histria): The Example of Mursa. Akten 1976; Thomsen (Anm. 196) 26. Straße); U. Eisenmenger/E. Eleftheriadou, Ein des Internationalen Symposium, Ptuj 11.–15. 217 Sfameni 2004, 403. neues Schlangengefäß aus dem Legionslager Oktober 1999. Arch. Poetovionensis 2 (Ptuj 218 Mastrocinque 1998; in der ägyptischen Vindobona. FWien 3, 2000, 38; M. Mosser, 2001) 236. Schön (Anm. 208) 21–24; 33, Religion war die Magie eine Göttermacht: Sfa- Die römischen Truppen in Vindobona. FWien 117 betont, dass die Dedikanten in Carnuntum meni 2004, 397. 8, 2005, 127. Allgemein für Pannonien: A. Per- nicht nur Soldaten waren. – Zur Problematik 219 Zwierlein-Diehl 1992, 17. rissin Fabert, Isis et le dieux orientaux dans allgemein Mastrocinque 1998, 137. l’armée romaine. Actes du IIème Colloque Inter- 212 Nach H. Ubl, Gedanken zu einem früh-

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Phallus Skorpion Hund Dolch Dreizack Frosch Rabe Adler Schlange Blitzbündel Eidechse Löwe Stelzenläufer Amulette A (Wien) x x x x x x x – x –––– B (Fuveau) x x x –– – ––xx xxx Nr. 1 x x x –– – ––xx xxx Nr. 2 x x x –– – ––– x? x x x Nr. 3 x x –– – – ––xx x– x Nr. 4 x x x –– – ––xx xxx Nr. 5 x x –– – – ––x x x? x? x? Nr. 6 x x x – x –––xx – xx Nr. 7 x x x? –– – ––x – x? x? x? Nr. 8 x –––––––xx ––– Nr. 9 –– –––––––– – –– Nr. 10 – xx?–– – ––x ––x – Nr. 11 –– x? x x ––x? x – x – x Gemmen Nr. 12 – x –– – x ––x – x –– Nr. 13 –– –––––x – x ––– Nr. 14 – xx–– – ––xx – x – Nr. 15 – x – x ––––xx – x – Nr. 16 – x –– – x ––x – x –– magische Nägel Nr. 17 – xx–– xx– x – x –– Nr. 18 – x –– – – ––xx ––– Lampe Nr. 19 x x –– – x ––– – – –– Mosaike Nr. 20 x x x x x – x – x –––– Nr. 21 – x –– – – x – x ––x – Reliefs Nr. 22 x? x – xx –––x –––– Nr. 23 – x –– – – x – x – x? –– Nr. 24 – xx–– – x? x? x – x –– Nr. 25 – x – xx – x – x ––xx Nr. 26 x x –– x – x – x –––– Nr. 27 –– ––––––x –––– Wandmalereien Nr. 28 – x? – x ––––x –––– Nr. 29 –– –x ––x – x –––– Terrakotta Nr. 30 –– x –– – ––x? ––x? –

Tab. 1: Die Motive auf den Amuletten aus Wien und Fuveau in vergleichbaren Darstellungen (Nr. beziehen sich auf die Vergleichsstücke in Tab. 2).

Jahn Elworthy/ Seligmann Engemann Varia 1855 Murray 1910 1975 1895 Nr. Objekt Amulette 1 Metallamulett – FO: Sizilien; AO: Taf. III 2 Fig. 14 Fig. 117 Abb. 2 Caylus 1764, Pl. XXXVIII,3; du Chastel de la Howarderie Spa (Belgien), Slg. du Chastel 1898, 459; Meisen 1950, 153 f. de la Howarderie 2 Metallamulett; AO: Wien, KHM Taf. III 3 Fig. 15 Fig. 118 Abb. 2 Arneth 1850, 30 S IV G96 Fig. 69; Sacken/Kenner 1866, 351 Kat. 41; Daremberg/Saglio 1875, s. v. fascinum (G. Lafaye) fig. 2888; Meisen 1950, 154. 3 Metallamulett – FO: Hercula- Taf. III 4 Fig. 16 Fig. 119 Abb. 2 Caylus 1762, Pl. LVII,1–2; Meisen 1950, 154; Koenig 1975, neum Abb. 32b. 4 Metallamulett – AO: Velletri –– – – Zoega 1878–1880, III cat. 19; Bonner 1950, 98. (Rom), Museo Borgiano 5 Metallamulett – FO: Massa Ma- –– – – Camporeale 1985, cat. 398. rittima (Toskana) 6 Metallamulett – AO: London, –– – Taf. 11c Marshall 1911, Pl. LXVIII cat. 2888. British Museum (Slg. Towneley)

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7 Metallamulett – AO: London, Bri- –– – – Marshall 1911, Pl. LXVIII cat. 2887. tish Museum (Slg. Hamilton) 8 Metallamulett – AO: Rom, Musei –– – – Donati 2000, 196 cat. 21. Vaticani (Slg. Bonifacio Falcioni) 9 Metallamulett – AO: Paris, – Fig. 12 Fig. 133 –– Louvre 10 Metallamulett – AO: London, Bri- –– – – Marshall 1911, Pl. LXVIII cat. 2889. tish Museum (Slg. Towneley) 11 Metallamulett – FO: Mainz; AO: –– 152 Kat. 11 – Michaelis 1885, 313; De Witte/De Jonghe 1898, 372; Brüssel Meisen 1950, 153 f. Gemmen 12 Gemme – AO: Florenz Taf. III 5 Fig. 17 Fig. 120 – Meisen 1950, 154. 13 Onyx – AO: „Sammlung Gerhard“ Taf. III 7 Fig. 18 Fig. 121 – Meisen 1950, 154. 14 Gemme – AO: New York, Metro- – Fig. 19 Fig. 122 – King 1887, 256 fig. 11; Levi 1941, 221 fig. 101a; Meisen politan Museum 1950, 154; Bonner 1950, 98. 15 Gemme – Zeichnung von F. –– – – Mastrocinque 2003, 420 cat. 390. Buonarotti 16 Glaspaste – AO: Berlin Taf. III 6 Fig. 17 –– Meisen 1950, 154. magische Nägel 17 Nagel – AO: Rom, Museo Nazio- Taf. III 9 – Fig. 24 – Goodenough 1953, II fig. 1139; Bevilacqua 2001, 134 f. nale Romano fig. 4. 18 Nagel – AO: Paris, Cabinet des –– – Abb. 7 Bevilacqua 2001, 140 fig. 11. Mèdailles Lampe 19 Keramiklampe – AO: Berlin Taf. IV 1 – Fig. 51 – Meisen 1950, 154 f. Mosaike 20 Mosaik – FO: Jekmejeh (bei An- –– – Taf. 10a.b.c Levi 1941, Pl. 56; Dunbabin/Dickie 1983, Taf. 8a; tiochia am Orontes, Türkei); AO: Dunbabin 1999, fig. 311; Manganaro 1996, tav. XII 8; Antakya Müzesi Kondoleon 2000, 165 fig. 1. 21 Mosaik – FO: Rom, Basilica Hila- – Fig. 159 Fig. 124 Taf. 11a.b Bienkowski 1893, 286; Perdrizet 1922, fig. 9; riana (Ospedale Militare del Bonner 1950, 98; Meisen 1950, 154; Koenig 1975, Abb. Celio) 32a; Salvetti et al. 2004, 465; 474 fig. 4; Bottini 2005, 80. Reliefs 22 Felsrelief – FO: Burdur (Anatolien, –– – Taf. 12e – Türkei) 23 Grabdenkmal – FO: Auzia (Alge- –– Fig. 125 Taf. 13b Bonner 1950, 99; Meisen 1950, 154; Salvetti et al. 2004, rien) 467. 24 Relief – FO: Via Appia, Rom; –– – Taf. 12c.d Bonner 1950, 98; Paris 1981, III 36. AO: Rom, Museo Nazionale Romano 25 Relief – AO: Bedfordshire (Eng- Taf. III 1 Fig. 24 Fig. 123 Abb. 4 Taf. Millingen 1821, Pl. VI.74; Michaelis 1855, 313; land), Woburn Abbey 9a Daremberg/Saglio 1875, s. v. fascinum (G. Lafaye) fig. 2887; Meisen 1950, 155; Corti 2001, 81 fig. 1; Nowak 2006, 153 fig. 4.6. 26 Relief – FO: Leptis Magna (Li- –– – Taf. 8b Bianchi Bandinelli et al. 1964, fig. 196–197. byen) 27 Relief – AO: Museo Archeo- 72 ––Taf. 9b.c Scrinari 1972, fig. 572; 574 cat. 574 f. logico di Aquileia Wandmalereien 28 Wandmalerei – FO: Dura-Euro- –– – Abb. 8 Goodenough 1953, II fig. 46 f.; III fig. 1065 f. pos (Deckenkassette) 29 Wandmalerei – FO: Dura-Euro- –– – Abb. 5 Meisen 1950, 156 pos Terrakotta 30 Terrakotta-Applike – FO: Koe- –– – Abb. 3 Bonner 1950, 99. nigshoffen, Straßburg

Tab. 2: Vergleichsbeispiele zu Darstellungen des „Bösen Auges“–Konkordanz der relevanten Literatur (FO: Fundort; AO: Aufbewahrungs- ort nach zitierter Literatur).

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Taf. 1: Vergleichsbeispiele zu den Darstellungen auf dem Goldamulett aus Wien (Nummern beziehen sich auf Tab. 2). (Nr. 1 nach Du Chastel de la Howarderie 1898, Abb. S. 459; alle anderen nach Seligmann 1910, Fig. 117; 119; 120; 122–124; 133)

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Fundort Wien 13, 2010. – Urheberrechtlich geschützt, Keine unerlaubte Vervielfältigung gestattet. © Museen der Stadt Wien – Stadtarchäologie Aufsätze M. Mosser/Th. Pantzer, Ein römischer Altar im Wiener Augustinerkloster

Ein römischer Altar im Wiener Augustinerkloster

Martin Mosser/Theresia Pantzer

Dank eines Hinweises auf einen bis zu diesem Zeitpunkt in der Forschung un- 1 GC: 2009_04. Für den Hinweis auf den bekannten Römeraltar in der Loretogruft der Wiener Augustinerkirche (Wien 1, Altar, der als „römischer Stein“ in Dehio Wien 2003, 35 eine kurze Erwähnung findet, sei Re- Augustinerstraße) kam es zunächst im Jahr 2009 zu Besichtigungen vonseiten nate Kohn (ÖAW) und Ingrid Weber-Hiden der AutorInnen.1 Auch wenn eine erste Lesung der Inschrift bereits durchge- (Universität Wien) sehr herzlich gedankt. führt werden konnte, steckte der Sockel des Altars zu diesem Zeitpunkt noch 2 Unser besonderer Dank gilt Pfarrer Pater A. Scheuch für die unbürokratische Unterstüt- im Erdreich (Abb. 1). Daher wurde mit dem verantwortlichen Pater des Augus- zung des Projekts. An den Grabungen selbst tinerklosters, Pfarrer Albin Scheuch, vereinbart, am 28. Jänner 2010 im beteiligten sich neben den AutorInnen noch S. Fasching, A. Ginalis, Ch. Reisinger, R. Sko- Rahmen der vollständigen Freilegung des römischen Steindenkmals auch stra- morowski, St. Stefan. Für die fotografische tigraphische Untersuchungen in der unmittelbaren Umgebung des Altars Dokumentation und die Aufnahme des Altars durchzuführen, um eventuell nähere Aufschlüsse über die Herkunft bzw. die in die Web-Plattform www.ubi-erat-lupa.org (ID-Nr. 15673) danken wir Ortolf und Friederike Auffindungsumstände gewinnen zu können. Die Grabungen konnten in der Fol- 2 Harl. ge unter reger Anteilnahme von FachkollegInnen im Zuge einer eintägigen 3 Siehe ausführlich R. Perger/W. Brauneis, Kampagne zwar nicht alle Fragestellungen klären, aber doch neue Aspekte Die mittelalterlichen Kirchen und Klöster Wiens. Wiener Geschichtsbücher 19/20 (Wien, zur Diskussion stellen. Hamburg 1977) 155–164; F. Czeike, Histori- 2 – 3 sches Lexikon Wien 1 (Wien 2004) 195 197 Zur Geschichte der Augustinerkirche s. v. Augustinerkirche; Reichel 1996; Dehio Wien 2003; für weitere Detailangaben danken Im Jahr 1327 stiftete Friedrich der Schöne ein Areal in unmittelbarer Nachbar- wir Pater A. Scheuch. schaft der Wiener Hofburg, auf dem in der Folge das Augustinerkloster samt 4 Vgl. F. Rennhofer, Die Augustiner-Eremi- Kirche und Friedhof entstand (siehe auch Abb. 8).4 Dieses lag unmittelbar an ten in Wien (Würzburg 1956) 52; 55–66; H. Rauscher-Csanadi, Untersuchungen zur mittel- der damaligen Hochstraße, einem Straßenzug, der auf die antike, durch die rö- alterlichen Baugeschichte der Wiener Augusti- mischen canabae legionis von Vindobona führende Limesstraße zurückgeht nerkirche und Georgskapelle (Dipl. Univ. Wien (heute Augustinerstraße). Dem Klosterbau fielen fünf Häuser und eine Badstu- 1997). 5 5 Bruchsteinfundamente dieser Bebauung be zum Opfer. Die Augustiner-Eremiten übersiedelten nach Fertigstellung aus an der Hochstraße vor Errichtung des Klosters der Vorstadt beim Werdertor in die neue Anlage an der Hochstraße.6 Im Zuge wurden 1996 anlässlich von Restaurierungsar- der Gegenreformation ersetzte Ferdinand II. im Jahr 1630 die Beschuhten beiten entdeckt; GC: 1996_21; Reichel 1996, 53. durch die aus Prag berufenen strengeren Unbeschuhten Augustinermönche 6 Der gemauerte Latrinenturm der Augusti- (Augustiner-Barfüßer) und machte die Kirche 1634 zur Hofkirche. In der damals ner an der mittelalterlichen Stadtmauer, nur ca. im mittleren Kirchenschiff errichteten Loretokapelle ließ Ferdinand II. das „Herz- 30 m westlich der Fundstelle des Altars, wurde 1999 archäologisch dokumentiert; E. H. Hu- grüftel“ einbauen, eine Begräbnisstätte für die Herzen der verstorbenen Habs- ber, Wien 1, Albertina. FWien 3, 2000, 206– burger. Auch Abraham a Santa Clara lebte im 17. Jahrhundert im Kloster und 209; S. Fritsch (mit einem Beitrag von S. Czei- hielt in der Kirche seine berühmten Predigten. Ende des 18. Jahrhunderts kam ka und U. Thanheiser), Essen im Augustiner- kloster in Wien (Spätmittelalter/Frühe Neuzeit) es unter Joseph II. zu einer Regotisierung der seit 1631 barockisierten Kirche, – Rekonstruktionsversuch der klösterlichen Er- und sie wurde auch Stadtpfarre. Aufgrund fehlenden Nachwuchses übernah- nährung mit Unterstützung schriftlicher Quellen und bioarchäologischer Funde. FWien 6, men ab 1838 Säkularkleriker die Kirche. 1848 wurde sie durch einen Brand 2003, 188–197; vgl. Perger/Brauneis (Anm. stark beschädigt und 1873 erfolgte eine umfangreiche Restaurierung, bei wel- 3) 158. cher auch ausgedehnte Gruftanlagen freigelegt wurden. Nach Wiederherstel- 7 C. Wolfsgruber, Geschichte der Loreto- kapelle bei St. Augustin in Wien (Wien 1886) lung der Kriegsschäden des Zweiten Weltkriegs bezogen 1951 wieder die Au- 4und8. gustiner-Eremiten Pfarre und Kloster.

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Zur Geschichte der Loretogruft (Abb. 2) Ein wichtiger Punkt im Zusammenhang mit der Auffindung des römischen Al- tars in der heutigen Loretogruft ist die Frage nach dem Errichtungszeitpunkt der Gruft. Hier sind allerdings – zumindest aus der Sekundärliteratur – keine exakten Daten eruierbar. Die nicht mit der heutigen Gruft zu verwechselnde erste Loretogruft entstand 1657/58 unterhalb der bereits oben erwähnten Loretokapelle im mittleren Kir- chenschiff, die 1784 abgebrochen und in Räumlichkeiten westlich der Kirche verlegt wurde.7 Hier befand sich zuvor ab 1627 die Kapelle der Totenbruder- schaft, die sich um die Beerdigung von Hingerichteten kümmerte. Diese Bru- derschaft war im gleichen Jahr wie die erste Loretokapelle durch Kaiserin Eleo- nore gegründet worden und erhielt ihren Sitz im Bereich des 1341 geweihten südlichen Kreuzgangflügels mit dem Kapitelsaal des Klosters (= Vorhalle der Georgskapelle und anschließender Raum).8 Darunter befand sich die Gruft der Bruderschaft, wobei nicht klar ist, zu welchem Zeitpunkt diese angelegt wurde. Ab 1657 sind jedenfalls in dieser Gruft Bestattungen von Adelsfamilien nachweisbar.9 Nicht zuletzt die archäologischen Untersuchungen im Jänner 2010 weisen da- rauf hin, dass der an einem Pfeiler der Gruft stehende römische Altar wohl im Abb. 1: Römischer Jupiteraltar vor der Freile- Zuge der Errichtung aufgefunden und vor Ort belassen wurde. gung im Jänner 2010. (Foto: M. Mosser)

Die archäologischen Untersuchungen (Abb. 3) 8 Dehio Wien 2003, 21. Hinweise auf den Der Altar steht im in der Grundfläche etwa 6613 m großen, vorderen Gruft- gotischen Kreuzgang ergaben Freilegungen 1960 und 1999: S. 24; Reichel 1996, 53. raum. Dieser ist vom fünften Joch des westlichen Kirchenseitenschiffes aus 9 Wolfsgruber (Anm. 7) 53 f.; Dehio Wien durch Abnahme der Bodenplatten (Niveau Kircheninnenraum: 18,62 m über 2003, 19–21; 31 f. 35. Wr. Null) zugänglich.10 Eine Reihe aus drei im Grundriss quadratischen, ver- 10 Dieser Zugang wurde in seiner heutigen Form im Rahmen der Restaurierungsarbeiten putzten Pfeilern, die ein Kreuzgratgewölbe tragen, teilt den Raum in zwei Hälf- der Jahre 1996–2000 geschaffen; vgl. Reichel ten. An der Ostseite des hintersten (westlichen) der drei Pfeiler steht unmittel- 1996, 53; Dehio Wien 2003, 23.

Abb. 2: Die heutige Loretogruft, nach Westen. (Foto: M. Mosser)

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Abb. 3: Archäologische Aufnahme der Befunde innerhalb der Loretogruft im Bereich des Jupiteraltars. (Plan: M. Mosser)

bar davor gesetzt der römische Jupiteraltar. Den Boden der Gruft bildet über die gesamte Fläche ein aufplanierter, ockerfarbener, lössartiger, relativ lockerer, sandig-lehmiger Stampfboden, dessen Oberfläche ca. 3,80 m unterhalb des Kirchenbodens liegt (OK: 14,80–15,00 m über Wr. Null, nach Osten anstei- gend). Dieser Horizont war ca. 0,30 m stark und mit Ziegelbruch sowie in ge- 11 Für die vorläufige Bestimmung der etwa ein Dutzend Keramikfragmente danken wir K. ringen Mengen mit Holzkohle, Mörtelgries, Kieseln und Ziegelsplitt durchsetzt Adler-Wölfl, I. Gaisbauer und M. Kronberger. und enthielt sowohl römische als auch mittelalterliche Keramik.11 Dislozierte Es handelt sich neben zwei mittelalterlichen menschliche Knochen, Schuhsohlenreste und eine planierte Lage eines Holz- Fragmenten um Keramik des 2. und 3. Jh. (inkl. eines Wandstückes Terra Sigillata aus sarges mit eisernem Sargring innerhalb der Schicht weisen auf einen aufgelas- Rheinzabern). Hervorzuheben ist allerdings senen Bestattungshorizont hin. Auch Grabgruben, die in den darunter folgen- ein größeres, reduzierend gebranntes Teller- den anstehenden Löss (14,50 m über Wr. Null) eingetieft und mit dem erwähn- fragment, welches Ende 3./4. Jh. zu datieren ist; vgl. B. Petznek, Römerzeitliche Ge- ten Planiermaterial verfüllt waren, sind mit diesen ersten Bestattungen in der brauchskeramik aus Carnuntum. Teil 1. Car- Gruft in Verbindung zu bringen. Für den Gewölbepfeiler, an welchem der römi- nuntumJb 1997 (1998) 262 f.; dies., Römer- sche Altar stand, konnte ein massives Fundament aus stark vermörtelten zeitliche Gebrauchskeramik aus Carnuntum. Teil 2. CarnuntumJb 1998 (1999) 371 Taf. Bruchsteinen und Ziegelbruch dokumentiert werden (Abb. 4). Dieses springt 51.1038 Typ 21.6; V. Gassner/S. Jilek, Car- – zumindest im untersuchten Bereich unterhalb des Altars – 0,50 m gegenüber nuntum zur Zeit der Soldatenkaiser – eine Be- standsaufnahme. In: J. Tejral (Hrsg.), Das mit- dem aufgehenden Pfeiler vor. Die freigelegte Fundamentoberkante liegt bei teleuropäische Barbaricum und die Krise des 14,38 m über Wr. Null. Über dem Pfeilerfundament folgt eine 0,12 m dicke Bau- römischen Weltreiches im 3. Jahrhundert. Spi- grubenverfüllung, die mit der erhaltenen Oberfläche des anstehenden ockergel- sy Arch. Ústavu AV Cˇ R Brno 12 (Brno 1999) 57–62 Abb. 8; Kronberger 2005, 162 Grab ben Löss abschließt. Dieses Verfüllmaterial war in seiner Zusammensetzung, B2 Taf. 27,4; Grab H1 Taf. 35,3–4. Farbe und Konsistenz nicht von der jüngeren, darüber liegenden, bereits oben

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Abb. 4: Altar, Baugrube und Pfeilerfundament während der Ausgrabung im Jänner 2010. (Foto: M. Mosser) beschriebenen Aufplanierung zu unterscheiden. Der römische Altar stand – mit der Baugrubenkante abschließend – mit der Unterkante unmittelbar auf dieser Verfüllung auf Höhe des anstehenden Löss, was als Indiz für eine intentionelle Aufstellung unmittelbar nach Fertigstellung der Gruftanlage zu interpretieren ist. Die Auflassung und Planierung des älteren Bestattungshorizontes bewirkte in weiterer Folge, dass das Bodenniveau auf bis zu 15,00 m über Wr. Null ange- hoben und damit auch der Sockelbereich des Altars abgedeckt wurde. Welche archäologischen Anhaltspunkte gibt es nun zur Datierung der Gruftan- lage: Die Aufplanierung nach Auflassen des ältesten Bestattungshorizontes ist ohne Zweifel ins 17. Jahrhundert zu datieren, da die bei den Holzsargresten gefun- denen Metallringe jenen der ab 1657 aufgestellten Metallsärge entsprechen. Auch beim durchaus zahlreich vorhandenen Ziegelbruch, der in der Aufplanie- rung gefunden wurde, handelt es sich um neuzeitliches Material. Der Errichtungszeitpunkt der Pfeilerreihe, der offensichtlich im Kontext mit der Aufstellung des römischen Altars zu sehen ist, wäre durch das Fundmaterial in- nerhalb der Baugrubenverfüllung zu fassen. Diese enthielt allerdings neben un- signifikanten Eisennägeln keine datierende Keramik. Ziegelbruch innerhalb des Pfeilerfundaments, der Stil der Kreuzgratgewölbe sowie eine Ritzinschrift mit der Jahresangabe „1638“, die in den Verputz des Pfeilers unmittelbar über den Altar gesetzt ist, deuten aber auf eine entsprechende Errichtungszeit.

Der Jupiteraltar des Pomponius Respectus (Abb. 5–7) Bei dem Inschriftstein handelt es sich um eine Ara aus Marmor von 94,5 cm Höhe, 61 cm Breite und 47 cm Tiefe, die von einem viereckigen ebenen Auf- satz bekrönt wird (Abb. 5). Zu beiden Seiten weist dieser pulvini mit dreiglied- rigen Rosetten auf. An der Vorderseite ist er mit einem flachen Giebel mit einem Palmettenmuster verziert. Die Oberfläche sowie die glatten Seitenflächen sind

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durch mehrere Kratzer gestört. Die Lesung der Inschrift ist aber trotz der Ver- sinterung klar und unzweifelhaft (Abb. 6):

I(ovi) O(ptimo) M(aximo) Pompo(nius) Respe- ctus optio v(otum) s(olvit) l(ibens) l(aetus) m(erito) Faustino et Rufino co(n)s(ulibus)

„Dem Jupiter Optimus Maximus. Der optio (= Unteroffizier) Pompo(nius) Res- pectus hat sein Gelübde gerne und freudig nach Verdienst eingelöst. Als Faus- tinus und Rufinus Konsuln waren.“ Glücklicherweise trägt der Votivstein eine Datierung und kann damit chronolo- gisch genau eingeordnet werden. Eine Jahresangabe nach Konsuln war gera- de für Weihungen von Heeresangehörigen ab der zweiten Hälfte des 2. Jahr- hunderts üblich. Hier sind M. Acilius Faustinus und A. Triarius Rufinus gemeint, die ordentlichen Konsuln des Jahres 210 n. Chr. Der Weihende bezeichnet sich als optio, gibt also seinen Dienstgrad an, den er bei der Armee hatte, nicht aber die Einheit, der er angehörte. Ob er damit sei- nen Dienstrang besonders betonen wollte oder ob er die Nennung schlicht für unnötig erachtete, weil jeder Leser sofort gewusst haben dürfte, um welche Einheit es sich handelte, lässt sich nicht mehr beantworten. Mit allergrößter Wahrscheinlichkeit diente der Unteroffizier Respectus nämlich bei der legio X Gemina, die seit Trajan in Vindobona stationiert war und deren Soldaten meh- rere Inschriften in Vindobona hinterlassen haben.12 Als optio war Respectus Stellvertreter eines Zenturios und konnte hoffen, selbst einmal in diese Position aufzusteigen. Auch bei seinem Namen war der Dedikant wenig präzise, gab er doch sein Gentile nur in der abgekürzten Form Pompo- an. Diese Abkürzung erlaubt mehrere Varianten der Auflösung wie Pomponianus, Pomponisius oder Pom- ponenus, von denen die beiden letzteren allerdings höchst unwahrscheinlich sind, da es für sie jeweils nur einen einzigen Beleg aus Italien gibt.13 Die Form Pomponianus ist bisher nur als Cognomen bezeugt.14 Das naheliegendste, weil am weitesten verbreitete Gentile ist Pomponius, das wir über hundert Mal im 12 Zur legio X Gemina siehe zuletzt M. Mos- ser, Die römischen Truppen in Vindobona. gesamten römischen Reich antreffen, hauptsächlich in Italien (34 Zeugnisse) FWien 8, 2005, 140–142. und Hispanien (34), aber besonders häufig in Dalmatien (40).15 Allein die Tatsa- 13 OPEL III, 151 s. v. Pomponenus resp. che, dass der Name abgekürzt wurde, scheint außerdem dafür zu sprechen, Pomponisius. Bei H. Solin/O. Salomies, Re- pertorium nominum gentilium et cognominum dass es sich um einen geläufigen Namen handelte, dessen Auflösung jedem Latinorum (Hildesheim, Zürich, New York sofort klar gewesen sein dürfte. Auch das Cognomen Respectus ist gut belegt 1988) finden sich außerdem Pompon(a)eus, 16 Pomponati(us)? sowie Pomposidius und Pom- und taucht besonders häufig in den Provinzen Noricum und Pannonien auf. posius. Die Kombination der beiden Bestandteile scheint darauf hinzudeuten, dass 14 OPEL III, 151 s. v. Pomponianus führt Respectus im Umland der Legion rekrutiert wurde. Eine Untersuchung der Her- neun Fälle an. 15 OPEL III, 151 f. s. v. Pomponius. kunft der Soldaten der legio X Gemina scheint dies zu bestätigen. Von insge- 16 OPEL IV, 26 f. s. v. Respectus. samt 16 Angehörigen der legio X aus der Zeit ab Hadrian, deren Heimat be-

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Abb. 6: Inschriftfeld des Jupiteraltars. (Foto: O. Harl)

Abb. 5: Der Jupiteraltar des Pomponius Respectus nach der Freilegung im Jänner 2010. (Foto: O. Harl)

Abb. 7: Giebelornament des Jupiteraltars. (Foto: O. Harl) kannt ist, stammen sechs aus Pannonia Superior, also aus der Provinz, in der die Legion stationiert war. Ein weiterer Legionär gibt seine Herkunft allgemein mit nat(ione) Pann(onius) an. Zudem kommen drei Legionäre aus der Nachbar- provinz Noricum.17 Auch vom Figurenschmuck her reiht der Altar sich gut in die bereits bekannten Stücke ein. Votivaltäre mit Volutenpolster und Giebel mit einem einfachen So- ckel sind eine durchaus gängige Form, vor allem im Rhein-Donau-Raum. Be- merkenswert an diesem Stück ist, dass das Tympanon vergleichsweise flach ist und in seinem Feld stilisierte Palmetten zeigt (Abb. 7). Eine vergleichbare Or- 17 G. Forni, Esercito e marina di Roma anti- namentik findet sich im Giebelfeld eines Grabaltars aus Mérida in Hispanien (CIL ca. Raccolta di contributi. Mavors 5 (Stuttgart II 491) sowie in Britannien als Schmuckband auf der Basis eines Weihesteins 1992) 132.

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(CSIR GB I 1, 304). Obwohl genauere Hinweise zu den Fundumständen des Altars fehlen, können im Folgenden weitere Überlegungen angestellt werden, ob der Altar auch tatsächlich im Umkreis des Fundorts geweiht wurde, etwa in einem kleinen Heiligtum nahe der durch die canabae legionis führenden Hauptstraße.

Forschungsgeschichtliche Aspekte zur Auffindung des Jupiteraltars Wie oben dargelegt dürfte beim Bau der Loretogruft im 17. Jahrhundert ein rö- mischer und wohl auch ein mittelalterlicher Siedlungshorizont zerstört worden sein. Einzig der Jupiteraltar fand wohl aufgrund seines ausgezeichneten Erhal- 18 Periodisierung nach Niegl 1980, 13–16. 19 Falls es sich nach P. Albin bei der Gruft tungszustandes jene Beachtung, die dazu führte, dass er innerhalb der Gruft um eine im Kern bereits mittelalterliche Anlage als Denkmal seinen entsprechenden Platz erhielt. Dass dieser Stein einer brei- handelt, ist es nicht völlig auszuschließen, dass teren Öffentlichkeit bzw. der Wissenschaft unbekannt blieb, ist wohl darauf zu- der Altar bereits im Mittelalter aufgefunden wurde. Da die Gruftmauern verputzt sind, kön- rückzuführen, dass die „humanistische Periode“ der österreichischen Alter- nen darüber keine näheren Aussagen von bau- tumsforschung18, die in Wien mit den Namen Wolfgang Lazius (1514–1565), historischer Seite gemacht werden. – 20 Über 20 Steine im Lapidarium des W. La- Hermes Schallauczer (1503 1561) und Hieronymus Beck von Leopoldsdorf zius und sechs Steine in jenem des H. Schal- (1525–1596) in Verbindung zu bringen ist, zum Auffindungszeitpunkt bereits lauczer; Niegl 1980, 41 f.; P. Svatek, Wolfgang vorüber war.19 So legten zum Beispiel Lazius und Schallauczer bereits kleine Lazius. Leben und Werke eines Wiener Gelehr- ten des 16. Jahrhunderts. WGBl 61/1, 2006, Lapidarien für die bei der Errichtung der Wiener Stadtbefestigung zutage ge- 20 2 und 8. kommenen römischen Grab- und Votivdenkmäler an. Aus dem darauffolgen- 21 Niegl 1980, 14 f.; am spektakulärsten den 17. Jahrhundert sind hingegen nur spärliche Fundmeldungen aus dem war im 17. Jh. wohl die Auffindung eines zwar bereits aufgebrochenen, aber noch mit einigen Wiener Stadtgebiet überliefert, das Interesse an römischen Funden und Denk- 21 Grabbeigaben versehenen spätrömischen Sar- mälern ging im Barock spürbar zurück. Unter diesem Aspekt können auch kophages (E. 3./Anf. 4. Jh.) im Jahr 1662 bei zwei römische Reliefblöcke (eines Grabbaus?) gesehen werden, die im Biblio- der Errichtung des Leopoldinischen Traktes der Hofburg (GC: 1662_01); Kronberger theksgang des ab 1646 erbauten ehemaligen Servitenklosters im 9. Wiener 2005, 53–55; 246 f. Grab C2 Taf. 4 und 32, Gemeindebezirk zu finden sind und ebenfalls erst kürzlich der Fachwelt be- mit weiterer Literatur; vgl. auch ein spätrömi- kannt wurden.22 sches Ziegelplattengrab, das bei der Errich- tung einer Triumphpforte für Joseph I. am Stock-im-Eisen-Platz im Jahr 1690 aufgefun- Der Jupiteraltar innerhalb der Siedlungsstruktur Vindobonas (Abb. 8) den wurde (GC: 1690_01); Kronberger 2005, Dass der Einbau der Loretogruft die Beseitigung der im Bereich der Augustiner- 72 f. 268 Grab K1 Taf. 9 und 39. 22 GC: 2009_11; sekundär abgeschnittene kirche vorhandenen Befunde zur Folge hatte, beweisen auch die eruierten Tie- Reliefblöcke mit Opferszenen und mythologi- fenangaben. Die Sohle der Loretogruft, an der, wie oben ausgeführt, bereits schen Motiven, vgl. V. Böhm, Das lateinische der anstehende gelbe Löss festzustellen war, befindet sich in ca. 4 m Tiefe Erbe der Serviten in Wien (Wien 2009) 113– 121. bei 14,50–14,80 m über Wr. Null. In der etwa 170 m nördlich der Loretogruft 23 Straßenniveau vor Reitschulgasse 2: ca. gelegenen Stallburg traten die tiefsten römischen Befunde bei etwa 16 m über 19 m über Wr. Null; bei der Grabung Stallburg 23 Wr. Null zutage und der Horizont des ca. 95 m südlich der Gruft gelegenen (GC: 2005_03) in den Jahren 2004/05 war ei- ne 3 m dicke Schichtabfolge zu dokumentie- römischen Gräberfeldes, das im Jahr 2000 im Bereich der Albertina aufgedeckt ren; M. Krenn/P. Mitchell/J. Wagner, Wien 1 wurde, liegt bei etwa 17 m über Wr. Null.24 Jene beiden letztgenannten Gra- – Reitschulgasse 2, Stallburg. FÖ 44, 2005, bungskampagnen belegen, dass der Auffindungsort des Jupiteraltars im Rand- 69 f. 24 E. H. Huber, Wien 1, Albertina. FWien 4, bereich der römischen Lagervorstadt (canabae legionis) nahe des vom 1. bis 2001, 258 f.; GC: 2000_11. mindestens zum 4. Jahrhundert n. Chr. existenten Gräberfeldes entlang der 25 Vgl. Kronberger 2005, 64 Taf. 1 G; 3. 26 Krenn/Mitchell/Wagner (Anm. 23) 69; vgl. nach Südosten außerhalb des Siedlungsgebietes sich fortsetzenden Limes- 25 C. S. Sommer, Kastellvicus und Kastell. Unter- straße zu suchen ist. Im Hof der Stallburg wurden nämlich mehrere Phasen suchungen zum Zugmantel im Taunus und zu einer dichten Streifenhausbebauung als typisches Merkmal der Siedlungs- den Kastellvici in Obergermanien und Rätien. 26 Fundber. Baden-Württemberg 13, 1988, struktur von Kastellvici bzw. canabae legionis aufgedeckt. Die Limesstraße 457–707. selbst wurde in unmittelbarer Nähe der Augustinerkirche im August 1935 bei

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Abb. 8: Umgebungsplan der Fundstelle des Jupiteraltars. (Plan: M. Mosser)

einer Kanalgrabung in 1,25–3,00 m Tiefe (ca. 16,00–17,75 m über Wr. Null) beinahe auf der gesamten Länge der Augustinerstraße zwischen Josefsplatz und Lobkowitzplatz nachgewiesen.27 Da wohl ausgeschlossen werden kann, dass der nahezu unbeschädigte römi- sche Altar aus der Loretogruft in sepulkralem Zusammenhang sekundär inner- halb eines römischen Gräberfeldes Verwendung gefunden hatte, ist dieses Steindenkmal als wichtiges Zeugnis für die südliche Ausdehnung der canabae legionis zu werten, deren Grenze in etwa entlang den heutigen Ost-West orien- tierten Straßenzügen Führichgasse und Annagasse angenommen wird.28 Im Verlauf dieser Straßen wurde 1882 auch ein antiker Weg dokumentiert.29 Die- ser Weg kreuzte im Bereich Kärntner Straße eine wohl ebenfalls antike Vorgän- 27 GC: 1935_18, Augustinerstraße: zusam- men mit Münzen, Tierknochen, römischer und gerstraße, die von der porta principalis dextra entlang des äußeren Grabens mittelalterlicher Keramik: FP 1935/5; FA-RZ I, des Legionslagers durch die canabae legionis nach Süden führte. Indiz für die- Augustinerstraße 1935; R. Wadler, Wien. 1. se Straßenkreuzung ist in erster Linie ein weiterer, 1893 im Bereich dieser an- Bezirk. FÖ 2, 2, 1935, 104. 28 Zur Frage der Ausdehnung der canabae genommenen Kreuzung aufgefundener römischer Altar, geweiht dem Silvanus, legionis von Vindobona vgl. Kronberger den Silvanae und den Quadrubiae, wobei letztere Synonyme für Weggabelun- 2005, 37 f. gen darstellten.30 Der Altar in der Augustinerkirche ist nur unweit nördlich dieser 29 GC: 1882_01; Kronberger 2005, 43 Anm. 242 mit weiterer Literatur. Linie zu lokalisieren und das mit der Jupiterweihung in Verbindung zu bringende 30 Kronberger 2005, 43 f. mit weiterer Lite- Heiligtum lag vielleicht entlang der Fortsetzung dieses antiken Weges jenseits ratur; Altar: GC 1893_01, Fundort Annagasse der Limesstraße nach Westen. Auffallend ist dabei, dass beide Weihungen 3; Inv.-Nr. KHM III 804; Lesung: Silvano/ et Sil- vanis/ et Quadrubis/ sacrum/ L(ucius) Minicius/ am südlichen Rand der canabae legionis von principales (optio und signifer) Honoratus/ sig(nifer) leg(ionis) X G(eminae) v der legio X Gemina durchgeführt wurden. In der Spätantike, als die Lagervor- (otum)/ s(olvit) l(ibens) l(aetus).

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stadt aufgegeben wurde und weite Teile des vorangegangenen Siedlungsge- bietes als Gräberfelder genutzt wurden, könnte dies auch auf dem Areal um die Augustinerkirche geschehen sein, wie vielleicht der bei den archäologischen 31 Aufgrund des geringen Fragmentie- Untersuchungen im Jahr 2010 geborgene, gut erhaltene spätrömische Teller rungsgrades könnte dieser durchaus als Bei- vermuten lassen kann.31 Die Frage, in welcher Form der Altar in weiterer Folge gabe eines Körpergrabes des 4. Jh. n. Chr. benutzt worden sein; vgl. Kronberger 2005, in spätrömischer Zeit innerhalb des anzunehmenden Gräberfeldes deponiert 162 mit Anm. 1053. wurde, muss schließlich offenbleiben.

Abgekürzt zitierte Literatur Dehio Wien 2003 Dehio-Handbuch Wien. I. Bezirk – Innere Stadt (Horn, Wien 2003) 19–37 s. v. Augustinerkirche und -kloster. Kronberger 2005 M. Kronberger, Siedlungschronologische Forschungen zu den canabae legionis von Vindobona. Die Gräberfelder. MSW 1 (Wien 2005). Niegl 1980 M. A. Niegl, Die archäologische Erforschung der Römerzeit in Österreich. Eine wissenschaftsgeschichtliche Unter- suchung (Wien 1980). OPEL III und IV Onomasticon provinciarum Europae Latinarum III und IV, bearb. von B. Lo˝ rincz et al. (Wien 2000 u. 2002). Reichel 1996 M. Reichel, Wien 1 – Augustinerkirche. FÖ 35, 1996, 53 f.

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Fundort Wien 13, 2010. – Urheberrechtlich geschützt, Keine unerlaubte Vervielfältigung gestattet. © Museen der Stadt Wien – Stadtarchäologie Aufsätze M. Binder/H. Krause, Der ehemalige Friedhof zu St. Ulrich in Wien-Neubau

Der ehemalige Friedhof zu St. Ulrich in Wien-Neubau. Ausgrabung Zollergasse 32

Michaela Binder/Heike Krause

Einleitung Während der Aushubarbeiten für einen Lift (Baugrube 2,8063,10 m) im Hof des Hauses Zollergasse 32 im 7. Wiener Gemeindebezirk trafen Bauarbeiter im Mai 2008 auf menschliche Skelettreste. Die Stadtarchäologie Wien wurde daraufhin verständigt. Anfangs wurden nur zahlreiche dislozierte menschliche Knochen geborgen. Ab einer Tiefe von 2,35 m unter heutigem Hofniveau (45,94 m über Wr. Null) kamen zudem Überreste von sechs West-Ost orien- tierten Gräbern zutage.1 Diese Gräber stammten vom Friedhof zu St. Ulrich, der sich von 1590 bis Ende 1783 auf dem Areal befand, das von den Straßen Mondscheingasse, Zollergasse und Siebensterngasse eingeschlossen ist. Im Zentrum dieses Aufsatzes steht die anthropologische Auswertung aller aufge- fundenen menschlichen Überreste unter Einbeziehung der schriftlichen Überlie- ferungen zum Ort St. Ulrich und seines Friedhofs sowie zu seinen einstigen Be- wohnern.

Christliche Friedhöfe des Mittelalters und der frühen Neuzeit Im west- und mitteleuropäischen Kulturraum entstanden in der zunehmend christlich geprägten Spätantike (seit dem 4./5. Jahrhundert) sog. Reihengrä- 1 H. Krause/M. Binder, Wien 7, Zollergasse berfelder als kollektive Bestattungsplätze, in denen Verstorbene einer Gemein- – 32 ehemaliger Friedhof zu St. Ulrich. FWien schaft in der Reihe bestattet wurden. Dies bedeutete die allmähliche Abkehr 12, 2009, 217–220. 2 LexBestattung 2, 102 f. s. v. Friedhof; von familiären Grabstätten der Antike bzw. den Brandbestattungen im germa- 305 f. s. v. Reihengräberfelder/-kultur; LexMA nischen Raum. In spätantiker Zeit lagen diese Grabstätten nicht bei der Kirche. 4, 924 s. v. Friedhof, B. Mittelalter I. Archäolo- Diese meist West-Ost orientierten Gräber dürften nicht prinzipiell eine christli- gie und Anthropologie (H. Rötting). 3 MGH Leges, Capit. 1 (1883) Nr. 26, 69: che Religionszugehörigkeit implizieren. Daher wird die Reihengräbersitte heute 22. Iubemus ut corpora christianorum Saxano- eher als eine Art Kulturphänomen angesehen. Der Übergang zum mittelalterli- rum ad cimiteria ecclesiae deferantur et non ad chen Kirchhof (im Mittelalter Coemeterium genannt), der sich um die Kirche he- tumulus paganorum. 4 A. Zajic, „Zu ewiger gedächtnis aufge- rum befand, entwickelte sich allmählich und kam erst im 10./12. Jahrhundert richt“. Grabdenkmäler als Quelle für Memoria zum Abschluss.2 Die Grundlage dazu dürfte die 782 von Karl dem Großen er- und Repräsentation von Adel und Bürgertum lassene Capitulatio de partibus Saxoniae geliefert haben, in der die Bestattung im Spätmittelalter und in der Frühen Neuzeit. Das Beispiel Niederösterreichs. MIÖG Ergbd. der Toten bei den Kirchen anstatt auf heidnischen Bestattungsplätzen befohlen 45 (Wien, München 2004) 88 f. wurde.3 5 Bauer 2004, 23. Die mittelalterlichen Kirchhöfe blieben bis in die Neuzeit der vorrangige christ- 6 Ph. Ariès, Geschichte des Todes2 (Mün- chen 1982). liche Begräbnisort. Dadurch waren die Grabstätten stets im Blickfeld der Hin- 7 LexBestattung 1, 38 f. s. v. Beinhaus. terbliebenen, denn der Gang zur Kirche führte unmittelbar an den Gräbern vor- 8 Bauer 2004, 249: 1768 wurden die Grab- ruhezeiten erstmals geregelt. Leichen sollten bei. Somit hatte diese räumliche Ordnung eine deutlich Totengedenken stiften- 4 nicht vor Ablauf von zehn Jahren ausgegraben de Funktion. und anstelle des Friedhofs in derselben Frist Der durch die begrenzte Fläche der Kirchhöfe im innerstädtischen Bereich her- kein Haus errichtet werden. 9 LexMA 4, 925 s. v. Friedhof, B. Mittelalter vorgerufene Begräbnisplatzmangel machte es jedoch unvermeidbar, ältere Be- II. Städtischer und dörflicher Friedhof (B.-U. stattungen ungestört zu lassen. Die Grabruhezeit betrug – soweit ermittelbar –

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in Städten im Allgemeinen etwa 8–10 Jahre, konnte in Not- fällen aber auch verkürzt werden.5 Die Knochen aus den gestörten Gräbern wurden zunächst großteils achtlos bei- seite geräumt, was sich auch in zahlreichen mittelalterli- chen Bildquellen, auf denen der Boden von Knochen und Leichenteilen übersät ist, widerspiegelt (Abb. 1).6 Da- rüber hinaus entstanden als Konsequenz des Platzman- gels ab dem 12. Jahrhundert vielerorts Beinhäuser, auch Ossuarien bzw. Karner genannt, um die exhumierten Kno- chen aufzunehmen.7 Für eine relativ kurz andauernde Res- pektierung der Grabruhe und einen wenig zimperlichen Umgang mit älteren Bestattungen sprechen auch die zahl- reichen Schnittspuren und Brüche an den Knochen, die durch die Grobwerkzeuge der Totengräber entstanden sein dürften. Das Bruchverhalten von Knochen ändert sich im Laufe der Verwesung, so dass „frischer“ Knochen an- ders bricht als trockener. Die Brüche, die zum Teil an den Knochen aus dem Friedhof zu St. Ulrich festgestellt werden konnten, deuten darauf hin, dass die Leichen recht bald nach ihrer Bestattung umgelagert wurden.8 Bereits im Spätmittelalter, vor allem aber im 16. Jahrhun- dert, begann man, Friedhöfe wegen ihrer Überfüllung bzw. wegen der als ungesund angesehenen Dämpfe und Aus- dünstungen der Leichen vor die Stadt zu verlegen.9 Die verwesenden Leichen auf den Kirchhöfen, die oft nicht tief genug eingegraben wurden, führten allerdings bereits im Mittelalter vornehmlich in den Städten zu massiven sanitä- ren Problemen, nicht zuletzt, weil der Friedhof auch Auf- Abb. 1: Brixener Dom (Südtirol), Detail der Wandmalerei im Kreuzgang enthaltsort der Lebenden war und unter anderem als Zu- um 1420/1430. Totengräber heben ein Grab aus, daneben die Skelett- reste älterer Bestattungen. (Foto: E. Klotzner) fluchtsort, Gerichtsstätte, Marktplatz und Versammlungs- ort diente.10 Erst im Zeitalter der Aufklärung im 17./18. Jahrhundert wurde der traditionelle Kirchhof vor allem in Städten von „kommu- Hergemöller). B. Happe, Die Entwicklung der deutschen Friedhöfe von der Reformation bis nalen“ Friedhöfen abgelöst, die zunächst weiter durch die Pfarren verwaltet 1870 (Tübingen 1991) 183–207, geht v. a. wurden. Man befürchtete in dieser Zeit, dass von den verwesenden Leichen auf den Einfluss des Protestantismus bei der Krankheiten und Seuchen auf die Lebenden übertragen werden könnten.11 Da- Anlage von außerörtlichen Begräbnisplätzen im 16. Jh. ein. Zu Wiener Friedhöfen des 16. durch stellten die Friedhöfe in den ohnehin von Seuchen und Infektionskrank- und 17. Jh. siehe L. Senfelder, Der kaiserliche heiten geprägten Städten des Spätmittelalters und der frühen Neuzeit eine zu- Gottesacker vor dem Schottenthor. BMAVW sätzliche Bedrohung der öffentlichen Gesundheit dar, der man sich zunehmend 36/37, 1902, 215–271. 10 LexMA 4 (Anm. 9); Illi 1992, 40 f.; F. J. vor allem seit dem 18. Jahrhundert bewusst wurde. Dieses Problem sollte Bauer, Von Tod und Bestattung in alter und durch die Schaffung neuer Friedhöfe außerhalb der Ortskerne gelöst werden. neuer Zeit. Hist. Zeitschr. 254, 1992, 6 f. Dadurch wurde aufgehoben, „was über ein Jahrtausend lang zum Kernbereich 11 Bauer 2004, 72 f.: In Paris wurde die Schließung innerstädtischer Friedhöfe und die christlicher Existenzweise gehört hatte: Die räumliche Gemeinschaft der Leben- Errichtung neuer Friedhöfe vor der Stadt be- 12 den und der Toten“. reits 1755 angeordnet. – J. Schweizer, Kirch- In Wien wurden erstmals 1732 Bestattungen in der Kirche und innerhalb der hof und Friedhof – Eine Darstellung der beiden – – Haupttypen europäischer Begräbnisstätten Stadt verboten wegen der wie man damals glaubte schädlichen, die Ge- (Linz 1956); Illi 1992. sundheit gefährdenden Ausdünstungen (Miasmen). Daraufhin befahl Karl VI. 12 Bauer (Anm. 10) 5.

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die Schließung des Friedhofs bei St. Stephan. Die innerstädtischen Friedhöfe endgültig auf Areale der Vorstädte bzw. Vororte zu verlegen, war ein länger an- dauernder Prozess.13 Joseph II. (1741–1790) reformierte schließlich in den 1780er Jahren das Begräbniswesen nach damaligen, von der Aufklärung be- einflussten, von Ordnung und Hygiene geprägten Kriterien.14 So wurden 1782 Kirchenbegräbnisse generell verboten und eine Stol-Tax-Ordnung für Wien und die Vorstädte innerhalb des Linienwalls erlassen, in der die Gebühren 15 13 Bauer 2004, 26; J. Wimmer, Gesundheit, von Begräbnissen festgeschrieben wurden. 1783 wurde die Errichtung neuer Krankheit und Tod im Zeitalter der Aufklärung. Friedhöfe außerhalb des Linienwalls angeordnet. Die endgültige Schließung Fallstudien aus den habsburgischen Erblän- sämtlicher Friedhöfe „inner den Linien“ wurde per Hofdekret vom 20. August dern. Veröff. Komm. Neuere Gesch. Österr. 16 80 (Wien, Köln 1991) 163. 1784 wiederholt verfügt. 14 Wimmer (Anm. 13) 176–185 mit Angabe der Originalquellen; LexBestattung 1, 35 f. Friedhöfe der frühen Neuzeit in Wien und Umgebung s. v. Begräbnisreform. 15 Bauer 2004, 45. Die archäologische Untersuchung neuzeitlicher Friedhöfe ist – wie auch die 16 Bauer 2004, 27 und 71. Neuzeitarchäologie – ein relativ junges Forschungsfeld und methodisch eng 17 H. Steuer, Vorwort. In: St. Fassbinder, Wallfahrt, Andacht und Magie. Religiöse An- mit der Mittelalterarchäologie, der Anthropologie, der Kirchen- und Frömmig- 17 hänger und Medaillen. Beiträge zur neuzeitli- keitsgeschichte sowie der Ethnologie verknüpft. In der Geschichtswissen- chen Frömmigkeitsgeschichte Südwest- schaft ist die Auseinandersetzung mit dem Tod ebenfalls ein junges Arbeitsge- deutschlands aus archäologischer Sicht. Zeitschr. Arch. Mittelalter Beih. 18 (Bonn biet und vorrangig das Verdienst französischer Forscher. 2003) 7. In den letzten Jahren wurden an mehreren Stellen in Wien neuzeitliche Friedhö- 18 M. Müller, Die menschlichen Skelettreste fe ausgegraben. Einige dieser Friedhofsgrabungen, z. B. auf dem Gelände des aus dem Friedhof nördlich des Schlosses Kai- serebersdorf. In: M. Müller et al., Die archäolo- Schlosses Kaiserebersdorf und um die dortige Pfarrkirche am Münnichplatz in gischen und bauhistorischen Untersuchungen Wien 11, in der Sensengasse in Wien 9 sowie auf dem ehemaligen Militärfried- im Schloss Kaiserebersdorf. MSW 3/I (Wien hof von Gumpendorf in Wien 6, wurden bereits in Form von mehr oder weniger – 2008) 398 403; N. Hofer, Die Funde aus 18 dem Friedhof nördlich des Schlosses, ebd. ausführlichen Artikeln bzw. einer Monographie vorgelegt. Zudem wurden 68 364–375; E. H. Huber,Wien 11, Münnichplatz. Gräber in der einstigen Pfarrkirche St. Andreas in Wien 14, Hütteldorf sowie in FWien 3, 2000, 213 f.; C. Litschauer/Th. Po- dem diese umgebenden ehemaligen Friedhof des 17./18. Jahrhunderts ar- totschnig, Ein neuzeitliches Bestattungsareal 19 im Bereich der Sensengasse in Wien 9. FWien chäologisch untersucht und ausgewertet. Unmittelbar südlich der Jakobskir- 12, 2009, 4–41; M. Binder, Der Soldatenfried- che in Heiligenstadt,Wien 19, wurden ca. 400 Kinderbestattungen aus der frü- hof in der Marchettigasse. Die Lebensbedin- hen Neuzeit ausgegraben.20 Im Vorfeld der Errichtung von Tiefgaragen unter gungen einfacher Soldaten in der theresia- nisch-josephinischen Armee anhand anthropo- städtischen Parks wurden Gräber ehemaliger Friedhöfe in Wien 18, Währing logischer Untersuchungen. MSW 4 (Wien (Schubertpark und Währinger Park) sowie in Wien 15, Rudolfsheim-Fünfhaus 2008). 21 (Märzpark) aufgedeckt. Im Herbst 2009 wurden ca. 300 Bestattungen des 19 N. Müllauer, Geschichte und Archäologie der Pfarrkirche St. Andreas in Wien-Hütteldorf. 1786 aufgelassenen Friedhofs der Pfarre Hernals in Wien 17 geborgen, der seit Interdisziplinäre Forschungen zur Entwicklung dem Mittelalter um die Pfarrkirche herum an der Stelle des St.-Bartholomäus- der Wiener Vororte vom 13. bis zum 19. Jahr- 22 Platzes bestand (siehe Beitrag H. Krause, 240 ff.). hundert (Dipl. Univ. Wien 2003). 20 Freundl. Mitt. F. Blakolmer, Universität Wien. Die Geschichte des Ortes und des Friedhofs zu St. Ulrich 21 E. H. Huber, Wien 18, Währinger Straße – Der ursprüngliche mittelalterliche Ortskern von St. Ulrich liegt im 7. Wiener Ge- Schubertpark. FWien 5, 2002, 296–299; C. P. Huber/K. Traunmüller, Wien 18, Währinger meindebezirk (Neubau) um die Kirche Maria Trost und St. Ulrich auf dem St.- Straße – Schubertpark. FWien 6, 2003, 262– Ulrichs-Platz. Noch heute stehen hier Häuser, deren Bausubstanz bis in das 264; dies.,Wien 18, Franz-Klein-Gasse – Wäh- ringer Park. FWien 6, 2003, 266–268; E. H. späte Mittelalter (St.-Ulrichs-Platz 4) und die frühe Neuzeit zurückreicht. Die Be- Huber, Wien 15, Märzpark. FWien 6, 2003, siedlung erstreckte sich hier zunächst entlang des nördlich gelegenen Ottakrin- 259 f. ger Baches.23 St. Ulrich ist eine der ältesten vorstädtischen Siedlungen Wiens. 22 Das Skelettmaterial wird derzeit von M. Binder anthropologisch untersucht. Nach einem Eintrag in dem verschollenen, aber durch eine spätere Abschrift 23 Faber 1995, 72. überlieferten Liber privilegiorum des Klosters Heiligenkreuz von 1251 dürfte

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die früheste Nennung des Ortes Zeizmanebrunnen für 1202 belegt sein.24 1211 wird Zaismannsbrunn in Zusammenhang mit der Kirchenstiftung (eccle- sia) in honore sancti Vdalrici durch den Wiener Bürger Dietrich (seit 1267 als „der Reiche“ bezeichnet) genannt.25 Diese Kirche wurde vom Sprengel der Pfarre St. Stephan in Wien abgetrennt und somit zu einer eigenständigen Kir- che mit Präsentationsrecht. Die Sakramente der Taufe und des Begräbnisses waren jedoch ausgenommen.26 Herrschaftliche Zusammenhänge zwischen St. 24 H. Watzl, „… in loco, qui nunc ad sanc- Ulrich und dem Wiener Schottenkloster wurden erstmals 1216 und im 14. tam crucem vocatur …“. Quellen und Abhand- Jahrhundert deutlich.27 1302 kam erneut die capella bzw. ecclesia St. Udalrici lungen zur Geschichte des Stiftes Heiligen- kreuz (Heiligenkreuz 1987) 91 Nr. 57: Liber pri- in Zaysmansprune in der schriftlichen Überlieferung vor.28 Aus dem 14. und 15. vilegiorum 1251 n. 173 (C); Lohrmann/Opll Jahrhundert sind weitere Nennungen von Zaismannsbrunn bzw. St. Ulrich 1981, 82 Nr. 274. überliefert.29 Der vom Kirchenpatron stammende Name St. Ulrich ersetzte 25 FRA II/18, 21 f. Nr. 15; Lohrmann/Opll 1981, 94 Nr. 316; HONB 7, 181, Z 10 und schließlich den ursprünglichen Ortsnamen Zaismannsbrunn. 1451 wurde die E. Schuster, Die Etymologie der niederösterrei- 30 Kirche dem Schottenkloster einverleibt. 1473 stürzte sie durch einen Sturm chischen Ortsnamen. Historisches Ortsna- ein und begrub unter sich den Pfarrer, den Kaplan und 30 weitere Personen, menbuch von Niederösterreich R. B 3 (Wien 31 1994) 490, Z 10 fälschlich mit BUB II, 2 ange- die sich gerade zur Vesperandacht versammelt hatten. Über einen danach er- geben; Opll 1985, 52; zu Dietrich dem Reichen folgten Wiederaufbau der Kirche ist nichts überliefert. 1529, während der Ers- siehe: R. Perger, Die Grundherren im mittelal- ten Türkenbelagerung, wurde St. Ulrich, das zu dieser Zeit aus ca. 50 Häusern terlichen Wien. III. Teil. Bürgerliche und adelige 32 Grundherrschaften. JbVGW 23/25, 1967–69, bestand, samt Kirche weitgehend zerstört. 10–13. Es lassen sich vom 13. bis zum 17. Jahrhundert verschiedene Besitzer in St. 26 Mansfeld 1953, 1; E. Klebel, Zur Frühge- Ulrich ermitteln, jedoch nicht „mit wünschenswerter Genauigkeit“.33 Über einen schichte Wiens (Wien 1932) 53; FRA II/18, Nr. 15. mittelalterlichen Friedhof in St. Ulrich ist aus schriftlichen Quellen offenbar nichts 27 BUB II, 2 Nr. 201; Lohrmann/Opll 1981, bekannt. Die Frage, ob es im Mittelalter einen Friedhof um die Kirche St. Ulrich 96 f. Nr. 329; Opll 1985, 52. gab, wird daher unterschiedlich beantwortet. Aus der Umgebung der Kirche 28 HONB 7, 181, Z 10; Schuster (Anm. 25) 350, U 4; die Nennung als capella in: FRA II/ liegen bislang keine archäologischen Funde vor, die darauf hindeuten könnten. 18, 105 Nr. 88 in Zusammenhang mit einer In der Literatur wird die Errichtung des Friedhofs im Jahr 1590 anlässlich der Tauschurkunde zwischen Griffo, Bürger zu Pfarrerhebung angegeben.34 Aus einem Pfarrprotokoll der Wiener Pfarre St. Wien, und dem Wiener Schottenkloster, in der er die Kapelle St. Ulrich dem Kloster abtritt. Michael geht hervor, dass der Bischof die Kirche von St. Ulrich von der Pfarre 29 HONB 7, 181, Z 10. St. Michael 1589 abgeschieden und zu einer eigenständigen Pfarre – von nun 30 Mansfeld 1953, 1; M. Aschinger, 250 an mit Tauf- und Begräbnisrecht ausgestattet – erhoben hat. So sind auch seit Jahre Gnadenbild Maria Trost in der Pfarrkir- 35 che zu St. Ulrich in Wien 7 (Wien 1949) 7. 1590 Trauungsmatriken der Pfarre St. Ulrich erhalten. Auch ein Schriftstück 31 Aschinger (Anm. 30) 5; Kisch 1895, 422 im Archiv des Schottenstifts, in dem von der Wiederherstellung der Kirche, und Rotter 1925, 133 nennen das Jahr 1474. 32 HONB 7, 5, U 5; Faber 1995, 19. der Weihe ihrer Altäre und der Stiftung eines neuen Friedhofs die Rede ist, deu- 33 Opll 1985, 53 f.; Klebel (Anm. 26) 91 f.; 36 tet in diese Richtung. Ob es vorher einen Friedhof um die Kirche St. Ulrich Faber 1995, 14–20. gab, wird einerseits angenommen37, andererseits abgelehnt. So ging Elfriede 34 Czeike, Wien Lexikon 5, 501 s. v. Ulrichs- kirche; Aschinger 1920, 10 und 32. Faber davon aus, dass die Toten auf dem Michaelerfriedhof begraben wurden, 35 Mansfeld 1953, 1. 38 weil die Kirche St. Ulrich offenbar nach 1529 von St. Michael betreut wurde. 36 Archiv des Schottenstifts, Scrinium 134 Maximilian I. forderte aber bereits 1508, die Begräbnisse auf dem Friedhof Nr. 1, 1590 Juli 8: Cum donatione Noui Cœmi- terij (von zweiter Hand wenig später für eine bei der Michaelerkirche einzustellen. Die Toten sollten auf einem Gottesacker durchgestrichene Passage ergänzt). bei der Stadt Wien beigesetzt werden. Dieses Verbot musste 1530 durch Fer- 37 Rotter 1925, 125; Bauer 2004, 38. dinand I. erneuert werden, weil man sich bis dahin nicht daran gehalten hatte. 38 Quellenmäßig belegt: Quellen zur Ge- schichte der Stadt Wien. Hrsg. v. Alter- Es ist die Frage, wo dieser Friedhof zu lokalisieren ist, auf dem die Toten der thums-Vereine zu Wien 3 (Wien 1897) 97 Nr. Pfarre St. Michael begraben werden sollten. Leopold Senfelder vermutete, 2682, 1566: Die Kapelle zu St. Ulrich wurde dass dieser vor dem Kärntner Tor lag und „wohl nur der Bürgerspitalsfreithof vor dem Türkenkrieg vom Schottenstift be- “ 39 – sorgt, nun von St. Michael aus versehen; Fa- diesseits des Wienflusses gewesen sein könne. Dieser Friedhof war wie ber 1995, 64. auch der des Heiligengeistspitals jenseits des Wienflusses (heute Karlsplatz, 39 Senfelder (Anm. 9) 217.

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Technische Universität Wien) – durch die Erste Türkenbelagerung von 1529 verwüstet und entweiht worden. In der Folgezeit wurde das Heiligengeistspital samt Friedhof aufgelassen und das Bürgerspital in das Kloster St. Clara in die Stadt verlegt. Das Friedhofsareal des Bürgerspitals wurde neu geweiht, um schließlich die Toten der Pfarren St. Stephan und St. Michael aufzunehmen.40 Ob man die Verstorbenen von St. Ulrich auch hier begrub, ist unklar. Belegbar ist aber, dass ein Friedhof zu St. Ulrich im Jahr 1590 neu gestiftet wurde. Hans Rotter wusste zu berichten, dass Abt Georg für dessen Errichtung einen Grund außerhalb von St. Ulrich schenkte, der „gegen St. Tibold zu“ (Mariahilf) lag.41 Damit könnte das ehemalige Friedhofsareal gemeint sein, das heute von der 40 Bauer 2004, 36; M. Kaltenegger, Der Siebenstern-, Mondschein- und Zollergasse eingeschlossen wird. 1658 wurde ‘ 42 ,Karlsplatz im Mittelalter. Das Spitalsviertel dort durch Wilhelm von Zaunern eine Kapelle gestiftet. Aus den Kirchenrech- vor der Stadt. In: E. Doppler/Ch. Rapp/S. Bé- kési (Hrsg.), Am Puls der Stadt: 2000 Jahre nungen der Pfarre St. Ulrich geht hervor, dass dem Testament des verstorbe- Karlsplatz. 348. Sonderausst. WM (Wien nen Herrn Zauner gemäß durch seinen Sohn Johann Wilhelm Zauner 1682 2008) 68. acht Gulden gezahlt wurden, die die Pfarre für die jährliche Reparatur der Ka- 41 Rotter 1925, 125. 43 42 Rotter 1925, 125. Auf den Stifter der Ka- pelle auf dem Gottesacker verwenden sollte. Allerdings leistete der Sohn pelle findet sich auch in den Kirchenrechnun- nicht regelmäßig diesen Betrag an die Kirche. Ein Vermerk im Kirchenrech- gen der Pfarre St. Ulrich ein Hinweis: WStLA, nungsbuch von 1689 bis 1691 weist auf seinen Zahlungsrückstand hin.44 Pfarramt St. Ulrich – 2.6.1.3. B 1 – Kirchen- rechnungen 1680–1828, 1, 1680–1681, fol. Am Ende dieses Buchs steht ein Kommentar vom 21. Jänner 1692, in dem 7: 1681 April 17, wegen herrn Zauner seel: sei- der Vorschlag unterbreitet wird, dass Johann Wilhelm Zauner im Beisein des nen gestüfften Capelln in St: Vlrichs gottsäkher Pfarrers wegen „der Totenkapelle auf dem Gottesacker und die dazu gemachte […]. 43 WStLA, Pfarramt St. Ulrich – 2.6.1.3. B 1 Zaunersche Stiftung“ eine ordentliche Zusammenrechnung durchführen und – Kirchenrechnungen 1680–1828, 2, 1682– man sich über die Entrichtung des Ausstands einigen solle.45 Weiters wird vor- 1685, fol. 5; 7v: Dieselbe Summe wurde auch geschlagen, möglichst bald auf dem Gottesacker eine Hütte oder ein Toten- für die Jahre 1683 bis 1685 gezahlt. – Außer dieser Kapelle dürfte es noch drei weitere, klei- häusel zu errichten, um die „Totenbeiner darunter zusammen zu tragen und nere Kapellen gegeben haben (Rotter 1925, zu bewahren“.46 125). Der Theologe und Historiker Matthias Fuhrmann erwähnte 1766 eine St. Jo- 44 WStLA, Pfarramt St. Ulrich – 2.6.1.3. B 1 – Kirchenrechnungen 1680–1828, 3, 1689– hanns Kirchen auf dem Gotts-Acker von St. Ulrich, die unter der geistlichen 1691, fol. 2 f. Verwaltung der Herren PP. Schottnern aus der Stadt stünde.47 45 WStLA, Pfarramt St. Ulrich – 2.6.1.3. B 1 – Kirchenrechnungen 1680–1828, 3, 1689– In diesem Zusammenhang ist ein Eintrag aus dem Totenprotokoll zum 4. Sep- 1691, fol. 42v, Nr. 3. tember 1689 interessant: Carl de Furlany, Obrist der Röm: Kayl: Mayt: Leib- 46 WStLA, Pfarramt St. Ulrich – 2.6.1.3. B 1 quarti Härtschieren Leutenant ist für 10 Gulden mit dem Conduct Vnd Seel- – Kirchenrechnungen 1680–1828, 3, 1689– 48 1691, unpag. Nr. 9. ambt begraben worden in die Kirche in S: Joannis Capelln. Ob es sich bei 47 M. Fuhrmann, Historische Beschreibung letzterer um die Kapelle auf dem Friedhof handelte oder um eine solche, bisher Und kurz gefaste Nachricht Von der Römisch. nicht bekannte, in der Kirche St. Ulrich, lässt sich nicht eindeutig sagen. Seine Kaiserl. und Königlichen Residenz-Stadt Wien, und Ihren Vorstädten. 2. Teil, Bd. 1 (Wien Frau Susanna Elisabetha wurde nach Angabe im Totenprotokoll 1689 jeden- 49 1766) 325. falls in der Kirche mit dem Conduct begraben. Daher dürfte diese Kapelle 48 Pfarre St. Ulrich, Totenprotokoll 5. eher in der Pfarrkirche zu verorten sein. 49 Pfarre St. Ulrich, Totenprotokoll 5, 1689 September 19. Es wurden dafür 10 Gulden Es hat zweifelsohne Bestattungen in der Kirche St. Ulrich gegeben, die vor al- bezahlt. lem dem Adel und der (vor-)städtischen Oberschicht vorbehalten war. 1650 50 Aschinger 1920, 13. wurde der Preis eines solchen Grabplatzes mit 10 Gulden festgelegt.50 An die- 51 Pfarre St. Ulrich, Totenprotokoll 2. 52 Pfarre St. Ulrich, Totenprotokoll 4. ser Stelle können nur exemplarisch einige dieser Bestattungen genannt wer- 53 Pfarre St. Ulrich, Totenprotokoll 10, 1712 den. Laut Totenprotokoll 2 der Pfarre St. Ulrich wurde Graf Johann Dionysius Dezember 10, starb der Herr Johann Achham- Setschi etc. am 8. April 1650 in der Pfarrkirche St. Ulrich beigesetzt, für das mer, Kaiserlicher Stuck- (= Kanone) und Glo- ckengießer, 62 Jahre alt, Conduct Ort in der Bahrtuch und die Depositione wurden 12 Gulden gezahlt. Am 18. August Kirche: 10 Gulden. Zu Achhamer siehe H. 1651 starb die Frau des Hofquartimeister, Magdalena, sie wurde in die St. Ul-

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richskirche conducirt. Für den Ort des Begräbnisses wur- den 10 Gulden bezahlt.51 Für das Begräbnis der Maria Mechthildis Winckelmüllnerin in der Kirche am 13. Dezem- ber 1687 wurden sogar 20 Gulden bezahlt.52 Der 1712 verstorbene Johann Achamer,Glockengießer der Pumme- rin, wurde ebenfalls in der Kirche selbst beigesetzt (Abb. 2).53 Den Sackpfeifer und Wiener Bänkelsänger Marx Augustin, bekannt als „lieber Augustin“, brachte man der Legende folgend während der Pestepidemie 1679 eines Nachts be- trunken und schlafend in eine Pestgrube, die sich in der Nähe der Pfarrkirche St. Ulrich befunden haben soll.54

Die Totenprotokolle der Pfarre St. Ulrich In der Pfarre St. Ulrich sind ab 7. August 1634 die Toten- protokolle mit Ausnahme der Zeiträume November 1661 bis September 1669 und September 1678 bis Dezember 1684 erhalten. Darin sind die Stolgebühren verzeichnet, der nächste Angehörige des/der Verstorbenen, der Ster- beort und ab 1685 auch das Sterbealter, zum Teil auch der Beruf des Angehörigen bzw. des/der Verstorbenen.55 Auch Ausnahmen sind vermerkt wie mittellose Personen (Bettler und Arme), die ohne Gebühr beigesetzt wurden. Es finden sich weiters Begräbnisse von Personen, die ur- sprünglich nicht der Pfarrgemeinde St. Ulrich angehörten, aber dennoch auf ihrem Friedhof beigesetzt wurden. Da Abb. 2: Pfarre St. Ulrich,Totenprotokoll 10, 10. Dezember 1712: Eintrag das vorhandene Datenmaterial so umfangreich ist, konnte des Begräbnisses des Glockengießers Johann Achhamer. (Foto: H. Krause) es in diesem Rahmen nur stichprobenartig durchgesehen werden. Es birgt eine Vielfalt von Informationen in sich, die nur exemplarisch wiedergegeben werden kann. Haupt, Das Hof- und hofbefreite Handwerk im barocken Wien 1620 bis 1770. Forsch. u. So finden sich Hinweise auf die Folgen der Zweiten Türkenbelagerung von Beitr. Wiener Stadtgesch. 46 (Innsbruck,Wien, 1683: Im August 1689 wurden „ein getauftes Türken Kind“, 7 Jahre alt, sowie Bozen 2007) 189 mit Sterbetag 9. Dezember; Faber 1995, 80 f. ein getaufft Türcken Kindt, genannt Joseph, 6 Wochen alt, begraben. In den 54 Kisch 1895, 448; Bauer 2004, 26; Czei- Jahren nach der Türkenbelagerung gibt es auch vermehrt Einträge verstorbe- ke, Wien Lexikon 1, 193 f. s. v. Augustin N. ner, armer Vertriebener.56 Zum 13. April 1689 findet sich unter dem Eintrag ei- 55 P. Paulus Bergauer OSB und Frau Mi- chaela Hirschl sei für die Einsicht in die Toten- nes mit 18 Wochen verstorbenen Säuglings namens Anna Helena eine Notiz, protokolle und Herrn Fritz Nowotny für wichti- dass dieses Kind das erste gewesen sei, so nach der Belagerung mit dem ge Hinweise zur Geschichte der Pfarre und gleuth [Geläut] begraben, Vnd allein in den Gottsacker eingesegnet worden.57 des Friedhofs herzlich gedankt. 56 Pfarre St. Ulrich,Totenprotokolle 4 und 5, Interessant sind auch Angaben zu Religion, Berufen und Herkunft der Verstor- Zeitraum 1685 bis 1692. Totenprotokolle aus benen. Zum Beispiel starb 1781 der 34-jährige Zeugmachergeselle Kaspar der Zeit der bzw. unmittelbar nach der Zweiten Knott, bei dem notiert wurde, dass er der evangelischen Religion angehörte,58 Türkenbelagerung sind nicht erhalten. 57 Pfarre St. Ulrich, Totenprotokoll 4. 1782 wird ein ehemaliger Ingenieur-Oberleutnant, ebenfalls evangelischer Reli- 58 Pfarre St. Ulrich, Totenprotokoll 23, 1781 59 gionszugehörigkeit, genannt. 1783 wurde der mit 77 Jahren verstorbene Juni 21. Heinrich Dominikus Hübner, ein gewester Verheürather Zeich=machergesell, 59 Pfarre St. Ulrich, Totenprotokoll 23, 1782 September 21. aus Hamburg an der Elbe gebürtig, welcher auf der Gasse gestorben war, 60 Pfarre St. Ulrich, Totenprotokoll 23, 1783 60 auf den Gottesacker der Pfarre St. Ulrich gebracht und begraben. Ein ehema- Januar 24.

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liger kaiserlicher Architekt und Ingenieur, Johann Franz Lamberth, 95 Jahre alt, wurde 1713 auf dem Friedhof bei- gesetzt.61 Immer wieder sind auch sog. unschuldige bzw. arme Kin- der in den Totenprotokollen verzeichnet. Ihnen wurden auch Plätze auf dem Friedhof zugewiesen, für die am we- nigsten gezahlt bzw. zum Teil auch aus Barmherzigkeit Abb. 3: Pfarre St. Ulrich,Totenprotokoll 23, 21. August 1783: Eintrag des keine Gebühren verrechnet wurden. Ebenso stößt man Begräbnisses von Wolfgang Amadeus Mozarts erstem Sohn Reymund. auf zahlreiche Eintragungen gestorbener Kinder lediger (Foto: H. Krause) Frauen sowie auf Hinweise von Begräbnissen von offenbar notgetauften Neugeborenen bzw. von erwarteten Totgeburten, bei denen noch vor der Entbindung die Mutter und damit das Kind eine Nottaufe erhielt.62 1783 starb der Anna Maria Lintnerin, einer ledigen „Weibsperson“, ihr Todt gebohre- nes unvollkomenes Zeit K[ind] Weibl. geschlechts […] Vonk:k:StattG[e]r[i]cht beschaut.63 Am 21. August 1783 ist das Begräbnis von Reymund, dem ersten Sohn Wolf- gang Amadeus Mozarts, verzeichnet, der im Alter von neun Wochen verstarb. Er wurde ebenfalls auf dem Friedhof St. Ulrich begraben (Abb. 3). Für die Grab- stelle wurden 30 Kreuzer bezahlt.64 Bisher gibt es weder eine Edition noch Indizes der Totenprotokolle der Pfarre St. Ulrich. Eine gründliche Analyse dieser Totenprotokolle sowie der erhaltenen Totenbeschauprotokolle im Wiener Stadt- und Landesarchiv zu Fragen der Be- völkerungsstruktur, Sterbealter, Todesursache, Sterblichkeitsraten durch Epi- demien und des vorstädtischen Bevölkerungswachstums wäre jedoch eine lohnende und verdienstvolle Forschungsaufgabe.

Die Rechnungen der Friedhofskapelle Unter dem Bestand der im Wiener Stadt- und Landesarchiv aufbewahrten Ar- chivalien des Pfarramts St. Ulrich befinden sich neben den Kirchenrechnungen aus der Zeit von 1680 bis 1828 auch die Einnahmen- und Ausgabenauflistung der Friedhofskapelle aus der Zeit von 1726 bis 1751. Neben der Ausstattung der Kapelle, den zur Messe benötigten Utensilien, wie der Kauf von Oblaten, Kerzen, Opferwein und Baumöl für die Lampe, und den Löhnen für verschiede- 61 Pfarre St. Ulrich, Totenprotokoll 11, 1713 Juni 17. ne Tätigkeiten scheinen auch Reparaturarbeiten auf. Auch die Ausgaben für 62 Pfarre St. Ulrich, Totenprotokoll 5, 1689 den Johannistag im Juni (24. Juni) – denn die Kapelle war dem hl. Johannes Oktober 15: Kind so frau getaufft, ebenso geweiht – werden genau aufgelistet. Für diesen Tag wurde jeweils ein grüner zum 20. Oktober 1689. Zur Nottaufe noch un- geborener Kinder siehe: H.-Ch. Seidel, Eine Baum gekauft und aufgestellt. neue „Kultur des Gebärens“. Die Medikalisie- Die ersten drei erhaltenen Rechnungsjahrgänge von 1726 bis 1729, der auf rung von Geburt im 18. und 19. Jahrhundert dem St. Ulrichs gotts Acker befindlichen Capellen, wurden durch […] Friderich in Deutschland. Medizin, Gesellschaft u. Gesch. Beih. 11 (Stuttgart 1998) 47 f. und S. Schwab, behaustern Nachbarn am Neubau geführt, von 1730 bis 1747 von Ulrich-Bochsler, Totgeboren, wiederbelebt seiner Witwe Rosalia Schwab und ab 1748 bis 1751 von ihrem Sohn Joseph und getauft. Vom „enfant sans âme“ zum „en- fant du ciel“. Die mittelalterlichen Totgeburten Schwab, einem bürgerlichen Goldarbeiter. In regelmäßigen Abständen muss- von Oberbüren. Ethnogr.-Arch. Zeitschr. 50, ten Kapelle und Sakristei gereinigt, „ausgeweißt“ und die Heiligenbilder geputzt 1/2, 2009, 295–309. werden. Hin und wieder wurden der Turm, die Kanzel, die Kapellentür, die 63 Pfarre St. Ulrich, Totenprotokoll 23, 1783 Martius 22. Fenster oder die Orgel repariert. 1728 ließ man das Thürl in gotts Acker repa- 64 Pfarre St. Ulrich, Totenprotokoll 23. rieren und bezahlte den Maurer sowie den Schlosser dafür, welcher zugleich

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Abb. 4: Vogelschau von Joseph Daniel Huber 1769–1773, Ausschnitt mit dem Friedhof zu St. Ulrich. (© Wien Museum, Inv.-Nr. 196.846/9,10)

auch einen neuen Schlüssel zum Turm und einen zur Kapellentür herstellte. Im selben Jahr ließ man einen neuen Rahmen samt Verglasung zur Einfassung des päpstlichen Ablasskonsenses anfertigen. 1734 bekam das „Johannesbild“ ei- 65 WStLA, Pfarramt St. Ulrich – 2.6.1.3. B 4 nen neuen Rahmen. 1732 war eine Glocke heruntergefallen, die dadurch ver- – Rechnungen der Friedhofskapelle 1726– ursachten Schäden mussten beseitigt werden, der Altar wurde erneuert und 1751. 65 66 66 WStLA, Pfarramt St. Ulrich – 2.6.1.3. B 1 die Fenster ausgebessert. Eine neue Friedhofsmauer wurde 1738 errichtet. – Kirchenrechnungen 1680–1828, 19, 1738, fol. 11v. Das Ende des Friedhofs zu St. Ulrich 67 Pfarre St. Ulrich, Totenprotokoll 23, zum 1. Januar 1784: Elisabeth Geyerin, Seilerwit- Ab dem 1. Jänner 1784 wurden die Toten von St. Ulrich auf einem neu ange- we, 67 Jahre alt ist im Neüen Gotts Aker aus- 67 legten Friedhof außerhalb des Linienwalls begraben. Ignaz de Luca schrieb ser den Linien begraben worden. 1794 im ersten und einzigen Band seiner Topographie von Wien, dass alle 68 I. de Luca,Topographie von Wien 1 (Wien 1794) 493. „Kirchhöfe (Freudhöfe)“ in der Stadt und in den Vorstädten geschlossen wor- 69 De Luca (Anm. 68) 494. den seien und seit dem 1. Jänner 1784 „alle Leichen außerhalb den Linien ge- 70 Bauer 2004, 257: Kaiser Joseph II. äußer- bracht“ würden.68 Ein Teil der Leichen der Pfarre St. Ulrich kam offenbar auf te sich in einem Hofdekret vom 24. Januar 1785 zur Frage der Weiternutzung ehemaliger den Kirchhof vor der Hundsturmer Linie, ein anderer auf den Kirchhof der Wäh- Friedhöfe, dass erst nach Ablauf von zehn Jah- 69 ringer Linie. Das 1784 aufgelassene Friedhofsareal wurde zunächst zu einer ren darauf Häuser errichtet werden dürften, die Wiese70 und schließlich 1790 an den Seidenfärber Lorenz Vinier verkauft, in 14 Gründe jedoch schon früher als Wiesen, Gär- 71 ten und Acker genutzt werden könnten. Parzellen unterteilt und mit Mietzinshäusern verbaut. Als erstes ließ er das 71 Kisch 1895, 469; Rotter 1925, 125; Haus Siebensterngasse 33 errichten, das den Namen „Zur Hofstatt“ oder Großstadtlärm 1938, 30.

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„Friedhofstätte“ trug. In den folgenden Jahren bis 1803 wurden auch die ande- ren Parzellen verbaut.72 Die neue Gasse, die nach Auflassung des Friedhofs westlich von diesem ent- stand, heißt heute Zollergasse, wurde aber zunächst Totengassel oder auch Leichenhof-Gasse genannt.73 Der Name „Totengasse“ bezeichnete im Per- spektivplan von Joseph Daniel Huber aus der Zeit von 1769 bis 1773 (Abb. 4) jedoch die heute so genannte Kirchengasse.74

Historische Ansichten und Pläne Nur auf wenigen historischen Plänen und Ansichten aus dem 18. Jahrhundert ist der Friedhof zu St. Ulrich dargestellt, von denen auf zwei hier näher einge- gangen werden soll: Ein Perspektivplan der Vorstädte St. Ulrich, abgebildet in F. Dolfins „Lustra Decem Coronae Viennensis […]“ aus dem Jahr 1734 (Abb. 5), zeigt auch den Friedhof St. Ulrich, der hier – der mittelalterlichen Tra- dition folgend – als Cœmeterium bezeichnet wird. Er ist von einer Mauer um- geben, der Eingang lag in der heutigen Mondscheingasse nahe der Sieben- sterngasse. Die Friedhofskapelle zeigt sich im Stil des Barock mit Volutengiebel auf der Portalseite, Pilastergliederung und einem Zwiebelturm von quadrati- schem Grundriss, der sich über dem Dach der Kapelle erhebt. Wahrscheinlich ist der Bau hier – im Zentrum des Friedhofs – viel größer wiedergegeben, als er in Realität war.

72 M. Aschinger, Wo die alten St. Ulricher Den besten Eindruck vom einstigen Aussehen des Friedhofs dürfte die Per- ruhen. Pfarrbrief der Pfarre St. Ulrich vom No- spektivdarstellung von Wien und den Vorstädten bis zum Linienwall („Sceno- vember 1949/1950, 6. graphie oder Geometrisch Perspect. Abbildung der Kayl: Königl: Haubt: u: Re- 73 Aschinger 1920, 33. Im Plan „K. K. Poli- “ zey=Bezirk St. Ulrich“ von Carl Graf Vasques sidenz Stadt Wien in Oesterreich ) von Joseph Daniel Huber aus der Zeit von aus der Zeit nach 1830 ist der Name „Leichen- 1769 bis 1773 vermitteln (Abb. 4). Wir sehen den trapezförmigen Grundriss “ hof G. für den nördlichen Teil der Zollergasse des Friedhofs, der mit einer Mauer umgeben war. Der Zugang erfolgte wie in verzeichnet (siehe www.wien.gv.at/kultur/ kulturgut/karten/vasquez/ulrich3.html); Kisch der Ansicht von 1734 von der Mondscheingasse aus, nahe der Einmündung 1895, 4; 6; 8 schreibt, dass der obere Teil in die Siebensterngasse. Huber zeigt hier einen Platz mit dreieckigem Grund- der Zollergasse noch in den 20er Jahren des „ “ „ “ riss. Diese Erweiterung der Siebensterngasse wurde früher Am Holzplatzl ge- 19. Jh. Leichenhofgasse hieß. Faber 1995, 75 183. nannt. Der Friedhof ist mit Kreuzen übersät dargestellt, die jedoch wohl weni- 74 Siehe auch St. Ulrich, Totenprotokoll 4, ger der Wirklichkeit entsprachen, sondern vielmehr als Signatur zu werten sind. 1687 Martius 26: beym Schwarzen Adler in To- Ein breiter Weg führt zur Kapelle, die auf der rechten hinteren Seite des Fried- dengässel. 75 Faber 1995, 175 und 182. Möglicherwei- hofs steht. Sie ist in ähnlicher Gestalt wie auf der Ansicht von 1734, aber in et- se bezieht sich die Bezeichnung „Am Platzl was anderen Proportionen dargestellt. Rechts neben dem Friedhofseingang nächst den Freidhof“ auf diesen Platz (Neue bildet ein kleines, schmales Gebäude den Abschluss zur Siebensterngasse, Pfarreintheilung in der K. K. Haupt- und Resi- 76 denzstadt Wien und allen Vorstädten inner die als „Schwabengasse“ bezeichnet ist. Dank der erhaltenen Ansichten den Linien nach der allerhöchsten Verordnung und Rechnungen der Friedhofskapelle ergibt sich ein recht plastisches Bild vom 25ten Hornung 1783 [Wien 1783] 66). des einstigen Friedhofs und seiner Kapelle. 76 Die neue Pfarreinteilung von 1783 nennt ein Todtengassel, das der Beschreibung nach der Kirchengasse entsprechen könnte, und Friedhofsbefunde im 19. und 20. Jahrhundert auch noch den zu jener Zeit bestehenden Got- tesacker. Außerdem wird die Schwabengasse Im Zuge von Aufgrabungen innerhalb der ehemaligen Friedhofsfläche traf man (heute Siebensterngasse) „gegen den Gottes- bereits im 19. und 20. Jahrhundert mehrmals auf menschliche Skelettreste acker über“ genannt: Neue Pfarreintheilung (Abb. 6). 1876 wurde beim Neubau des Hauses Mondscheingasse 12 eine (Anm. 75) 65 f. 77 GC: 1876_07; Kisch 1895, 469; Groß- große Anzahl übereinandergeschichteter Totenschädel und Knochen gefun- 77 stadtlärm 1938, 29. den. Wilhelm Kisch schrieb 1895 über diese Entdeckung: Das Haus an der

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Abb. 5: Perspektivplan der Vorstädte St. Ulrich mit dem Friedhof St. Ulrich (Nr. 13), aus F. Dolfin, Lustra Decem Coronae Viennensis … aus dem Jahr 1734. (© Wien Museum, Inv.-Nr. 105.977/4)

Ecke Mondscheingasse 12/Zollergasse 24 wurde – wie er wohl fälschlicherwei- se angibt –„Anfang der Achzigerjahre von Grund aus neugebaut“. In unterirdi- schen Gewölben traten viele menschliche Skelettreste zutage. Der hier abge- bildete Holzschnitt (Abb. 7) zeigt die Abbrucharbeiten und die freiliegenden Ge- wölbe, die mit Schädeln und „menschlichen Gebeinen“, „bunt durcheinander gewürfelt“ verfüllt sind.78 Möglicherweise dienten diese Gewölbe als Beinhaus, in das man die Skelettreste älterer Bestattungen, die bei einer Wiederbelegung zutage getreten waren, transferierte.79 Circa 1937 kamen an der Ecke Zollergasse/Mondscheingasse wiederum 78 Kisch 1895, 469. 80 menschliche Skelettreste zum Vorschein. Auch 1935 traf man in der Zoller- 79 Hierzu passt möglicherweise der Eintrag gasse und 1967 nahe der Zollergasse 31 erneut auf ehemalige Gräber.81 von 1692 in den Kirchenrechnungen (Anm. 46). 1991 wurden in der Mondscheingasse 10 sowie auf einem nicht genauer loka- 80 Großstadtlärm 1938, 29. 82 lisierbaren Fundplatz in der Zollergasse Überreste von Bestattungen gebor- 81 GC: 1967_07 und 1935_15; siehe www. gen. kulturgut.wien.at. „ 82 GC: 1991_04 und 3002_35 (freundl. Mitt. Die K. K. Central-Commission zur Erforschung und Erhaltung der Kunst- und Karin Wiltschke-Schrotta, NHM, Anthropologi- historischen Denkmale“ notierte 1897 den Fund menschlicher Skelette beim sche Abteilung).

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Abb. 6: Friedhof St. Ulrich mit den Fundplätzen innerhalb des Areals Siebensterngasse/Mondscheingasse/Zollergasse. (Plan: Stadtarchäologie Wien)

Umbau der Häuser in der Mondscheingasse 8 und Siebensterngasse 35.83 Der Bericht des k. k. Polizeiarztes Dr. M. Landesmann vom 18. März 1897 liegt die- sem Akt bei. Er teilte mit, „dass in dem derzeit in Umgrabung befindlichen Erd- reich bei den Umbauten der Häuser VII. Mondscheing. 8 u. VII. 7sterng. 35 be- reits mehr als 10 Säcke voll menschlicher Knochen gefunden worden sind, die am Centralfriedhof wieder beigesetzt worden u. dass noch fortwährend zahlrei- che Skelettheile daselbst gefunden werden. Bei der Abgrabung des Erdreiches VII. Mondscheing. 8 sind (in ähnlicher Weise wie bei einem geologischen Auf- schlusse) derzeit zahlreiche Querschnitte von Holzsärgen sichtbar, Kreise von röthlich-braunem, morschem Holze, welche menschliche Skelettheile um- schliessen. Effekten sind bisher noch nicht gefunden worden. Bei dem Hause 7sterng. 35 sind nach der Angabe des Poliers einige Skelette von gelöschtem Kalk bedeckt gefunden worden (Sollte dies auf die von Kaiser Josef II. erlassene Vorschrift, die Leichen mit Kalk zu bedecken, zurückzuführen sein?).“ Matthäus Much, Konservator der „K. K. Central-Commission zur Erforschung und Erhal- tung der Kunst- und historischen Denkmale“ inWien,fasstedaraufhinzusam- men, dass die Beschreibung der Funde und Fundverhältnisse deutlich mache, dass es sich „nicht um prähistorische Reste, sondern um einen christlichen Friedhof handelt, der für die lokale Geschichte von Wien nicht ohne Interesse 83 GC: 1897_58 und 1897_59; siehe www. sein dürfte“.84 kulturgut.wien.at. 84 Akt der K. K. Central-Commission zur Er- forschung und Erhaltung der Kunst- und his- Die Grabung Zollergasse 32 – Befundbeschreibung (Abb. 8) torischen Denkmale, Zl. 562 vom 24.3. 1897, In der Baugrube für den Lift im Hof des Hauses Zollergasse 32, die die Ausma- Ortsakten BDA, Abteilung für Bodendenkmale. 6 85 85 Das Gehniveau im Hof liegt bei 45,94 m ße von 2,80 3,10 m und eine Tiefe bis zu 43,04 m über Wr. Null hatte, traf über Wr. Null. man während der Aushubarbeiten auf menschliche Skelettreste. Die daraufhin

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Abb. 7: „Das Massengrab in der Mondscheingasse“. (nach Kisch 1895, Fig. 169)

erfolgte archäologische Untersuchung erbrachte eine große Anzahl dislozierter menschlicher Knochen, Reste von sechs intakten Gräbern sowie Beigaben, vereinzelt auch Kleidungs- und Sargbestandteile.

Erdschichten Oberhalb der „Friedhofsschicht“ wurde eine heterogene, feste und feuchte Schicht angetroffen, die sich unter der Hofoberfläche bis in eine Tiefe von ca. 1,35 m verfolgen ließ. Diese Schicht war bereits durch Künetten für Abwasser- kanäle gestört und dürfte der Wohnbauära dieses Areals, also der Zeit um/nach 1800 zuzuordnen sein. Sie war lehmig und beinhaltete viele Ziegelfragmente, Kalk- und Mörtelreste, kleine Kiesel, umgelagerte menschliche Knochen, weni- ge neuzeitliche Keramik- und Porzellanscherben und einige kleinteilige Fenster- glas- und Flaschenbruchstücke, vorwiegend aus dem 19. Jahrhundert. Die grau- bis hellbraune, lehmig-lössige Friedhofsschicht war ab ca. 1,35 m un- ter Hofniveau zu beobachten. Sie enthielt wenige Einschlüsse, ihr Lössanteil stieg mit zunehmender Tiefe. Diese Schicht wiederum wurde von Mehrfachbe- legungen sowie durch Baumaßnahmen nach Aufgabe des Friedhofs – wie dem Anlegen der Baugrube für das Wohnhaus sowie der Künetten für die Abwas- serkanäle – gestört. In dieser Schicht befanden sich die Reste von sechs Grä- bern sowie umgelagerte menschliche Knochen, Sargbestandteile, Keramik- fragmente und weitere Kleinfunde.

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Die Gräber Alle Skelette befanden sich in gestreckter Rückenlage und wiesen eine West-Ost-Ausrichtung auf, d. h. der Kopf lag im Westen mit Blick nach Osten. Diese Orientierung ent- spricht der für christliche Bestattungen üblichen Art, denn aus dem Osten erwartete man die Wiederkehr Christi am Jüngsten Tag.

Grab 1 Archäologischer Befund Die Reste des Grabes 1 lagen direkt an der westlichen Baugrubenkante in einer Tiefe von ca. 43,59 m über Wr. Null, wo unmittelbar die Mauer des Hauses Zollergasse 32 anschloss. Die Knochen des Oberkörpers und ein Teil des Schädels befanden sich noch in situ. Der Rest der Be- stattung war nicht mehr erhalten. Hand- und Fingerglieder waren bereits großteils disloziert. Das Skelett lag auf einem dünnen, schlecht erhalte- nen Holzbrett. Darunter wurde Löss festgestellt.

Beigaben/Beifunde Die Reste einer um das Handgelenk gelegten Perlenkette dürften als Rosenkranz zu interpretieren sein. Insgesamt waren es 20 Perlen (12 Ave-Maria-Perlen aus poliertem Bein in doppelkonischer Form mit max. Dm 0,6 cm, drei kugelförmige Paternosterperlen mit Dm 0,8 cm sowie fünf kleinere Perlen aus Buntmetall mit max. Dm 0,4 cm, die ur- Abb. 8: Übersichtsplan der Grabung Zollergasse 32 mit den Gräbern 1 sprünglich wohl zur Absetzung der Paternosterperlen aufgefädelt waren; bis 6. (Plan: Stadtarchäologie Wien) Inv.-Nr. MV 74603/1). Es wurden auch Reste von Fäden, die zu einer Schnur gehört haben dürften, aufgefunden. Wahrscheinlich waren die Perlen ursprünglich auf einen Metallfaden (Lahn) gefädelt, der die Grünfärbung der Knochen und der Perlen aus Bein verursachte. Im Halsbereich fand sich ein kleiner Gewandhaken (Inv.- Nr. MV 74603/2), ein sog. Haftel, das möglicherweise zum Verschließen eines Hemdchens dien- te.

Anthropologischer Befund Die gestörten Überreste aus Grab 1 gehören zu einem etwa acht bis neun Jahre alten Kind.86 Erhalten sind Teile des Schädels, des rechten Beckens sowie der rechten oberen Extremität. So- wohl an den Milchzähnen als auch an den Dauerzähnen weist das Kind deutliche Schmelzhypo- plasien auf, darüber hinaus lassen sich keine Anzeichen einer Erkrankung feststellen.

Grab 2 Archäologischer Befund

86 Die Alters- und Geschlechtsbestimmung Das bei 43,49 m über Wr. Null aufgefundene Grab war nicht mehr komplett erhalten. Der Schädel an den adulten und subadulten Individuen wur- wurde im Zuge der Verlegung eines Abwasserkanals disloziert. Es wurden Fragmente eines hölz- de ausschließlich morphognostisch nach den ernen Sarges (erh. Länge 1,40 m; Breite des Fußendes 0,26 m; Breite des Kopfendes 0,50 m) in der physischen Anthropologie üblichen Me- beobachtet, auch Reste des Deckels waren erhalten. thoden durchgeführt, zusammengefasst in D. Ferembach/I. Schwidetzky/M. Stloukal, Emp- Beigaben/Beifunde fehlungen für die Alters- und Geschlechtsdia- Es wurden keine Funde festgestellt. gnose am Skelett. Homo 30, 1979, 1–32 so- wie J. E. Buikstra/D. H. Ubelaker (eds.), Stan- Anthropologischer Befund dards for Data Collection from Human Skeletal Grab 2 beinhaltete ein etwa 10–15 Jahre altes juveniles Individuum. Das Geschlecht ließ sich auf- Remains. Arkansas Arch. Survey Research grund des Sterbealters und des fragmentarischen Erhaltungszustandes nicht mehr ermitteln. Er- Ser. 44 (Fayetteville 1994). halten ist das gesamte Postkranium mit Ausnahme der Wirbelsäule.

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Abb. 9: Gnadenmedaille Christus-Maria aus Grab 3.

Grab 3 Archäologischer Befund Grab 3 lag direkt im nördlichen Baugrubenprofil, so dass nur ein Teil des Skeletts freigelegt wer- den konnte. Das Grab befand sich in einer Tiefe von 2,80 m unter Hofniveau (ca. 43,14 m über Wr. Null) und wies ein Holzbrett unter dem Skelett auf. Auch diese Bestattung war im Bereich des Schädels gestört, was vermutlich mit dem Anlegen der Baugrube für das Wohnhaus in Zusam- menhang zu bringen ist.

Beigaben/Beifunde Im Beckenbereich wurde eine Gnadenmedaille Christus-Maria (Kupferlegierung gegossen, hoch- oval, 2,663,4 cm; Inv.-Nr. MV 74604) in situ angetroffen (Abb. 9). Reste dreier Noppen sind an- satzweise zu erkennen. Die Öse ist abgebrochen. Auf der Vorderseite sind im Vordergrund eine Christusbüste mit Heiligenschein und dahinter eine Marienbüste mit Schleier und Heiligenschein mit dem Blick nach rechts dargestellt. Auf der Rückseite findet sich Christus am Kreuz mit kirch- lichem Wetterexorzismus (Jesus Christus rex gloriae venit in pace […]). 87 Ein ähnliches Exemplar einer Christus-Maria-Medaille aus Kleinmariazell wird in die zweite Hälfte des 17./18. Jahrhun- derts datiert.88

Anthropologischer Befund Grab 3 enthielt die gut erhaltenen Reste der linken oberen Extremität und Teile des Stammskelet- tes eines erwachsenen Individuums. Da keine geschlechtsspezifischen Merkmale mehr vorhan- den waren, konnte dieses nicht mehr ermittelt werden. Das Alter lässt sich lediglich grob zwi- schen 30 und 50 Jahren eingrenzen. Besondere Pathologien waren nicht festzustellen. 87 H. Dimt, „Haus- und Schutzbrief aus der Schloßkapelle Weinberg. JbOÖMV 132, Grab 4 1987, 78. 88 Fundort Kloster. Archäologie im Klöster- Archäologischer Befund reich. Ausstellungskat. Stift Altenburg 1. Mai Reste eines weiteren Grabes kamen bei einer Tiefe von 43,04 m über Wr. Null zum Vorschein. bis 1. November 2000. FÖMat A 8 (Horn Unter dem Skelett wurde ein Holzbrett festgestellt. Am linken Knie konnte eine Grünfärbung 2000) 302 f. Kat.-Nr. 28.34 mit Abb. S. 303: des Knochens beobachtet werden, was auf die einstige Lage eines nicht mehr erhaltenen Bunt- Kleinmariazell, Grab 31/1; Bronze, gegossen, metallobjektes hindeuten dürfte. hochoval, 2,762,2 cm, Öse; auf der Vorder- seite Christusbüste und Marienbüste mit Beigaben/Beifunde Schleier nach links, auf der Rückseite Kreuzi- Es konnten keine Beifunde bzw. Beigaben geborgen werden. gung mit vollständigem Wetterexorzismus.

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Abb. 10: Grab 5 während der Freilegung, Blick nach Süden. (Foto: H. Krause)

Anthropologischer Befund In Grab 4 fand sich das unvollständige Skelett eines weiblichen Individuums, das im Alter zwi- schen 25 und 40 Jahren verstarb. Vorhanden sind Teile der unteren Extremität, die aufgrund der Bestattung in einem Holzsarg deutlich schlechter erhalten sind als Knochen sargloser Bestat- tungen. Die Knochen weisen keine weiteren Besonderheiten auf.

Grab 5 (Abb. 10) Archäologischer Befund Grab 5 war das vollständigste von allen untersuchten Gräbern. Es befand sich unter Grab 2 in einer Tiefe von ca. 43,09 m über Wr. Null. Die Reste vom hölzernen Sarg, vom Unterteil, den Wänden und auch vom Deckel sowie Sargnägel waren noch in situ erhalten. Die Knochen wiesen einen schlechten Erhaltungszustand auf.

Beigaben/Beifunde Es wurden Reste feiner, bronzefarbener Fäden (Lahn) auf dem Schädeldach beobachtet, die viel- leicht von einer einstigen Totenkrone oder -haube stammten.89 Eine kugelförmige Perle (opakes, blauschwarzes Glas mit Dm 0,98 cm; Inv.-Nr. MV 74609/1) fand sich im Bauchbereich. Aus dem Grab stammen außerdem eine weitere kugelförmige Perle aus graublauem, milchigem Glas (Dm 0,7 cm; Inv.-Nr. MV 74609/2) sowie eine aus Bein (Dm 0,5 cm; Inv.-Nr. MV 74609/3) und der Rest einer kleinen Metallnadel mit kugelförmigem Kopf (erh. Länge 0,8 cm; Inv.-Nr. MV 74609/ 4) sowie fremdes Knochenmaterial anderer ehemaliger Bestattungen. Unterhalb des Hüft- und Bauchbereichs lag ein weiterer dislozierter Oberschenkelknochen.

Anthropologischer Befund In Grab 5 fand sich die Bestattung einer etwa 30 bis 40 Jahre alten Frau. Mit einer errechneten Körperhöhe von etwa 1,50 m war die Frau klein, was möglicherweise auf mangelbedingte 89 Vgl. dazu: M. Ullermann, Ausstattung und Wachstumsstörungen (siehe unten), die sich an den Langknochen der unteren Extremität mani- Kleidung der Toten in der Michaeler Gruft. In: festierten, zurückzuführen sein könnte. A. Rainer (Hrsg.), Die Michaeler Gruft in Wien. Die stark deformierten Oberschenkel der Frau aus Grab 5 deuten darauf, dass die Frau im Kin- Retten, was zu retten ist (Wien 2005) 66 f.; J. desalter an einer Rachitis (chronischer Vitamin-D-Mangel) litt. Darüber hinaus finden sich an der Lippok, „Bei den Toten unten …“ – Ergebnisse einer archäologischen Annäherung. In: Toten- Innenseite der Rippen Knochenneubildungen, die durch eine länger zurückliegende Entzündung hochzeit mit Kranz und Krone. Zur Symbolik der Lungenpleura verursacht wurden. Am Unterkiefer konnten Knochenneubildungen festgestellt im Brauchtum des Ledigenbegräbnisses. werden, die auf eine, zum Zeitpunkt des Todes noch bestehende Entzündung im Bereich des Hrsg. vom Zentralinstitut und Museum für Se- Nervus alveolaris zurückzuführen sind und mit Erkrankungen der Zähne in Zusammenhang ste- pulkralkultur Kassel (Kassel 2007) 253–277. hen dürften.

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Abb. 11: Wallfahrtsmedaille Mariazell/Maria Taferl.

Grab 6 Archäologischer Befund Der Überrest (Knochen der Wirbelsäule) eines weiteren Grabes lag unmittelbar an der nördlichen Baugrubenkante ungefähr in gleicher Tiefe wie die Gräber 4 und 5. Auch hier zeigten sich Holz- bretter als Teile eines Sarges. Knochen dieses Grabes wurden nicht geborgen, Beigaben traten nicht zutage.

Funde aus der Friedhofsschicht Es wurden auch Beigaben(-reste) geborgen, die sich in der Friedhofsschicht, d. h. nicht mehr in situ befanden, aber ehemaligen Bestattungen zuzuordnen sein dürften.

Wallfahrtsmedaille Dazu gehört eine Wallfahrtsmedaille Mariazell/Maria Taferl (Abb. 11; Inv.-Nr. MV 74606), die aus dem Umfeld der Gräber 4 und 5 stammte. Sie ist aus Bunt- metall gegossen und hat eine ovale Form (1,962,2 cm) mit einer Öse als An- hängevorrichtung (0,7 cm). Auf der Vorderseite ist die Mariazeller Madonna dargestellt: Maria mit Mantel und Kind auf dem Arm, beide gekrönt, im Pracht- gewand; Umschrift: S. MARIA ZELL. Auf der Rückseite findet sich eine Pietà- Darstellung vor einem Baum. Die bekrönte Maria, in langem Gewand und mit Schleier, betrachtet den tot auf ihrem Schoß liegenden Christus mit Heiligen- schein. Von der Umschrift ist nur noch TAF lesbar. Diese Medaille ist anhand von Analogien wohl ins 18. Jahrhundert zu datieren.90

Breverl Erwähnenswert ist der Fund eines leider schlecht erhaltenen Papierrestes mit Druckgrafik, auf dem die Wörter Maria vobis zu lesen sind (Abb. 12; Inv.-Nr. MV 74602/1). Er haftete auf einem ca. 262 cm großen, 2 mm starken, weißen, leichten und fragilen Plättchen (Gips?) und weist eine Grünfärbung auf, die von 90 Vgl. Fassbinder (Anm. 17) 479 Nr. 186 einem nicht mehr erhaltenen Objekt aus einer Kupferlegierung stammen könn- und Taf. 11,3.

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te, in dem sich dieses Gebetstextfragment ursprünglich befand. Diese Reste dürften einst zu einem sog. Breverl gehört haben. Ein Breverl ist ein Komposit-Amulett, das – quasi als „geistliche Hausapotheke“91 am Körper getra- gen – vor Unheil aller Art schützen sollte. Es wurde in einer Hülle aufbewahrt oder in ein Leinensäckchen eingenäht und beinhaltete in der Regel gefaltete Bögen mit Heiligen- bildchen, Gebetszettel, zuweilen aber auch Kräuter, Reli- quien bzw. Sekundärreliquien.92 Bis ins 18. Jahrhundert Abb. 12: Rest eines Breverls, Gebetstextfragment aus Papier. (Foto: H. waren sie hauptsächlich in Metallkapseln eingeschlossen, Krause) vereinzelt in Leder oder Stoffe, in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts kommen vermehrt Stoff- und Papierbreverl vor.93 Der Beginn des Breverlbrauchtums ist nach Roland Halbritter bis ins 14. Jahr- hundert zurückzuverfolgen. Die größte Popularität erfuhren die Breverl jedoch im 18. Jahrhundert.94 Verbreitet waren sie vor allem in Österreich, Südtirol, Süddeutschland und der Schweiz. Ein unserem Fund vergleichbares Objekt stammt aus einem Grab aus Kloster- marienberg. Dieses Breverl wird in das 18. Jahrhundert datiert. In einer recht- eckigen Bronzeblechhülse von 3,662,8 cm, dessen Sichtfenster mit orange- farbenem Glas abgedeckt war, befindet sich ein Papierbildchen mit dem Gnadenbild von Maria Taferl. Die Umschrift lautet: Jesus et Maria vobis cor cum anima mea.95 Somit ergäbe sich für unser Fundstück in Analogie eine Da- tierung ins 18. Jahrhundert.

Perlen Weiters kamen sechs kugelförmige Perlen unterschiedlicher Größe aus Bein (fünf von ihnen poliert und grün gefärbt, zum Teil mit Fadenrest, Dm 0,5– 0,74 cm) und Glas (opak, weiß mit Dm 0,4 cm) zutage, die sicherlich einst zu Rosenkränzen gehörten (Inv.-Nr. MV 74602/2).

Schmuckeinsatzstein Ein ovaler, einseitig gewölbter Einsatzstein (Dm 0,5–0,6 cm) aus dunkelsma- ragdgrünem, transparentem Glas dürfte zu einem Schmuckstück gehört haben (Inv.-Nr. MV 74601/1).

Gewandhaken Reste eines weiteren Gewandhakens und einer Öse aus Bronze, die wohl zum Verschließen eines Totengewandes gehörten, wurden ebenfalls gefunden (Inv.- 91 P. Ochsenbein, Zur Typologie der Bre- Nr. MV 74601). verl. Über ein in St. Gallen 1996 aufgefunde- nes Exemplar. ÖZV 103/1, 2000, 65. 92 Halbritter 2004, 64 f. Särge, Sargnägel, Beschläge 93 Halbritter 2004, 66. Als Reste von Särgen wurden zahlreiche eiserne Sargnägel, wahrscheinlich 94 Halbritter 2004, 61–82 bes. 64. auch einige korrodierte, fragmentierte Eisenbeschläge (Inv.-Nr. MV 74602) 95 Fundort Kloster (Anm. 88) 308 f. Kat.-Nr. 28.62: Klostermarienberg, Grab 537, Inv.-Nr. und Holzbretter beobachtet, die im Zuge neu angelegter Bestattungen in älte- 1042. ren Gräbern in die Friedhofsverfüllung gelangten.

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Abb. 13: Produktionsabfälle der Knopfherstellung und ein fragmentiertes Beinplättchen. (Foto: H. Krause)

Weitere Funde ohne Befundzuordnung Weiters wurden Funde aus dem Aushub geborgen, die nicht mit der Funktion des Friedhofs in Zusammenhang stehen. Zum Beispiel fanden sich drei Abfallreste von bein- verarbeitendem Handwerk. Es handelt sich dabei um Kno- chenleisten mit zylindrischen Durchbohrungen. Sie sind si- cherlich als Überreste der Knopfherstellung zu interpretie- ren. Schriftliche Hinweise auf Knopfmacher in St. Ulrich finden sich in den Totenprotokollen der Pfarre St. Ulrich. Abb. 14: Rest eines Tafelaufsatzes aus dem 19. Jahrhundert. (Foto: H. Ein geglättetes, ursprünglich wohl kreisrundes Beinplätt- Krause, Zeichnung: G. Reichhalter) chen mit einem Durchmesser von 2,8 cm dürfte zerbro- chen sein, so dass nur noch ein annähernd halbkreisförmiger Überrest gebor- gen wurde (Abb. 13; Inv.-Nr. MV 74602/3–4). Nur wenige Keramikfragmente vom späten Mittelalter, von der frühen Neuzeit bis ins 19. Jahrhundert wurden geborgen. Bei der mittelalterlichen Keramik handelt es sich durchwegs um unsignifikante reduzierend gebrannte Fragmen- te. Bruchstücke von Irdenware aus dem 18./19. Jahrhundert zeigen die typi- schen Kremp- und Kragenränder sowie innenseitige Glasur. Unter den Fayence-, Steingut- und Porzellanscherben tragen einige Stücke das sog. Wie- ner Muster und ein Fragment weist Streublümchendekor auf. Aus dem 19. Jahrhundert stammt ein Porzellanfragment (Abb. 14; Inv.-Nr. MV 74602/5), bei dem es sich vermutlich um ein Stück eines Tafelaufsatzes – ein dekoratives Element der Tischkultur – handelt. Ein kleiner Teil der ehemals sehr komplexen Verzierung lässt noch erkennen, dass es sich bei der Oberflächengestaltung um blaue Unterglasurbemalung (Grotesken) handelt. Dargestellt sind eine auf einem Bauwerk erhöht stehende Figur mit einem Stab in der rechten Hand so- wie Kopf und Hals eines vogelartigen Fabelwesens. Weiters wurden 18 Glasfragmente geborgen, von denen 14 von ehemaligen, ursprünglich transparenten grünweißen Fenstergläsern, vier von Flaschen (drei 96 Für die Bestimmung der Keramik- und Porzellanfragmente danken wir herzlich I. Gais- davon grün, eine braun) stammen dürften, die ins 19./20. Jahrhundert weisen. bauer, für die Bestimmung der Glasobjekte K. 96 Außerdem deutet ein Glasschlackerest auf Werkstattabfall hin. Tarcsay, beide Stadtarchäologie Wien.

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Zusammenfassung und Interpretation Die vorgefundenen Grabbeigaben wie Rosenkränze,Wallfahrts- bzw. Gnaden- medaillen sind als Devotionalien anzusprechen und als „Ausweis der Frömmig- keit des Verstorbenen“ anzusehen.97 Das nur spärlich vorhandene Fundmate- rial erlaubt keine präzise Datierung. Die anhand von Analogien abgeleitete gro- be zeitliche Einordnung der aufgefundenen Objekte aus den Gräbern deckt sich mit den Daten aus der schriftlichen Überlieferung über den Bestand des Friedhofs. Darüber hinaus fanden sich Artefakte, die entweder in die Verfüllung des Friedhofs gelangten oder aus der Aufsiedlungszeit des Areals nach Aufga- be des Friedhofs stammen. Die Gräber 2, 4, 5 und 6 bilden annähernd eine Grabreihe, wobei Grab 2 über dem Grab 5 liegt. Die zahlreichen dislozierten menschlichen Knochen in der Friedhofsverfüllung sprechen für eine frequente Wiederbelegung des Friedhofs während seiner annähernd 200 Jahre währenden Existenz.

Die Grabung Zollergasse 32 – Paläopathologische Auswertung der dislozierten menschlichen Knochen Individuenzahl Insgesamt konnten in dem 9 m2 großen Areal etwa 2500 einzelne, dislozierte Knochen und Knochenfragmente aus älteren, gestörten Gräbern geborgen und bestimmt werden. Die genaue Anzahl der Individuen lässt sich bei ver- mischten Skelettresten, insbesondere bei derart großen Mengen an einzelnen Knochenelementen, nicht mehr ermitteln. Es bleibt lediglich die Möglichkeit ei- ne Mindestanzahl an Individuen abzuschätzen98. Abbildung 15 und Tabelle 1 zeigen die Verteilung der aufgefundenen Knochenelemente. Basierend auf der Anzahl der Unterkieferknochen stammen die geborgenen menschlichen Überreste von zumindest 41 Erwachsenen sowie, basierend auf der Anzahl der Oberschenkelknochen, von mindestens 32 Kindern. Die wahre Anzahl der Individuen könnte jedoch weit höher liegen.

Element % Element % Schädel 16,0% Rippen 13,4% Clavicula 2,3% Wirbel 18,4% Scapula 2,8% Becken 6,9% Humerus 4,0% Femur 6,5% Ulna 3,9% Tibia 4,0% Radius 4,0% Fibula 2,6% Kleine Extremitätenknochen Hand 6,4% Kleine Extremitätenknochen Fuß 8,8%

Tab. 1: Verteilung der Knochenelemente unter den dislozierten Knochen.

Sterbealter Bei den Skelettresten der Kinder konnten insgesamt 119 Elemente zur Sterbe- alterbestimmung herangezogen werden (Abb. 16). Die Kindersterblichkeit ist ein sehr wichtiger Indikator für die Lebensbedingungen einer Bevölkerung. Zwar lässt sich über die genaue Frequenz der Kindersterblichkeit in St. Ulrich keine Aussage mehr treffen, die große Anzahl von Individuen lässt allerdings vermuten, dass diese relativ hoch gewesen sein dürfte. Wichtige Rückschlüsse 97 LexBestattung 2, 129. 98 T. D. White/P. A. Folkens, Human Osteo- auf die Lebensbedingungen lassen sich auch aus der Altersverteilung der ver- logy2 (San Diego et al. 2000) 292 f. storbenen Kinder ziehen. Unter schlechten wirtschaftlichen, sozialen und hy-

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Abb. 15: Verteilung der Knochenelemente unter den dislozierten Knochen. gienischen Bedingungen ist das Risiko, an einer Infektionskrankheit oder an Mangelernährung zu sterben, in den ersten fünf Lebensjahren am größten, da das Immunsystem noch nicht vollständig entwickelt ist. Zusätzliche Hürden innerhalb dieses Zeitraums sind der erste Lebensmonat sowie der Zeitpunkt des Abstillens, an dem die Nahrungsumstellung zu Verdauungsstörungen und Durchfallerkrankungen führen kann.99 Der hohe Anteil an Säuglings- und Kleinkinderbestattungen sowie der geringe Anteil von verstorbenen Kindern über 5 Jahre, die bei den menschlichen Über- resten aus dem St.-Ulrichs-Friedhof festgestellt werden konnten, entsprechen dem typischen Muster von Bevölkerungsgruppen unter ungünstigen Lebens- bedingungen.100 Interessant ist das Vorhandensein einer größeren Anzahl an Knochen von Früh- geburten. Föten sind im archäologischen Befund aus taphonomischen, metho- dischen oder kulturellen Gründen generell eher selten anzutreffen.101 Im christ- lichen Zentraleuropa war nach spätmittelalterlichem Kirchenrecht die Bestat- tung von ungetauften Kindern innerhalb des geweihten Friedhofs eigentlich nicht gestattet.102 Trotzdem finden sich in mittelalterlichen und frühneuzeitli- chen Friedhöfen immer wieder auch Föten, die entweder in eigens geschaffe- nen, nicht geweihten Bereichen des Friedhofs bestattet wurden oder die zei- gen, dass man in der Realität von den Bestimmungen des Kirchenrechts ab- 99 M. A. Katzenberg/S. A. Herring/S. R. wich. Saunders, Weaning and Infant Mortality. Eva- Bei den Skelettresten der erwachsenen Individuen wurde ebenfalls versucht, luating the Skeletal Evidence. Yearbook Physi- ein annäherndes Mortalitätsprofil zu erstellen, wobei in den meisten Fällen le- cal Anthr. 39, 1996, 177–199. 100 Website der WHO: www.who.int/featu diglich die Zähne zur Sterbealterbestimmung herangezogen werden konnten. res/qa/13/en/index.html (25.11. 2008). Dies erwies sich jedoch insofern als schwierig, als der Prozentsatz an intravita- 101 M. W. Tocheri et al., Roman Period Fetal lem Zahnausfall insbesondere im Bereich der zur Altersbestimmung herange- Skeletons from the East Cemetery (Kellis 2) of Kellis, Egypt. Internat. Journal Osteoarch. 15, zogenen Backenzähne sehr hoch lag. Darüber hinaus ist die Sterbealterbe- 2005, 326–341. stimmung allein anhand des Abkauungsgrades der Zähne problematisch, da 102 Illi 1992, 57.

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Abb. 16: Sterbealterverteilung der Kinder.

zahlreiche Faktoren wie Art und Zusammensetzung der Nahrung, Kieferfehl- stellungen oder genetische Veranlagung diese stark beeinflussen können und die Schlussfolgerungen daher in Abwesenheit weiterer altersspezifischer Merk- male nur eine beschränkte Gültigkeit haben.103 Von 37 bestimmbaren Unter- kieferfragmenten waren bei elf sämtliche Molaren bereits zu Lebzeiten ausge- fallen. Inwieweit der hohe Prozentsatz an intravitalem Zahnausfall auf ein gene- rell hohes Sterbealter schließen lässt oder vielmehr Zeugnis von schlechter Zahnhygiene ist, lässt sich aufgrund des weitgehenden Fehlens anderer Alters- bestimmungsmerkmale nicht mit Sicherheit sagen. Auch die Geschlechtsbestimmung anhand isolierter Knochen oder Knochen- elemente ist immer mit gewisser Vorsicht zu betrachten, da hier ebenfalls große Variabilität herrschen kann. Basierend auf den Beckenknochen, die das relativ sicherste Element darstellen, um das Geschlecht eines Menschen am Skelett zu bestimmen104, befanden sich 13 Männer und sieben Frauen unter den ge- borgenen Bestattungsresten.

Die paläopathologischen Befunde Einige Vorbemerkungen Der Gesundheitszustand eines Menschen lässt sich auch Jahrhunderte nach dem Tod anhand bestimmter Veränderungen am Skelett nachvollziehen, da sich manche Infektionskrankheiten, Mangelerscheinungen, aber auch Belas- tungszeichen auf die Knochen auswirken können. Der Wissenschaftszweig, der sich mit der Erforschung von Krankheiten an Skelettresten befasst, wird als Paläopathologie bezeichnet. Eine der großen Schwierigkeiten in der paläo- pathologischen Diagnostik ist die Tatsache, dass der Knochen lediglich sehr begrenzte Möglichkeiten hat, auf Krankheitsreize zu reagieren und daher unter- schiedliche Ursachen die gleichen oder sehr ähnliche Veränderungen an den 103 A. Chamberlain, Demography in Ar- Knochen hervorrufen können. In solchen Fällen können sich differentialdia- chaeology (Cambridge et al. 2006) 105; 108 f. gnostische Hinweise aus zusätzlichen, spezifischeren Veränderungen an ande- 104 Chamberlain (Anm. 103) 35. 105 Aufderheide/Rodríguez-Martín 1998, ren Stellen des Skelettes und/oder Verteilungsmustern am Skelett gewinnen 105 101–103. lassen. Trotzdem bleibt oftmals nur die Möglichkeit, zwar eine krankhafte

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Veränderung festzustellen, deren genauere Ursache jedoch nicht bestimmen zu können. Dieser Umstand kommt bei isolierten Knochen besonders schwer zum Tragen, da sich über Verteilung oder zusätzliche diagnostische Merkmale keine Aussagen mehr treffen lassen können. Darüber hinaus liegt das primäre Ziel der Paläopathologie nicht in der Fallbe- schreibung einzelner Krankheiten, sondern in der Analyse von Krankheitshäu- figkeiten und -verteilungen auf der Ebene von Bevölkerungsgruppen, da dies Aussagen über soziale, hygienische, wirtschaftliche oder auch klimatische Be- dingungen zulässt.106 Um gültige Rückschlüsse zu ermöglichen, müssen auch Faktoren wie Alter und Geschlecht der/des Kranken miteinbezogen werden, da ohne das Wissen um diese Parameter epidemiologische Aussagen in vielen Fällen nicht zu treffen sind. Aus diesem Grund ist bei den menschlichen Über- resten aus dem St.-Ulrichs-Friedhof eine systematische Auswertung der Pa- thologien auf Populationsebene nur sehr begrenzt möglich. Im Folgenden wer- den daher in erster Linie einzelne Fälle beschrieben und die differentialdiagnos- tischen Möglichkeiten diskutiert.

Säuglingssterblichkeit Der Anteil an Säuglings- und Kleinkinderknochen der in der Zollergasse gebor- genen Skelettreste entspricht mit 33,61% respektive 37,82% dem normalen Spektrum für urbane Unterschichten der frühen Neuzeit. Hinweise auf mögliche Todesursachen der verstorbenen Kinder lassen sich hauptsächlich an den Schädelknochen feststellen, von denen 34% Krankheitszeichen aufwiesen. Pa- thologische Veränderungen finden sich in Form von Porosierungen an den Au- ßenflächen des Schädeldaches und im Bereich des Orbitadaches sowie von Knochenneubildungen, die sowohl im Schädelinneren als auch außen auftra- ten. Endokranial waren diese vor allem im Bereich der großen venösen Hirn- blutleiter zu finden (insbesondere Sulcus sinus saggitalis und transversus). Die Knochenneubildungen an der Lamina interna können auf entzündliche oder hämorraghische Prozesse im Sinne eines epiduralen Hämatoms zurückzufüh- ren sein, wobei eine Abgrenzung zumeist nur durch eine mikroskopische Unter- suchung möglich ist.107 Unterschiedliche Ursachen kommen für die Entstehung dieser pathologischen Veränderungen infrage. Die Tatsache, dass es sich um isolierte Knochen handelt und daher weitere differentialdiagnostische Merkmale 106 Larsen 1997, 3 f. 107 W.-R. Teegen/M. Schultz, Die Kinderske- fehlen, erschwert somit eine genauere Diagnose. Ursachen für einen hämor- lete von der frühgeschichtlichen Wurt Elisen- raghischen Ursprung (Blutung) der beobachteten Veränderungen können hof. Ergebnisse einer paläopathologischen Un- Traumata (beispielsweise im Zuge der Geburt, durch Unfall oder Kindesmiss- tersuchung. In: P. Westphalen, Die Kleinfunde aus der frühgeschichtlichen Wurt Elisenhof. handlung) oder Mangelerkrankungen (Vitamin-C-Mangel) sein.108 Entzündliche Stud. Küstenarch. Schleswig-Holstein A 7 Prozesse können durch verschiedene Infektionskrankheiten wie Tuberkulose, (Neumünster 1999) 234–303. Brucellose, Meningitis sowie Rachitis ausgelöst werden. Aufgrund dieser Viel- 108 M. Schultz, Paleohistopathology of Bone. A New Approach to the Study of Ancient Di- zahl an differentialdiagnostischen Möglichkeiten und dem Fehlen von Merkma- seases. Yearbook Physical Anthr. 44, 2001, len, die eine Abgrenzung erlauben würden, ist es oftmals selbst bei vollständi- 106–147. gen Skeletten nicht möglich, die beobachteten Läsionen bestimmten Krank- 109 M. E. Lewis, Endocranial Lesions in Non- adult Skeletons. Understanding Their Aetiolo- heitsbildern zuzuordnen. Aus diesem Grund ist die Aussagekraft solcher gy. Internat. Journal Osteoarch. 14/2, 2004, 109 Veränderungen zumeist sehr begrenzt. Nichtsdestotrotz machen ihr häufi- 82–97.

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ges Auftreten sowie die hohe Anzahl von verstorbenen Kindern in der Gruppe deutlich, dass das Lebensumfeld ein sehr ungesundes war.

Mangelerkrankungen Zu den auffälligsten Pathologien, die unter den menschlichen Überresten aus dem St.-Ulrichs-Friedhof festgestellt werden konnten, zählen mehrere Fälle von Rachitis, die sich durch stark deformierte Langknochen an oberer und un- terer Extremität manifestiert. Rachitis bezeichnet einen chronischen Mangel an Vitamin D, welches eine wichtige Rolle bei der Einlagerung von Calcium in Kno- chen spielt. Kommt es bei heranwachsenden Kindern zu einem Mangel, wer- den die Knochen nicht richtig mineralisiert, wodurch es durch den Druck auf die Langknochen zu den charakteristischen Deformierungen an ihnen kommen kann. Die Position der Langknochen kann dabei Auskunft über den Zeitpunkt des Einsetzens der Krankheit geben, da bei Kindern, die bereits gehen können, die Knochen der unteren Extremität betroffen sind, während bei krabbelnden Kindern die Knochen der oberen Extremität der höchsten Belastung unterwor- fen sind.110 Da Rachitis an sich nicht letal ist, können sich die Deformationen, wenn die Erkrankung längere Zeit zurückliegt, entweder zurückbilden oder bis ins Erwachsenenalter bestehen bleiben.111 Zum letzten Fall gehört das rela- tiv vollständige weibliche Individuum in Grab 5, bei dem die Langknochen der unteren Extremität eine deutliche Krümmung aufweisen (siehe oben). Ausgelöst wird die Erkrankung im Normalfall nicht durch mangelnde Aufnahme von Vitamin D durch die Nahrung, sondern durch einen Mangel an UV-Strah- lung, die der Körper benötigt, um Vitamin D verarbeiten zu können. Daher war Rachitis besonders in den frühindustriellen Städten Englands und Nordeu- ropas, in denen die Kinder durch die enge Verbauung und die starke Luftver- schmutzung kaum der Sonne ausgesetzt waren, ein verbreitetes Problem. So gibt es Schätzungen, nach denen im 19. und frühen 20. Jahrhundert über 90% der Kleinkinder an dieser Erkrankung litten.112 Wien und seine Vorstädte dürften in dieser Hinsicht keine Ausnahme dargestellt haben, denn das Fehlen von Sonnenlicht in den engen Gassen zwischen den hohen Häusern findet auch in zeitgenössischen Beschreibungen der Stadt Erwähnung.113 110 D. J. Ortner/S. Mays, Dry-bone Manifes- tations of Rickets in Infancy and Early Child- Interessant bei den Knochen aus dem St.-Ulrichs-Friedhof ist das Auftreten von hood. Internat. Journal Osteoarch. 8/1, Anzeichen einer Rachitis bei vier Kindern, die jünger als ein Jahr waren. Dies ist 1998, 45–55. insofern bemerkenswert, da bei Säuglingen, die noch gestillt werden, der Vita- 111 M. Brickley/S. Mays/R. Ives, Evaluation 114 and Interpretation of Residual Rickets Deformi- min-D-Bedarf eigentlich durch die Muttermilch gedeckt sein sollte. .Dass ties in Adults. Internat. Journal Osteoarch. 20/ sich Hinweise auf Rachitis dennoch finden, könnte also darauf hindeuten, dass 1, 2010, 54–66. die Kinder nicht oder nur unzureichend gestillt wurden. 112 S. Mays, The Rise and Fall of Rickets in England. In: P. Murphy/P. E. J. Wiltshire Abgesehen von den sehr charakteristischen Deformationen an den Langkno- (eds.), The Environmental Archaeology of In- chen gibt es insbesondere bei Säuglingen noch eine Reihe weiterer Symptome, dustry. Symposion Assoc. Environmental Arch. 20 (Oxford 2003) 144–153. zu denen Veränderungen am Schädel (siehe oben), verdickte, stark poröse 115 113 Z. Wertheim,Versuch einer medicinischen Langknochen sowie Veränderungen an den Metaphysenplatten zählen. Topographie von Wien (Wien 1810, Repr. Stark verdickte, wie aufgebläht wirkende Langknochen konnten unter den iso- 1999) 24. 114 Teegen/Schultz (Anm. 107). lierten Knochen aus dem St.-Ulrichs-Friedhof in zehn weiteren Rachitisfällen 115 Ortner/Mays (Anm. 110). festgestellt werden.

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Neben Vitamin-D-Mangel gibt es unter den Kinderknochen aus dem St.-Ul- richs-Friedhof auch Hinweise auf Skorbut, also auf einen Mangel an Vitamin C. Skorbut lässt sich am Knochen nur bei Kindern gut diagnostizieren und ver- ursacht in erster Linie Auflagerungen von neugebildetem Knochen im Bereich der Langknochen und am Schädel.116 Obwohl diese Veränderungen nicht aus- schließlich bei Skorbut, sondern auch bei Infektionskrankheiten auftreten, wo- bei eine Unterscheidung nur auf dem histologischen Wege möglich wäre, ist die Wahrscheinlichkeit, dass es sich um Skorbutfälle handelt, durchaus gegeben. Ebenfalls zu den, zumindest nach heutigem Wissensstand mit Mangelerkran- kungen in Verbindung stehenden Veränderungen, die besonders bei den Kin- derskeletten häufig festzustellen waren, zählen Porosierungen und Knochen- neubildungen in den Augenhöhlen. Porosierungen in diesen Bereichen werden als Cribra orbitalia bezeichnet. Zusammen mit Porosierungen am Schädel (po- rotische Hyperostose oder Cribra cranii), die mit den Veränderungen in den Au- genhöhlen in Verbindung stehen dürften, zählen sie zu den am häufigsten in ar- chäologischen Skelettserien beschriebenen Pathologien – und außerdem zu den heute umstrittensten. Traditionell wurden diese Veränderungen auf eine Anämie (chronischer Eisenmangel) zurückgeführt, die sowohl durch mangelnde Aufnahme von Eisen über die Nahrung als auch durch mangelnde Eisen- absorption, beispielsweise bei chronischen Durchfallerkrankungen oder star- kem Blutverlust, induziert werden kann. Insbesondere infektiöse oder parasitä- re Durchfallerkrankungen werden als Ursache für das häufige Auftreten von Cribra orbitalia und porotischer Hyperostose in historischen und prähistori- schen Skelettserien verantwortlich gemacht.117 In den letzten Jahren vermehrt kritisiert wurde jedoch die Tatsache, dass sich ohne histologische Untersu- chungen keine Unterscheidung zwischen Porosierungen durch Knochen- markshypoplasie (durch Anämie) und ausgeheilten Knochenneubildungen (durch Skorbut, Rachitis oder Infektionen der Augenhöhle oder Kopfschwarte) treffen lässt.118 Da sämtliche mögliche Ursachen für die beobachteten Verän- derungen an den Knochen aus dem St.-Ulrichs-Friedhof bei den Kindern infra- ge kommen, kann das Auftreten wiederum nur als Anzeichen für allgemein un- gesunde Lebensumstände gewertet werden.

Verletzungen Frakturen konnten unter den dislozierten Knochen nur selten festgestellt wer- den. Am häufigsten zu beobachten waren verheilte Rippenbrüche in insgesamt 116 D. J. Ortner/M. F. Ericksen, Bone Chan- neun Fällen, darauf folgen Frakturen der Unterarme mit drei Radius- und einer ges in the Human Skull Probably Resulting Ulna-Fraktur. In allen Fällen handelte es sich um einfache, gut und relativ gera- from Scurvy in Infancy and Childhood. Internat. Journal Osteoarch. 7/3, 1997, 212–220. de verheilte Brüche. 117 P. L. Stuart-Macadam, Anemia in Past Darüber hinaus gibt es mehrere eher selten beobachtete Frakturen. An einer Human Populations. In: P. L. Stuart-Maca- Scapula (Schulterblatt) konnte ein verheilter Bruch des Acromions festgestellt dam/S. Kent (eds.), Diet, Demography, and Di- sease. Changing Perspectives on Anemia. werden. Frakturen dieser Art sind sowohl im archäologischen als auch im klini- Foundations of Human Behavior (New York schen Kontext sehr selten und treten zumeist infolge direkter Gewalteinwirkung 1992) 151–173. auf.119 Interessant ist auch eine gut verheilte Fraktur des rechten Processus 118 Schultz (Anm. 108). 119 N. C. Lovell, Trauma Analysis in Paleopa- transversus eines ersten Lendenwirbels, bei dem die Spitze des Processus thology. Yearbook Physical Anthr. 40, 1997, transversus leicht verschoben wurde. 139–170.

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Eine weitere Fraktur, die in archäologischem Material relativ selten zu finden ist, ist eine Fraktur des Oberschenkelhalses an einem stark osteoporotisch verän- derten Femur. Bei der Fraktur handelt es sich allerdings nicht um einen vollstän- digen Durchbruch des Oberschenkelhalses, sondern um einen Einriss an der Oberseite des Halses, durch den der Gelenkskopf leicht nach distal verscho- ben wurde. Die Bruchlinie zeigt lediglich erste Anzeichen eines Heilungsprozes- ses, das Individuum dürfte jedoch verstorben sein, bevor es zu einer vollständi- gen Heilung kam. Frakturen dieser Art sind typisch bei Menschen, die unter fortgeschrittener Osteoporose, einer Erkrankung, bei der es zu einem Abbau von Knochenmasse kommt, leiden. Sie tritt vor allem bei älteren Menschen und insbesondere bei Frauen auf, wobei die Ätiologie dieser Krankheit nach wie vor nicht vollständig geklärt ist.120

Infektionskrankheiten Bei der Differentialdiagnose von Infektionskrankheiten kommt das Problem der isolierten Knochen besonders schwer zum Tragen. Wie bereits beschrieben, hat der Knochen nur begrenzte Möglichkeiten, auf einen Krankheitsreiz zu rea- gieren, und daher können verschiedene Ursachen zu selben oder ähnlichen Symptomen am Skelett führen. Unter den Infektionskrankheiten beeinträchtigen generell nur diejenigen das Skelett, die über einen längeren Zeitraum von zumindest zwei bis drei Wochen bestehen.121 Aus diesem Grund hinterlassen beispielsweise kulturhistorisch bedeutsamere Seuchenerkrankungen wie Pest, Cholera, Pocken oder Typhus keine Spuren am Knochen, da sie zu schnell wieder abklingen oder zum Tod führen. Durchaus nachweisen lassen sich jedoch Lepra, Syphilis und in spezi- ellen Fällen auch Tuberkulose. Häufigstes Symptom einer Infektion am Kno- chen sind Knochenneubildungen, die durch eine Entzündung des Periosts (Knochenhaut) ausgelöst und als Periostitis bezeichnet werden. Ursache ist entweder eine primäre Infektion der Knochenhaut durch systemische Infektion oder eindringende Bakterien bei Verletzungen, eine sekundäre Reaktion bei In- fektionskrankheiten wie Syphilis oder Trauma.122 Periostitis zählt zu den häu- figsten, in archäologischem Skelettmaterial beobachteten pathologischen Ver- änderungen. Insbesondere finden sich periostale Reaktionen an der Tibia und selbst wenn nicht immer sicher abgeklärt werden kann, ob die Veränderungen traumatischen oder infektiösen Ursprungs sind, sind sie heute allgemein als häufigstes, wenn auch unspezifisches Anzeichen von Infektionskrankheiten am Skelett akzeptiert.123 Unter den isolierten Knochen aus dem St.-Ulrichs-Friedhof war die Häufigkeit von periostalen Reaktionen jedoch überraschend gering. Herausragend ist 120 Aufderheide/Rodríguez-Martín 1998, 314. 121 Aufderheide/Rodríguez-Martín 1998, ein besonders schwerer Periostitis-Fall an einem ausgewachsenen Individuum, 117 f. bei dem zwei Drittel des Knochens durch die Knochenneubildung mehr als das 122 D. J. Ortner, Identification of Pathological Conditions in Human Skeletal Remains2 (Lon- Doppelte des normalen Umfangs erreicht haben. Derart schwere Fälle werden don, New York, Oxford 2003) 206 f. zumeist Infektionen zugerechnet und sind beispielsweise ein typisches Symp- 123 Larsen 1997, 84. tom tertiärer Syphilis. Wie aus zeitgenössischen Schilderungen hervorgeht, war 124 J. Schrank, Die Prostitution in Wien in his- torischer, administrativer und hygienischer Be- Syphilis im Wien der frühen Neuzeit allgemein ein verbreitetes gesundheitliches 124 ziehung (Wien 1886). Problem. Obwohl sich eine sichere Diagnose von Syphilis am Skelett nur bei

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charakteristischen Veränderungen am Schädel stellen lässt, liegt bei Periostitis dieses Schweregrades der Verdacht einer tertiären Syphilis nahe. Tuberkulose gehört ebenfalls zu den Infektionskrankheiten, die das Skelett be- einträchtigen können, und tritt in etwa 5% der Fälle in Form von Knochentuber- kulose auf, die sich in erster Linie an der Wirbelsäule und den Gelenken mani- festiert. Am häufigsten ist hierbei die obere Lenden- und untere Brustwirbel- säule betroffen. Im Zuge des Krankheitsprozesses kann der Wirbelkörper durch lytische Infektionsherde vollständig zerstört werden und zumeist sind da- bei mehrere Wirbel betroffen.125 Ein mögliches Beispiel einer solchen Knochen- tuberkulose an der Wirbelsäule konnte unter den isolierten Knochen aus dem St.-Ulrichs-Friedhof ebenfalls festgestellt werden. Es handelt sich dabei um ei- nen Lendenwirbel, bei dem der Wirbelkörper durch mehrere lytische Herde ins- besondere im vorderen Bereich relativ stark zerstört wurde. Obwohl für die Er- krankung an sich untypisch, findet sich im vorderen Bereich auch neugebildeter Knochen, der mit einer möglichen Heilung in Zusammenhang stehen könnte. Ein weiterer Verdacht auf Knochentuberkulose besteht bei einer Tibia, bei der das proximale Gelenk stark zerstört und umgebaut ist. Eine Beeinträchtigung des Kniegelenks zählt ebenfalls zu den häufigeren Manifestationen von Kno- chentuberkulose. Obwohl auch hier keine sichere Diagnose gestellt werden darf, deuten Art und Lokation der beobachteten lytischen Veränderungen so- wie das für Gelenkstuberkulose typische Fehlen von neugebildetem Knochen auf diese Krankheit als Ursache hin.126 Zu den unter den Knochen aus dem St.-Ulrichs-Friedhof am häufigsten anzu- treffenden Pathologien zählten periostale Knochenneubildungen an der Innen- seite der Rippen, die durch Entzündungen der Lungenpleura verursacht wer- den. Ursachen für diese Entzündungen sind neben chronischen viralen oder bakteriellen Lungenentzündungen auch Tuberkulose und Brucellose. Versu- che, aufgrund der Verteilung der Veränderungen am Brustkorb oder entlang der Rippe differentialdiagnostische Hinweise zu erlangen, brachten bisher we- nig befriedigende Ergebnisse.127 Da im Falle der isolierten Knochen aus dem St.-Ulrichs-Friedhof ohnehin keine weiteren Merkmale beurteilt werden können, verbleibt lediglich, die differentialdiagnostischen Möglichkeiten zu präsentieren und mögliche Ursachen zu diskutieren. Erkrankungen der Lunge sind in urba- nen, frühneuzeitlichen Skelettserien keine Seltenheit, denn gerade Infektionen der Atemwege gehören zu den typischen Erkrankungen von Menschen, die un- 125 Aufderheide/Rodríguez-Martín 1998, ter schlechten Bedingungen auf sehr engem Raum zusammenleben, da die Er- 134–137. reger hoch ansteckend sind und dort günstigste Verbreitungsbedingungen fin- 126 Aufderheide/Rodríguez-Martín 1998, den.128 134. 127 A. L. Santos/Ch. A. Roberts, Anatomy of a Serial Killer. Differential Diagnosis of Tuber- Degenerative Veränderungen und Gelenkserkrankungen culosis Based on Rib Lesions of Adult Indivi- Die systematische Auswertung von degenerativen Wirbelsäulen- und Gelenks- duals from the Coimbra Identified Skeletal Col- lection, Portugal. American Journal Physical veränderungen kann Auskunft über bestimmte Betätigungsmuster und allge- Anthr. 130/1, 2006, 38–49. meine körperliche Belastungslevel in einer Bevölkerungsgruppe geben. Dies 128 Ch. A. Roberts/D. Lucy/K. Manchester, ist allerdings nur dann möglich, wenn mehrere Gelenke und/oder Wirbel beur- Inflammatory Lesions of Ribs. An Analysis of the Terry Collection. American Journal Physi- teilbar und darüber hinaus Sterbealter und idealerweise auch Geschlecht des cal Anthr. 95/2, 1994, 169–182; Binder untersuchten Skeletts feststellbar sind. Nur so lässt sich feststellen, ob eine de- (Anm. 18).

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generative Veränderung als Konsequenz eines hohen Alters zu werten oder vielmehr ein Hinweis auf starke körperliche Belastung ist. Degenerative Verän- derungen (Arthrosen) äußern sich an den Wirbeln und Gelenken in erster Linie auf drei Arten: Knochenneubildungen in Form von „Lippen“ (Osteophyten) am Gelenksrand, Porosierungen sowie sog. Eburnisationen an den Gelenksflä- chen, die je nach Schweregrad einzeln (insbesondere Osteophytenbildungen) oder gemeinsam auftreten können. Als Ursache für diese Veränderungen kön- nen neben degenerativen, idiopathischen Prozessen (~80%) auch traumati- sche, metabolische, vaskuläre, infektiöse oder entzündliche (z. B. rheumatoide Arthritis) infrage kommen.129 Die genaue Abgrenzung bleibt bis heute eines der meistdiskutierten Probleme der Paläopathologie. Aufgrund der Natur des Samples aus dem St.-Ulrichs-Friedhof ist hier eine systematische Auswertung nicht möglich. Einzelne schwere Fälle degenerativer Veränderungen konnten vermehrt an isolierten Wirbeln (v. a. Hals- und Lendenwirbelbereich), Ober- schenkelköpfen und im Bereich der Handknochen festgestellt werden. Ein Sonderfall einer Gelenkserkrankung konnte an der Beckenhälfte eines er- wachsenen Individuums diagnostiziert werden, bei der das Kreuzbein vollstän- dig mit dem Becken verwachsen war. Veränderungen dieser Art sind typisch für ankylosierende Spondylitis (Morbus Bechterew).130

Diversa Ein 1. Brustwirbel wies an der ventralen Seite des Wirbelkörpers eine senkrecht verlaufende, erosive, nichtentzündliche Veränderung auf, die auf ein Aneurysma zurückzuführen sein dürfte. Bei einem Aneurysma handelt es sich allgemein um eine Erweiterung der Gefäßwand, die angeboren oder degenerativ, infektiös oder entzündlich erworben sein kann. Durch den Druck, den die Gefäßerwei- terung auf die darunterliegenden, knöchernen Strukturen ausübt, kann es zu einer Erosion des Knochens kommen und es entstehen quasi Abdrücke des Gefäßes. Am häufigsten sind Aneurysmen im Bereich der großen Arterien (Aor- ta und ihre Hauptzweige) zu beobachten, prinzipiell kann aber jedes Gefäß be- troffen sein.131 Die häufigsten Ursachen für Aortenaneurysmen sind Arterioskle- rose und tertiäre Syphilis.132 Während bei Arteriosklerose fast immer die Aorta abdominalis betroffen ist, treten syphilitische Aneurysmen fast ausschließlich im Brustbereich auf und können nicht nur die Wirbel, sondern auch Clavicula und Sternum beeinträchtigen. Folgt man dieser Faustregel, könnte es sich auch bei dem Brustwirbel aus dem St.-Ulrichs-Friedhof um ein syphilitisch bedingtes Aneurysma handeln. Um diese Diagnose abzusichern, müssten jedoch wiede- rum mehrere Skelettelemente betroffen sein, daher ist auch hier nur der Ver- dacht zu äußern.

129 Aufderheide/Rodríguez-Martín 1998, 93. Zähne 130 Aufderheide/Rodríguez-Martín 1998, 102 f. Erkrankungen der Zähne und des Zahnhalteapparates können ebenfalls wich- 131 Aufderheide/Rodríguez-Martín 1998, 78. tige kulturhistorische Aussagen über Bevölkerungsgruppen liefern, da für ihre 132 M. A. Kelley, Infectious Disease. In: M. Y. Entstehung neben genetischen vorrangig hygienische, degenerative sowie er- I˙s¸ can/K. A. R. Kennedy (eds.), Reconstruction of Life from the Skeleton (New York 1989) nährungs- und entwicklungsbedingte Faktoren verantwortlich sind. Die am 191–199. häufigsten in archäologischem Skelettmaterial zu beobachtenden Pathologien

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dieser Gruppe sind Karies, Zahnstein, Parodontopathien sowie intravitaler Zahnausfall.133 Für die Entstehung von Karies ist in erster Linie die Art und Zusammensetzung der Nahrung verantwortlich. Neben kohlenhydratreicher Nahrung als Hauptur- sache kann weiche und gekochte Nahrung die Anlagerung von kariogenem Zahnbelag zusätzlich begünstigen. Obwohl Karies zu den ältesten nachweis- baren Erkrankungen der Menschheit zählt, ist eine starke Steigerung der Ka- riesfrequenzen allgemein erst mit der Einführung von Zucker und Kartoffel im Speiseplan ab dem späten Mittelalter zu verzeichnen. Auch verfeinerte Mahl- methoden beim Getreide ab der frühen Neuzeit, durch die weniger abrasive Be- standteile im Mehl zu finden waren, trugen zum starken Anstieg der Kariesfre- quenzen bei.134 Ein weiterer Einflussfaktor, der die große Häufigkeit von Karies in mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Bevölkerungsgruppen zu erklären ver- mag, ist mangelnde Zahnhygiene, denn die Verwendung der Zahnbürste und die systematische Zahnmedizin setzten sich in Österreich erst ab dem 19. Jahrhundert durch.135 Darüber hinaus ist auch der allgemeine Gesundheitszu- stand einer Person ein Einflussfaktor auf die Entstehung von Karies und Paro- dontopathien, da dies bei bereits belastetem Immunsystem zusätzlich begüns- tigt wird. 17,54% der Zähne aus isolierten Kieferteilen wiesen Kariesläsionen auf. Dieser Wert ist jedoch keinesfalls repräsentativ, da sich aufgrund des hohen Anteils an intra- und postmortalem Zahnausfall nur etwa ein Drittel der Zähne in den Kie- fern erhalten hatte. Besonders auffallend bei den isolierten Knochen aus dem St.-Ulrichs-Friedhof ist die hohe Frequenz an intravitalem Zahnausfall, die 30,41% beträgt. Die Hauptgründe für intravitalen Zahnausfall sind entzündliche Veränderungen 133 Larsen 1997, 65–82. des Zahnhalteapparats oder degenerative Prozesse, beispielsweise durch 134 Sh. Saunders/C. De Vito/M. A. Katzen- berg, Dental Caries in Nineteenth Century Up- starke Abkauung. Während letzteres eher bei prähistorischen Populationen ei- per Canada. American Journal Physical Anthr. ne Rolle spielt, sind bei historischen Bevölkerungsgruppen Parodontitis oder 104/1, 1997, 71–87. Infektionen der Wurzelhöhle für Zahnverlust verantwortlich.136 Darüber hinaus 135 W. Regal/M. Nanut, Von Kurpfuschern 137 und Zahnbrechern (Altes Medizinisches Wien ist dies auch ein typisches Symptom von Skorbut. Da sich gerade Zahnpa- 10). Ärzte Woche 16/38, 2002, www.aerztewo thologien mit steigendem Lebensalter akkumulieren, ist bei systematischen Un- che.at/viewArticleDetails.do?articleId=3855 (23.01. 2008). tersuchungen von Zahnpathologien vor allem die Alterszusammensetzung der 136 T. F. Strohm/K. W. Alt, Periodontal Di- analysierten Gruppe ein wichtiger Parameter für die Zulässigkeit von Rück- sease – Etiology, Classification and Diagnosis. schlüssen auf die Lebensbedingungen. Obwohl dies im Falle der Bestattungen In: K. W. Alt/F. W. Rösing/M. Teschler-Nicola (eds.), Dental Anthropology – Fundamentals, aus dem St.-Ulrichs-Friedhof nicht möglich ist und er sicher auch einer gewis- Limits and Prospects (Wien, New York 1998) sen Verzerrung durch die fragmentarische Natur des Samples unterliegt, ist der 227–246. ausgesprochen hohe Wert von 30,41% ein deutlicher Hinweis auf allgemein 137 Ortner (Anm. 122) 387. 138 Sh. Saunders/A. Herring/L. Sawchuk/H. schlechte Zahngesundheit. Ähnlich hohe Werte ließen sich aus der Literatur Boyce/R. Hoppa/S. Klepp, The Health of the 138 nur für einen kanadischen Friedhof mit 24% finden, während andere ver- Middle Class. The St. Thomas’Anglican gleichbare frühneuzeitliche zivile Skelettserien wie London-Spitalfields139 mit Church Cemetery Project. In: R. H. Steckel/ J. C. Rose (eds.), The Backbone of History. 7,7% deutlich unter dem Wert für den St.-Ulrichs-Friedhof liegen. Health and Nutrition in the Western Hemi- sphere (Cambridge et al. 2002) 130–161. Resümee 139 Th. Molleson/M. Cox, The Spitalsfields Project 2. The Anthropology. The Middling Obwohl vom Fundplatz Zollergasse 32, der dem zwischen 1590 und 1783 be- Sort. CBA Research Reports 86 (London standenen Friedhof zu St. Ulrich zuzuordnen ist, neben wenigen, großteils un- 1993).

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vollständigen Bestattungen nur dislozierte Knochen aus älteren, gestörten Grä- bern geborgen werden konnten, lassen sich doch Rückschlüsse auf die Le- bensbedingungen der Menschen der frühneuzeitlichen Vorstadt St. Ulrich zie- hen. In der Anordnung der Gräber 4 bis 6 lässt sich eine Grabreihe erkennen. Die Gräber 2 und 5 lagen übereinander. Dadurch, dass man mehrfach an der- selben Stelle bestattete, wurden bereits in der Zeit des Bestehens des Fried- hofs Gräber zerstört und Knochen umgelagert. Anhand der Brüche an den Knochen ließ sich feststellen, dass dies zum Teil bereits kurze Zeit nach der Be- stattung erfolgt sein muss. Die statistische Altersverteilung unter den isolierten Knochen deutet auf einen hohen Anteil an Kinderskeletten, insbesondere von Kleinkindern und Säuglin- gen hin. Eine hohe Sterblichkeitsrate bei Kindern unter 5 Jahren wird auch heu- te noch als Anzeichen für schlechte hygienische, sozioökonomische und medi- zinische Bedingungen gesehen.140 Hauptursachen für die hohe Kindersterb- lichkeit waren vermutlich mangelnde Ernährung und Infektionskrankheiten wie Typhus, TBC, Pocken, Ruhr oder andere Durchfallerkrankungen. In den erhaltenen Totenprotokollen der Pfarre St. Ulrich aus dem 17. und 18. Jahrhundert finden sich Hinweise zu Bestattungen von sog. unschuldigen Kin- dern, von offenbar notgetauften Neugeborenen und auch zu einer verstorbe- nen Frühgeburt (siehe oben), die sich auch durch die anthropologische Unter- suchung der Skelettreste auf dem einstigen Friedhof erschließen. Die Lebensbedingungen für die zahlenmäßig rasch anwachsende Bevölkerung in den Vorstädten Wiens waren in der frühen Neuzeit und insbesondere ab dem Einsetzen der Industrialisierung im 18. Jahrhundert alles andere als gut. Hun- gersnöte und die Hoffnung auf ein besseres Leben waren die Beweggründe für zahlreiche Menschen aus allen Teilen der österreichischen Monarchie in die Hauptstadt abzuwandern. Zeitgenössische Schilderungen berichten von Unrat auf Straßen, engen Wohnverhältnissen, Staub, schlechtem Klima und ver- seuchtem Wasser. Die offene, stark verschmutzte Kanalisation, die durch im- mer wiederkehrende Hochwasser der Donau und ihrer Zubringer – in unserem Falle des Ottakringer Baches, auch St. Ulrichsbach genannt – überschwemmt wurde und dadurch auch die Brunnen verunreinigte, trug ebenfalls zum häufi- gen Auftreten von Seuchenkrankheiten bei.141 Sowohl in den ungestörten Be- stattungen als auch in den dislozierten Knochen, die aus dem Friedhof zu St. 140 Website der WHO: www.who.int/featu Ulrich geborgen werden konnten, spiegeln sich diese schlechten Lebensbedin- res/qa/13/en/index.html (25.11. 2008). 141 K. Vocelka, Österreichische Geschichte gungen und die hohe Krankheitsbelastung, unter der die (Vor-)Stadtbevölke- 1699–1815. Glanz und Untergang der höfi- rung in der frühen Neuzeit zu leiden hatte, deutlich wider. schen Welt. Repräsentation, Reform und Die Auswertung sollte darüber hinaus zeigen, dass selbst die Bearbeitung von Reaktion im habsburgischen Vielvölkerstaat (Wien 2001); A. Weigl, Wien im epidemiologi- derart gestörtem und daher auf den ersten Blick vielleicht (wissenschaftlich) schen Übergang: ein mitteleuropäischer Weg wertlos erscheinendem Skelettmaterial durchaus lohnenswert sein kann. Auch in die Moderne. In: J. Vögele/W. Woelk (Hrsg.), Stadt, Krankheit und Tod. Geschichte wenn sich in vielen Fällen keine genauen Diagnosen stellen (was in der Paläo- der städtischen Gesundheitsverhältnisse wäh- pathologie ohnehin zumeist nicht möglich ist) und keine systematischen Unter- rend der epidemiologischen Transition (vom suchungen über die Frequenzen bestimmter Krankheiten durchführen ließen, 18. bis ins frühe 20. Jahrhundert). Schr. Wirt- schafts- u. Sozialgesch. 62 (Berlin 2000) 159– sind gerade zur Kindersterblichkeit oder zu Zahnpathologien doch gewisse 185. Schlüsse über allgemeine Lebensbedingungen zu ziehen.

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Zusätzlich zum anthropologisch ausgewerteten Skelettmaterial liegen durch die Totenprotokolle der Pfarre St. Ulrich, seit August 1634 mit einigen fehlenden Jahrgängen im 17. Jahrhundert, wertvolle schriftliche Überlieferungen vor, die zusätzlich Rückschlüsse auf Sterbealter, -ort und soziale Herkunft erlau- ben.142 Diese Schriftquellen gründlich auszuwerten, ist jedoch ein Forschungs- vorhaben, das in diesem Rahmen nicht zu bewerkstelligen war und somit ein lohnendes Betätigungsfeld künftiger Forschung bleibt. Anhand der historischen Überlieferungen lässt sich feststellen, dass sich vom ausgehenden 16. bis zum 18. Jahrhundert die Bevölkerungsstruktur des Ortes St. Ulrich allmählich wandelte. Lebten die Dorfbewohner seit dem Mittelalter hauptsächlich von der Landwirtschaft (vor allem auch Weinbau), so kam es in der frühen Neuzeit zu einschneidenden Veränderungen in der Erwerbstätig- keit.143 Es siedelten sich in der Vorstadt immer mehr Handwerker und Gewer- betreibende an.144 In St. Ulrich war die Zuwanderung aus dem Reich bereits im ausgehenden 16. Jahrhundert beträchtlich. Zahlreiche Söldner zog es in der Zeit von 1593 bis 1606 während des „Langen Türkenkrieges“ nach Wien, viele ließen sich in St. Ulrich nieder. Zur Zeit des Dreißigjährigen Krieges war sie „die größte und am meisten expandierende Vorstadt“.145 Das Bevölkerungswachstum resultierte rein aus Zuwanderungsströmen, denn die Geburtenbilanzen – neben der ohne- hin schon hohen Kindersterblichkeitsrate – waren nämlich generell negativ.146 Aus den Trauungsmatriken der Pfarre St. Ulrich der Jahre 1642 bis 1678 lässt sich die Herkunft der Zuwanderer recht zuverlässig ermitteln: Nur 18,6% der Bräutigame kamen aus Wien, 45,8% der Migranten stammten aus den öster- 142 Andreas Weigl, WStLA – Ludwig-Boltz- reichischen Alpenländern, die Hälfte davon wiederum aus Niederösterreich, mann-Institut für Stadtgeschichtsforschung 147 19% der Zuwanderer kamen aus dem süddeutschen Raum. Auch nach Wien, sei für die Hinweise herzlich gedankt. – der Zweiten Türkenbelagerung von 1683 ließen sich weiterhin Migranten aus 143 Mansfeld 1953, 3 9. In den erhaltenen Trauungsmatriken von St. Ulrich aus der Zeit dem bayerisch-fränkischen Raum, den österreichischen Alpenländern und von 1590 bis 1599 sind unter den Bräutiga- aus Niederösterreich in St. Ulrich nieder. men viele Hauer, aber auch Handwerker und „ “ Seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts arbeiteten viele der Zuwanderer in Kriegsmänner (Söldner). Viele der Brautleute stammten aus dem süddeutschen Raum und proto- und frühindustriellen Werkstätten und Manufakturen, die vor allem Be- aus anderen Teilen Österreichs; Griehbaum kleidung und Textilien herstellten sowie Metall verarbeiteten. Sie wählten die 1958, 152. 148 144 Zu den einzelnen Berufen siehe Grieh- Vorstädte zu ihren Standorten. Durch diesen Bevölkerungszuwachs kam baum 1958, 67–80; 100–137 bes. 93 und es zu einem regelrechten Bauboom in den Vorstädten Wiens. „Insbesondere 106–108 mit Hinweis auf die zunehmende Be- im späten 17. Jahrhundert bildete sich um St. Ulrich ein dichtverbauter Kern rufsvielfalt. 149 145 Weigl 2001, 55 und 95 f. gewerblicher Niederlassungen.“ Arbeiteten 1672 noch 161 Menschen in 146 Weigl 2001, 62. der Landwirtschaft, waren es 1789 nur noch 109, das entsprach ca. 0,7% 147 Weigl 2001, 97 und Griehbaum 1958, der Bevölkerung.150 Zudem wurden 1667 Leibgardisten (Hatschiere), Traban- 85–87. 148 Griehbaum 1958; für den Zeitraum von ten und Soldaten der Stadtguardia einquartiert. Die Hausbesitzer mussten ih- 1590 bis 1599: Mansfeld 1953, 3–9; Faber 151 nen für eine geringe Miete eine Stube oder Kammer zur Verfügung stellen. 1995, 80; A. Weigl, Demographischer Wandel Auch ihre Angehörigen wurden auf dem Friedhof zu St. Ulrich beigesetzt.152 und Modernisierung in Wien (Wien 2000) 75– 77. Angehörige des Adelsstandes, aber auch wohlhabendere, nichtadelige Leute 149 Weigl (Anm. 148) 75. ließen sich in der Kirche selbst begraben. Seit 1650 wurden die Kosten für ei- 150 Faber 1995, 80. nen dortigen Begräbnisplatz mit 10 Gulden festgelegt.153 151 Faber 1995, 72 f. 152 Pfarre St. Ulrich,Totenprotokolle ab Bd. 3 Die Auswertung und Interpretation der Grab- bzw. menschlichen Überreste so- passim. wie der historischen Quellen führte zu gleichen Schlüssen über die offenbar äu- 153 Aschinger 1920, 13.

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Fundort Wien 13, 2010. – Urheberrechtlich geschützt, Keine unerlaubte Vervielfältigung gestattet. © Museen der Stadt Wien – Stadtarchäologie Aufsätze M. Binder/H. Krause, Der ehemalige Friedhof zu St. Ulrich in Wien-Neubau

ßerst bescheidenen Lebensverhältnisse der einstigen Bewohner der Vorstadt St. Ulrich, die auf diesem Friedhof „ihre letzte Ruhe fanden“. Hier wurden vor- wiegend weniger Begüterte, Arme, Mittellose, Alte und Kinder bestattet.154 Ihre 154 Dies wird auch durch die Berufs- bzw. Al- tersangaben der Verstorbenen bzw. ihrer An- aus der Grabung Zollergasse 32 geborgenen Skelettreste werden auf dem gehörigen in den Totenprotokollen bestätigt. Zentralfriedhof wiederbestattet.

Abgekürzt zitierte Literatur und gedruckte Quellen Aschinger 1920 M. Aschinger,Geschichte der Pfarre St. Ulrich (Maria Trost) in Wien-Neubau nebst der Entstehung der Tochterpfarren Altlerchenfeld u. Schottenfeld (Wien 1920). Aufderheide/Rodrí- A. C. Aufderheide/C. Rodríguez-Martín, The Cambridge Encyclopedia of Human Paleopathology (Cambridge, New guez-Martín 1998 York 1998). Bauer 2004 W. T. Bauer,Wiener Friedhofsführer. Genaue Beschreibung sämtlicher Begräbnisstätten nebst einer Geschichte des Wiener Bestattungswesens5 (Wien 2004). BUB II Urkundenbuch zur Geschichte der Babenberger in Österreich II. Die Siegelurkunden der Babenberger und ihrer Nachkommen von 1216 bis 1279, bearb. v. H. Fichtenau/E. Zöllner. Publ. Inst. Österr. Geschforsch. III 2 (Wien 1955). Czeike,Wien Lexikon F. Czeike, Historisches Lexikon Wien. 6 Bde.2 (Wien 2004). Faber 1995 E. Faber, Neubau. Geschichte des 7. Wiener Gemeindebezirks und seiner alten Orte (Wien et al. 1995). FRA II/18 Urkunden der Benedictiner-Abtei Unserer Lieben Frau zu den Schotten in Wien, vom Jahre 1158–1418, hrsg. von E. Hauswirth. Fontes rerum Austriacarum, 2. Abt., Diplomataria et Acta 18 (Wien 1859). Griehbaum 1958 W. Griehbaum, Beiträge zur Geschichte der Vorstädte St. Ulrich – Neubau – Schottenfeld (1620–1820) (unpubl. Mskr. WStLA Archivbibliothek 1958). Großstadtlärm 1938 Großstadtlärm über 100000 Gräbern. Neues Wiener Tagblatt, 1. November 1938, Nr. 301, 27–30. Halbritter 2004 R. Halbritter, Amulette aus Papier zwischen Magie und Heilserwartung. In: Ch. Pieske/K. Vanja/S. Nagy (Hrsg.), Arbeitskreis Bild Druck Papier. 7. Tagungsbd. Esslingen 2002 (Münster et al. 2004) 61–82. HONB 7 H. Weigl, Historisches Ortsnamenbuch von Niederösterreich. R. A 7 (Wien 1975). Illi 1992 M. Illi, Wohin die Toten gingen. Begräbnis und Kirchhof in der vorindustriellen Stadt (Zürich 1992). Kisch 1895 W. Kisch, Die alten Straßen und Plätze von Wiens Vorstädten und ihre historisch interessanten Häuser. Ein Beitrag zur Culturgeschichte Wiens mit Rücksicht auf vaterländische Kunst, Architektur, Musik und Literatur. Bd. 2 (Wien 1895, Reprint 1967). Larsen 1997 C. S. Larsen, Bioarchaeology. Interpreting Behavior from the Human Skeleton. Cambridge Stud. in Biological Anthropology 21 (Cambridge 1997). LexBestattung Großes Lexikon der Bestattungs- und Friedhofskultur, hrsg. v. Zentralinstitut für Sepulkralkultur Kassel. Bd. 1 (Braunschweig 2002); Bd. 2 (Braunschweig 2005). LexMA Lexikon des Mittelalters. Taschenbuchausg. 9 Bde. (München 2002). Lohrmann/Opll 1981 K. Lohrmann/F. Opll, Regesten zur Frühgeschichte von Wien. Forsch. u. Beitr. Wiener Stadtgesch. 10 (Wien, München 1981). Mansfeld 1953 H. A. Mansfeld, Wiener Kirchenbücher des 16. Jahrhunderts. Trauungsmatriken der Pfarren St. Ulrich, St. Michael, Schotten und St. Stephan (Wien 1935, Reprint 1953). Opll 1985 F. Opll, Der Burgfried der Stadt Wien. Forsch. u. Beitr. Wiener Stadtgesch. 15 (Wien 1985). Rotter 1925 H. Rotter, Neubau. Ein Heimatbuch des 7. Wiener Gemeindebezirkes (Wien 1925). Weigl 2001 A. Weigl, Residenz, Bastion und Konsumptionsstadt: Stadtwachstum und demographische Entwicklung einer werdenden Metropole. In: A. Weigl (Hrsg.), Wien im Dreißigjährigen Krieg. Bevölkerung, Gesellschaft, Kultur, Kon- fession. Kulturstud. 32 (Wien, Köln, Weimar 2001) 31–105.

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Fundort Wien 13, 2010. – Urheberrechtlich geschützt, Keine unerlaubte Vervielfältigung gestattet. © Museen der Stadt Wien – Stadtarchäologie Aufsätze M. Müller, Vom Wiener Neustädter Kanal zum Aspangbahnhof

Vom Wiener Neustädter Kanal zum Aspangbahnhof. Ausgrabungen in Wien 3, Aspanggründe

Michaela Müller

Auf den sog. Aspanggründen, dem neuen Stadtentwicklungsgebiet „Euroga- te“ im 3. Wiener Gemeindebezirk, sollen bis 2019 mindestens 1600 Wohnun- gen im Passivhausstandard und tausende Arbeitsplätze entstehen. Das große Baugelände zwischen Aspangstraße und Landstraßer Gürtel hat seine Benen- nung nach dem ehemals hier befindlichen Bahnhof einer Eisenbahn nach As- pang im südlichen Niederösterreich. Die nordöstlich des Bahnhofs verlaufende Aspangstraße wurde 1907 in Richtung Osten verlängert. Da auf den westlichen Grundstücken entlang der Südseite der Aspangstraße (Bauplätze 1–3 und 6) mit Bodendenkmalen aus der Antike, eventuell des Früh- mittelalters und Verkehrsbauten – Zeugen der Entwicklung der Transportmittel im Zuge der industriellen Revolution – zu rechnen war, wurden vor dem Baube- ginn zwischen dem 17. August 2009 und dem 15. April 2010 archäologische Untersuchungen durch die Stadtarchäologie Wien durchgeführt. Diese erfolgten jeweils in zwei Phasen. Zunächst wurde bis auf die archäolo- gisch relevanten Schichten oder, wenn keine Befunde vorhanden waren, bis auf den gewachsenen Boden (Schwemmlöss1, OK: 21,60–20,95 m über Wr. Null) abgebaggert. Danach fanden die Ausgrabung und Dokumentation der Bodendenkmale statt. Es konnten römische Strukturen vom Rand der Zivil- stadt (siehe Beitrag M. Müller, 227 ff.), eine große neuzeitliche Grube, Gerinne des Wiener Neustädter Kanals, ein Teil des Hafenbeckens, Kanäle und ein Teil des Bahnhofsgebäudes erfasst werden (siehe Beitrag M. Müller, 247 f.).

Einige Eckdaten zum Wiener Neustädter Kanal2 und zur Aspangbahn

1 Wir danken Dr. Sabine Grupe (Wiener Bis zum Jahr 1879 verlief parallel zur heutigen Aspangstraße der Wiener Neu- Gewässer Management GmbH) und Dr. Chris- städter Kanal. Ursprünglich war diese zwischen 1797 und 1803 von Wien bis tine Jawecki (MA 29, Grundbau – Baugrundin- Wiener Neustadt erbaute Wasserstraße bis Triest bzw. bis zur Adria geplant. formation) für den Besuch und die Informatio- nen zur Geologie. Über sie konnten Lasten auf eigens dafür konstruierten, schmalen und von 2 Lange 2003, 7–9; 21–40; de.wikipedia. Pferden gezogenen Schiffen (pro Kahn reichte ein Zugtier) befördert werden org/wiki/Wiener_Neustädter_Kanal (15.7. 3 (Abb. 1). Da mit Pferdewagen auf schlechten Straßen das schwere Heiz- 2010). 4 3 Nach Czeike, Wien Lexikon 5, 639 s. v. und Baumaterial nur sehr langsam und teuer transportiert werden konnte, Wiener Neustädter Kanal, waren 64 Lastkähne suchte die „Wiener Neustädter Steinkohlegewerkschaft“ im Jahr 1794 bei im Einsatz. Kaiser Franz II. darum an, einen Kanal aus der Gegend von Schottwien (im süd- 4 Vgl.: Ch. M. Merki, Verkehrsgeschichte 5 und Mobilität (Stuttgart 2008) 18: Im 18. Jh. lichen Niederösterreich) bis Wien bauen zu dürfen. Dieser genehmigte das betrugen die Kosten für den Gütertransport Kanalbauprojekt in der Hoffnung auch militärischen Nutzen daraus ziehen zu auf einem Kanal zwar das 3-Fache gegenüber 6 „ dem Seeweg, Fuhrwerke kosteten aber neun- können. Im Sommer 1797 begann die k. k. priv.[ilegierte] Kanal- und Berg- mal so viel und Lasttiere das 27-Fache. baukompanie“ bei Guntramsdorf mit dem Bau. Die Bauarbeiten wurden 5 Schlöss 2003, 135. zunächst von Sebastian von Maillard geleitet, von Zwangsarbeitern ausgeführt 6 M. Rosecker in: Wiener Neustädter Kanal 7 1997, 17. und die Baukosten vom Staat bestritten. Die Errichtung des Gerinnes gestal- 7 Slezak et al. 1981, 9. tete sich jedoch als äußerst schwierig wegen des Gefälles im Wiener Becken,

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Abb. 1: Paul Eduard Sprenger, „Das Tierarznei-Institut am Wiener Neustädter Kanal“ 1826, Aquarell. (© Wien Museum Inv.-Nr. HMW 34272) des geologischen Untergrunds, des Facharbeitermangels und der nicht immer (rasch) möglichen Grundstücksankäufe. Den Wiener Stadtbereich erreichten die Grabungsarbeiten ab 1799, als der spätere Hofbaudirektor Joseph Maria Schemerl von Leythenbach8 die Bauleitung übernahm.9 Im Bereich des heuti- gen Bahnhofs Wien Mitte, im 3. Bezirk, wurde 1801 beim Wienfluss das große erste Wiener Hafenbecken dieser Wasserstraße erbaut.10 In Wien verlief der 8 Österreichisches Biographisches Lexikon Kanal damals von diesem Hafenbecken über die heutige Linke bzw. Rechte 1815–1950, 10 Lfg. 46 (Wien 1994) 75 f. Bahngasse über die Kreuzung Rennweg/Ungargasse, südlich der Aspangstra- s. v. Schemerl von Leythenbach, Josef Maria (N. Gspan). ße in Richtung Simmering (heute Am Kanal) und in großem Bogen um den Wie- 9 Schlöss 2003, 135. Beim Aushub wurde nerberg (Kledering) weiter in Richtung Süden. 1803 war der Kanal 56 km lang im Frühling 1800 unweit des Belvedere der und wegen des Gesamtgefälles von ca. 100 m in 46 Abschnitte mit 2 bis 2,5 m Fuß einer römischen Bronzestatue gefunden 11 (siehe Beitrag M. Müller, 227 ff.); M. Groß- breiten Schleusen unterteilt. Die zwischen zwei Dämmen verlaufenden Hal- mann, Untersuchungen zum Iuppiter- und Kai- tungen (Kanalstrecken) hatten eine Sohlenbreite von 5,7 m und der Wasser- serkult im municipium Vindobonense – Ein Dis- spiegel war 11 m breit.12 Durch einen Zuleitungskanal wurde er aus der Leitha kussionsbeitrag. FWien 7, 2004, 200. 10 Schlöss 2003, 135. bei Neudörfl im damaligen Ungarn gespeist.13 11 Schlöss 2003, 135; S. Knotek, Eine Reise Das Kanalbett musste jährlich gereinigt werden, wozu es vor Beginn der Frost- in die Vergangenheit auf dem Wiener Neustäd- periode abgelassen wurde. Da der Kanal allerdings in vielen Abschnitten un- ter Kanal. Rubrik Stadtgespräch, Ausgabe 02/ 10. www.dascitymagazin.at/de/rubriken/get/ dicht war, kam es immer wieder zu Dammbrüchen und Unterspülungen von page/eine-reise-in-die-vergangenheit-auf- angrenzenden Gebäuden. Somit verursachten häufig notwendige Reparaturar- dem-wiener-neu/ (16.7. 2010). beiten und der Ausbau höhere Kosten als Einnahmen. Als Folge davon konnte 12 Schlöss 2003, 135; Slezak et al. 1981, 11. im Jahr 1810 nur noch ein kurzes Teilstück vom Neudörfler Speisekanal bis zur 13 H. Rosmann in: Wiener Neustädter Kanal Pöttschinger Höhe (Burgenland, Bezirk Mattersburg) errichtet werden. Obwohl 1997, 14.

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man damals noch vorhatte, den Kanal – wenn schon nicht bis zur Adria – doch mindestens bis Ödenburg (Sopron in Ungarn) zu bauen, beließ man schließlich sein Ende bzw. den Anfang bei Wiener Neustadt. Dadurch wurde der schiffbare „Wiener Canal“ oder „k. k. Franzens-Canal“ nun mit der Zeit als „Wiener Neu- städter (Schiffahrts)Kanal“ bezeichnet.14 Von 1803 bis 1822 wurde der Kanal unter staatlicher Verwaltung betrieben, da er aber keine Einnahmen erbrachte, sondern zeitweise sogar Mehrausgaben erforderte, wurde er dann verpachtet. Zwischen 1846 und 1871 verfügten so die Ziegelproduzenten Alois Miesbach und Heinrich Drasche über diese Was- serstraße und konnten auf diesem Weg auch ihre Materialien und Produkte an- liefern. Sowohl die häufigen Reparaturen und Abdichtungen als auch die später errich- tete Eisenbahnlinie machten die Anlage von Umleitungsgerinnen notwendig. In Wien wurde der Kanal nicht ganz ein halbes Jahrhundert nach seiner Errich- tung etwas verkürzt, da die Kanaltrasse für eine Verbindungsbahn zwischen dem Wiener Südbahnhof und dem Nordbahnhof benötigt wurde und deswe- gen der Hafen vom Wienfluss etwa 1,8 km den Kanal „aufwärts“ (bzw. stadt- auswärts Richtung Süden), in den Bereich der späteren Aspanggründe verlegt wurde.15 Die Bauarbeiten für den neuen Kanalhafen und am Zuleitungsgerinne für die Werke und Fabriken nördlich davon, deren Besitzer ein Vertragsverhält- nis über die Wasserlieferung mit der Kanalgesellschaft hatten, begannen im Mai 1848. Das Nutzwasser des Wiener Neustädter Kanals wurde hierfür durch ei- nen unterirdischen Kanal nördlich des neuen Hafens zu den Werksbesitzern geleitet. Teile dieses Kanals erstrecken sich abschnittsweise noch unbeschä- digt unter dem heutigen Gelände und wurden im Jahr 2000 bei einer Aufgra- bung in der Oberen Bahngasse 2–4 auf einer Länge von 229 m dokumentiert.16 Um 1869 entschloss sich der Staat, den Kanal zu verkaufen, um seine Finanz- nöte zu mildern. Obwohl die neue Eigentümerin die „Erste Österreichische Schifffahrts-Canal-Actien-Gesellschaft“ („Kanal A. G.“) 1871 und in den folgen- den Jahren Gewinne erzielte, bevorzugten die Betreiber die Bahnprojekte.17 Das Vorhaben war, eine Bahnverbindung zwischen Wien und Saloniki zu schaf- fen. Im Jahr 1877 erhielt die Gesellschaft die Konzession für den Bahnbau bis Aspang am Wechsel und nannte sich in „Austro-Belgische Eisenbahngesell- schaft“ um; denn das Kapital kam von der belgischen Eisenbahngesellschaft. Diese gründete die Aktiengesellschaft „k. k. privilegierte Eisenbahn Wien–As- 14 Lange 2003, 8. pang“, der alle Rechte und das Hafengelände sowie die Kanalstrecke in Wien 15 M. Rosecker in: Wiener Neustädter Kanal 18 1997, 20. übertragen wurden. 16 Ch. Öllerer, Wien 3, Obere Bahngasse 2– 4. FWien 4, 2001, 271–272. Bahnhof der Aspangbahn 17 Lange 2003, 8. 18 Slezak et al. 1981, 32–33. Im Jahr 1879 wurde auch das zweite bei den Grabungen des Vorjahres freige- 19 H. Rosmann in: Wiener Neustädter Kanal legte Hafenbecken zugeschüttet und der Schiffsverkehr schließlich endgültig 1997, 26. Der Wiener Neustädter Kanal fließt nach wie vor, reduziert auf eine Länge von von der Bahn verdrängt. Der verkürzte Schifffahrtskanal wurde zu einem 36 km, von Wiener Neustadt bis Biedermanns- Werkskanal umfunktioniert, an dem auch kleine Wasserkraftwerke errichtet dorf und mündet bei Biedermannsdorf in den wurden.19 Zwischen 1880 und 1881 errichtete man über dem Nordwest-Teil Mödlingbach: Knotek (Anm. 11). 20 Kletter 2006, 28; Czeike, Wien Lexikon 1, des Hafenbeckens das Bahnhofsgebäude der Aspangbahn im Neorenais- 20 174–175 s. v. Aspangbahnhof. sance-Stil des Historismus.

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Abb. 2: Übersichtsplan der Befunde des 19. Jahrhunderts auf den vier westlichen Bauplätzen der Aspanggründe. (Plan: N. Piperakis)

Die Aspangbahn nahm 1881 ihren Betrieb auf. Aufgrund wirtschaftlicher Schwierigkeiten wurde bereits 1937 die Betriebsführung den Österreichischen Bundesbahnen übertragen. Der Aspangbahnhof war ab 1939, vor allem 1941 und 1942, Ausgangspunkt für Deportationen von Wiener Jüdinnen und Juden. Mindestens 47 Züge mit mehr als 50.000 jüdischen Bürgerinnen und Bürgern gingen von dort zunächst in Ghettos genannte Sammellager und in der Folge in die Vernichtungslager der 21 Kletter 2006, 77–88 bes. 84 f.; A. Gott- 21 waldt/D. Schulle, Die „Judendeportationen“ Nationalsozialisten ab. Manche Deportierungen waren Transporte direkt in aus dem Deutschen Reich von 1941–1945. Ei- 22 den Tod. ne kommentierte Chronologie (Wiesbaden Erst 1971 wurde der Aspangbahnhof geschlossen. Schon lange nicht mehr re- 2005) 45–50; 216; 285; W. Kos/G. Dinhobl (Hrsg.), Großer Bahnhof. Wien und die weite noviert, wurde das Gebäude 1977 abgetragen. Welt. 332. Sonderausst. WM (Wien 2006) 140 f. 351; B. Bailer et al., Die Ermordung Befunde der Ausgrabungen 2009/2010 (Abb. 2) der österreichischen Juden 1938–1945. In: G. Milchram (Hrsg.), Judenplatz. Ort der Erin- Neuzeitliche Befunde auf Bauplatz 1 nerung. Kat. Mus. Judenplatz Wien (Wien Auf Bauplatz 1 (GC: 2009_09) war der älteste Befund eine riesige Grube mit ei- 2000) 57; F. Freund/H. Safrian, Expulsion nem Durchmesser von über 30 m. Sie war etwas unregelmäßig rund und hatte and Extermination. The Fate of the Austrian Jews 1938–1945 (Wien 1997) 31. nahezu senkrechte Wände. Sie war im Randbereich mindestens 3 m tief und 22 Sonderzüge 1942 vom Aspangbahnhof wurde in der Mitte noch tiefer (Abb. 3). Sie befand sich hauptsächlich nördlich, nach Minsk: Kletter 2006, 85.

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Abb. 3: Große Grube auf Bauplatz 1, links der Werkskanal, nach Osten. (Foto: Stadtarchäologie Wien)

aber auch südlich der Hafenbeckenmauer und war erstaunlicherweise auch unter dem Kanal und dem Bahnhofsgebäude erhalten und somit älter. Im obe- ren Bereich war sie mit lehmigen Schichten verfüllt, die abwechselnd dunkel und hell waren. Vor allem in den dunklen Streifen fanden sich viele Tierknochen- reste und Keramikfragmente, auch etliche aus der Römerzeit, aber überwie- gend neuzeitliche. Im unteren Bereich an der Nordseite bestand die Verfüllung aus sandigen und tonigen Schichten mit Lösskindeln und Kies darin. Hierbei handelte es sich höchstwahrscheinlich um eine Materialentnahmegrube für Zie- gel- oder Keramikproduktion. Ziegelproduktion ist hier schon für das 2. Jahr- hundert n. Chr. etwas weiter westlich durch ein Ziegellager im Bereich Mechel- gasse nachgewiesen.23 Im Südteil der Aspanggründe gab es Gruben und Einrichtungen der Ziegelei Drasche.24 Die Grube scheint aufgrund der stratigra- phischen Lage und ihrer jüngeren Funde im 18. bzw. Anfang des 19. Jahrhun- derts angelegt worden zu sein. Südlich davon lag eine kleine rechteckige Grube mit senkrechten Wänden (1,7561,45 m, 0,30 m tief). Sie war mit ähnlichen, sandig-lehmigen Schichten wie die große Grube verfüllt.

Befunde des 19. Jahrhunderts auf den Bauplätzen 1, 2, 3 und 6 Umleitungsgerinne des Wiener Neustädter Kanals An der Nordostseite der Baugrube für die neu zu errichtenden Gebäude konnte auf Bauplatz 6 (GC: 2009_06) ein einfach in den Erdboden eingetieftes Umlei- tungsgerinne des Wiener Neustädter Kanals festgestellt werden. Es war nur mehr ca. 1 m tief erhalten und durchschnittlich 4,50 m breit. Verfüllt war das 23 M. Mosser, Wien 3, Rennweg 16. FWien Gerinne mit braunem, sandigem Lehm mit wenigen Steinen, darüber mit locke- 9, 2006, 290 f. mit Anm. 6. rem Schotter, Sand und Steinen. Darauf war gelber und dunkelgrauer, kieshal- 24 Ch. Öllerer, Wien 3, Adolf-Blamauer-Gas- se/Aspanggründe Areal A. FWien 1, 1998, tiger Lehm geschüttet. Weiters wurde in diesem Bereich eine Schotter/Stein- 178. schicht und auf dieser eine grüngraue, tonige Lehmschicht mit Molluskenresten

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Abb. 4: Südost-Profil eines Schnittes mit dem Umleitungsgerinne im Nordostteil des Bauplatzes 6. Das verfüllte Umleitungsgerinne schneidet links die Schlammschicht des erhöht angelegten älteren Hauptgerinnes des Wiener Neustädter Kanals. (Foto: Stadtarchäologie Wien)

vorgefunden. Darüber war eine rötlich braune, sandige Lehmschicht aufplaniert (Abb. 4). Diese Schichten wurden vom Umleitungsgerinne geschnitten. Dieses bog nach rund 16 m Verlauf (gemessen von der Nordwestseite des Bauplatzes 6) in Richtung Aspangstraße um. An dieser Stelle war erkennbar, dass auch sein südlicher Rand schlammige Tonschichten (UK: 19,80 m über Wr. Null) schnitt. Die Schotter/Steinschicht und die schlammigen Tonschichten stamm- ten wohl vom älteren Hauptgerinne, das vor dem Hafenbecken auf den As- panggründen errichtet worden war. Entlang der Nordostseite der Baugrube für das neue Wohnhaus auf Bauplatz 3 (zu den römischen Befunden siehe Beitrag M. Müller, 227 ff.; GC: 2009_05) konnte zunächst ebenfalls die Südkante dieses Umleitungsgerinnes erfasst werden. An der Stelle einer älteren Aufgrabung im Ostteil des Geländes wurde ein Querschnitt angelegt. Hier war das Gerinne nur etwa 2,50 m breit und 2,60 m tief (UK: 20 m über Wr. Null). Es war in das ältere, breitere Kanalbett eingetieft, von welchem ein schlammiger Rand mit Mollusken, an der Südseite entlanglaufend, noch vorhanden war. Eine grabenartige Struktur im rechten Winkel dazu (in Verlängerung der Linie zwischen Aspangstraße 49 und 51) war mit ähnlichem Material verfüllt wie die anderen Gräben. Sie gehörte viel- leicht zu einer kleinen, kurze Zeit bestehenden Ab- oder Weiterleitung. Von der Stelle, an welcher dieser Graben auf das Gerinne traf, setzte sich die leicht gebogene, wenig verschlammte Umleitung Richtung Südwesten fort. Sie um- fuhr anscheinend das Hafenbecken, wie die lediglich oberflächlich gesichteten Konturen auf Bauplatz 1 erahnen lassen.

Holzgebäude Südlich davon wurden Reste eines Holzgebäudes ausgegraben (Abb. 5). Es war 9,80 m breit und noch 13 m lang (nördlicher Teil des Gebäudes). In eine massive Planierung aus festem, gelbem Lehm (mit etwas Schutt und Holzkohle an der Oberkante) waren entlang des Gebäudeumrisses große Pfostenlöcher

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Abb. 5: Überblick über den Bereich des Holzgebäudes, nach Süden. (Foto: Stadtarchäologie Wien)

eingetieft. Zwischen den Pfosten fanden sich auch noch Holzreste und Spuren der Außenwände. Auf der Planierschicht befand sich eine Unterbodenkon- struktion aus Holzlatten. Darüber waren noch Reste des Holzbodens erhalten. Darauf lag großflächig, aber nicht überall, eine dünne Schicht leicht rosa gefärb- ten Mörtelgrußes. Auch vom Eingang im Norden waren noch Nägel, Reste der Türschwelle und eines Estrichs vor derselben erhalten. Das Gebäude war an den drei Seiten von einem 0,60 bis 1,26 m breiten, umlaufenden Graben um- geben. Von seiner Südseite war aufgrund von Störungen nichts mehr erhalten. Vielleicht handelte es sich um ein Stallgebäude aus dem 19. Jahrhundert, das auf alten Plänen eingezeichnet ist. Im Bereich der Bauplätze 1 und 2 (GC: 2009_09) lag früher die jüngere, Mitte des 19. Jahrhunderts erbaute Hafenanlage.

Hafenbecken Im Osten von Bauplatz 2 konnte die Einmündung des im Zuge der Errichtung des Hafens gebauten Kanals in das gemauerte Hafenbecken erfasst werden. Die östliche und die südliche Außenmauer dieses zweiten Wiener Hafenbe- ckens waren noch relativ gut erhalten und beide 46,60 m lang. Sie waren ur- sprünglich aus Ziegeln gemauert und an der Wasserseite über einem sechs Ziegellagen hohen Fundamentvorsprung mit Steinquadern verkleidet (Abb. 6). Davor gab es in regelmäßigen Abständen Ausnehmungen für Holzpiloten. Die Steine waren regelmäßig versetzt, jeder zweite war als Binder in das Ziegel- mauerwerk eingebunden. Diese Quaderverkleidung bestand teilweise aus Lei- thakalkstein, der feinkörnige scheint in Kaisersteinbruch (Niederösterreich) ab- gebaut worden zu sein. Derjenige, in welchem große Moostierchen erkennbar waren, dürfte eher aus Wöllersdorf (Niederösterreich) stammen.25 Das Bauma- terial (Steine und Ziegel) wurde wahrscheinlich über den Kanal antransportiert. Vom Ziegelproduzenten und Kanalpächter Alois Miesbach (1791–1857) wur- 25 Für die Sichtung und Steinbestimmungen „ “ sei Dr. Andreas Rohatsch (Institut für Inge- den in der Mauer, wie zu erwarten war, Ziegel mit seinen Initialen AM, mit ei- nieursgeologie der TU Wien) gedankt. nem Herzwappen, in dessen Mitte sich meist ein „G“ befindet (Werk Guntrams-

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Abb. 6: Südwestliche Hafenbeckenmauer. Abschnitt mit erhaltener Quaderverkleidung, nach Westen. (Foto: M. Schulz)

Abb. 7: Das polygonale Pflaster an der Ostseite des Hafens auf Bauplatz 2, nach Westen. (Foto: Stadtarchäologie Wien)

dorf) oder ein „L“ (Werk Leopoldsdorf), gesichtet.26 Außerdem kamen die Zie- gelzeichen „GC“ mit einem „G“ im Herz (Werk Gansterer in Guntramsdorf) vor. Die jüngeren Ziegel von Heinrich Drasche (1811–1880)27 mit den Ziegelzeichen „HGD“ (nach 1857,Werk Guntramsdorf) deuten auf ausgebesserte Mauerab- schnitte hin, sie befanden sich meist in den oberen erhaltenen Lagen. Von der westlichen Mauer, zum schmalen Abschnitt des Hafenbeckens hin, war nur 26 Zu Alois Miesbach siehe auch Czeike, Wien Lexikon 4, 262 s. v. Miesbach Alois; P. mehr das Ziegelfundament erhalten. Nach Westen zu gab es in Richtung Bau- Mitchell, Bricks in the Central Part of Austria- platz 1 Abschnitte, die im Fundament riesige, unregelmäßige Steine aufwiesen. Hungary. Historische Archäologie 2009. Innerhalb des Hafenbeckens zeichnete sich deutlich eine schlammige, dunkle www.histarch.uni-kiel.de/2009_Mitchell_low. pdf (19.7. 2010) 8. Auch Dr. Gerhard Zsutty Schicht ab, welche die Sohle bildete. Darüber war das Becken mit sehr lehmi- (Bezirksmuseum Penzing/Ziegelmuseum) sei gen Schichten aufgefüllt. Einige Keramikfragmente des 19. Jahrhunderts wur- für sein Interesse und die Unterstützung ge- den aus diesen Schichten geborgen. An der Ostseite des Hafens waren noch dankt. 27 Zu Heinrich Drasche: Czeike, Wien Lexi- 13 Reihen (in Richtung Südosten) von dicken, polygonalen, rötlichen Kalkstei- kon 2, 90 f. s. v. Drasche Heinrich; Mitchell nen erhalten (Abb. 7), bei denen es sich wohl um eine Kalksteinbreccie aus (Anm. 26) 8 f.

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Abb. 8: Der eingewölbte Werkskanal auf Bauplatz 1, nach Südosten. (Foto: Stadtarchäologie Wien)

Rohrbach bei Mayerling handelt. Zwischen mehreren Reihen von quadrati- schen Platten mit abgeschrägten Ecken, also achteckig geformten Steinen, la- gen zwei Reihen etwas kleinerer, sechseckiger Blöcke. Auf diesem Pflaster (OK: 21,44 m über Wr. Null) wurden vermutlich schwere Lasten ausgeladen. Das Hafenbecken konnte nun etwas genauer lokalisiert werden als es zuvor auf Plänen des 19. Jahrhunderts möglich war.28 Es zeigte sich, dass es sehr sorg- fältig und ziemlich massiv gebaut war. Trotzdem waren in seiner kurzen Be- triebszeit von rund 30 Jahren Reparaturen notwendig. Es war mindestens 2 6.500 m groß. Auf Bauplatz 1 war die Hafenbeckenmauer schlechter erhalten. Das Funda- ment bestand zum Teil aus sehr großen, unregelmäßigen Steinen, teilweise aus Ziegeln. Von der Verkleidung oder dem aufgehenden Mauerwerk war nichts mehr vorhanden, da seine Steine und Ziegel für den eingewölbten Werkskanal verwendet worden waren.

Werkskanal Der Werkskanal verlief nur 4 bis 5 m nordöstlich der Südmauer des Hafenbe- ckens (Abb. 8). Er führte ab 1880, eingeengt unter dem Perron der Aspang- bahn, durch das Hafenbecken in Richtung ehemaliger Rennwegschleuse. Die Seitenwände waren überwiegend aus kleinen Hau- und Bruchsteinen (auch Steine aus Kaisersteinbruch, aber minderer Qualität) mit einem festen Mörtel gemauert. Das segmentbogige Gewölbe bestand aus Ziegeln. Die lichte Weite betrug 1,95 m, die Höhe bis zum Scheitel 1,50 m. Innerhalb desselben war ein (jüngeres?) Rohr mit 49 cm Durchmesser verlegt.

28 Wien 1863 mit Vororten 1856–1868. Hist. Bahnhofsgebäude Atlas Wien, 4. Lfg. (Wien 1990) 4.1.3; General- baulinienplan 1866. Hist. Atlas Wien, 5. Lfg. Unmittelbar nordöstlich des Werkskanals befanden sich massive Ziegelmauern (Wien 1994) 5.3.2. auf Steinfundamenten (UK: 17,32 m über Wr. Null). Es handelte sich um den

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Abb. 9: Mauern im Bahnhofsbereich auf Bauplatz 1, in der Mitte dicke Ziegelaußenwand, rechts daneben der Werkskanal, nach Südosten. (Foto: Stadtarchäologie Wien)

Abb. 10: Kleiner Ziegelkanal mit Steinabdeckung auf Bauplatz 6, nach Südwesten. (Foto: Stadtar- chäologie Wien)

südlichen Kellerbereich des Aspangbahnhofgebäudes (Abb. 9). Im Grabungs- schnitt gab es außer der Südmauer drei eingesetzte Zwischenmauern, zwei von der Mittelmauer abgehende Mauerzungen sowie Einbauten.

Kanal Unter den Auffüllungen der bereits abgebrochenen Bahnhofsrampe kam auf Bauplatz 2 ein in Nordwest-Südost-Richtung verlaufender Kanal mit Ziegel- wänden (vier Lagen Binder: 24616/1767/8 cm) und einer Abdeckung aus großen Steinblöcken (60657628 cm) zum Vorschein, der bis zum Bauplatz 6 verfolgt werden konnte. Außerdem wurde im rechten Winkel dazu ein schma- ler Kanal, quer über das Baugrundstück 6 führend, dokumentiert (Abb. 10). Er

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war 1 m breit und ca. 0,70 m hoch und die Seitenwände waren aus Binderzie- geln (füng Lagen, rot, 29–3061466,5–7 cm, Fugen 1,5–3,5 cm) gemauert. Die Abdeckung bestand ebenfalls aus rötlichen Steinblöcken (66662625, 74660633 cm). An der Sohle befand sich feiner Kies mit schwarzem Schlamm. Darüber waren im Kanal schräg gestellte Steine (45620 cm) einge- setzt, über denen eine schwarze Lehmschicht und Kies lag. Diese Kanäle stammten aus der Betriebszeit des Bahnhofs.

Abgekürzt zitierte Literatur Czeike,Wien Lexikon F. Czeike, Historisches Lexikon Wien 1–62 (Wien 2004). Kletter 2006 G. Kletter, Der Aspangbahnhof und die Wien-Saloniki-Bahn. Auf Schienen unterwegs (Erfurt 2006). Lange 2003 F. Lange, Von Wien zur Adria. Der Wiener Neustädter Kanal. R. Archivbilder (Erfurt 2003). Schlöss 2003 E. Schlöss,Vom Hafenbecken des Wiener Neustädter Schifffahrtskanals zum Bahnhof Wien-Mitte. WGBl 58/2, 2003, 135–144. Slezak et al. 1981 P. Slezak/F. Slezak/J. O. Slezak,Vom Schiffskanal zur Eisenbahn. Wiener Neustädter Kanal und Aspangbahn (Wien 1981). Wiener Neustädter Industrieviertel-Museum Wiener Neustadt (Hrsg.), 200 Jahre Wiener Neustädter Kanal. 1797–1997 (Wiener Neustadt Kanal 1997 1997).

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Neuzeitliche Keramikfunde aus den Grabungen Wien 1, Michaelerplatz (1990/1991) – Teil 2

Alice Kaltenberger

An dieser Stelle soll weiteres neuzeitliches Fundmaterial aus den von der Stadt- archäologie Wien 1990/1991 durchgeführten Grabungen am Michaelerplatz in der Wiener Innenstadt vorgestellt werden,1 das bei der Endpublikation 20082 nicht berücksichtigt wurde. Es beinhaltet ergänzende Bestände3 zu den bereits durch die Verfasserin unter Punkt „6. Haus Nr. 5, Keller 10–11: Verfüllung des Entsorgungsschachtes“4 publizierten Keramikfunden (hier als „Teil 1“ bezeich- net). Gemeinsam mit den übrigen Funden wurde der Datierungsrahmen für die Masse des Fundmaterials aus der „unteren“ Verfüllung schwerpunktmäßig auf die Zeit „um 1760 bis um 1790“ eingegrenzt,5 der durch die Keramik mit einem „1764“ oder „1784“ datierten Fayencekrug, einer kleinen Fayenceschale aus der Werkstatt Johann Michael Mosers aus Salzburg aus dem dritten Viertel 1 Zur Auswertung der neuzeitlichen Befun- de siehe H. Krause/G. Reichhalter/S. Sakl- des 18. Jahrhunderts sowie einem Koppchen der Wiener Porzellanmanufaktur 6 Oberthaler, Neuzeitliche Befunde der Gra- aus dem Zeitraum „nach 1749 bis vor 1784“ erhärtet wird. Dennoch liegen bungen Wien 1, Michaelerplatz (1990/1991). auch ältere Stücke vor, die chronologisch bis in das 17. Jahrhundert zurück- – FWien 11, 2008, 86 131. Ferner H. Krause, 7 Von der Straßenkreuzung zum Platz – Die Ge- reichen. schichte des Michaelerplatzes vom Mittelalter Da der Publikationsstand zu Keramik aus dem Verbrauchermilieu des 18. Jahr- – bis ins 20. Jahrhundert. FWien 10, 2007, 4 hunderts in Österreich noch als äußerst schwach zu bezeichnen ist, werden im 42. 2 Kaltenberger 2008. Folgenden die übrigen Keramikfunde dieses Komplexes vorgelegt, die sich ei- 3 Kaltenberger 2008, 158–173: „Verfüllung nerseits gut in das bereits erarbeitete Chronologiegerüst einfügen, andererseits – des unteren Schachtbereiches kreisrunder das für diesen Zeitraum repräsentative Gebrauchskeramikspektrum ergänzen Entsorgungsschacht (Kat.-Nr. 37–88)“. Die – – Funde beschränken sich auf fünf Fundnum- und mit erstmals als Bodenfunde belegter teurer Importware einen Nach- mern, unter denen sich abermals viele weis für den sich abzeichnenden Wandel der Tischkultur der gehobenen Kreise – Passscherben finden: 1055 FO: bis 8,86 bieten. OWN (= m über Wr. Null); 1061 – FO: unter 8,86 bis 7,76 OWN; 1071 – FO: unter Niveau 7,76 OWN; 1075 – FO: bis 7,73 OWN; 1143 Scherben – FO: 7,76 bis 6,73 OWN. Oxidierend gebrannte Irdenware 4 Kaltenberger 2008, 157–179, zum Be- fund vgl. bes. 157 f. Die Mehrzahl der Stücke, wie auch die beiden malhorndekorierten Schalen, 5 Glas: Tarcsay 2008; Münzen: C. Lit- entsprechen wieder dem bereits erarbeiteten Scherbentyp8: schauer, Das neuzeitliche Münzspektrum aus den Grabungen Wien 1, Michaelerplatz (1990/1991). FWien 11, 2008, 132–143 bes. Michaelerplatz-Ox 2 134 f.: rund 70% der Prägungen aus der Zeit Hellbeige bis hellrosa gebrannte Irdenware, sehr stark gemagert, Magerungs- Maria Theresias (1740–1780) stammen aus anteile mittelfein bis (mittel)grob. dem Entsorgungsschacht und stellen einen chronologischen Schwerpunkt dar. Formen: Henkeltopf mit Kragenrand Kat.-Nr. 1, 2; Henkeltopf mit profiliertem Kragenrand Kat.-Nr. 6 Kaltenberger 2008, Kat.-Nr. 79; 84 und 3; Henkeltopf mit aufgestelltem Rand Kat.-Nr. 4, 5; Hohldeckel Kat.-Nr. 8, 9; kleine Schalen mit 87. Malhorndekor Kat.-Nr. 10, 11. 7 Kaltenberger 2008, Kat.-Nr. 43 (Henkel- topf); 57 (Dreibeinschüssel mit Doppelhenkel) Auch in diesem Nachtrag sind mit den beiden „Nachttöpfen“ Kat.-Nr. 6 und 7 sowie vermutlich Kat.-Nr. 56 („Nachttopf“). wieder Einzelstücke mit anderem, sehr stark fein bzw. mittelfein gemagertem, 8 Genaue Beschreibung siehe Kaltenberger 2008, 145, dazu die Formen aus diesem Fund- orangerosa gebranntem Scherben zu beobachten, deren genaue Beschrei- ensemble S. 158. bung im Katalog zu finden ist.

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Fayence Die Fayencen lassen sich ebenfalls weitgehend den bereits festgestellten fein gemagerten und hell gebrannten9 Scherbentypen10 Michaelerplatz-Fay 1 und Michaelerplatz-Fay 2 zuordnen.11 Die Fayencen aus Savona und Holitsch besit- zen jeweils charakteristische Scherbentypen, die neu mit diesem Fundensem- ble auftreten.

Michaelerplatz-Fay 1 Scherben durchgehend rosa, Magerungsanteile fein bis sehr fein. Magerungsanteile: fein bis sehr fein; (sehr) wenige gerundete, farblos durchscheinende Partikel (Quarz/Feldspat) bis 0,25 mm, vereinzelte gerundete, rostfarbige Eisenoxidkonkretionen bis 0,25 mm. Matrix: sehr schwach gemagert, geringfügig porig bis dicht. Farbe der frischen Bruchfläche: orangerosa 5YR 7/6 reddish yellow, rosa 5YR 7/4 pink, rosa 7.5YR 7/4 pink, hell rosabeige 7.5YR 8/4 pink. Im Einzelfall beige 10YR 8/4 very pale brown über rosa Kern. Oberfläche: beidseitig opak weiß glasiert. Brand: ox., (sehr) hart gebrannt. Formen: Krug Kat.-Nr. 27; Krug in Fassform Kat.-Nr. 33; Kanne Kat.-Nr. 34.

Michaelerplatz-Fay 2 Scherben durchgehend sehr hellbeige, sehr fein. Magerungsanteile: sehr fein; sehr vereinzelte gerundete, rostfarbige Eisenoxidkonkretionen bis 0,1 mm. Matrix: sehr fein, dicht, sehr selten sehr vereinzelte Poren bis 0,1 mm. Farbe der frischen Bruchfläche: sehr hell beige 10YR 8/2 white, hellbeige 10YR 8/3 very pale brown. Oberfläche: beidseitig opak weiß glasiert. Brand: ox., (mäßig) hart gebrannt. Formen: Henkeltopf Kat.-Nr. 12; Apothekenabgabegefäße Kat.-Nr. 13–18, 21; Birnkrüge Kat.-Nr. 28, 29; Walzenkrug Kat.-Nr. 31; kleiner Krug Kat.-Nr. 32; Henkelschüssel Kat.-Nr. 36; Henkeltas- sen Kat.-Nr. 37, 38; Unterteller Kat.-Nr. 39; Teller Kat.-Nr. 40, 42.

Scherbentyp Holitsch Sehr fein gemagert, oxidierend hellbeige und hart gebrannt. Magerungsanteile: sehr fein, nicht erkennbar. Matrix: geringfügig feinstporig. 9 Fayence erfordert generell einen feineren Farbe der frischen Bruchfläche: hellbeige 10YR 8/3 very pale brown. Scherben als Irdenware, da die Fayenceglasur Oberfläche: glasiert. Glasur tendenziell mit mehr oder weniger ausgeprägtem Graustich, vielen sonst blasig wird oder zu Abrollungen führt. Ei- sehr feinen schwarzen Partikeln, stark krakeliert. ne hellere Scherbenfarbe begünstigt zudem Brand: ox., hart gebrannt. die Deckkraft der weißen Glasur. Bei roten Alle drei vorliegenden Stücke haben den gleichen Scherbentyp. Scherben erscheint die Glasur rosa. Formen: Terrine Kat.-Nr. 43; Teller Kat.-Nr. 44, 45. 10 Kaltenberger 2008, 159. 11 Angesichts der Tatsache, dass die Fayencen vermutlich nicht von einem Ort Scherbentyp Savona bzw. aus einer Werkstatt stammen, erscheint die Aufteilung in Kaltenberger 2008 mit nur we- Sehr fein gemagert, oxidierend rosa und mäßig hart gebrannt. nigen Fayencen in zwei Scherbentypen nun- Magerungsanteile: sehr fein; sehr vereinzelte rostfarbige Eisenoxidkonkretionen bis 0,15 mm. mehr als zu eng gefasst, die Scherbenbe- Matrix: feinstporig. schreibungen könnten unter dem treffenderen Farbe der frischen Bruchfläche: rosa 7.5YR 8/4 pink Terminus „Keramikart“ geführt werden, die Brand: ox., mäßig hart gebrannt. makroskopisch gleich bzw. sehr ähnlich aus- Formen: Henkeltasse Kat.-Nr. 46; hohe Tasse Kat.-Nr. 47; eckige Schüssel Kat.-Nr. 48. sehende Scherbentypen zusammenfasst.

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Herstellungstechnologische Merkmale Wie bereits in Teil 112 beobachtet, sind auch bei den nunmehr vorgestellten Töpfen aus Irdenware die unteren Henkelangarnierungsstellen mit Fingerdruck- mulden betont. Die Herstellung der Fayenceteller Kat.-Nr. 41, 42, 44 und 45 erfolgte durch Überdrehen.13 Die reliefierte Wandung der Terrine Kat.-Nr. 43 aus der Fayencemanufaktur in Holitsch (Slowakei) entstand durch Eindrücken in eine Form, wie schwache Verstreichspuren auf der Innenseite belegen. Sowohl bei den Fayencekrügen Kat.-Nr. 26–31 als auch bei sämtlichen Apo- thekenabgabegefäßen, die als Massenprodukte rasch hergestellt wurden, fällt die nachgearbeitete bzw. gut verstrichene Bodenunterseite auf, an der keine Abschneide- oder Abhebespuren mehr zu erkennen sind.

Glasuren Bei den Töpfen der oxidierend gebrannten Irdenware Kat.-Nr. 1–7 beschränkt sich die transparente Glasur auf die Gefäßinnenseite, mit ockerfarbenen Farb- nuancen und unter Betonung der Randzone durch nochmaligen Auftrag. Die beiden Hohldeckel Kat.-Nr. 8 und 9 wurden beidseitig transparent dunkelbraun glasiert. Die Farbpalette der prinzipiell opak weißen Glasuren der Fayencen bewegt sich von nahezu reinem Weiß über schwach rosa oder hellgrau getönt bis zu RAL 9002 Grauweiß, wobei RAL 9001 Cremeweiß dominiert. Hinsichtlich der Gla- surqualität lässt sich eine Gruppe beobachten, deren gut deckende Glasur kein Krakelee aufweist. Generell sind häufig feine schwarze Partikel in der Glasur festzustellen. Nur selten sind Nadelstiche14 zu beobachten. Bei den beiden Apothekenabgabegefäßen Kat.-Nr. 13 und 14 mit opak „hell- blaugrauer“ bzw. opak „hellgrünlichgrauer“ Außenglasur ist die Innenseite mit einer nur schwach getrübten Glasur versehen. Auch die beiden Teller Kat.- Nr. 40 und 42 tragen auf der Unterseite eine nur getrübte und nicht opak de- ckende Glasur. Diese Vorgehensweise ist als Sparmaßnahme zu betrachten, da die deckende Zinnglasur teuer ist und umso teurer wird, je mehr Zinn sie ent- hält. Bei der überwiegenden Mehrzahl der Fayencen ist die flache Bodenunterseite nicht glasiert, eine Ausnahme stellt lediglich das Apothekenstandgefäß Kat.-Nr. 25 dar. Hingegen ist die Bodenunterseite bei Gefäßen mit Standring glasiert, aus brenntechnischen Gründen wurde nur die Standring-Unterseite unglasiert belassen.15 Sämtliche Teller ohne Standring, Kat.-Nr. 41, 42, 44 und 45, sind auch auf der flachen Unterseite glasiert.

Dekore Malhorndekor findet sich nur bei den zwei kleinen Schalen Kat.-Nr. 10 und 11. 12 Kaltenberger 2008, 159 f. 13 Dazu Kaltenberger 2009, 197. Er beschränkt sich auf alternierend rotbraune und dunkelbraune senkrechte Li- 14 Kaltenberger 2009, 286. nien, die im inneren Bodenbereich im nassen Zustand durch Verziehen oder 15 Kleiner Krug Kat.-Nr. 32, Krug in Fass- Schütteln des Gefäßes die Marmorierung ergaben. form Kat.-Nr. 33, Henkelschüssel Kat.-Nr. 36, Tassen Kat.-Nr. 37 und 47, Teller Kat.-Nr. Die Dekore der Fayencen und Porzellane wurden mit dem Pinsel entweder nur 40 und Terrine Kat.-Nr. 43. kobaltblau oder bunt in den Scharffeuerfarben Kobaltblau, Manganbraun/-vio-

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lett, Kupfergrün und Antimongelb aufgetragen, die den hohen Brenntempera- turen im Glasurbrand standhalten. Andere Farben müssen auf die Glasur aufgetragen und in einem weiteren Brand mit niedrigerer Temperatur, dem sog. Muffelbrand, eingebrannt werden, wobei die Stücke zum Schutz vor Ascheanflug in sog. Muffeln/Kapseln ge- schützt werden. Ein Nachweis dafür liegt mit Kat.-Nr. 60 mit rosa Dekorteilen vor.

Gebrauchsspuren Wie bereits in Teil 1 festgestellt, sind auch hier wieder an den Henkeltöpfen (Kat.-Nr. 2–6) an der dem Henkel gegenüberliegenden Wandung mehr oder weniger starke Kohlenstoffablagerungen durch Stehen am offenen Feuer zu beobachten, weshalb diese in ihrer Funktion als Kochgefäße angesprochen werden dürfen. Der Henkeltopf Kat.-Nr. 12 besitzt auf der Innenseite und be- sonders auf dem Deckelfalz sowie auf der dem Henkel gegenüberliegenden Außenseite einen braunen Belag. In den weiten Bereich der Gebrauchsspuren fällt auch die durch Bodenlage- rung im sauren (Latrinen-)Milieu verursachte großflächige Korrosion der Glasur (Kat.-Nr. 6, 8, 9, 12). Sehr stark korrodierte Glasur weisen die drei Apotheken- abgabegefäße Kat.-Nr. 19, 20 und 21 auf, die ehemals opak weiße Glasur, die nur mehr an kleinen Stellen zu erkennen ist, erscheint nunmehr großflächig braun bis dunkelbraun. Sie könnte vor allem auf der Innenseite, wie bei dem Apothekenabgabegefäß Kat.-Nr. 22, bei dem nur die Innenseite dunkelbraun verfärbt ist, möglicherweise das Resultat einer korrodierenden Einwirkung von sauren Bestandteilen des Gefäßinhaltes sein, die die Glasur zerstörten. Sehr starke Korrosionsschäden weisen der Birnkrug Kat.-Nr. 28, die Kanne Kat.-Nr. 34 und der zugehörende Deckel Kat.-Nr. 35 auf, deren Oberfläche nunmehr homogen braun bis dunkelbraun erscheint. Der ursprünglich bunte Dekor der Fayencen ist nur mehr sehr schwach an gelben oder grünen Farb- flecken und an seiner geringfügig erhabenen Struktur im Streiflicht zu erken- nen.16 Die einzelnen Bruchstücke des Tellers Kat.-Nr. 41 sind unterschiedlich stark korrodiert, was auf die verschiedenen Lagerungsplätze zurückzuführen sein 16 Wenn der das Glas stabilisierende Zinn- dürfte. gehalt in der Alkalibleiglasur nicht hoch ist, ist Bei allen Fayencen mit kobaltblauem Dekor ist die blaue Farbe an den dick auf- sie durch Laugen und Säuren leichter angreif- bar und die Korrosion wird begünstigt (freundl. getragenen Stellen zu Braun korrodiert, wodurch sich nunmehr ein dominie- Mitt. DI Wolf Matthes, Leutesdorf). Liegen sol- rend braunes bzw. braun-blaues Erscheinungsbild des Dekors ergibt (Taf. che Fayencen über einen längeren Zeitraum in 7,36.38.40). Fäkalien, so erfährt die Fayenceglasur eine chemische Umwandlung (freundl. Mitt. Dr. Sil- Bei den beiden Porzellantassen Kat.-Nr. 59 und 60 ist die zu Braun korrodierte via Glaser, Germanisches Nationalmuseum Farbe nicht mehr zu eruieren. Nürnberg).

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Abb. 1: Töpfe und Deckel, glasierte Irdenware. (Foto: R. Kaltenberger-Löffler)

Formen Oxidierend gebrannte, innenseitig glasierte Irdenware (Abb. 1) Henkeltöpfe Das Spektrum der bereits in Teil 1 vorgelegten Töpfe wird nun um fünf Henkel- töpfe erweitert, die alle den bereits mehrfach nachgewiesenen,17 sehr stark ge- magerten, hellbeige bis hellrosa gebrannten Scherbentyp Michaelerplatz-Ox 2 besitzen. Sie sind innenseitig ockerfarbig glasiert, mit Betonung der Randin- nenseite durch nochmaligen Glasurauftrag. Die Randdurchmesser reichen von 7,7, über 9,5, 9,8, 10,0 bis 10,5 cm, ihre Höhe von 8,4 bis 11,7 cm. Die Kontur ist wiederum bauchig, wobei der Fuß mehr (Kat.-Nr. 1, 3, 4) oder weniger (Kat.-Nr. 2) stark eingezogen ist. Für sämt- liche Töpfe ist jeweils ein bandförmiger Henkel nachgewiesen, an den unteren Angarnierungsstellen befinden sich Fingerdruckmulden. Für Kat.-Nr. 4 und 5 ist ein dem Henkel gegenüberliegender gezogener Ausguss belegbar.

– Henkeltöpfe mit Kragenrand (Kat.-Nr. 1–2) Die Henkeltöpfe zeigen ein breites Spektrum an Randformen. So findet der Kragenrand des stark bauchigen Henkeltopfes Kat.-Nr. 1 keine weitere Ent- sprechung im Fundensemble selbst, während für Kat.-Nr. 2 bereits aus Teil 118 eine zwar ähnliche Gefäßkontur anzuführen ist, von der sich das vorliegende Exemplar jedoch durch den Kragenrand mit gerundetem oberem Abschluss und weniger starker Unterschneidung unterscheidet. Der markante Umbruch des Randes findet sich bei dem Fragment eines bauchigen, gleichfalls ockerfar- big glasierten Topfes19 wieder. Der stark bauchige Henkeltopf Kat.-Nr. 1 dürfte noch in älterer Formentradition stehen, während das Exemplar mit breiterem 17 Kaltenberger 2008, 145; 153 und 158. Boden und tiefer liegender schwacher Bauchung, Kat.-Nr. 2, eine jüngere Aus- 18 Kaltenberger 2008, Kat.-Nr. 44. 19 Kaltenberger 2008, Kat.-Nr. 49. formung repräsentiert, die vermutlich in die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts 20 20 Dazu bereits Kaltenberger 2008, 162 f. gestellt werden darf.

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– Henkeltopf mit profiliertem Kragenrand und Deckelfalz (Kat.-Nr. 3) Der Henkeltopf mit profiliertem Kragenrand Kat.-Nr. 3 setzt sich mit einer Höhe von 10,4 cm von den bereits vorgestellten größeren Exemplaren21 ab, die zu- dem mehrheitlich innenseitig grün glasiert sind.

– Henkeltopf mit aufgestelltem Rand (Kat.-Nr. 4) Neu im Formenspektrum ist der Henkeltopf mit aufgestelltem, geringfügig ver- dicktem Rand und Deckelfalz, der gegenüber dem Henkel einen kleinen, gezo- genen Ausguss besitzt. Der Rand steht in einer längeren Formentradition, die in Fundkomplexen ab der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts fassbar22 ist.

– Henkeltopf mit dreieckig verdicktem Rand (Kat.-Nr. 5) Gleichfalls als Einzelstück liegt der kleine Henkeltopf Kat.-Nr. 5 mit dreieckig verdicktem Rand mit Deckelfalz und gezogenem Ausguss vor. Als einziger be- sitzt er eine horizontal umlaufende Rille auf der Schulter.

–„Nachttöpfe“ (Kat.-Nr. 6–7) Die beiden „Nachttöpfe“ Kat.-Nr. 6 und 7 erweitern das Formenspektrum die- ser charakteristischen Gefäßgattung innerhalb dieses Ensembles. Das größere Exemplar mit Doppelhenkel Kat.-Nr. 7 findet in Landshut eine Parallele aus der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts23 und scheint – wie auch Kat.-Nr. 56 in Teil 1 – eine ältere Formentradition des 17. Jahrhunderts zu vermitteln, die über einen längeren Zeitraum, zumindest bis in die zweite Hälfte des 18. Jahrhun- derts, aktuell geblieben sein dürfte. Das kleinere, nahezu zylindrische Exemplar Kat.-Nr. 624 besitzt nur einen Henkel und einen etwas steileren „Sitzrand“. Gemeinsam mit den vier bereits publizierten „Nachttöpfen“ dieses Komplexes, 25 dem innenseitig ockerfarbig glasierten bauchigen Exemplar ,dembeidseitig 21 Kaltenberger 2008, Kat.-Nr. 50–53. glasierten stark bauchigen Doppelhenkeltopf mit weit ausladendem profiliertem 22 Dazu bereits Kaltenberger 2002, 211. 26 27 23 W. Endres, Fundort Landshut. Keramik Rand , dem gleichfalls beidseitig glasierten zylindrischen Stück sowie dem vom 13. bis zum frühen 19. Jahrhundert. In: schwach konischen Fayence-„Nachttopf“ mit charakteristischer geschlechts- F. Niehoff (Hrsg.), Stadtarchäologie in Lands- spezifischer Formgebung28, überliefern diese sechs Individuen ein synchron hut. Archäologische Zeugnisse aus sieben Jahrhunderten. Schr. Mus. Stadt Landshut 4 verwendetes Inventar. Die unterschiedlichen Formvarianten sowie die techno- (Landshut 1999) Abb. 43. logische Bandbreite deuten die verschiedenen Nutzungsmöglichkeiten im all- 24 Der Scherben (sehr stark fein gemagerte, täglichen Gebrauch an. Auch in hohen und höchsten Kreisen fand der „Pot oxidierend orangerosa gebrannte Irdenware) entspricht weitgehend Kaltenberger 2008, de chambre“ aus Irdenware in einem Nachtstuhl in der „Retirade“, dem privaten Kat.-Nr. 60. 29 Rückzugsraum, Verwendung. 25 Kaltenberger 2008, Kat.-Nr. 56. 26 Kaltenberger 2008, Kat.-Nr. 59. – 27 Kaltenberger 2008, Kat.-Nr. 61. Hohldeckel (Kat.-Nr. 8 9) 28 Kaltenberger 2008, Kat.-Nr. 66. Im Gegensatz zu den bereits vorgestellten Hohldeckeln aus reduzierend und 29 Lehner-Jobst 2009, 605 f. Anm. 50: Im oxidierend gebrannter, unglasierter Irdenware,30 für die eine Verwendung in Nachlassinventar von Fürst Joseph Wenzel von Liechtenstein vom 27. August 1772: der Küche angenommen werden darf, sind die beiden beidseitig transparent Nachtstühl mit erdenem Geschier. braun glasierten Hohldeckel dem „besseren“ Geschirr zuzuordnen. 30 Kaltenberger 2008, Kat.-Nr. 37–41.

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Malhorndekorierte Irdenware (Kat.-Nr. 10–11) Kleine Schalen Die beiden kleinen Schalen besitzen gleichen Scherben und gleichartigen De- kor. Vielleicht können sie als Salz- oder Gewürzgefäße bei Tisch angesprochen werden. Malhorndekor ist im gesamten Fundkomplex nur mit diesen Schalen nachge- wiesen. In Teil 1 der Fundbearbeitung wurden drei Teller mit Träufeldekor vor- gestellt.31 Damit dürfte sich abzeichnen, dass im 18. Jahrhundert Irdenware mit solch einfachen Dekoren dem Geschmack der gehobenen Kreise in der Stadt nicht entsprach.

Fayence (Abb. 2–6) Fayence ist eine „verfeinerte“ Irdenware mit farbigem Scherben. Der Ton wird meistens sorgfältiger aufbereitet und enthält häufig einen erhöhten Kalkanteil zur besseren Haftung der deckenden, oft weißen Zinndioxidglasur. Fayencen entstanden aus dem vergeblichen Versuch, aus untauglichen Rohstoffen Por- zellan herzustellen. Blieb das Porzellan anfänglich auf nur wenige Manufakturen, wie Meissen und Wien, beschränkt, so dienten im 18. Jahrhundert, neben Zinn und Silber, Fa- yencegefäße der Tafelkultur fast aller Gesellschaftsschichten. Damit erlebte die Fayence nach der Erfindung des Porzellans in Europa ihre höchste Blüte, da man sich bemühte, das Formenspektrum und die Dekore des technisch vollkommeneren, aber sehr teuren Porzellans nachzuahmen. Dieser Auf- schwung führte dazu, dass die hohe künstlerische Qualität der Fayencen im 18. Jahrhundert mitunter das technologisch noch am Beginn stehende Porzel- lan in den Schatten stellte. Andererseits deckte die massenhafte Verbreitung fabriksmäßig hergestellter Fayencen die Bedürfnisse des Großteils der damali- gen Gesellschaft. Die Fayencemanufakturen stellten für adelige und bürgerliche Haushalte eine reiche Palette an Speisegeschirren, Krügen, Kannen, Tellern, aber auch Toilettenartikel, Leuchter, Tintenzeuge sowie Tafelaufsätze her. Man übernahm dabei auch bereits bekannte Formen anderer Werkstoffe wie Kupfer, Silber, Zinn, Glas oder Bronze. Zum Untergang der Fayence im letzten Viertel des 18. Jahrhunderts führte zu- nächst das Steingut und verstärkt ab dem 19. Jahrhundert die wachsende Verbreitung des nunmehr auch für breitere Bevölkerungsschichten erschwing- lichen Porzellans.

Henkeltopf (Kat.-Nr. 12) Der Henkeltopf mit opak hell graublauer Innenglasur und manganbraun ge- spritzter Außenseite besitzt einen nur schwach bauchigen, formalen Vorläufer aus dem Fundensemble aus der Zeit „um 1700“ aus der Eslarngasse in Wien 32 31 Kaltenberger 2008, Kat.-Nr. 63–65. 3 , mit blau-weißem Spritzdekor. Seine Herkunft ist aus Niederösterreich an- 32 Kaltenberger 2002, Kat.-Nr. 30. zunehmen.

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Kleine bauchige Töpfe – Apothekenabgabegefäße (Kat.-Nr. 13–24 Abb. 2) In Teil 1 wurden drei weiße Fayencetiegel33 vorgelegt, von denen nur einer als Ganzform erhalten ist. Nunmehr werden 12 weitere zur Gänze überlieferte Ab- gabegefäße vorgestellt mit unterschiedlicher Formgebung und Größe. In Archivalien (Hafnerrechnungen, Nachlass- und Apothekeninventaren) des süddeutschen Raumes werden sowohl Abgabe- als auch Standgefäße meist als Tiegel (in allen Varianten der Umgangssprache des 18. und 19. Jahrhun- derts), seltener als Büchsen bezeichnet, was allerdings keine Rückschlüsse auf die jeweilige Form oder das Material zulässt.34 Bei den Standgefäßen über- wiegen die Begriffe Büchse und Topf.35 Keramische Gefäße dienten in der Apotheke schwerpunktmäßig zur Aufnahme und Abgabe von Zubereitungen mit salbenartig zäher und flüssiger Konsistenz (Lattwergen, Salben), während die Abgabe von Pulvern in Tiegeln nur selten er- wähnt wird. Da die älteren Medizinalordnungen vorwiegend nur eine Auswahl an Gefäßmaterialien vorgeben und dem Apotheker die Entscheidung entspre- chend seinen wirtschaftlichen Möglichkeiten überlassen wurde, kommen Über- schneidungen mit anderen geeigneten Werkstoffen wie Glas häufig vor.36 Die Arzneitaxen führen, hauptsächlich ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhun- derts, meist zweierlei preislich und qualitativ unterschiedliche Arten von Abga- begefäßen an, die durch Zusätze wie weisse Tiegel, Fayence Töpfe und Porcel- lain Häffelein von gemeinen, irdenen Töpfen oder ordinären irdenen Tiegeln zu unterscheiden sind, wobei letztere auch für den Verkauf von Arzneien an ärme- re Kunden dienten.37 In einem pharmazeutischen Lexikon aus dem Jahr 1770 wird angeführt, dass Gefäße von weißer Erde verfertiget sowie solche aus noch eine[r] andere[n] Sorte von weißer Erde, und ein wenig blau angemachet dafür dienen die Salben und Säfte für vornehme Leute hinein zu thun.38 Die „soziale“ Differenzierung bei vermeintlich unbedeutenden Abgabegefäßen wird in den historischen Quellen bis in das 19. Jahrhundert betont: Latwergen, Gallerte, Senf-Teig und Salben kommen in irdene Tiegel, oder für vornehme und reiche Personen in porzellanene oder Gläserne Gefäße und wird bis in das 20. Jahr- hundert fortgeführt.39 Der Zweck der Glasuren liegt hauptsächlich darin, das Gefäß weitgehend ab- zudichten, wobei dafür bei einfacher Irdenware auch die Innenglasur als ausrei- chend empfunden wurde. Der andere Aspekt besteht in der Verbesserung des Aussehens, weshalb die teureren Abgabegefäße entweder beidseitig transpa- rent oder als Fayence opak glasiert wurden.40 Bei der Verwendung glasierter Keramikgefäße (Irdenware, Fayence, Steingut) ist allerdings zu berücksichtigen, dass Inhaltsstoffe wie Säuren, saure Säfte 33 Kaltenberger 2008, Kat.-Nr. 67–69. 34 Kranzfelder 1982, 20 f. etc. mit der bleihaltigen Glasur41 in Wechselwirkung treten können, vor allem 35 Kranzfelder 1982, 25 f. dann, wenn die Substanzen und Zubereitungen über längere Zeit hinweg in 36 Kranzfelder 1982, 36 f. oft konzentrierter Form darin aufbewahrt werden. Ab dem letzten Drittel des 37 Kranzfelder 1982, 41 f. 38 Kranzfelder 1982, 43 und Anm. 5. 18. Jahrhunderts wurde auf die Zersetzung der Glasur, chemische Verände- 39 Kranzfelder 1982, 43 und Anm. 7. rungen der darin aufbewahrten Substanzen sowie auf gesundheitsschädliche 40 Kranzfelder 1982, 120. Wechselwirkungen hingewiesen,42 dass selbst die Thonwaare zu deren Glasur 41 Vgl. dazu zusammenfassend: „Blei als “ … Schadstoff in Glasuren in: Kaltenberger Bley kommt, und aus eben demselben Grunde die Fayence erfordert [ ] die 2009, 237–243. äußerste Vorsicht, weil das Bley […] fast von jeder, selbst von sehr schwachen 42 Kranzfelder 1982, 45 f.

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Abb. 2: Apothekenabgabegefäße, Fayence. (Foto: R. Kaltenberger-Löffler)

Säuren angegriffen wird43. Als Alternative zu Irdenware und Fayence mit blei- haltiger Glasur wird zur Verwendung von Steinzeug, Porzellan und Glas44 ge- raten. Für die unter der Bezeichnung „Apothekengefäße“ zusammengefassten Be- hältnisse ist keine ausschließliche Verwendung im direkten pharmazeutischen Umkreis in Anspruch zu nehmen. Sie können aus einer ärztlichen oder tierärzt- lichen Handapotheke oder einer Drogerie stammen. Auch Berufsgruppen wie Theriakkrämer45, Geheimmittelhersteller und -händler, Materialisten46 sowie Chirurgen und Bader bedienten sich dieser Gefäße.47 Die zeitliche Einordnung gestaltet sich bei Abgabegefäßen insoferne schwierig, als bei handwerklich gefertigten Stücken und insbesondere bei Kleinformen die Herstellung über einen längeren Zeitraum in ähnlicher Form und Technik erfolg- te. Bei den Konturen sind die herstellungsbedingten Schwankungen (u. a. „Drehen vom Stock“) zu berücksichtigen, die gerade bei kleinformatigen Aus- führungen zu relativ großen Abweichungen führen können. Diese Kleingefäße sind als billige Massenware zu betrachten, von deren nach- 43 Kranzfelder 1982, 48 und Anm. 1 und 2. lässiger Massenproduktion bei den vorliegenden Exemplaren Herstellungs- 44 Siehe dazu die verhältnismäßig große An- mängel (Kat.-Nr. 16: „Beule“ in der Wandung durch Verdickung innen und au- zahl an Apothekenabgabefäßen aus Glas in den Verfüllungen dieses Schachtes: Tarcsay ßen) und Glasurfehler (Kat.-Nr. 23: schlecht verronnene Glasur während des 2008, 257 f. Brandes) zeugen. Kat.-Nr. 22 zeigt, dass selbst ein Gefäß mit beschädigtem 45 Theriak: Seit dem Mittelalter beliebtes uni- Rand noch glasiert, gebrannt und verkauft wurde. verselles Arzneimittel, das aus zahlreichen Be- standteilen gemischt wurde, darunter bei- Abgabegefäße erfordern keine geeichten, sondern nur annähernd genaue Vo- spielsweise Baldrian, Vitriol, Schlangenfleisch lumensbezeichnungen. Diese Inhaltangaben erleichtern Bestell- und Liefervor- und Opium. 46 Lehner-Jobst 2009, Anm. 42: Materialis- gänge sowie den Gebrauch dieser Behältnisse in den Apotheken. Sie bieten ten waren Großhändler, die der Gesundheits- meist den einzigen Anhaltspunkt zum Vergleich mit anderen Gefäßen, da – und Schönheitspflege dienende Kräuter und vor allem in älteren Aufzeichnungen – genaue Beschreibungen von Form, Ma- andere Waren importierten und diese auch an Apotheken verkauften. terial, Glasur oder Ausführung häufig fehlen oder unterschiedliche Deutungen 47 Kranzfelder 1982, 59 f. zulassen. Dies trifft insbesondere für Apothekenabgabegefäße zu, die von Haf-

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nern und Manufakturen oft nur als Randsortiment „nebenbei“ gefertigt wur- Kat.-Nr. Liter den.48 17 3/20 15 1/10 Von den im vorliegenden Fundensemble zur Gänze erhaltenen Abgabegefäßen 16 1/10 wurden die Volumina mit Wasser gemessen, das bis zur inneren Randum- 20 etwas weniger als 1/20 23 etwas weniger als 1/20 bruchskante eingefüllt wurde. Dabei wurden die in Tabelle 1 angeführten Werte 22 1/20 ermittelt. Das Ergebnis zeigt, dass die überwiegende Mehrzahl ein Fassungs- 24 geringfügig mehr als 1/20 vermögen von rund 1/20 Liter besitzt. 19 rund 1/30 Die Abgabegefäße wurden nach Vorgaben des Apothekers von den Hafnern Tab. 1: Volumina der Apothekenabgabege- auf Bestellung gefertigt. Für feste Salben (weißes Wachs oder hydrophile Sal- fäße. ben, die schwerer als Lösungen von ätherischen Ölen sind) wurde das Volumen in Unzen (heute in Gramm)49 angegeben. Im Gegensatz zu Deutschland, wo sowohl bei den Standgefäßen als auch bei den Abgabegefäßen die zylindrischen Formen ohne ausgeprägte Fußzone do- minieren und für die bauchigen Tiegel eine Datierung in das erste und zweite Drittel des 19. Jahrhunderts vorgeschlagen wird,50 herrschen in diesem Fund- ensemble in Wien mehr oder weniger stark bauchige Formen mit abgesetztem Fuß vor. Die beiden kleinen stark bauchigen Abgabegefäße Kat.-Nr. 13 und 14 sind durch die deckende „hellgrünlichgraue“ und „hellblaugraue“ Außenglasur und die lediglich getrübte Innenglasur, die als Sparmaßnahme zu betrachten ist, verbunden. Ein der Kat.-Nr. 13 ähnliches Exemplar mit gerundet eingezogener Fußzone aus beidseitig grün glasierter Irdenware, das schwerpunktmäßig in das 18. Jahrhundert datiert, ist aus Schloss Hallwil in der Schweiz51 zu nennen. Als formaler Vergleich lässt sich zu Kat.-Nr. 14 eine Parallele aus Fayence aus Nürnberg heranziehen, die schwerpunktmäßig in das erste/zweite Drittel des 18. Jahrhunderts gestellt wird.52 Mit Kat.-Nr. 15–18 lassen sich vier Abgabegefäße formal und technologisch zu einer einheitlichen Gruppe zusammenfassen, die sich durch ihre Dünnwandig- keit, ihre nahezu weiße, nur etwas graustichige, gut deckende und glänzende Glasur ohne Krakelierung sowie den gleichen Scherbentyp manifestiert. Die kleinen bauchigen Töpfe haben eine abgesetzte Fußzone, eingezogenen Hals und einen als Kremprand zu bezeichnenden Binderand. Aufgrund der genann- ten Gemeinsamkeiten darf für diese Gruppe die Herkunft aus einer Werkstatt vermutet werden. Ihre verhältnismäßig dünne Wand lässt auf eine Herstellung auf der Scheibe schließen, während für die übrigen Gefäße durch ihre dicke Wandung eine rationelle Produktion „vom Stock“ nicht auszuschließen ist. Ein-

deutige Nachweise für die eine oder andere Ausformung lassen sich nicht er- 48 Kranzfelder 1982, 191. bringen, da die Bodenunterseiten aller Tiegel gut nachbearbeitet wurden und 49 Gewichtsmenge für feste Stoffe, 1 Unze entspricht 10 Gramm. Freundl. Mitt. Dr. Ursula somit keine Abschneide- bzw. Abhebespuren mehr zu erkennen sind. Kranzfelder, Apothekerin, Augsburg. Zu Kat.-Nr. 16 findet sich eine formale Übereinstimmung mit einem etwas klei- 50 Kranzfelder 1982, 94 f. neren Fayencetiegel in Wien, der ebenfalls in das 18. Jahrhundert datiert 51 Kranzfelder 1982, Nr. 467c. 53 52 Kranzfelder 1982, Nr. 655. wird. In Teil 1 der Publikation der Funde vom Michaelerplatz liegt zu Kat.- 53 G. Kohlprath, Neuzeitliche Keramikfunde Nr. 19 ein formal übereinstimmendes Exemplar mit gleicher Höhe von in Wien. In: Keramische Bodenfunde aus Wien. 5,2 cm vor, dessen weiße Farbe der Fayenceglasur noch intakt ist.54 Techno- Mittelalter – Neuzeit. Kat. Mus. Stadt Wien (Wien o. J. [1982]) Kat.-Nr. 403 (die Glasur logisch lässt sich dieses bereits vorgestellte Stück anhand des Scherbens und ist nach der Abbildung stark krakeliert). der nicht krakelierten, gut deckenden weißen Glasur mit vielen feinsten schwar- 54 Kaltenberger 2008, Kat.-Nr. 67.

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zen Punkten der Gruppe Kat.-Nr. 15–18 zuordnen. Eine im Vergleich zu Kat.- Nr. 19 formal ähnliche Kontur weist ein Exemplar aus Fayence aus Nürnberg aus der Zeit des ersten/zweiten Drittels des 18. Jahrhunderts auf.55 Mit Kat.-Nr. 23 und 24 liegen zwei Salbentöpfe mit etwas abweichender Form vor, Kat.-Nr. 23 mit weiter Öffnung und Kat.-Nr. 24 mit aufgestelltem Rand und hoch liegender, abgesetzter Schulter. Zu Kat.-Nr. 23 finden sich wieder Analo- gien in Schloss Hallwil in der Schweiz, mit beidseitig grün glasierter56 sowie nur innenseitig grün glasierter Irdenware57, die schwerpunktmäßig dem 18. Jahr- hundert zugewiesen werden. Wie Archivalien belegen, wurden Abgabegefäße von den Hafnern üblicherwei- se in Einheiten zu 100 Stück angeboten.58 Die Praxis, Apothekenabgabegefä- ße bei nicht zu entfernt gelegenen Hafnern anfertigen zu lassen, hält sich bis in das 20. Jahrhundert.59 Bei der Belieferung durch Fayencemanufakturen in Deutschland bestand die Tendenz, den nahe gelegenen Einzugsbereich vorzu- ziehen. Neben finanziellen Erwägungen darf der Grund auch darin gesehen werden, dass die Beförderung dieser bruchempfindlichen Ware über weite Strecken, oftmals mit häufigem Umladen, große Risiken in sich birgt.60 Das breite Spektrum an Formen und Technologien der Apothekenabgabege- fäße vom Michaelerplatz deutet eine Herstellung in verschiedenen Werkstätten an. Das Herkunftsgebiet ist derzeit nicht anzugeben, zu vermuten ist der Stadt- bereich bzw. das Umfeld von Wien oder Niederösterreich. Doch ist auch ein weiterer Transportweg, etwa aus der Westslowakei, nicht auszuschließen, der für diese „besseren“ Tiegel mit beidseitig opak weißer Glasur vielleicht nicht zu kostspielig war. Die Zusammensetzung des nunmehr vorhandenen Bestandes61 resultiert mög- licherweise aus der Belieferung der Apotheken durch verschiedene Hafnereien bzw. aus dem Kauf von Produkten, die über einen längeren Zeitraum hinweg und/oder von mehreren Apotheken erworben wurden. Im Gegensatz zu Tie- geln aus Deutschland, deren Innenseiten meist transparent (häufig farblos mit beiger Farbwirkung) glasiert sind,62 tragen die meisten vom Michaelerplatz auch auf der Innenseite die teure opak weiße Glasur. Diese hervorgehobene Qualität lässt darauf schließen, dass darin nicht nur Arzneien enthalten gewe- sen sein müssen, sie könnten als Behälter für teure Essenzen im Bereich der Kosmetik, wie Duftsalben, Schminkpasten oder Pomade, gedient haben, viel- leicht wurden sie auch als Bestandteil eines Toilettenservices gut sichtbar auf dem Toilettetisch aufgestellt. Gerade im 18. Jahrhundert war man einer übermäßigen Verwendung von Wasser nicht zugetan und Personen höheren und höchsten Standes wendeten 55 Kranzfelder 1982, Nr. 655. erhebliche Sorgfalt für das Kaschieren der Konsequenzen dieser Wasserscheu 56 Kranzfelder 1982, Nr. 467a. 57 Kranzfelder 1982, Nr. 468a. und für die eigene repräsentative Erscheinung auf. Wohlriechende Essenzen 58 Kranzfelder 1982, 194. und Pflegetinkturen waren sehr teure Produkte, unentbehrlich in einer Zeit, in 59 Kranzfelder 1982, 217. 60 Kranzfelder 1982, 231. der man der Trockenwäsche mit Puder, Balsam und Aromen mehr Wirkungs- 61 Etliche weitere stark fragmentierte Gefäße kraft zugestand als Wasser und Seife. Man glaubte durch den Kontakt mit sind im Fundbestand nachweisbar. Wasser könnten Krankheitserreger durch die Haut in den Körper gelangen, 62 Freundl. Mitt. Dr. Ursula Kranzfelder, Apothekerin, Augsburg. folglich wurde dieses in nur geringen Mengen verwendet und möglichst mit duf- 63 63 Lehner-Jobst 2009, 596. tenden Zusätzen versetzt, die Reinheit suggerierten.

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Habanische Fayence aus der Westslowakei Die Anwendung der Zinnglasur64 dürfte im böhmisch-slowakischen Raum ab dem Ende des 15. Jahrhunderts auf die Kachelproduktion beschränkt geblie- ben sein. Erst im Laufe des 16. Jahrhunderts kam es in Südostmähren zur Her- stellung von Fayencegeschirr in den Werkstätten der eingewanderten Wieder- täufer. Die Bezeichnung „Habaner“65 steht im Slowakischen für die Anabaptisten oder Wiedertäufer, einer abgespalteten Gruppierung des Protestantismus, die die Unentbehrlichkeit der christlichen Taufe im Erwachsenenalter und die Verdam- mung des Privateigentums verkündeten. Während der Zeit der Reformation entstand 1524 die Wiedertäufersekte in der Schweiz. Neben der eigenen Auf- fassung von der Taufe, erkannten sie weder eine weltliche noch eine geistliche Obrigkeit an und erklärten allen Besitz für Gemeingut. Vielfach verfolgt, siedelte sich eine größere Gruppe im zweiten Viertel des 16. Jahrhunderts in Mähren an. Dort lebten sie in gemeinsamen Höfen, die „Haushaben“ genannt wurden. Ihre Gemeinschaft wuchs beständig durch den Zustrom von Flüchtlingen aus Deutschland, Tirol, der Schweiz, Holland und Italien, so dass sie in Mähren, als sie 1622 das Land verlassen mussten, 50 große Höfe hinterließen. In der religiös toleranten Slowakei, die damals dem ungarischen Staatsgebiet ange- hörte, konnten sie ihren wirtschaftlichen Standard jedoch nicht mehr erreichen. In ihren „Haushaben“ lebten sie isoliert von der übrigen Bevölkerung. Sie arbei- teten gemeinsam und bekamen dafür alles zugeteilt, was sie benötigten. Geld kannten sie nicht. Sie übten über 20 verschiedene Handwerke aus, wie Mes- ser-, Klingen- und Scherenschmiede, Schlosser, Uhrmacher, aber auch Wag- ner und Brunnenbauer. Den größten Erfolg erzielten sie jedoch mit der Herstel- lung von Fayence. In der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts blieben sie den italienischen, insbesondere den Vorbildern aus Faenza, verpflichtet. Der nüch- terne Pflanzendekor in den Scharffeuerfarben wurde im Einklang mit der stren- gen Glaubenslehre in verschiedenen geringfügig voneinander abweichenden Varianten in den mährischen Werkstätten und nach 1622, als die Wiedertäufer des Landes verwiesen wurden, bis 1667 nur mehr in den slowakischen Werk- stätten hergestellt. Eine Auflockerung der Vorschriften aus dem Jahre 1612, die es verboten, die Keramik mit Darstellungen von Menschen und Tieren zu verzieren, wurde den mährischen Wiedertäufern um die Mitte des 17. Jahrhun- derts durch ihre Verbindung mit den holländischen Glaubensgenossen vermit- telt. Durch sie erhielten sie die Anregung zu den monochrom kobaltblauen Dekoren, in die gegen Ende des Jahrhunderts bereits einzelne kleine architek- tonische Elemente und Tiere eingefügt wurden. 64 Kybalová 1970, 9. 65 Dazu Kybalová 1970, 9 f.; Kalesný 1981, Der übernationale Charakter der Sekte und der ständige Zustrom neuer 369 f.; I. Bauer/Ch. Zimmermann (Red.), Die Einwanderer aus wirtschaftlich höher entwickelten Ländern vermittelten den Hutterischen Täufer. Geschichtlicher Hinter- wiedertäuferischen Fayenceerzeugern die Kenntnis immer fortgeschrittenerer grund und handwerkliche Leistung. Hrsg. vom Bayerischen Nationalmuseum München Herstellungstechniken, mit denen die bodenständige Produktion nicht Schritt (Bolanden, Mennonitische Forschungsstelle halten konnte. Dennoch blieb der Charakter der Fayencen noch rein hand- Weierhof 1985); F. Kalesný, Die Habaner in ˇ werksmäßig. der Tschecho-Slowakei (CSFR). Ostbair. Grenzmarken 32, 1990, 67–83; ders., Die Wie- Die Habaner glichen sich mit der Zeit in ihrer sozialen und ökonomischen Struk- dertäufer in Mähren. Ostbair. Grenzmarken tur den örtlichen Lebensbedingungen an. Nach 1667 begannen bereits katho- 34, 1992, 46–59; Pastieriková 2005.

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lisierte Habanermeister aus der Slowakei nach Böhmen und Mähren wegzuzie- hen, um dort mit der Gründung von Werkstätten die Fayenceerzeugung einzu- führen. Waren die Fayencen der Habaner in der Zeit von 1546 bis zum Ende des 17. Jahrhunderts hauptsächlich für den Adel und die Höfe bestimmt, so wandelte sich in der habanisch-slowakischen Phase im 18. Jahrhundert der Auftragge- berkreis zum wohlhabenden Bürgertum, dessen Geschmack entsprechend 66 Pišútová 1981, 46. 67 Pišútová 1981, 16. berücksichtigt wurde. Mit dem letzten Drittel des 18. Jahrhunderts begann 68 Kalesný 1981, Abb. 211 = Pišútová die slowakische (posthabanische) Phase der Fayence.66 1981, Abb. 2: Habanisches Apothekengefäß, Westslowakei, dat. 1672; J. Kybalová, Kera- mische Sammlung Hugo Vavrecˇ ka (Prag Bauchiger Topf – Apothekenstandgefäß, Albarello (Kat.-Nr. 25) 1995) Kat.-Nr. 41: sechsseitige Flasche, West- Zum Gebrauch in den Apotheken stellten die Habaner Gefäße her, und zwar slowakei, dat. 1674; A. Kalinová, Die hutteri- zunächst nach dem Vorbild der italienischen Albarelli, die sich das ganze 17. schen Täufer und ihre Fayenceproduktion auf 67 mährischem und slowakischem Gebiet. In: A. Jahrhundert hindurch in ihrem Herstellungsrepertoire hielten. Kalinová/B. Fassbinder-Brückler/Th. Brückler, Der Gefäßunterteil Kat.-Nr. 25 stammt vermutlich von einem Albarello. Der sehr Täufer – Hutterer – Habaner. Geschichte, Siedlungen, Keramik in Südmähren, Westslo- stark fein gemagerte, oxidierend hellbeige gebrannte Scherben überliefert mit wakei und Niederösterreich. Forsch. Stadt- noch sichtbaren Magerungsanteilen – im Gegensatz zu den übrigen Fayencen mus. „Alte Hofmühle“ Hollabrunn Sonderbd. – die Tradition der Irdenware. Der kobaltblaue Dekor zeigt eine Kartusche (für (Horn 2004) Abb. 10: Fass, Westslowakei, 2. H. 17. Jh.; Pastieriková 2005, 118 SNM E- die Beschriftung zur Angabe des Inhaltes), eingerahmt von floralem Ranken- 68 1102: Teller, Westslowakei, um 1680. werk. Anhand analoger Dekore ist für dieses Gefäß die Herstellung in einer 69 Aus dieser Verfüllschicht stammende Al- habanischen Werkstatt während des dritten Drittels des 17. Jahrhunderts ver- barelli aus Glas, die gleichfalls die Funktionen 69 des Apothekenstandgefäßes bzw. Abgabege- bürgt. fäßes erfüllten, werden Ende 17./18. Jh. bzw. 17./18. Jh. datiert: Tarcsay 2008, G31; G32. Mit Scharffeuerfarben dekorierte Fayencen aus Niederösterreich (Abb. 3–4) 70 In der älteren, vorwiegend volkskundli- chen Literatur auch „Weißhafner“ genannt, da Für nur sehr wenige Fayencen des vorliegenden Bestandes ist die Herkunft ge- sie weiß glasierte Fayence herstellten. In sichert, die überwiegende Mehrzahl wird aufgrund des noch schwachen For- „ “ Deutschland wird unter Weißhafnerware nur schungsstandes und der derzeit verfügbaren Literatur hauptsächlich dem süd- Fayence verstanden. Diese Bezeichnung kann zu Verwechslungen mit den in Oberösterreich lichen und östlichen Teil Niederösterreichs zugewiesen, wobei eine Produktion „Weißhafner“ genannten Töpfern, die Gefäße in der Westslowakei oder in Mähren gegenwärtig nicht auszuschließen ist. aus hellbeige gebrannter Irdenware herstellten, Obwohl in Niederösterreich rund 300 Namen von Hafnern70, Meistern und Ge- führen. Eine weitere Verunklärung ergibt sich durch die Verwendung des Begriffes „Weißhaf- sellen sowie deren Werkstätten bekannt sind, lassen sich ihnen keine realen nerware“ für weiß gebrannte Irdenware mit ho- Gefäße zuordnen.71 hem Kaolinanteil. Wegen der unklaren Defini- Fayence herstellende Hafnereien befanden sich in der Region Krems–St. Pöl- tion sollten die Bezeichnungen „Weißhafner“ und „Weißhafnerware“ künftig vermieden und ten, in Herzogenburg, Siegersdorf, St. Pölten, Pottenbrunn und Franzhausen, die korrekte technologische Ansprache als da dort in den Tonlagern von Oberfucha, wenige Kilometer südlich von Krems, Fayence oder hell gebrannte Irdenware ver- ausgezeichnete Rohstoffe zur Keramikherstellung anstehen. Aus archivali- wendet werden. – Dazu auch Kaltenberger 2009, 154 f. schen Quellen ist nachgewiesen, dass von hier Ton für die Brennkapseln nach 71 Langer 1988, 71. Holitsch in die kaiserliche Majolikafabrik auf der Donau kostengünstig transpor- 72 Langer 1988, 71. tiert wurde.72 Auch nördlich der Donau sind im Weinviertel, u. a. in Langenlois, 73 Langer 1988, 72. 73 74 Langer 1988, 75. Selbst bei den im We- Hollabrunn und Zellerndorf, Hafnereien bekannt. sentlichen auf das Steinfeld begrenzten Werk- Generell ist die Zuordnung der niederösterreichischen Fayencen zu bestimm- stätten (z. B. Leobersdorf), deren Dekore in den Scharffeuerfarben durch die rote Farbe ten Orten oder Werkstätten nur selten möglich, obwohl viele Krüge mit Boden- 74 (Purpurrot aus Dukatengold) ergänzt wurden, marken bezeichnet wurden (Birnkrug Kat.-Nr. 27 „S“ und fassförmiger Krug das in einem weiteren, niedrigeren Brand ein- Kat.-Nr. 33 „A“). Denkbar erscheint, dass die Initialen für die Namen der Maler gebrannt werden musste, sind lokale Zuschrei- bungen nur äußerst selten möglich. stehen, wobei ein einzelner Buchstabe den Anfangsbuchstaben des Familien- 75 75 Langer 1988, 80. namens bedeuten könnte und nicht den Anfangsbuchstaben des Hafneror-

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Abb. 3: Krüge und Teller, Fayence. (Foto: R. Kaltenberger-Löffler)

Abb. 4: Mit Scharffeuerfarben dekorierte Fayencen. (Foto: R. Kaltenberger-Löffler) tes. Als Ausnahme davon wird das „L“ (auch spiegelverkehrt), dünn mit Feder geschrieben, für Leobersdorf in Betracht gezogen.76 Bodensignierte Fayencen sind in Niederösterreich gegenüber unsignierten in der Überzahl.77 Werkstätten, die Fayencen herstellten, gab es auch in unmittelbarer Nähe von Wien, so in St. Ulrich (archivalisch belegt für das Jahr 1698), heute 7. Bezirk, in Erdberg (wahrscheinlich Anfang 18. Jh.), heute 11. Bezirk, und in Ober-St.-Veit 76 Langer 1988, 79. (1764 bis 1842), heute 13. Bezirk.78 Ob diese Werkstätten für die höheren An- 77 Langer 1988, 80. 78 Langer 1988, 79: Teils sind die Namen sprüche der Stadtbevölkerung oder im Stil der niederösterreichischen Werk- aus den Pfarrbüchern, teils durch Hafnerhäu- stätten arbeiteten, ist derzeit nicht bekannt. ser bekannt.

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Die habanisch-slowakische Fayence des 18. Jahrhunderts lässt in ihren For- men und auch im dominierenden Teil ihrer Dekore eine klare und direkte Ab- hängigkeit vom ursprünglichen Schaffen der Habaner erkennen. Es wurde die elegante Wirkung der weißen Glasur genutzt, die besonders dann hervor- tritt, wenn ein Motiv wie die Initialen des Eigentümers oder eine Jahreszahl kon- zentrisch auf die Mitte des Gefäßbauches beschränkt ist.79

Birnkrüge (Kat.-Nr. 26–29) Die Höhe der Krüge variiert von 17,8, über 18,1 und 18,2 bis zu 18,5 cm nur gering. Krüge mit mehr oder weniger trichterförmigem Hals und hochgezoge- nem Henkel, wie sie mit Kat.-Nr. 26–29 vorliegen, werden derzeit als typisch für den slowakisch-ungarischen Raum angesehen. Die beiden Krüge mit blauem (Kat.-Nr. 26) und mit grünem Kranz (Kat.-Nr. 27) stehen in der Habaner-Tradi- tion, insbesondere wird der grüne Kranz als typisch für Produkte aus der Slo- wakei aus der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts betrachtet,80 der sich von dem grünen Kranz der Habaner ableitet. Der Krug mit dem kobaltblauen Kranz aus einer Fiederblattleiste, die oben und unten mit einer manganbraun fein strukturierten Masche geschlossen ist, zeigt die Jahreszahl 1786. Diese wird oben und unten von einer zarten manganbrau- nen Zierleiste begleitet, die aus einem zentralen Stern und seitlich immer kleiner werdenden vertikalen Strichen besteht. Das gleiche Zierelement trägt ein weite- rer Birnkrug in diesem Ensemble, mit vertikal geripptem Unterteil und aufwändi- gerem Dekor auf Hals und Schulter, dessen Jahreszahl durch Beschädigung als 1764 oder 1784 gelesen werden kann.81 Der grüne, ebenfalls unten und oben mit Masche gebundene Kranz des Kruges Kat.-Nr. 27 umrahmt einen nach links gerichteten braunen Bären. Darüber ist der Rest einer manganbraunen Buchstabenkombination „A . O(Rest fehlt)“ zu erkennen, darunter die Jahreszahl 1784. Auf der Bodenunterseite ist eine man- ganbraune, 4,3 cm große Marke „S.“ angebracht. Für ein mit den beiden Krügen vergleichbares Exemplar, dessen grüner Kranz gleichfalls oben und unten mit einer Masche geschlossen ist, mit der mangan- braunen Jahreszahl 1780, wird als sog. Leutgebkrug eine Provenienz aus Nie- derösterreich angegeben.82 Somit ist für die beiden Krüge Kat.-Nr. 26 und 27 eine Herstellung in Niederösterreich in posthabanischer Tradition wahrschein- lich.

79 Pišútová 1981, 21. Der Dekor eines weiteren Birnkruges, Kat.-Nr. 28, mit analoger Formgebung, 80 Für vielfache Hinweise zu niederösterrei- ist durch die stark korrodierte Oberfläche nur mehr fragmentarisch überliefert. chischen und slowakischen Fayencen bin ich Ein manganbraun konturierter springender Hirsch nach rechts mit nach links Dr. Heide und Mag. Helmut Lehner, Linz, zu Dank verpflichtet. zurückgewendetem Haupt und Geweih ist in einer gleichfalls manganbraun 81 Kaltenberger 2008, Kat.-Nr. 79. konturierten Landschaft mit Vegetation zu erkennen. Von der bunten Staffie- 82 Langer 1988, Kat.-Nr. 198. 83 Langer 1988, Nr. 195 (3. D. 18. Jh.); Ös- rung sind nur mehr gelbe Felder erhalten. Das Motiv des springenden Hirsches terreichische Fayencen 1993, Nr. 246 (2. H. in Manganbraun ist mit mehreren Belegstücken dokumentiert, deren zeitlicher 18. Jh.); Nr. 247 (E. 18. Jh.); Nr. 248 (2. D. Schwerpunkt im zweiten Drittel bzw. der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts 18. Jh.); Nr. 249 (2. H. 18. Jh.); bes. Nr. 83 252 (2. H. 18. Jh.) mit gelbem Geweih nach liegt. Eine Herstellung in Niederösterreich während der zweiten Hälfte des 18. links zurückschauend. Jahrhunderts ist anzunehmen.

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Zu dem Krug mit manganviolettem Doppeladler Kat.-Nr. 29 lässt sich derzeit keine Parallele anführen. Als Provenienz darf Niederösterreich, eventuell auch die Westslowakei, vermutet werden, als chronologischer Rahmen dürfte eben- falls die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts vorzuschlagen sein.

Krug mit Doppelhenkel –„Maienvase“ (Kat.-Nr. 30) Die Form des Doppelhenkelkruges hat eine lange Tradition, für die auch die Be- zeichnung „Maienvase“ geläufig ist. Zwei außenseitig blau glasierte Exemplare mit spiralförmig eingerolltem Wulsthenkel liegen aus der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts aus einem frühneuzeitlichen Depotfund aus dem Kloster St. Ul- rich und Afra in Augsburg vor.84 Aus Wien stammt ein reliefverziertes Exemplar aus den Grabungen in der Alten Universität, das ebenfalls außen kobaltblau gla- siert ist und eingerollte Wulsthenkel besitzt. Seine Datierung wird im Zusam- menhang mit Baumaßnahmen zwischen 1623 bzw. 1654 gesehen.85 Doppel- henkelvasen aus Fayence mit kobaltblauem Dekor, wiederum mit eingerolltem, derbem Wulsthenkel, dessen volutenförmige Enden an den Gefäßkörper an- garniert sind, wurden in Salzburg in der Werkstatt Moser um 1750 herge- stellt.86 Der bauchige Krug Kat.-Nr. 30 mit einer Höhe von 15 cm, nahezu zylindri- schem Hals, abgesetztem Fuß und eingerollten, wulstförmigen Doppelhenkeln ist auf der Vorder- und der Rückseite jeweils in Kobaltblau mit einer dreilappi- gen Blüte mit Fiederblättern und darüber einem Granatapfelmotiv verziert. Eine sehr ähnliche Kombination aus dreilappiger Blüte mit Fiederblättern in Blau auf Weiß ist auf einem Birnkrug überliefert, dessen Herkunft aus Niederösterreich um 1770 angegeben wird.87 Stilistisch steht dieser Dekor in der Nachfolge von Krügen aus der Zeit um 1700 bis Anfang des 18. Jahrhunderts, wie ein Birnkrug aus dem Fundmaterial der Eslarngasse in Wien 388 und ein weiterer aus einem Fundkomplex aus Man- nersdorf mit analoger Dekorweise, der in den Zeitraum 1700 bis 1730/35 da- tiert wird,89 zeigen.

Zusammenfassend darf für Kat.-Nr. 30 eine Herstellung in Niederösterreich, 84 C. Ulbert, Ein frühneuzeitlicher Depotfund während des zweiten oder dritten Drittels des 18. Jahrhunderts, angenommen aus dem Kloster St. Ulrich und Afra, Augsburg. In: Forschungen zur Geschichte der Keramik in werden. Schwaben. Arbeitsh. Bayer. Landesamt Denkmalpflege 58 (München 1993) Abb. 4a; Walzenkrug (Kat.-Nr. 31) 4b. 85 Th. Kühtreiber, Die Ausgrabungen in der Der Walzenkrug mit ausgestelltem Fuß und wandständigem Wulsthenkel Kat.- Alten Universität in Wien (1997–2002) (Diss. Nr. 31 besitzt zwischen jeweils drei manganbraunen horizontal umlaufenden Li- Univ. Wien 2006) Kat.-Nr. A652. nien entlang des Randes und des Fußes dreimal das gleiche Motiv. An einer 86 Österreichische Fayencen 1993, Kat.-Nr. 182. vertikalen manganbraunen Linie stehen seitlich alternierend gelbe Blüten und 87 Österreichische Fayencen 1993, Kat.-Nr. jeweils zwei grüne Blätter ab, die nach oben hin kleiner werden. Dieser einfa- 263. che, stilisierte florale Dekor ist bereits dem späten 18. Jahrhundert zuzuweisen. 88 Kaltenberger 2002, Kat.-Nr. 33. 89 F. Grieshofer, Chinoiserien in Blau. Ein Die Herkunft des Kruges aus Niederösterreich ist zu vermuten. Fayencefund aus Mannersdorf in Niederöster- reich. In: C. I. Bucur (Hrsg.), Keramische Ober- Krüge in Fassform (Kat.-Nr. 32–33) flächen und ihre Gestaltung. Beitr. 39. Internat. Hafnereisymposium Arbeitskr. Keramikforsch., Hinsichtlich seiner Form nimmt der kleine Krug Kat.-Nr. 32 mit einer Höhe von Hermannstadt (RO), 2006 (Sibiu 2007) 41–45 6,7 cm eine Zwischenstellung ein. Für eine Zuordnung zu den Walzenkrügen Abb. 7.

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spricht die nur sehr schwach bauchige Ausformung, für die Zugehörigkeit zur Gruppe der fassförmigen Krüge die Kombination mit dem naturalistisch ein Fass imitierenden Dekor in Manganbraun. Die Dauben werden als vertikale Streifen wiedergegeben, horizontale Linien stellen die Weidenruten dar. Der un- terrandständig angarnierte, geschwungene Wulsthenkel erinnert an die we- sentlich aufwändiger gestalteten Henkelformen aus modellierten Voluten von zwei kleinen Porzellankrügen90 der Manufaktur Du Paquier in Wien, die aber in der Grundform gut vergleichbar sind. In der Henkeloberseite befindet sich ein eingestochenes Loch für die Montage eines Deckels. Der Deckel sollte ver- hindern, dass der Schaum auf dem Bier an der Luft zu schnell zusammenfällt und das Getränk im Krug frisch halten. Deckel waren auch nützlich, um heißes Würzbier warm zu halten.91 Mit Kat.-Nr. 33 liegt ein etwas größerer, fragmentierter, fassförmiger Krug vor, dessen Dekor mit braunen vertikalen Linien für die einzelnen Fassdauben und horizontalen, braun und ockerfarbig strukturierten Rillenbündeln für die Wei- denruten zum Zusammenhalten der Dauben das realistische Erscheinungsbild eines Fasses bietet. Auf der Bodenunterseite befindet sich eine manganbraune Marke in Form eines „A“ mit einer Höhe von 1,5 cm. Die gleiche Marke zeigt ein Birnkrug mit kobaltblauer Bemalung aus Niederösterreich aus der zweiten Hälf- te des 18. Jahrhunderts.92 Krüge in Fassform finden sich vielfach unter den Produkten der Wiener Porzel- lanmanufaktur des Claudius Innocentius Du Paquier, sie zählen zu den am schönsten bemalten Porzellanen. Für einen 19 cm hohen Krug mit einem als Henkel fungierenden Fassbinder93 wird der Konsum von Bier angenommen.94 Die Bürger Wiens hatten keine große Auswahl an vor Ort gebrauten Bieren, da die Winzer Verkaufsbeschränkungen dafür durchgesetzt hatten und das Bür- gerspital bis 1727 das Braumonopol besaß. Man konnte aber Bier aus Ober- österreich, Böhmen und Mähren beziehen. Das Braumonopol dürfte aber nicht für Bürger gegolten haben, die außerhalb der Stadtmauern ansässig waren. Zu festlichen Gelegenheiten wurde bei Festbanketten in Fürstenhäusern und auch bei Hof Bier ausgeschenkt.95 90 Chilton 2009, Abb. 8.52a und b: fassför- In den Lotterielisten der Wiener Porzellanmanufaktur Du Paquiers werden auch mige Krüge, Wien, Manufaktur Du Paquier, um 1725; Abb. 8.52b = Neuwirth 1990, Abb. 5: Wermut-Fässer (Wermuth-Vässl) genannt, die als Krüge, die wie Fässer ge- H: 10,5 cm. formt sind, gedeutet werden. Wermutwein und Wermutbier waren populäre 91 Chilton 2009, 737. Getränke, die ihr Aroma von Bitterem Beifuß erhielten und denen gelegentlich 92 Wiener Kunstauktionen im Palais Kinsky, 96 Katalog zur 24. Kunstauktion 15. Oktober auch andere Kräuter zugesetzt wurden. Die Bemalung dieser fassförmigen 1999, Kat.-Nr. 591. Porzellankrüge mit Landschaften oder Blumen ist nicht naturalistisch wie jene 93 Chilton 2009, Abb. 8.51: Wien, Manufak- der vom Michaelerplatz vorliegenden Fayencen. tur Du Paquier, 1730–1735. 94 Chilton 2009, 733. Fassförmige Fayencekrüge, meist floral dekoriert, waren in Mähren bis um 95 Chilton 2009, 730. 1800 aktuell.97 Gleiche Zeitstellung wird für solche Krugformen auch aus 96 Chilton 2009, 733. 98 97 K. Cˇ ernohorský, Moravská lidová kerami- Stampfen (Stupava) angegeben. ka (Praha 1941) Abb. 122; 123: E. 18. Jh.; Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass fassförmige Krüge in der Manu- Abb. 128; 146: um 1800. faktur Du Paquiers seit den 20er Jahren des 18. Jahrhunderts in Porzellan her- 98 Österreichische Fayencen 1993, Nr. 268: Stampfen, E. 18. Jh.; Nr. 270: Stampfen, um gestellt wurden und diese Form in Fayence im mährisch-slowakischen Raum 1800. zumindest bis um 1800 aktuell blieb. Analog zu den übrigen Krügen ist eine

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Provenienz der beiden Exemplare Kat.-Nr. 32 und 33 aus Niederösterreich wahrscheinlich.

Kanne mit Deckel (Kat.-Nr. 34–35) Mit Kat.-Nr. 34 und 35 ist eine Kombination aus Kanne und passendem Deckel überliefert. Der kantig gedrückten und ausgezogenen Schnauze der Kanne passt sich der einfallende Zargendeckel mit gleichfalls spitz zu einer Schnauze gezogener Zarge exakt an. Die bauchige Kanne hat einen knapp unterrand- ständigen Henkel, dessen untere Angarnierung in einem „Schwänzchen“ en- det. Der Dekor beider Stücke ist durch die sehr stark braun korrodierte Glasur kaum mehr erkennbar, auf der Kanne zum Teil nur mehr im Streiflicht anhand des Re- liefs des Farbauftrages sowie geringer gelber, grüner und blauer Farbreste. Die Bemalung ist sehr fein und zart, die Konturierung ursprünglich kobaltblau oder manganbraun. In der Begrenzungsleiste entlang des Randes ist eine feine sternförmige Blüte mit gelbem Mittelpunkt und daneben eine zarte tulpenförmi- ge Blüte zu erkennen. In der Mitte seitlich unter der Schnauze befindet sich flo- raler Dekor, der gelb und grün gehöht ist. An den Seiten ist jeweils in gezackten bzw. sternförmigen Kartuschen Architektur auszumachen, darin sind Reste von gelber Höhung erhalten. Als Verbindungselement sitzt vorne eine breite Leiste, gefüllt mit feinen Zacken. Als untere Begrenzung ist eine horizontal um- laufende blaue Linie noch partiell sichtbar. Der Dekor des Deckels ist wesentlich einfacher. Um den Knauf verläuft ein kon- zentrischer Ring, beidseitig begleitet jeweils durch eine Reihe aus alternierend angeordneten kleinen Sternen und Dreipunkt-Motiven. Entlang des Randes ist eine Bogenreihe, gefüllt mit vertikalen Strichen, bekrönt von einem Punkt, zu erkennen. Mangels Parallelen wird eine Herkunft aus Niederösterreich vorgeschlagen, doch lässt die feine Malerei der Kanne auch an eine westliche Provenienz den- ken.

Henkelschüssel (Kat.-Nr. 36) Die kalottenförmige Henkelschüssel mit Kremprand, randständig angarniertem Bandhenkel und ausgedrehtem Standring wurde kobaltblau dekoriert. Auf dem Rand verlaufen gezackte Büschel, auf der Wandung befinden sich Be- hangornamente. Die kobaltblaue Farbe ist an den dicker aufgetragenen Stellen zu Braun korrodiert. Die Henkelschüssel könnte ebenfalls in Niederösterreich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts hergestellt worden sein, wobei der Dekor mährischen Einfluss aufweist.

Henkeltassen (Kat.-Nr. 37–38) Die kleine Henkeltasse Kat.-Nr. 37 hat einen knapp unterrandständigen Hen- kel, der unten mit einer kleinen Volute angarniert wurde. Eine monochrom man- ganbraune/-violette Bordüre mit gefüllten Bögen und hängenden Spitzblättern verziert die Außenseite.

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Die zweite, etwas größere Henkeltasse Kat.-Nr. 38, gleichfalls mit unterrand- ständigem Henkel, unten mit einer kleinen Volute, trägt auf der Außenseite ei- nen Fries aus kobaltblauen „Pfeifen-“ oder Zungenmotiven zwischen horizontal umlaufenden Linien. Sog. Pfeifendekor ist sehr häufig als untere Dekorzone auf Birnkrügen der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts aus Niederösterreich an- zutreffen, seltener in Kobaltblau99, häufiger in verschiedenen Scharffeuerfar- ben, in unterschiedlichen Varianten100. Anhand dieser Hinweise darf eine Her- kunft aus Niederösterreich angenommen und die Datierung in die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts gesetzt werden.

Unterteller (Kat.-Nr. 39) Der Teller mit geringfügig ausgebogenem Rand und ausgedrehtem Standring Kat.-Nr. 39 dient als Unterteller zu einer Tasse oder einem Koppchen. Die ko- baltblaue und manganviolette Bordüre findet eine Entsprechung auf dem Rand eines Birnkruges aus Niederösterreich, der um 1770 datiert wird.101

Teller (Kat.-Nr. 40–42) Die Randdurchmesser der Teller reichen von 19,8, über 21,8 bis zu 22 cm, ihre Höhen von 2,4 bis 2,8 cm. Der Teller mit abgesetzter Fahne und ausgedrehtem Standring Kat.-Nr. 40 wurde auf der Fahne kobaltblau mit abstrahiertem Granatapfelmotiv und Fie- derblätterranken verziert. Die Glasur ist auf der Oberseite opak weiß, auf der Unterseite ist sie – vermutlich aus Sparsamkeitsgründen – nur weiß getrübt und nicht opak, sodass die Farbe des darunterliegenden Scherbens durch- scheint. Die Stoßstelle der unterschiedlichen Glasuren ist auf der Unterseite der Fahne sichtbar. Als Herkunft ist wieder Niederösterreich anzunehmen, die Datierung dürfte in das zweite Drittel des 18. Jahrhunderts führen. Mit Kat.-Nr. 41 liegt ein zur Gänze zusammengesetzter einfacher Teller mit glat- tem Rand und opak weißer Glasur vor. Der Teller Kat.-Nr. 42 mit abgesetzter Fahne mit fünf vertikalen, erhabenen Rippen und leicht geschwungenem Rand trägt auf der Bodeninnenseite vielfache Kratz- und Schneidespuren, die von der intensiven Nutzung als Speiseteller zeugen. Beide Teller könnten aus Niederös- terreich stammen.

Die k. k. Majolika-Geschirrfabrik in Holitsch, Westslowakei (1743–1827; Kat.- Nr. 43–45 Abb. 5) Gesichert ist die Provenienz aus der Fayencemanufaktur Holitsch in der West- 99 Österreichische Fayencen 1993, Kat.-Nr. slowakei für die Terrine Kat.-Nr. 43 und die beiden Teller Kat.-Nr. 44 und 45. 210: Birnkrug, Niederösterreich, 2. H. 18. Jh. 100 Österreichische Fayencen 1993, Kat.-Nr. Die höfischen Kreise, der Adel und die Kirche waren in der ersten Hälfte des 18. 211–214; 216; 220–225; 227–229; 232–237. Jahrhunderts auf die Einfuhr holländischer, französischer und deutscher Fayen- 101 Österreichische Fayencen 1993, Kat.-Nr. 102 207. cen angewiesen. Im Zuge merkantilistischer Bestrebungen gründete Franz 102 Nach Kybalová 1970, 13 f.; Pichelkast- Stephan von Lothringen, Gemahl Maria Theresias, im Zusammenhang mit ner/Hölzl 1981, 150 f.; F. Kalesný, Die kaiser- der von ihm betriebenen Industrialisierung im Jahr 1743 oder etwas früher in lich-königliche Majolika-Geschirrfabrik in Ho- ˇ litsch (Holicˇ ) in der Slowakei. Ostbair. Grenz- der kleinen Stadt Holitsch (heute Holíc, Slowakei) an der mährisch-slowaki- marken 35, 1993, 181 f. schen Grenze eine Fayencemanufaktur, die das gesamte Gebiet der Monarchie

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Abb. 5: Teller und Terrine, k. k. Majolika-Geschirrfabrik in Holitsch, Westslowakei. (Foto: R. Kalten- berger-Löffler)

mit Tafelgeschirr versorgen sollte. In der Westslowakei existierte bereits eine Reihe von Habanerhöfen, die sich auf handwerklicher Basis mit der Herstellung von Fayence beschäftigten, deren Produkte zu dieser Zeit jedoch nicht mehr dem Geschmack des gehobenen Bürgertums und des Adels entsprachen. Die Manufaktur wurde von Wien aus geleitet, als Direktor wurde von 1743 bis 1751 Johann Karl Thöller eingesetzt. Die hervorragenden Mitglieder der ersten Belegschaft waren der Modelleur Claude Lorent, ein Franzose, und zwei ehe- malige habanische Töpfermeister aus Velké Leváry. Die engen Verbindungen Franz Stephans zu Lothringen ermöglichten von dort die Heranziehung von Facharbeitern und die Errichtung der neuartigen „lothringischen“ Muffelöfen ne- ben den konservativeren „deutschen“ Brennöfen. Der Lothringer Nicolas Germain führte die Technik der Muffelmalerei nur wenig später als in Straßburg ein. In personeller Hinsicht war die Manufaktur um 1750 mit Drehern, Malern, Modelleuren, Retuscheuren sowie Haupt- und Hilfsheizern sehr gut ausgestattet und in den 50er Jahren ist die Wirtschaftslage der Manu- faktur als hervorragend zu bezeichnen, in den folgenden Jahren stieg der Um- satz noch stetig an. Die Manufaktur produzierte jährlich eine riesige Menge an Waren, die in Preis und Qualität stark differierten. Aus einer Rechnung aus dem Jahr 1765 ist ersichtlich, dass neben feinem Geschirr auch weiße Gefäße, da- runter ordinäre Teller, verkauft wurden.103 Die bedeutendsten Aufträge kamen vom Kaiserhof und vom Hochadel, aber auch vom Bürgertum. Der Geschirr- verkauf erfolgte nicht mehr nur im Fabrikslager und der Wiener Zweigstelle, nach und nach wurden auch in Prag, Brünn, Preßburg, Troppau, Budapest und vielen kleineren Städten Filialen errichtet. Der bescheidenere Zweig der Produktion war für die städtischen Handelslager und für die Jahrmärkte be- stimmt. 103 Kalesný (Anm. 102) 183.

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Einflüsse aus anderen Fayencemanufakturen, u. a. Straßburg, Durlach, Crails- heim und Nürnberg, sind in den Formen und Dekoren zu erkennen. So wurden in den ersten Jahren neben den sog. Straßburger Servicen mit Blumenmalerei in bunten Muffelfarben seit 1744 auch naturalistische Gefäße in Tier-, Blumen- und Früchteform hergestellt, wofür gleichermaßen die Einflüsse aus Straßburg kamen. Figuren wurden im Stil der Wiener Porzellanmanufaktur ausgeführt, Krüge nach Vorbildern der Habaner Fayencen. Obwohl die Stücke Marken auf- weisen, können diese (derzeit noch) nicht mit bestimmten Malern in Verbindung gebracht werden. Bis in die 80er Jahre des 18. Jahrhunderts brauchte man kaum Konkurrenz zu fürchten. Doch diese erwuchs neben anderen Fayencemanufakturen wie Pros- kau (Schlesien) und Tata (Ungarn) vor allem aus dem Aufkommen des engli- schen Steingutes. Auf Befehl Kaiser Joseph II. wurden seit Ende der 70er Jahre Experimente mit Steingutmasse angestellt, um 1786 mit der regelmäßigen Er- zeugung von Steingut zu beginnen, zugleich trat die Fayenceproduktion in den Hintergrund, die Manufaktur nannte sich nunmehr „Majolika und Englische Ge- schirrfabrik“. Die Herstellung von Steingut erlebte zwischen 1790 und 1802 ihre Blütezeit, Maler und technisches Personal dafür kamen von der Wiener Porzel- lanmanufaktur. Ende der 80er Jahre kam es zu ersten Versuchen einer Porzel- lanerzeugung, deren Resultate jedoch zum Großteil negativ bewertet wur- den.104 Zunehmende wirtschaftliche Probleme seit Beginn des 19. Jahrhunderts, ver- ursacht durch die rasant wachsende böhmische Porzellanindustrie in den ers- ten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts, führten zum Niedergang und 1827 zur Stilllegung des Betriebes in Holitsch.

Produkte Das Charakteristikum der Holitscher Fayencen ist ihre sorgfältige handwerkli- che Herstellung, die eine Produktion von hochwertigen Geschirren in Serie er- möglichte. Die Stärke der Holitscher Manufaktur bestand darin, dass jedes Jahr eine Menge gefragter Waren auf den Markt gebracht wurden, die bis dahin aus dem Ausland eingeführt worden waren. In der Mannigfaltigkeit ihrer Waren kam ihr keine zeitgenössische Manufaktur gleich. Holitsch kennzeichnet das von kommerziellem Interesse bestimmte Streben, der Nachfrage auf breitester Basis zu entsprechen, von den repräsentativen Bedürfnissen des Hofes und des Hochadels bis zu den Wünschen der kleinstädtischen und dörflichen Abnehmer. Einer Manufaktur mit solch anspruchsvollen Zielen durfte keine mo- dische Strömung entgehen, man ging mit der Mode, der damals auch die Ke- ramik unterworfen war. Dabei spielte auch der Konkurrenzkampf mit anderen Fayencemanufakturen eine Rolle, deren Absatzmärkte die neu gegründete Ma- nufaktur zu erobern trachtete. Ihr Einfluss ging in Richtung Schlesien, insbeson- dere nach Proskau, sowie nach Tata in Ungarn, erreichte aber auch in den 70er und 80er Jahren des 18. Jahrhunderts die norddeutschen Betriebe in Kiel, Eckernförde und Stockelsdorf, was vordringlich durch Personalaustausch be- 104 Kybalová 1970, 15. dingt war.

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Die Manufaktur produzierte eine große Menge verschiedener Tafelservice pa- rallel nebeneinander. Davon verschwanden einzelne früher aus der Herstellung, weil die Nachfrage nachließ und sie darüber hinaus unverhältnismäßig hohen Arbeitsaufwand erforderten, andere wurden bis zu einem Vierteljahrhundert lang erzeugt.105 Aus der Tatsache, dass die Holitscher Manufaktur ihren Ruhm auf die Serien- erzeugung von Tafelservicen gründete, resultiert, dass diese Fayencen und das Steingut wirklich im täglichen Gebrauch standen und diesem zum Opfer fielen. So sind beispielsweise Tassen in musealem Zusammenhang und in Samm- lungsbeständen nur in sehr geringer Zahl erhalten, da sie tatsächlich verwendet wurden. Dies gilt auch für Suppenteller, die sich im Vergleich zu den flachen Tellern, von denen die drei- bis vierfache Anzahl zu den Servicen hergestellt wurde, wie aus den Preislisten hervorgeht, wesentlich seltener erhalten ha- ben.106

Formen Die Geschirre bis zum Beginn der 60er Jahre des 18. Jahrhunderts erinnern noch an die schweren barocken Formen der Silber- und Zinngefäße. Dies ver- mitteln vor allem die Terrinen, die durch senkrechte Rippen gegliedert sind, wie sie Kat.-Nr. 43 überliefert. Ihren Deckel schmückte als Griff eine sich stereotyp wiederholende Artischocke mit vier geschweiften Blättern. Dieses plastische Detail wurde um 1750 von mehreren deutschen Manufakturen verwendet und taucht zwei Jahrzehnte später noch in Kiel auf. Bei den Tellerformen wurden anfänglich zwei Typen hergestellt: ein nicht so häufiger glatter und ein zweiter mit gewelltem Rand.107 Von letzterem liegen im Fundmaterial ein mit Scharffeuerfarben dekoriertes, Kat.-Nr. 44, und ein weißes Exemplar, Kat.-Nr. 45, vor. Die Maße differieren gering, so hat Kat.- Nr. 44 einen Randdurchmesser von 24 cm und eine Höhe von 2,8 cm, Kat.- Nr. 45 hat einen Randdurchmesser von 23,8 cm und ist 3,4 cm hoch. Unter dem Druck des immer unaufhaltsameren Vordringens der französischen Kultur nach Mitteleuropa gab auch die Holitscher Manufaktur in den 60er und 70er Jahren des 18. Jahrhunderts ihre schweren barocken Formen auf.108

Dekore Eine Gruppe von Fayencen ist mit einem Dekor verziert, das zur Zeit seiner Her- stellung unter der Bezeichnung „Früchteservice“ lief. In den Scharffeuerfarben zieren Kompositionen von Blumensträußen, Früchten und Insekten die Ge- schirre. Die Motive der verstreuten Schmetterlinge, Libellen, Fliegen und Maikä- fer sowie die verschiedenen Früchte wurden von dem zeitgenössischen Porzel- lan übernommen. Aufgrund der durch das technisch noch unvollkommene Brennen unschönen und fleckigen Farben und den Blumen-, Früchte- und In- sektenmotiven nach zu schließen, muss das „Früchteservice“ bald nach der Gründung der Manufaktur hergestellt worden sein. Da es offenbar dem Ge- 105 Kybalová 1970, 16 f. 106 Kybalová 1970, 18. schmack der Abnehmer entsprach, wurde es über einen längeren Zeitraum 107 Kybalová 1970, 19 und Formentaf. Nr. 2. hinweg, von 1750–1765, ausgeformt. Davon zeugt außer den häufigen Erwäh- 108 Kybalová 1970, 20.

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nungen in den Archivalien auch die Menge der obertägig in Museen und Samm- lungen erhaltenen Stücke.109 Im vorliegenden Fundensemble befinden sich mit dem Teller mit Wellenrand Kat.-Nr. 44 und der Terrine Kat.-Nr. 43 Teile aus diesem Service mit dem Dekor aus Früchten und Insekten in den Scharffeuerfarben Gelb (Antimon), Kobalt- blau, Manganbraun/-violett,Grün (Kupfer) und Rostrot (Eisenrot), das in der Zeit von 1750–1765 hergestellt wurde110

Marken Nur ein unbedeutender Prozentsatz der Fayencen verließ die Holitscher Manu- faktur ohne Bezeichnung; größtenteils ist die Ware gemarkt, in der ersten Pe- riode bis zum Jahr 1786 durch eine handgeschriebene, farbige Marke. Der Buchstabe „H“ bedeutet zweifellos „Holitsch“, kommt häufig allein in Schwarz oder Mangan vor, seltener in Grün oder Braun. Zusätzlich finden sich noch na- hezu alle Buchstaben des Alphabets, die dem bestimmenden „H“ entweder in Ligatur oder – seltener – getrennt stehend beigefügt sind. Eine befriedigende Interpretation dieser zweiten Buchstaben gelang bis heute nicht.111 Durch die Menge der verwendeten Marken unterscheidet sich Holitsch von allen anderen Manufakturen, deren wesentlich einfachere Bezeichnungsme- thode – die heute größtenteils geklärt ist und mit den Namen der Begründer, Direktoren oder Künstler in Verbindung gebracht wird – auf die Holitscher nicht übertragen werden kann. Die Fayence wurde gekennzeichnet, um im Herstellungsland frei verkauft wer- den zu können, während ausländische Erzeugnisse – soweit sie überhaupt verkauft werden durften – hoch besteuert wurden. Umgekehrt wurden jene Fayencen nicht gekennzeichnet, die einer anderen Fabrikation auffallend ähnel- ten, um Schwierigkeiten bei der Ausfuhr zu vermeiden. Dies trifft auf die natura- listischen Gefäße der Holitscher Produktion zu, die Straßburger Fayencen täuschend ähnlich sehen.112 Die Marken zeigen deutlich die individuelle Handschrift einzelner Maler. Der größte Teil des heute vorhandenen Bestandes aus Holitsch trägt die einfache Bezeichnung „H“ in Schwarz oder Mangan, seltener auch in der im Dekor über- wiegenden Farbe, schwach und stark und in verschiedenen Größen gemalt.113 Mit „H“ in Blau114 wurde die Unterseite des weißen Tellers Kat.-Nr. 45 gemarkt. Die häufig anzutreffende Marke „HP“ in Ligatur115 in Blau, das zu Braun korro- diert ist, befindet sich auf der Unterseite des Tellers mit dem „Früchtedekor“ 109 Kybalová 1970, 26. 116 110 Kybalová 1970, 72 und Abb. 9. Kat.-Nr. 44. Die Bodenunterseite der Terrine Kat.-Nr. 43 ist mit einem klei- 111 Kybalová 1970, 57. nen manganbraunen „H“117 gemarkt. In der letzten Phase der Fayenceerzeu- 112 Kybalová 1970, 58. gung bis zum Ende des 18. Jahrhunderts war die einheitliche blaue Marke 113 Kybalová 1970, 58. 118 114 Kybalová 1970, 157 ähnlich Nr. 5–7; Pi- „HF“ üblich. chelkastner/Hölzl 1981, 151, sehr ähnlich Mar- ke 8. – 115 Kybalová 1970, 59 und Markentaf. Nr. Fayencen aus Savona (Ligurien), Italien (Kat.-Nr. 46 48 Abb. 6) 66–74. Im vorliegenden Fundensemble bilden drei Gefäßbruchstücke eine kleine tech- 116 Kybalová 1970, 159 Nr. 67; Pichelkast- nologisch einheitliche Gruppe. Auf opak „türkiser“ Glasur ist kobaltblaue (Kat.- ner/Hölzl 1981, 151 Marke 7. – 117 Kybalová 1970, 157 ähnlich Nr. 2–3. Nr. 47 48) bis kräftig kobaltblaue (Kat.-Nr. 46) Bemalung aufgetragen, wobei 118 Kybalová 1970, 60. Kat.-Nr. 46 und 48 beidseitig bemalt sind. Das Formenspektrum umfasst eine

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Abb. 6: Fayencen aus Savona, Italien. (Foto: R. Kaltenberger-Löffler)

Henkeltasse (Kat.-Nr. 46), eine hohe Tasse (Kat.-Nr. 47), die vielleicht als „Schokoladebecher“ angesprochen werden darf, und das Fragment einer ecki- gen Schüssel (Kat.-Nr. 48). Aufgrund der charakteristischen Kombination von Glasur und Dekor lässt sich ihre Herkunft aus Werkstätten aus Savona aus der zweiten Hälfte des 17. und vor allem des 18. Jahrhunderts nachweisen. Die italienische Küstenstadt Savona liegt etwa 80 km westlich von Genua. Im 17. Jahrhundert entwickelte sich die Keramikproduktion in den drei ligurischen Städten Savona, Genua und Albissola stärker, man rückte von den kräftigen Farben ab und ging, von Talavera (Spanien), Delft (Holland) und China beein- flusst, zur Fayence über. Zwar sind Töpfernamen bekannt, doch lassen sie sich in vielen Fällen nicht mit Bestimmtheit einzelnen Manufakturen zuordnen. Im 17. Jahrhundert hat sich allgemein der Barockstil durchgesetzt mit geschweiften Rändern, Reliefs nach Silberart (wie die eckige Schüssel Kat.-Nr. 48) und Durchbruchsornamenten. Mit dünn ausgeformten Gefäßen (wie der hohen Tasse Kat.-Nr. 47) ist die Fayence mit der Schildmarke aus Savona in die Nähe des Porzellans zu stellen.119 Die ligurischen Manufakturen in Savona, Genua und Albissola waren auch bedeutende Lieferanten von Apothekenkeramik.120 Der Dekor der Tasse Kat.-Nr. 46 findet gute Entsprechungen auf einem Tel- ler121 der Werkstatt Grosso in Savona, die in der Zeit von 1648 bis 1698 tätig war, auf einer Kanne122, die in den Zeitraum von 1650–1700 datiert wird, und einem Apothekengefäß (Chevrette)123 aus der Werkstatt Guidobono, um 1690. Die sehr fein gezeichnete Marke auf der Unterseite der hohen Tasse Kat.-Nr. 47 vermittelt den Eindruck einer Kombination der beiden Marken des Wappens von Savona („Stemma di Savona“).124

119 Pichelkastner/Hölzl 1981, 261. Fayence aus Iznik (Türkei) 120 Mez-Mangold 1990, 14. Koppchen (Kat.-Nr. 49) 121 Glaser 2000, Kat.-Nr. 68. Das fragmentierte Koppchen Kat.-Nr. 49 trägt auf seiner Außenseite innerhalb 122 Glaser 2000, Kat.-Nr. 69. 123 Mez-Mangold 1990, 159 Nr. 209. schwarzbrauner Umrisslinien blaue Blüten und eisenrote Punkte als Füllmotive. 124 Mez-Mangold 1990, 230 Nr. 209 und Auf der Bodeninnenseite befindet sich eine Blüte, gleichfalls blau innerhalb 313.

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schwarzer Umrisslinien. Ein schwarzbrauner Stern bildet die Marke auf der Bo- denunterseite. Der Scherben ist sehr fein, Magerungspartikel sind nicht erkennbar, sehr hart hellrosa gebrannt, darüber ist eine opak weiße Glasur mit hochglänzender Oberfläche aufgetragen. Dieses qualitätvolle Produkt stammt aus Iznik (Türkei), der Zeitrahmen umfasst das späte 16. bis frühe 17. Jahrhundert.125

Porzellan Im Teil 1 der Bearbeitung wurde der für das 18. Jahrhundert verhältnismäßig geringe Anteil von Porzellanen vermerkt.126 Dieser Umstand wird durch die nunmehr vorzustellenden Stücken relativiert, wobei eine unerwartet hohe An- zahl ostasiatischer Porzellane zu verzeichnen ist. In China war Porzellan das Ergebnis eines viele Jahrhunderte dauernden Entwicklungsprozesses in der Herstellung von Keramik mit einem weißen Scherben. Gesichert ist Porzellan im späten 8. und frühen 9. Jahrhundert nachweisbar.127 In Japan tritt die Porzellanproduktion zu Beginn der Edo-Zeit (1603–1868) auf, also gegenüber China mit einer Verzögerung von rund 900 Jahren. In Europa gelang erst 1710 Johann Friedrich Böttger in Meißen die Her- stellung von weißem Porzellan. Bereits 1718 gründete Claudius Innocentius Du Paquier in Wien die zweite Porzellanmanufaktur Europas. Technisch zeichnet sich Porzellan gegenüber anderen Keramikarten durch sei- ne größere Härte sowie die Weiße und die Lichtdurchlässigkeit seines Scher- bens aus. Doch zunächst kam ihm in China kein besonderes Interesse zu. Erst in der Zeit des frühen 14. Jahrhunderts war die neue, aus Persien übernomme- ne Dekortechnik mit der Verwendung von Kobaltblau als Malpigment unter der Glasur die Ursache dafür, dass Porzellan zur dominierenden Keramikgattung wurde, die zunächst vorwiegend nach Westasien exportiert wurde.128 Reisende wie der Venezianer Marco Polo (ca. 1254–1324) brachten die ersten Porzellane gegen Ende des 13. Jahrhunderts nach Europa. Marco Polo nannte diese Keramik „porcellana“, da ihre glänzende Oberfläche und Transparenz ei- ner Muschel „porcella“ gleicht.129 Allerdings blieb das Porzellan in Europa bis in das 16. Jahrhundert noch weitgehend unbekannt. So galten die wenigen chi- nesischen Keramiken und Porzellane, die bis dahin auf Umwegen nach Europa gelangten, als etwas so Ausgefallenes, dass sie in ihrer Kostbarkeit durch Gold- und Silberfassungen noch gesteigert wurden und als Schaustücke in die Schatzkammern und „Raritätenkabinette“ kamen.130 Erst mit der Gründung der mächtigen „Ostindischen“ Handelskompanien zu Beginn des 17. Jahrhun- 125 Freundl. Mitt. Dr. Omur Tufan, Topkapi derts in verschiedenen Ländern Europas, die von ihren jeweiligen Regierungen Sarayi Müzesi, Istanbul. 126 Kaltenberger 2008, 172. das Monopol für den Handel mit den Ländern des Ostens erhielten, entwickelte 127 Wiesner 1981, 15. sich der Import ostindischer Luxusgüter in großem Ausmaß, darunter auch 128 Wiesner 1981, 15; Reichel/Schulle 1982, 131 51. Porzellan . Die Importgüter aus Asien beeinflussten den Geschmack in Euro- 129 Heinitz-David 1977, 7; Girmond 1990, pa. Neue Dekormotive und eine Vorliebe für das Exotische führten zur „China- 107. Mode“ und Chinoiserien prägten von nun an das äußere Bild Europas. Alle Kul- 130 Heinitz-David 1977, 7; Reichel/Schulle 1982, 51. turbereiche wurden davon erfasst. Porzellan wurde so beliebt, dass es in kei- 131 Heinitz-David 1977, 7. nem Palast oder Patrizierhaushalt fehlen durfte. Fürsten und Könige richteten

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eigene Porzellankabinette ein, in denen das Porzellan die Funktion eines Deko- rationselementes in der barocken Innenausstattung zu erfüllen hatte.132 Die Widerstandsfähigkeit des Porzellans gegen chemische Einwirkungen ließ Porzellangeschirr für Salate, Konfitüren und Früchte als begehrenswert erschei- nen, also für Speisen, deren Geschmack durch Silber oder Zinn beeinträchtigt wird. Als im Laufe des 17. Jahrhunderts die Heißgetränke Tee, Kaffee und Ka- kao für eine kaufkräftige Schicht zunehmend beliebt wurden, begann man auch die Widerstandsfähigkeit gegen plötzliche Erhitzung zu schätzen.133 Während man am Kaiserhof in Wien bis ins späte 18. Jahrhundert noch von Gold- und Silbergeschirr speiste, ging der aufgeschlossene Adel dazu über, zur Repräsentation und zum Pläsier hoher Gäste, den ersten Gang und die kostbaren Desserts wie Konfekt, Gesülztes, Gefrorenes oder seltene Früchte auf dem Luxusgut Porzellan mit Besteck mit Porzellangriffen zu servieren.

China (Abb. 7) Um 1400 wurde auf kaiserlichen Erlass in der alten Töpferstadt Jingdezhen (Ching-tê-chên) in der südchinesischen Provinz Kiangxi eine kaiserliche Porzel- lanmanufaktur gegründet, die ausschließlich für den Palast arbeitete. In der fol- genden Zeit scharten sich um diese offizielle Manufaktur nach und nach zahl- reiche private Werkstätten. Der Bezirk Fou-liang, in dem Jingdezhen liegt, ist reich an Lagerstätten der beiden für die Porzellanherstellung notwendigen Roh- stoffe Kaolin und Feldspat (Petuntse) (siehe dazu unten „Herstellung“). Das er- forderliche Brennmaterial wurde auf dem Wasserweg bezogen.134 Durch die verkehrstechnisch günstige Lage konnten sowohl Nanking, die Hauptstadt der Ming-Dynastie, als auch die spätere Hauptstadt Peking ebenso wie die Ex- porthäfen auf dem Wasserweg erreicht werden.135 Der Ort Jingdezhen entwickelte sich zu einem „Industriezentrum“,indemrund eine Million Menschen für und durch das Porzellan lebten und Tag und Nacht 3.000 Öfen brannten. Der Arbeitsprozess war durch Arbeitsteilung rationali- siert. Jeder Arbeiter war auf eine bestimmte Tätigkeit spezialisiert und die Stü- cke gingen im Verlauf der Produktion durch bis zu 70 Hände. Selbst beim ge- malten Dekor waren die Aufgaben auf mehrere Ausführende aufgeteilt.136 Die Arbeitsteilung der Porzellanmaler ist eines der frühen Beispiele für Massen- fabrikation, wodurch ihr Lebensstandard, ebenso wie der sämtlicher anderer Arbeiter, sehr niedrig war.137 Diese so vervollkommneten Produktionsmetho- den in den privaten Werkstätten ermöglichten es, den unaufhörlich wachsen- den Bedarf der Importländer, anfangs der arabischen Welt, später der europä- ischen Länder, zu befriedigen.138 132 Heinitz-David 1977, 8. 133 Reichel/Schulle 1982, 51. In den Wirren des Überganges von der Ming- (1368–1644) zur Qing- (Ch’ing-) 134 Reichel/Schulle 1982, 51. Dynastie (Mandschu; 1644–1912) wurde während eines Aufstandes Jingdez- 135 Feddersen 1972, 16; Heinitz-David 1977, hen geplündert und niedergebrannt. Erst 1683 konnte unter dem zweiten 52; Wiesner 1981, 17. Da die allermeisten Por- ’ – zellane seit dem 14. Jh. aus den Töpfereien Mandschu-Kaiser in der Periode Kangxi (K ang-Hsi) 1662 1722 die Produk- von Jingdezhen stammen, wird dies als Her- tion des offiziellen Porzellans wieder aufgenommen werden. Die privaten Por- kunftsbezeichnung bei der Bestimmung eines zellanmacher in Jingdezhen hatten auch in der Zwischenzeit in den Traditionen Stückes nicht mehr besonders erwähnt. 136 Heinitz-David 1977, 52. der letzten Phase der Ming-Periode weitergearbeitet, so dass sich Stücke, die 137 Du Boulay 1987, 72. im dritten Viertel des 17. Jahrhunderts entstanden sind, kaum von den jünge- 138 Heinitz-David 1977, 57.

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Abb. 7: Porzellan aus China. (Foto: R. Kaltenberger-Löffler)

ren unterscheiden lassen.139 Daher stammen unter den in Europa befindlichen Porzellanen der Ära Kangxi die weitaus meisten aus den privaten Werkstätten von Jingdezhen. Ihre Merkmale sind die bläuliche Glasur, der unglasierte untere Rand, der sich durch den Brand meist blass-orange verfärbte, sowie der grau- weiße, dünne und sehr feste Scherben.140 Die Kangxi-Periode ist besonders wegen ihres Blau-weiß-Porzellans berühmt geworden, das eine ungekannte technische Höhe in der Qualität der Malerei, des verwendeten Kobalts, des Scherbens und der Glasur erreichte.141 Im frühen 17. Jahrhundert machte man in den chinesischen Werkstätten einen deutlichen Unterschied zwischen Inlands- und geringerwertiger Exportware.142 Doch im 18. Jahrhundert vollzog sich der Aufstieg und Niedergang eines neuen Exportporzellans, das sich von Waren für den Binnenmarkt nicht mehr durch mindere Qualität, sondern durch Formen und Dekore unterschied, die nach eu- ropäischen Vorlagen auf Bestellung gestaltet wurden („Chine de Commande“). Nach Grafikvorlagen tragen die Geschirre, neben den Wappen der Auftragge- ber, Blumen und die jeweils modernen Ornamente. Anfang des 18. Jahrhun- derts waren Teeschalen (Koppchen), Teller und Schalen verschiedener Größe und Tiefe die häufigsten Formen,143 da man in Europa für den schnell steigen- 139 Du Boulay 1987, 71. 140 Du Boulay 1987, 72 f. den Verbrauch von Kaffee und Tee Trinkgeschirr aus Porzellan für unverzicht- 141 Wiesner 1981, 20. bar hielt. So erreichten im 18. Jahrhundert durch die Ostindienfahrer riesige 142 Reichel/Schulle 1982, 54; F. Reichel, Die Mengen an chinesischem Porzellan Europa. Doch mit dem Wachstum der Por- Porzellansammlung Augusts des Starken. Por- zellankunst aus China – Die Rosa Familie zellan- und Steingutfabrikation in Europa im fortgeschrittenen 18. Jahrhundert (München 1993) 13. verlor die Exportware ihre wirtschaftliche Grundlage.144 143 Du Boulay 1987, 111 f. 144 Reichel (Anm. 142) 17. 145 Kaolin, ein weißer Ton mit hohem Herstellung des Porzellans in China Schmelzpunkt, ist ein Verwitterungsprodukt Porzellan ist ein keramisches Erzeugnis aus Kaolin145, Quarz und Feldspat mit des Feldspates auf primärer Lagerstätte, wes- halb er auch keine Verunreinigung durch reinweißem, transparentem und klingend hart gebranntem Scherben. Dem Transport enthält. plastischen Kaolin verdankt die Masse ihre Formbarkeit und Feuerfestigkeit,

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Feldspat und Quarz sind Magerungsmittel, die die Brenn- und Trockenschwin- dung herabsetzen und als Flussmittel wirken. Europäisches Porzellan unterscheidet sich in der chemischen Zusammenset- zung und in den dadurch bedingten höheren Brenntemperaturen von bis zu 1400 °C von ostasiatischem Porzellan, das Brenntemperaturen von maximal 1300 °C benötigt. Je nach Mischungsverhältnis zwischen Kaolin, Feldspat und Quarz wird Porzellan als Hart- oder Weichporzellan definiert. Je mehr Kao- lin die Ware enthält, desto höher muss sie gebrannt werden, um die notwendi- ge Versinterung der Masse zu erzielen. Normalerweise enthält europäisches Porzellan mehr Kaolin als ostasiatisches (etwa 45–60%) und wird entspre- chend schärfer gebrannt (bei ca. 1300–1400 °C), doch gibt es auch ostasiati- sche Porzellansorten, die man zu den Hartporzellanen rechnet. Dazu gehören die chinesischen Blau-weiß-Porzellane und die farbig bemalten Waren späterer Zeit sowie das japanische Arita-Porzellan.146 Zwei Briefe, die der Jesuitenpater François Xavier d’Entrecolles in den Jahren 1712 und 1722 nach Paris gesandt hatte, geben eine ausführliche Beschrei- bung von Jingdezhen, den Methoden der Porzellanherstellung sowie der Orga- nisation der Manufaktur.147 Als Grundmaterial der chinesischen Porzellanfabri- kation werden in allen Quellen zwei Rohstoffe genannt: Petuntse (pai-tun-tzu) und Kaolin, dessen Lagerstätten in der Nähe von Jingdezhen ausgebeutet wur- den. Die Verglasung (Sinterung) und damit auch die Transparenz des Scher- bens erzielte man durch Zugabe von Petuntse als Flussmittel, einem ebenfalls weißen Gemisch von gemahlenem Feldspat und Quarz, das gleichfalls nahe von Jingdezhen abgebaut wurde. Die Glasur, die grundsätzlich aus denselben Rohstoffen besteht wie der Scherben selbst, eventuell mit farbgebenden Zu- sätzen, verschmilzt im Brand untrennbar mit dem Scherben.148 Nach dem Abbau wurden Kaolin und Petuntse149 zerkleinert und mehrfach ge- schlämmt, danach wurden die beiden Rohstoffe zu einer homogenen Masse vermengt. Daraus wurden die gewünschten Formen auf der Scheibe gedreht bzw., da die Porzellanmasse sehr schwer formbar ist, grob auf der Scheibe vorgedreht und dann in vorgefertigten Modeln weiterbearbeitet. Nach dem Antrocknen wurde die Wandung von Tellern, Schalen, Vasen und ähnlichen Formen abgedreht und der Standring ausgedreht. Das getrocknete, aber noch ungebrannte Gefäß wurde mit Unterglasurfarben – Kobalt- oder Kupferoxid – 146 Girmond 1990, 112. 150 147 Du Boulay 1987, 72; Girmond 1990, 108. bemalt. 148 Heinitz-David 1977, 18; Girmond 1990, Das Bemalen erfolgte arbeitsteilig in vielen kleinen Schritten. Für den Porzellan- 112. maler jedoch besteht die Schwierigkeit darin, dass jeder Pinselstrich sofort vom 149 Die Arbeitsvorgänge sind auch mehrfach durch historische Zeichnungen belegt: dazu porösen Material aufgesogen wird und Retuschen (wie bei den Fayencen) nicht Girmond 1990, 107–111 und 116–117 bes. möglich sind. Das Malmittel ist zunächst schwarz und erhält erst durch den re- Abb. A1–A23. duzierenden Brand seine blaue Farbe. Glanz und Reinheit des Blaus hängen 150 Demgegenüber erfolgt in Europa die Be- malung mit Unterglasurfarben auf dem bei ca. zum großen Teil vom Grad der Reduktion ab. Nur allzu leicht wird der Farbton 800°C vorgebrannten (geschrühten) Scherben; grau oder es bilden sich schwarze Punkte. Das chinesische Kobalt war von dieser ist poröser, was einen weniger flüssigen minderer Qualität, da es große Mengen an Verunreinigungen (Mangan) enthielt, und malerischen Auftrag der Unterglasurfarben nach sich zieht. so dass man zunächst aus den islamischen Ländern (Persien) importiertes Ko- 151 Heinitz-David 1977, 45; Wiesner 1981, 151 balt verwendete („Mohammedaner-Blau“). 225; Reichel/Schulle 1982, 51.

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Danach wurden die Gefäße durch Tauchen in die Glasurmasse, durch Übergie- ßen oder durch Aufblasen mit Hilfe eines mit Stoff bespannten Bambusrohres glasiert.152 Nach dem Trocknen erfolgte der erste Brand bei einer Temperatur um 1300 °C. Um die Glasur im Brand nicht zu beschädigen, wurden die Roh- linge in Brennkapseln (Muffeln) gesetzt und darin gebrannt. Die transparente Glasur des chinesischen Porzellans besitzt im Gegensatz zum europäischen Porzellan einen leicht grünlichen oder bläulichen Farbton.153 Bis in das späte 17. Jahrhundert dominierten in den chinesischen Werkstätten die blau-weißen Porzellane. Im späten 17. Jahrhundert entstanden über der Glasur aufgetragene, polychrome Dekore mit Emailfarben154, die aufgrund der Dominanz grüner Farbtöne „famille-verte“ genannt werden. Seit dem zwei- ten Viertel des 18. Jahrhunderts wurden sie von Dekoren abgelöst, die wegen ihrer den Gesamteindruck bestimmenden rosenroten Farbnuancen in Europa als „famille-rose“ bezeichnet werden.155 In ebenso vielen Arbeits- und Brennvorgängen wie Farben vorgesehen waren, wurden die einzelnen Überglasurfarben aufgetragen und mit niederer Tempera- tur gebrannt. Jede Farbe hat eine andere chemische Zusammensetzung und erfordert deshalb auch eine andere Brenntemperatur. Dieser Brand erfolgte in kleinen Muffelöfen, die nur Brenntemperaturen bis zu ca. 900°C erreich- ten.156 Goldhöhung erforderte ebenfalls einen zusätzlichen Brand, jedoch bei noch niedrigerer Temperatur als für die Schmelzfarben.157 Deshalb reibt sich Gold im Gebrauch auch am raschesten ab.158 Die braune Glasur, die Eisenbestandteile beinhaltet, wurde meist in Verbindung mit Famille-verte-Dekor benutzt, zuerst in blasser Kaffeefarbe, „café-au-lait“ be- nannt. In Verbindung mit unterglasurblauen und Famille-rose-Reserven hatte es später eine dunklere Tabakfarbe und wurde von den Kaufleuten der Ostindi- schen Kompanie unter dem Namen „Bataver-Ware“ geführt.159 Die Dekorationsweise des kleinen braun glasierten Tellers Kat.-Nr. 58 mit brau- nem Dekor in den Reserven ist bislang unbekannt.160 152 Während in Europa das Porzellan zu- nächst einem Schrühbrand unterzogen wird, glasiert der chinesische Töpfer das luftgetrock- Marken nete Gefäß und brennt Glasur und Scherben in Viele Stücke tragen auf der Bodenunterseite (Kat.-Nr. 50, 51), meist in Unter- einem Brand. 153 Feddersen 1972, 6. glasurblau, eine Periodenmarke (nianhao, Nien-hao). Sie geben als Regie- 154 Emailfarben, Schmelzfarben: mit Metall- rungsmarken die Periode an, in der ein Stück entstanden ist, werden aber auch oxiden gefärbte Glasflüsse, die bei niedriger als Reverenz gegenüber einer früheren Epoche verwendet, weshalb sie kein Temperatur auf den glasierten und bereits ge- brannten Scherben aufgeschmolzen werden. Datierungskriterium darstellen. Diese Marken geben die Regierungsdevise 155 Feddersen 1972, 34; Wiesner 1981, 21. an, die ein Kaiser bei der Thronbesteigung verkünden ließ und unter der er be- 156 Feddersen 1972, 8; Wiesner 1981, 15; kannt wurde, während sein persönlicher Name nicht genannt werden durfte. Girmond 1990, 113. 157 Heinitz-David 1977, 78. Die Marken auf chinesischen Porzellanen bezeichnen also Regierungsperioden 158 Freundl. Mitt. Dr. Johannes Wieninger, und in der Regel auch nicht, wie in Europa, Manufakturen.161 Die Marke gibt im MAK. – 159 Du Boulay 1987, 90. Allgemeinen zunächst die Dynastie an (Ming 1368 1644, Qing- oder Mand- 160 Freundl. Mitt. Dr. J. Wieninger, MAK. schu-Zeit 1644–1912), dazu kommt dann die Periodenbezeichnung, d. h. die 161 Wiesner 1981, 228. Devise, die bei der Thronbesteigung eines Herrschers für seine Regierungszeit 162 Feddersen 1972, 9; R. Kreissl, Weißes ’ –„ “ – Gold aus dem Fernen Osten (München gewählt wurde: z. B. Periode Kangxi (K ang-Hsi) friedliche Freude (1662 162 1975) 6. 1722).

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Während der Kangxi-Ära tragen nur wenige Stücke die Periodenmarke, da der Oberaufseher der kaiserlichen Fabriken, Ch’ang Ch’-ching, zwischen 1677 und 1680 durch ein Edikt den Töpfern verboten hatte, das „Nien-hao“ des Kaisers auf ihren Waren anzubringen. Es ist nicht sicher, ob das Verbot immer einge- halten wurde, es ist aber anzunehmen, da es viel Porzellan dieser Epoche gibt, das keine Marke trägt und nur mit einem Rautenblatt, einer Lotosblüte, einem endlosen Knoten, einem Räuchergefäß oder anderen Symbolen in einem Dop- pelkreis gezeichnet ist.163 In diesen Kontext darf auch der achteckige Teller Kat.-Nr. 50 gestellt werden, dessen Marke bislang nicht bekannt ist.164

Porzellan mit unterglasurblauem Dekor aus China, Periode Kangxi (Kat.-Nr. 50–53) Der fragmentierte achteckige Teller Kat.-Nr. 50 ist auf der Innenseite mit einem dichten floralen Dekor bemalt, auf der Außenseite befindet sich in jedem Feld eine Blüte. Auf der Bodenunterseite ist eine unterglasurblaue Marke ange- bracht, eine Lotosblüte im Doppelkreis. Solche Doppelringmarken sind charak- teristisch für die Kangxi-Periode (1662–1722).165 Anhand seiner Form und des Dekors166 kann der Teller in die Zeit um 1700 bis 1720 datiert werden. Zwei Koppchen mit geschwungen ausgebogenem Rand, Kat.-Nr. 51 und 52, sind auf der Außenseite mit Blütenzweigen bemalt, auf der Innenseite finden sich ebenfalls Reste floralen Dekors. Ihre Datierung ist in das erste Drittel des 18. Jahrhunderts zu stellen. Das Koppchen Kat.-Nr. 53 mit beidseitig floralem Dekor mit dünner Umrisszeichnung und Füllung mit dunkelblauen Punkten fin- det eine vergleichbare Dekorweise auf einem Teller, der in das späte 17. bis in das frühe 18. Jahrhundert datiert wird.167

Japan Die Porzellanproduktion in Japan tritt nicht vor Anfang der Edo-Zeit (1603– 1868) in Erscheinung. Der Impuls kam über Korea, als nach Feldzügen ver- schleppte koreanische Töpfer auf der Insel Kyu¯ shu¯ angesiedelt wurden. 1616 wurden im Gebiet von Arita Vorkommen von Rohstoffen zur Porzellanher- stellung entdeckt. Nach diesem plötzlichen Beginn erlebte die Porzellanherstel- lung eine rasche Entwicklung. Einige ältere Werkstätten stellten auf die Produk- tion von Porzellan um, während die Mehrzahl an verschiedenen Plätzen im Ge- biet von Arita neu errichtet wurde. Das japanische Porzellan erschien zu einem günstigen Zeitpunkt auf dem inter- nationalen Markt, nämlich als China – im 17. Jahrhundert in politische Wirren verstrickt, die zum Sturz der Ming-Dynastie führten – nicht in der Lage war, die europäische Nachfrage zu befriedigen. Die neue Porzellanindustrie in Japan hatte sich kaum konstituiert, als bereits ih- re Erzeugnisse zu Tausenden den Weg nach Europa nahmen. Dies geschah 163 Du Boulay 1987, 82. durch Vermittlung der holländischen Ostindischen Handelskompanie, der Ja- 164 Freundl. Mitt. Dr. J. Wieninger, MAK. pan, als den einzigen westlichen Ausländern, 1641 die Errichtung einer Nieder- 165 Freundl. Mitt. Dr. J. Wieninger, MAK. lassung in der Bucht von Nagasaki zugestanden hatte.168 166 Krahl 1986, Form: Kat.-Nr. 2337; 2351; Dekor: Kat.-Nr. 2335. In der ersten Produktionszeit, die noch vor den Exporten lag, wurden lediglich 167 Schmidt 1990, Kat.-Nr. 116. blau-weiße Porzellane hergestellt. Dieser Periode folgte eine deutlich von China 168 Heinitz-David 1977, 97.

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beeinflusste Produktion. Schließlich, gegen Mitte des 17. Jahrhunderts, trat ein echter japanischer Stil auf: Um 1644 entwickelte in Arita der Töpfer Sakaida Ka- kiemon polychromen Dekor. Die Technik hatte er von einem in Nagasaki leben- den chinesischen Emigranten erlernt. Sakaida war der Begründer einer großen Töpferdynastie und gleichzeitig Schöpfer eines Stils, der durch Generationen den Ruhm des japanischen Porzellans ausmachte. Diese Porzellane wussten die europäischen Fürsten jener Zeit zu schätzen und sie gaben auf der Suche nach Anregungen diese Porzellane als Modelle an ihre jungen Manufakturen, wodurch der europäische Kakiemon-Stil169, beispielsweise in Meißen und Wien170, entstand. Viele andere Werkstätten in und bei der Stadt Arita entwickelten im 17. Jahr- hundert eine Ware, die sich in Europa unter dem Namen „Arita- oder Imari-Por- zellan“–nach dem Hafen Imari auf der Insel Kyu¯ shu¯ , von dem aus es verschifft wurde – großer Beliebtheit erfreute. Der Dekor ist durch üppige Malerei in Un- terglasurblau sowie über der Glasur in Eisenrot171 und Gold charakterisiert. De- kore in diesen Farben waren in Europa besonders in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts sehr beliebt, weshalb Imari-Porzellan in großen Mengen für den Export nach Europa hergestellt wurde.172 Die höchste Qualitätsstufe des blau-rot-goldenen Imari war preiswerter als das ebenfalls aus Arita stammende elitäre Kakiemon und war vor 1750 erschwingli- cher als das bis dahin höchst feudale Meissener und Wiener Porzellan. Die ein- facheren Handelsklassen des Imari konnten sich im 18. Jahrhundert schon der Kleinadel, die Kaufleute, das reiche Bürgertum und die hohen Beamten leis- ten.173

169 Heinitz-David 1977, 98. Die Teller, Schüsseln, Kummen und Flaschen, auch die Auftragsarbeiten der 170 J. Lessmann, Du Paquier und Meissen: europäischen Gebrauchsformen wurden mit symbolischen Dekoren nach der Inspiration und Konkurrenz. In: M. Chilton Natur, mit Pflanzen und Tieren in bestimmter Kombination versehen, die meist (Hrsg.), Fired by Passion. Barockes Wiener Porzellan der Manufaktur Claudius Innocentius Glück verheißen oder jahreszeitliche Stimmungen tragen. Die Chrysantheme Du Paquier 1 (Stuttgart 2009) 445. steht für den Herbst und symbolisiert genügsames Leben und den Rückzug 171 Heinitz-David 1977, 58: Das Eisenrot wird von öffentlichen Ämtern. Die Päonie ist Zeichen des Frühlings, verspricht Liebe nicht als Schmelzfarbe, der ein Glasfluss zuge- 174 setzt ist, sondern als „trockene Farbe“ be- und Zuneigung und ist Emblem weiblicher Schönheit. Dieser Imari-Dekor er- zeichnet, weil es als Pigment aus Eisensulfat zielte einen ungeheuren Erfolg und wurde von China, das den verlorenen Markt direkt auf die Glasur aufgebracht wird und 175 zurückerobern wollte, aufgenommen und imitiert. während des Brennens in diese eindringt, ohne dass sich, wie bei den Schmelzfarben, ein Re- lief auf der Oberfläche bildet. Chinesisches Porzellan im Imari-Stil („China-Imari“, Quing-Dynastie, Periode 172 Heinitz-David 1977, 98; Du Boulay 1987, 176 Kangxi 1662–1722) (Abb. 8) 91. 173 Hakenjos 2000, 13. Als der Einkaufspreis für japanisches Porzellan so stark anstieg, dass der Profit 174 Hakenjos 2000, 12. für die V. O. C. (Vereinigte Ostindische Compagnie) zu gering wurde, und nach- 175 Heinitz-David 1977, 100; Du Boulay dem sich die Verhältnisse in China in der Periode Kangxi (1662–1722) der Qing- 1987, 91. 176 Herrn Dr. J. Wieninger, MAK Wien, danke Dynastie konsolidiert hatten, kehrten die holländischen Händler im letzten Vier- ich sehr herzlich für die Begutachtung der ost- tel des 17. Jahrhunderts auf den Festlandmarkt nach Jingdezhen zurück. Sie asiatischen Porzellane und für die Unterstüt- zung bei deren Bestimmung und Datierung. nahmen japanisches Imari-Porzellan, das in der Zwischenzeit in Europa Mode 177 Reichel 1980, 119; Du Boulay 1987, 91; geworden war, als Muster mit und ließen es seitdem billiger als Exportware im E. Handke, Japanisches Porzellan. Edition Imari-Stil in China herstellen.177 der Verwaltung der Staatlichen Schlösser und Gärten. Kat. 3 (Bad Homburg 1992) 21; Ha- Nach 1710 entstanden die ersten Stücke Chinees-Japans, wie es in zeitgenös- kenjos 2000, 13. sischen Dokumenten genannt wird, mit der Farbpalette Unterglasurblau, Eisen-

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Abb. 8: Chinesisches Porzellan im Imari-Stil –„China-Imari“. (Foto: R. Kaltenberger-Löffler) rot und Gold. Es lassen sich zwei Gruppen unterscheiden: eine Ware in reiner Nachahmung, die das japanische Farb- und Dekorschema übernimmt, und ei- ne andere, die chinesisch gestaltete Motive im japanischen Farbschema wie- dergibt.178 Die erste Gruppe, die mit der Farbgebung aus Unterglasurblau, Eisenrot und Gold bewusst das japanische Imari imitierte, konnte dieses problemlos wegen des viel niedrigeren Preises teilweise vom niederländischen Markt verdrängen. InChinananntemanes„Nachahmung des östlichen Meeres“, d. h. Japans.179 Die zweite Gruppe, die chinesischen Nachahmungen, imitierten zwar die Far- ben, behielten aber in der Regel ihre eigenen traditionellen Muster bei, indem sie die japanischen Dekorelemente in ihren sehr viel strengeren und symmetri- schen Formenkanon einpassten, um die typisch japanische Asymmetrie zu ver- meiden. Echtes japanisches Imari lässt sich auch deshalb mit großer Sicherheit bestim- men,180 da generell das originale Imari-Blau weniger rein und tief in der Farbe ist und das Eisenrot opaker als die entsprechenden Farben in China. Die größere Reinheit der Farben Kobaltblau und Eisenrot auf den chinesischen Stücken sind der jahrhundertelangen Erfahrung der chinesischen Werkstätten zu ver- danken, zudem trägt das chinesische Imari eine weichere, öligere Glasur, sein 181 178 Achenbach 1990, 352. Biskuitscherben am Fuß tendiert leicht ins Bläuliche , der Scherben ist dün- 179 Reichel 1980, 119. ner, auf dem Boden fehlen die Brennstützenspuren und der Gefäßrand ist oft 180 Reichel 1980, 119; Hakenjos 2000, 13: braun glasiert.182 Die Formen des chinesischen Imari-Porzellans sind den sonst Im Einzelfall führt die Unterscheidung zwischen dem sog. China-Imari und den japanischen in Jingdezhen üblichen weitgehend gleich. Einige geben sich jedoch als euro- Originalen selbst unter Fachleuten zu längeren päisch beeinflusst zu erkennen, da sie nach europäischen Vorbildern für die Diskussionen. Die frühesten Eintragungen im Ausfuhr geschaffen wurden183 (vgl. Kat.-Nr. 57). ältesten Inventarbuch der Dresdner Porzellan- sammlung von 1721 deuten darauf hin, dass In Europa wurde oft japanisches Porzellan gemeinsam mit chinesischem ver- „chinesisches Imari“ damals in Europa als japa- wendet oder zur Präsentation aufgestellt. Dies lag nicht daran, dass man die nisch gehandelt wurde. Herkunftsländer nicht unterscheiden konnte, wenngleich es vorkam, dass der 181 Reichel 1980, 119; Handke (Anm. 177) 22; Hakenjos 2000, 14. asiatische Handel die Käufer in Europa oft absichtlich in die Irre führte. Chine- 182 Achenbach 1990, 352. sische Werkstätten stellten Produkte im Stil von Imari her oder Werkstätten in 183 Reichel 1980, 119.

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Arita brachten unterglasurblaue chinesische Marken an. Es waren die Knapp- heit und die hohen Preise, die den Käufer zwangen, Geschirr aus beiden Pro- duktionen zu erwerben, gelegentlich noch ergänzt durch Imitationen der Fayen- cen und neuen Porzellane in Europa.184 Chinesische Imari-Imitationen stellten für das Bürgertum eine gehobene Ware dar, gleiche Gefäße standen aber auch im Kaiserhaus im Alltag in Verwendung.185 „China-Imari“ ist in Europa, besonders in Delft, auch als Fayence kopiert wor- den.186 Europäische Porzellankopien des klassischen Imari lassen sich von den Originalen leichter unterscheiden. In der Frühzeit von Meissen spielte es neben dem dort bevorzugten Kakiemon-Stil eine Nebenrolle, in der Wiener Ma- nufaktur des 18. Jahrhunderts nahm es breiteren Raum ein, nicht zuletzt we- gen der Habsburger-Sammlung der Originale (siehe dazu unten). Von dort zog sich eine dekorative Entwicklungslinie in die böhmischen und schlesischen Porzellanfabriken des 19. Jahrhunderts.187 In der prunkliebenden Welt des Barock gehörte es zum guten Ton, Porzellane zu sammeln. Vor allem ostasiatisches Porzellan, das durch holländische Händ- ler nach Wien kam, wurde nicht nur bei Tisch verwendet, sondern auch für die Dekoration der sog. chinesischen Kabinette, die in vielen Schlössern und Palais des 18. Jahrhunderts zum unabdingbaren Repräsentationsbestand einer ba- rocken Hofhaltung gehörten. Imari-Porzellan zierte die Residenzen der Barock- zeit und schmückt noch heute in beträchtlicher Anzahl die Schlösser und fürst- lichen Paläste.188 So wurde auch im Schloss Schönbrunn von Maria Theresia das „Japanische“ und das „Chinesische Kabinett“ eingerichtet.189 Weitere Ima- ri-Porzellane in Wien stammen aus der Regierungszeit des Karl Alexander von Lothringen in Belgien (1744–1780), die schönsten Stücke gingen auf dem Erb- weg an Kaiser Joseph II. und sind derzeit in der Hofsilber- und Tafelkammer ausgestellt.190 Diente das japanische Imari-Porzellan vor allem der Raumdekoration, so über- wog bei dem chinesischen Produkt das Gebrauchsgeschirr.191 Durch die gro- ße und regelmäßige Einfuhr in Europa verlor chinesisches Porzellan im Laufe des 18. Jahrhunderts seinen exklusiven Status und entwickelte sich zu einem Artikel, der für ein breites Publikum bestimmt war. Das Sortiment des 18. Jahr- 192 184 Pantzer 2000, 24. hunderts unterscheidet sich daher erheblich von dem des 17. Jahrhunderts. 185 Freundl. Mitt. Dr. J. Wieninger, MAK. 186 Feddersen 1972, 44. Koppchen (Kat.-Nr. 54–55) 187 Hakenjos 2000, 14. 188 Heinitz-David 1977, 98; H. Galen (Hrsg.), Die beiden Koppchen Kat.-Nr. 54 und 55 belegen mit nahezu gleichen Maßen Münster und das alte Japan. Stadtmuseum (RDm: 8,8 bzw. 8,9 cm, H: 4,7 cm) eine standardisierte Produktion, sie sind Münster 5.6.–24.12. 1987 (Greven 1987) 32. auch sehr ähnlich dekoriert mit einer Landschaft mit einem Baum und einem 189 Pantzer 2000, 25. 190 H. Ch. Winkler, Nachlaß Karl Alexander Tempel, wobei nur die Intensität des Unterglasurblaus differiert. Bei beiden von Lothringen. In: Ehemalige Hofsilber- & Ta- Koppchen sind die Aufglasurfarben Gold und Eisenrot zum Teil stark abgerie- felkammer. Sammlungskat. 1 (Wien et al. 193 1996) 130–145; Pantzer 2000, 21 f. ben. Ihre Datierung ist um 1730 anzusetzen. 191 Achenbach 1990, 352. 192 C. J. A. Jörg, Der Porzellanhandel der Unterteller (Kat.-Nr. 56–57) VOC im 17. und 18. Jahrhundert. In: Schmidt 1990, 151. Vermutlich gehören die Unterteller Kat.-Nr. 56 und 57 zu den beiden oben ge- 193 Freundl. Mitt. Dr. J. Wieninger, MAK. nannten Koppchen. Kat.-Nr. 56 ist auf der Außenseite mit einem unterglasur-

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blauen Zweig und auf der Innenseite mit einer Landschaft mit Doppelhaus und links daneben stehender Fahne dekoriert. Der etwas kleinere Teller Kat.-Nr. 57 folgt mit seiner gerippten Wandung be- reits europäischen Vorbildern aus Meißen. Auch von den Tellern sind wieder Gold und Eisenrot etwas abgerieben. Die Datierung um 1730 entspricht jener der beiden Koppchen.

Die vorliegenden Funde ostasiatischen Porzellans aus den Grabungen am Mi- chaelerplatz machen die Diskrepanz zwischen obertägig in musealen Bestän- den erhaltenen hochwertigen Stücken und Grabungsfunden, die aus dem Ver- brauchermilieu stammen, deutlich. Deshalb sind kaum Vergleiche aus der kunsthistorischen Literatur beizubringen, da dort Spitzenobjekte bei weitem dominieren. Somit bleiben derzeit einzelne Objekte, wie die hohen Henkeltas- sen Kat.-Nr. 59 und 60, ohne nähere Zuweisung. Eine Parallele zu dem kleinen Teller (Unterteller) Kat.-Nr. 58, mit braunem Fond auf der Innenseite und drei Kartuschen mit braunem, floralem Aufglasurdekor, ist derzeit ebenfalls nicht bekannt. Als Datierung wird das erste Drittel des 18. Jahrhunderts vorgeschla- gen.

Vielleicht gelangten die chinesischen Porzellane durch Schiffe der Österrei- chisch-Ostindischen Handelskompanie (1722–1727) nach Wien. 1722 grün- dete Kaiser Karl VI. in Ostende eine Übersee-Handelskompanie, deren voller Name lautete: „Kaiserliche und Königliche Indische Kompanie, errichtet in den Österreichischen Niederlanden unter dem Schutz des Heiligen Karl“.In Indien (an der Koromandelküste und an der Gangesmündung) und in Kanton entstanden österreichische Handelsniederlassungen. Produkte aus China und Japan fanden damit direkt ihren Weg nach Österreich. Neben Seide oder Tee waren die Schiffe, wie aus den Packlisten zu ersehen ist, mit 426 großen und 4326 kleineren Kisten mit Porzellan beladen.194 Auf Verlangen der westeu- ropäischen Mächte im Zusammenhang mit den Bemühungen um die Anerken- nung der Pragmatischen Sanktion verpflichtete sich der Kaiser im Gegenzug zur Aufhebung der Kompanie. Sie wurde 1727 liquidiert und 1731 aufgelöst.195 Damit verschwanden die österreichischen Schiffe wieder von den Weltmeeren und der Kaiser und die adeligen Familien des Reiches mussten ihre chinesi- schen und japanischen Porzellane aus anderen Quellen beziehen.196

Porzellanmanufaktur Wien Unter Kaiser Karl VI. wurde in Wien die zweite Porzellanmanufaktur Europas 1718 als Privatunternehmen des Claudius Innocentius Du Paquier ins Leben gerufen. Nach Ablauf des 25 Jahre dauernden Privileges unter Maria Theresia

wurde sie 1744 in ärarische Verwaltung des Staates übernommen. Man suchte 194 Pantzer 2000, 18. nun nach neuen Formen und Dekoren, die man teilweise in Meissener Vorbil- 195 R. Sandgruber, Ökonomie und Politik. dern fand. Der stilistische Umschwung zum Rokoko setzte ein, begleitet von Österreichische Wirtschaftsgeschichte vom Mittelalter bis zur Gegenwart (Wien 1995) 120. einer weiterhin fortlebenden starken Strömung der Chinoiserie, manchmal 196 Pantzer 2000, 21. 197 kombiniert mit europäischem Formengut. 197 Neuwirth 1990, 9.

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Mit der Übernahme der verschuldeten Privatmanufaktur des Claudius Innocen- tius Du Paquier durch den Staat im Jahr 1744 wurde die Verwendung einer Fabriksmarke vorgeschrieben. Zunächst als Blindstempel eingeführt, wurde der Bindenschild in Unterglasurblau ab 1749 bis 1827 üblich und von 1827 bis 1864 wiederum als Blindstempel eingeprägt.198 Der Jahresstempel zur Da- tierung von Wiener Porzellan wurde 1784 durch Conrad Sörgel von Sorgenthal eingeführt, der im 18. Jahrhundert mit den letzten zwei Ziffern des Jahres und im 19. Jahrhundert mit den letzten drei Ziffern als Blindstempel in die Masse geprägt wurde.

Unterglasurblaue Dekore (Kat.-Nr. 61–63) Im vorliegenden Fundbestand sind zwei Koppchen und zwei Untertassen mit unterglasurblauen Dekoren überliefert. Kobaltblau ist (bis zum erst 1817 entwi- ckelten Chromoxidgrün) die einzige Unterglasurfarbe für Hartporzellan. Der De- kor wird auf den geschrühten Scherben aufgebracht. Im Gegensatz zur Aufgla- surmalerei, bei der die Farben mit Terpentinöl flüssig gemacht werden und Kor- rekturen möglich sind, besteht bei der Blaumalerei diese Möglichkeit nicht, da die Farbe sofort in die poröse Oberfläche eindringt.199 Reduzierende Brennbe- dingungen verursachen die Weiße des Scherbens und das leuchtende Unter- glasurblau. Ungefähr ab der Mitte des 18. Jahrhunderts war unterglasurblaues Porzellan eine preisgünstige Gebrauchsware für Bürgertum und Beamte. Als „indianische Blumen“ werden florale Malereien bezeichnet, die ihren ur- 198 Neuwirth 1978, 8. sprünglichen ostasiatischen Sinnzusammenhang verloren haben, weil den eu- 199 Zur Blaumalerei allgemein: Barsewisch ropäischen Malern der Symbolwert der Formen200 verschlossen blieb. Daher 1988; K.-P. Arnold/V. Diefenbach (Hrsg.), Meissener Blaumalerei aus drei Jahrhunderten passten sie diese ihrem Verständnis an. Vor allem aus dem Formenschatz (München 1989); R. E. Röntgen, Blaumalerei der japanischen Kakiemon-Dekore auf Arita-Porzellanen entwickelten sie die auf Meissener Porzellan. Zwiebel, Stroh und phantasievoll umgebildeten und umgedeuteten indianischen Blumen. blaue Blume (Leipzig 2004). – Eine andere Va- riante ist das Malen auf die trockene Glasur Eine Kombination aus Koppchen (Kat.-Nr. 61) und Unterteller (Kat.-Nr. 62) liegt (Aufglasurmalerei mit Scharffeuerfarbe). Wäh- mit unterglasurblauem floralem Dekor vor. Das Koppchen ist mit dem untergla- rend des Brandes sinkt die blaue Farbe tief ein. Die intensive Ionenfärbung des Kobaltoxi- surblauen Bindenschild gemarkt, der nach 1749 verpflichtend eingeführt wur- des lässt dabei mikroskopisch keine eindeuti- de. Es ist keine Blaumalernummer angegeben. Da auch keine Jahresangabe gen Farbgrenzen erkennen. W. Goder/R. eingestempelt ist, muss die Datierung vor 1784 liegen. Auf der Unterseite der Fratzscher, Die Technikgeschichte der Blau- malerei. In: Arnold/Diefenbach a. a. O. 121. fragmentiert überlieferten Untertasse mit gleichem Dekor ist nur ein Rest der 200 Dazu D. Lübke, Chinesische „Zwiebel- unterglasurblauen Marke erhalten, die evtl. als Bindenschild zu interpretieren ist. “ muster -Teller bemalt mit den Farben der fa- Vergleichbarer floraler Dekor ist auf zwei Schalen überliefert, die mit dem mille rose. KERAMOS 206, 2009, 33–42. – 201 Neuwirth 1990, Abb. 6. – Auch zwei jün- Bindenschild, einmal gestempelt (1744 1749) und einmal unterglasurblau 201 gere Objekte mit unterglasurblauem Binden- (nach 1749), gemarkt sind, ebenfalls ohne Blaumalernummer. Da die Manu- schild, ohne Blaumalernummer, wurden Wien fakturen, die nachweislich eine bindenschildartige Marke verwendeten, erst zugewiesen: Barsewisch 1988, Abb. 57a: Tel- ler mit unterglasurblauem Dekor „Indianische wesentlich später, nämlich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, gegrün- 202 Blumen und Insekten“, E. 18. Jh.; Abb. 96 f: det wurden , ist die Provenienz des Ensembles aus der Wiener Manufaktur Koppchen mit Fels und Vogel-Dekor, E. 18./ aus dem Zeitraum „nach 1749 bis vor 1784“ als gesichert anzunehmen. Anf. 19. Jh. 202 W. Neuwirth, Der Bindenschild als Porzel- Die beiden Stücke unterscheiden sich mit ihrem dünneren und weißeren, dicht lanmarke. Original, Imitation, Fälschung,Verfäl- gesinterten Scherben wesentlich von dem größeren Unterteller mit Fels und Vo- 2 schung (Wien 1977) 4 f.; L. Danckert, Hand- gel-Dekor. buch des europäischen Porzellans (Neuausga- be München 1992) 953. Zu dem bereits in Teil 1 publizierten Koppchen aus der Wiener Porzellanmanu- 203 Kaltenberger 2008, Kat.-Nr. 87. faktur mit Fels- und Vogel-Dekor203 liegt nun mit Kat.-Nr. 63 ergänzend der da-

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zugehörende Unterteller vor. Vor allem das Fels- und Vogel-Dekor ist in Abhän- gigkeit von den ostasiatischen Vorbildern zu sehen. Der als Basis dargestellte Löcherfelsen, ein durchbrochener, phantastisch gebildeter Zierfelsen, gehörte zur Ausstattung chinesischer Gärten.204 Auf dem Unterteller ist die Blaumalernummer „11“ unter dem Bindenschild an- gebracht, die für Aloisius Neumann für die Jahre 1783–1787 belegt ist.205 Die blind gestempelte Weißdrehernummer „8“ ist für Georg Clausner für 1783 nachgewiesen.206 Da das Objekt noch keine Jahresangabe trägt, liegt der Zeit- punkt der Herstellung vor 1784. Da der Weißdreher nur für 1783 in dieser Tä- tigkeit gesichert ist, darf als Herstellungsjahr 1783 angenommen werden. Der Teller aus dem Jahr 1783 bildet nun mit dem Koppchen207, das ebenfalls keine Jahresangabe trägt und dessen Herstellungszeitraum mit der Blaumaler- nummer 7 (Christian Eder, mit der Arbeitszeit von 1766 bis 1787) noch näher in die Jahre zwischen 1766–1784 einzugrenzen ist, ein Ensemble208. Koppchen dienten dem Genuss von Kaffee und Tee, die hohen Tassen dem von Schokolade, die als gesund galt und besonders Magen und Stimme zu- träglich sein sollte. In Archivalien zur Wiener Porzellanmanufaktur unter Du Paquier wird zwischen Bechern für Schokolade und Kaffee und Koppchen für Kaffee und Tee unterschieden. Bei den Schokoladebechern wird meist an- gegeben, ob sie henkellos oder mit einem oder zwei Henkeln versehen sind, während bei Kaffeebechern üblicherweise keine Angaben zu den Henkeln ge- macht werden. Hingegen werden Schalen oder Becher mit Henkel für Tee oder Kaffee nicht ein einziges Mal erwähnt. Es wurde klar zwischen Bechern und Tassen für Schokolade, Kaffee, Tee und anderen Getränken unterschieden und die Unterscheidungskriterien wurden als bekannt vorausgesetzt; dieses Wissen ist jedoch in Vergessenheit geraten.209 Aus den Archivalien der Wiener Porzellanmanufaktur unter Du Paquier geht hervor, dass für Tee weitaus weniger Service hergestellt wurden als für Kaffee und Schokolade. Vielleicht wurde Teezubehör entweder nach wie vor aus Ost- asien importiert oder Tee war Anfang des 18. Jahrhunderts in Wien weniger populär als die anderen neuen Heißgetränke, wie auch Reisende berichten: „Tee wird sehr wenig in Wien getrunken.“210 Die erzeugten Teekoppchen waren der chinesischen Standardform nachempfunden.

Auswertung 204 Dazu bereits ausführlich Kaltenberger 2008, 172 f. Das vorgelegte Fundmaterial ist ein Nachtrag zu den bereits publizierten Fun- 205 Neuwirth 1978, 84. den aus der unteren Verfüllung eines bei den Grabungen am Michaelerplatz 206 Neuwirth 1978, 106. 1991/1992 freigelegten mittelalterlichen211 Entsorgungsschachtes und ergänzt 207 Kaltenberger 2008, 173 und Kat.-Nr. 87. 208 Das Koppchen muss nicht im gleichen die 2008 erfolgte zusammenfassende Auswertung von Teil 1212. Der dort erar- Jahr wie der Teller hergestellt worden sein, beitete Datierungsschwerpunkt wird generell bestätigt und durch zwei mit es wurden häufig Stücke aus verschiedenen 1784 und 1786 datierte Fayencekrüge erhärtet. Eine weitere Bestätigung lie- Produktionsjahren kombiniert. 209 Chilton 2009, 688 f. fern die Wiener Porzellane, von denen ein Teller auf das Jahr 1783, das dazu 210 Chilton 2009, 703. passende Koppchen und ein weiterer Teller auf den Zeitraum „nach 1749 bis 211 I. Gaisbauer/G. Reichhalter/S. Sakl- vor 1784“ einzugrenzen sind. Oberthaler, Mittelalterliche Befunde der Gra- bungen Wien 1, Michaelerplatz (1990/1991). Wenn auch in diesem zweiten Teil gehobene Keramik mit Fayence und Porzel- FWien 10, 2007, 59 f. und Abb. 1,13.14. lan dominiert, so liegen doch wiederum einige Henkeltöpfe aus Irdenware vor, 212 Kaltenberger 2008, 177 f.

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die aus dem Bereich Küche, Kochen und Vorratshaltung stammen. Die Formen des Kochgeschirres sind generell in Haushalten aller Schichten annähernd gleich, sie sind im 18. Jahrhundert meist aus innenseitig glasierter Irdenware. Wohlhabendere Haushalte unterscheiden sich lediglich durch größere Gefäße und eine höhere Anzahl. Entscheidend setzten sich die gehobeneren Schichten mit dem Tischgeschirr ab. Ebenso finden sich wieder zwei „Nachttöpfe“, die in Haushalten des 18. Jahr- hunderts unverzichtbar waren. Das Konvolut von Apothekenabgabegefäßen mit den charakteristischen, markant aus/umgebogenen Randformen als Bin- derand für die Tektur spiegelt mit den differierenden Konturen die Variations- breite dieses Gefäßtyps im 18. Jahrhundert wider. Die bei den meisten Objek- ten beidseitig aufgetragene teure opak weiße Fayenceglasur hebt sie von den einfachen Abgabegefäßen deutlich ab, sie waren für einen kaufkräftigen Abneh- merkreis bestimmt. Sie stehen deshalb vielleicht nicht nur im Zusammenhang mit der Abgabe von Arzneien zur Bekämpfung von Krankheiten, sondern auch mit Behältnissen für teure Essenzen, die für die tägliche Toilette der gehobenen Kreise unerlässlich waren. Das vermutlich als Albarello anzusprechende fragmentiert überlieferte Fayence- gefäß stammt aus einer habanischen Werkstatt in der Westslowakei und schließt sich mit seiner Datierung in das dritte Drittel des 17. Jahrhunderts den ältesten aus der Verfüllung geborgenen Gefäßen an. Einen beträchtlichen Anteil nehmen Fayencekrüge ein, die entweder Blau auf Weiß oder mit den Scharffeuerfarben bunt bemalt sind. Aufgrund des sehr schwachen Forschungsstandes lässt sich ihre Herkunft aus Niederösterreich lediglich annehmen, wenngleich eine Herstellung in der Westslowakei, zumin- dest für einige Exemplare, die in posthabanischer Tradition stehen, derzeit nicht auszuschließen ist. Von bislang ungewöhnlicher Form sind zwei fassförmige Krüge, die dem Genuss von Bier oder Wermut gedient haben könnten. Von dem Bestreben nach einheitlichem Tischgeschirr zeugen eine Terrine und ein Teller eines Services aus der Fayencemanufaktur in Holitsch. Die Präsenz von Fayence aus der von Kaiser Franz Stephan in der Westslowakei gegründe- ten Manufaktur ist im Nahbereich des Hofes nicht weiter verwunderlich. Wie bereits mit wenigen Stücken in Teil 1 belegt, treten nun vermehrt Kopp- chen und (Henkel-)Tassen und die entsprechenden Untertassen auf, sowohl in Fayence als auch, in größerer Anzahl, in Porzellan. Zu den importierten teuren Fayencen zählen die Tassen und die Schüssel aus Savona in Italien, ebenso wie das türkische Koppchen. Ausschließlich dem Genuss von Kaffee und Tee vorbehalten blieben wahr- scheinlich die Koppchen und Untertassen aus chinesischem Porzellan, das sich sowohl aus traditionellen blau-weißen Porzellanen als auch aus „China- Imari“, den chinesischen Imitationen japanischen Porzellans, zusammensetzt. Die Datierung dieser Porzellane in die Zeit um 1700 bis um 1730 lässt sich mit einigen qualitätvollen Kelchgläsern213 und Gläsern mit dem charakteristi- schen Bandelwerkdekor214 aus dieser Verfüllschicht in Verbindung bringen,

213 Tarcsay 2008, G24; G25. die gleichfalls in die Zeit um 1700 bis in die erste Hälfte des 18. Jahrhunderts 214 Tarcsay 2008, bes. G22; G26. gestellt werden. Die im Verhältnis zur Masse des Fundmaterials ältere Zeitstel-

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lung der chinesischen Porzellane deutet die gehobene Wertschätzung dieser teuren Importstücke an, weshalb sie über einen längeren Zeitraum verwendet bzw. aufbewahrt worden sein dürften. Besseres Geschirr wurde üblicherweise stärker geschont und weist daher durchschnittlich eine längere Lebensdauer auf. Ergänzt bzw. abgelöst wurden die chinesischen Koppchen und Unterteller durch gleich gestaltete Formen aus der Wiener Manufaktur, die im Zeitraum „nach 1749 bis vor 1784“ hergestellt wurden. Koppchen, die dem Genuss von Kaffee und Tee dienten, sind im Fundspek- trum häufiger vertreten als hohe Tassen für Schokolade. Der Wandel vom Koppchen zur niedrigen Henkeltasse dürfte sich um oder knapp nach der Mitte des 18. Jahrhunderts anbahnen. Zumindest drei Fayencen dieser Form liegen aus der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts vor. Mit dem ergänzenden Fundmaterial wird vornehmlich Tischgeschirr aus Fayence und Porzellan überliefert, das den gehobenen Lebensstil und die Ta- felkultur der hier ansässigen wohlhabenden Bürger und Hofbeamten im Umfeld des Kaiserhofes beleuchtet. Mit Porzellan aus China, Fayencen aus Savona in Italien und aus der Westslowakei wird ein Schlaglicht auf die Handelsbeziehun- gen in Wien im 18. Jahrhundert geworfen.

Katalog

Abkürzungen BDm Bodendurchmesser Brst(e). Bruchstück(e) BS Bodenbruchstück Frgm. Fragment HHöhe ox. Oxidationsbrand RDm Randdurchmesser RS Randbruchstück S Scherbenbeschreibung WS Wandbruchstück Korngrößenbestimmung richtet sich nach der überwiegenden Anzahl der Magerungspartikel; einzelne größere werden extra vermerkt. sehr fein keine bzw. kaum erkennbare Magerungspartikel fein bis 0,25 mm mittelfein bis 0,5 mm mittelgrob bis 1 mm grob bis 2 mm sehr grob über 2 mm Magerungsmenge/-dichte schwach bis 5/cm2 mäßig 5 bis 10/cm2 stark 10 bis 20/cm2 sehr stark über 20/cm2 Porengröße – Porosität feinstporig gerundete Poren bis um 0,1 mm feinporig gerundete Poren bis 0,25 mm Größere Poren werden einzeln nach Form und Größe beschrieben. Glasurfarben/Scherbenfarben nach RAL-K3 Übersichtskarte und (in „“) nach MICHEL-Farbenführer. 36. erweiterte Aufl. (Mün- chen 1992). Konnten keine Übereinstimmungen festgestellt werden, so wurden sie in freier Wortwahl beschrieben. Farbe des Scherbens nach Munsell Soil Color Charts (Baltimore 1975).

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Oxidierend gebrannte Irdenware Innenseitig glasierte Irdenware Töpfe 1 4 RS, 5 WS, 1 BS eines bauchigen Henkeltopfes mit Kragenrand und randständigem Band- henkel. – 18. Jh. (Taf. 1,1) RDm: 9,5 cm, H: 11,4 cm, BDm: 5,9 cm. S: Michaelerplatz-Ox 2. Oberfläche: Innenseite „mittelockerbraun“ glasiert, innere Randzone durch nochmaligen Glasur- auftrag betont. Inv.-Nr. 1055/480, 519, 561, 603, 660, 891. FO: bis 8,86 m über Wr. Null. 2 5 RS, 9 WS, 5 BS eines bauchigen Henkeltopfes mit Kragenrand und randständigem Band- henkel, unten mit Fingerdruckmulde angarniert. – 2. H. 18. Jh. (Taf. 1,2) RDm: 10,5 cm, H: 11,7 cm, BDm: 7,5 cm. S: Michaelerplatz-Ox 2. Oberfläche: Innenseite und Henkeloberseite „lebhaftbraunocker“ glasiert, glänzend, stark kleintei- lig krakeliert, mit wenigen dunkelbraunen, nicht ausgebrannten Pigmenten. Gebrauchsspuren: an der dem Henkel gegenüberliegenden Seite sekundär geschwärzt durch Stehen am offenen Feuer, korrespondierend an der Innenseite Glasurfarbe zu Oliv verändert. Inv.-Nr. 1071/83, 257, 264, 332, 334, 337, 342, 346, 359, 443, 564; FO: unter Niveau 7,76 m über Wr. Null. 1075/190, 337, 492; FO: bis 7,73 m über Wr. Null. 3 1 RS-WS, 1 WS und Boden eines bauchigen Henkeltopfes mit profiliertem Kragenrand und De- ckelfalz. Henkel unten mit Fingerdruckmulde angarniert. – 18. Jh. (Taf. 1,3) RDm: 9,8 cm, H: 10,4 cm, BDm: 5,5 cm. S: Michaelerplatz-Ox 2. Oberfläche: Innenseite „dunkelgelbocker“ mit vielfachen feinen dunkelbraunen, nicht ausgebrann- ten Pigmenten glasiert, etwas rau; innerer Randbereich durch weiteren Glasurauftrag betont gla- siert, dort Oberfläche glatt. Gebrauchsspuren: an der dem Henkel gegenüberliegenden Seite im Fußbereich sekundär ge- schwärzt. Inv.-Nr. 1143/56, 77, 84. FO: 7,76 bis 6,73 m über Wr. Null. 4 R-W-Boden, 4 RS eines bauchigen Henkeltopfes mit aufgestelltem, geringfügig verdicktem Rand, Deckelfalz und gegenüber dem Henkel kleinem, gezogenem Ausguss. Bandhenkel unten mit Fingerdruckmulde angarniert. – 18. Jh. (Taf. 1,4) RDm: 10 cm, H: 11,5 cm, BDm: 6 cm. S: Michaelerplatz-Ox 2. Oberfläche: Innenseite „ocker“ glasiert, glänzend, mit wenigen dunkelbraunen, nicht ausgebrann- ten Pigmenten. Gebrauchsspuren: an der dem Henkel gegenüberliegenden Wand sekundäre graue Fleckung. Inv.-Nr. 1061/6, 7, 12, 14, 34, 150. FO: unter 8,86 bis 7,76 m über Wr. Null. 5 Brste. eines kleinen Henkeltopfes mit aufgestelltem, dreieckig verdicktem Rand, Deckelfalz und gegenüber dem Henkel gezogenem Ausguss (Ansatz nachweisbar). Bandhenkel unten mit einer Fingerdruckmulde angarniert. – 2. H. 18. Jh. (Taf. 2,5) RDm: 7,7 cm, H: 8,4 cm, BDm: 4,9 cm. Dekor: auf der Schulter eine horizontal umlaufende Rille. S: Michaelerplatz-Ox 2. Oberfläche: innen „lebhaftocker“ glasiert, innere Randzone durch weiteren Glasurauftrag betont. Gebrauchsspuren: auf der dem Henkel gegenüberliegenden Seite großflächig sekundär ge- schwärzt. Inv.-Nr. 1071/293, 345, 560, 662, 667, 669, 800. FO: unter Niveau 7,76 m über Wr. Null.

„Nachttöpfe“ 6 2 RS, 3 WS, 2 BS eines schwach bauchigen Henkeltopfes mit breitem, schräg ausladendem, nach unten verdicktem Rand. Wandständiger Bandhenkel unten mit Fingerdruckmulde angarniert („Nachttopf“). – 2. H. 18. Jh. (Taf. 2,6) RDm: 15,4 cm, H: 12 cm, BDm: 10,5 cm. Dekor: auf dem Bauch zwei horizontal umlaufende Rillen.

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S: sehr stark fein gemagerte, oxidierend orangerosa gebrannte Irdenware. Magerungsanteile: fein; sehr viele gerundete, farblos bis weiß durchscheinende Partikel (Quarz/ Feldspat) bis 0,25 mm, wenige kantige und verrundete, opak hellbeige Partikel bis 0,5 mm. Matrix: feinporig und mehrfach unregelmäßige größere und längliche Poren bis 3 mm. Farbe der frischen Bruchfläche: orangerosa 7.5YR 7/6 reddish yellow. Oberfläche: Außenseite unglasiert, Innenseite „mittelorangebraun“ glasiert, innere Randzone durch nochmaligen Glasurauftrag betont, dort durch dickeren Glasurauftrag stellenweise dunkel- braun. Brand: ox., hart gebrannt. Gebrauchsspuren: Die Oberfläche ist beidseitig – durch Benutzung oder Bodenlagerung? – kor- rodiert. Inv.-Nr. 1075/102, 290, 302, 315, 399, 400, 519, 531. FO: bis 7,73 m über Wr. Null. 7 4 RS, 9 WS, 5 BS eines bauchigen Doppelhenkeltopfes mit breitem, schräg ausladendem, nach unten verdicktem Rand. Wandständige Bandhenkel unten mit Fingerdruckmulde angarniert („Nachttopf“). – 2. H. 18. Jh. (Taf. 2,7) RDm: 19 cm, H: 14,5 cm, BDm: 12 cm. Dekor: auf dem Bauch zwei horizontal umlaufende Rillen. S: sehr stark mittelfein gemagerte, oxidierend orangerosa gebrannte Irdenware. Magerungsanteile: mittelfein; sehr viele gerundete, farblos bis weiß durchscheinende Partikel (Quarz/Feldspat) bis 0,5 mm, vereinzelte gerundete, dunkelrostfarbige Eisenoxidkonkretionen bis 0,5 mm. Matrix: porig, mehrfach längliche Poren bis 4 mm. Farbe der frischen Bruchfläche: orangerosa 7.5YR 7/6 reddish yellow, Außenseite dünn grau- braun. Oberfläche: Außenseite überbrannt, daher graubraun ähnlich 10YR 5/2 grayish brown, etwas rau und strukturiert. Innenseite ähnlich „dunkelorangebraun“ glasiert, durch dünnen Glasurauftrag matte, raue und strukturierte Oberfläche; im inneren Randbereich durch nochmaligen Glasurauf- trag betont, dort Oberfläche „braunocker“, glatt und glänzend. Brand: ox., mäßig hart gebrannt. Vgl.: Landshut: Endres (Anm. 23) Abb. 43 links (grün glasiert) und rechts vorne (blau glasiert), 2. H. 18. Jh. Inv.-Nr. 1071/384, 444, 445, 480, 504, 793; FO: unter Niveau 7,76 m über Wr. Null. 1075/30, 116, 167, 172, 393, 395, 533; FO: bis 7,73 m über Wr. Null.

Hohldeckel 8 2 Brste. eines Hohldeckels mit pilzförmigem Knauf. – 18. Jh. (Taf. 2,8) RDm: 6,8 cm, H: 2,7 cm, Knauf-Dm: 1,6 cm. S: Michaelerplatz-Ox 2. Oberfläche: beidseitig dunkelbraun (RAL 8016 Mahagonibraun) glasiert; ein Bruchstück durch Bodenlagerung korrodiert. Inv.-Nr. 1071/238, 672. FO: unter Niveau 7,76 m über Wr. Null. 9 2 Brste. eines kleinen Hohldeckels mit dreieckig zugespitztem Knauf. – 18. Jh. (Taf. 2,9) RDm: 5,5 cm, H: 2,5 cm, Knauf-Dm: 1,3 cm. S: Michaelerplatz-Ox 2. Oberfläche: beidseitig schwarzbraun glasiert, etwas korrodiert, nur stellenweise glänzend. Inv.-Nr. 1975/181, 345. FO: bis 7,73 m über Wr. Null.

Malhorndekorierte Irdenware Kleine Schalen 10 Brste. einer kleinen Schale mit abgesetztem Fuß. – 18. Jh. (Taf. 2,10) RDm: 5,5 cm, H: 2,6 cm, BDm: 3,6 cm. Dekor: außen unter dem Rand eine horizontal umlaufende Rille. Auf der Innenseite Malhorndekor auf weißer Grundengobe: auf der Wandung senkrechte, alter- nierend rotbraune und dunkelbraune Linien, auf der Bodenseite durch Schütteln/Verziehen mar- moriert. Darüber transparente, schwach gelbstichige Glasur. S: Michaelerplatz-Ox 2.

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Oberfläche: Innenseite glasiert, hochglänzend, feinteilig krakeliert. Brand: ox., hart gebrannt. Inv.-Nr. 1075/184, 324. FO: bis 7,73 m über Wr. Null. 11 Brst. einer kleinen Schale mit abgesetztem Fuß. – 18. Jh. (Taf. 2,11) RDm: 5,5 cm, H: 3 cm, BDm: 3,6 cm. Dekor: außen unter dem Rand eine horizontal umlaufende Rille. Auf der Innenseite Malhorndekor auf weißer Grundengobe: auf der Wandung senkrechte, alter- nierend rotbraun und dunkelbraune Linien, auf der Bodenseite durch Schütteln/Verziehen mar- moriert. Darüber transparente, schwach gelbstichige Glasur. S: Michaelerplatz-Ox 2. Oberfläche: Innenseite glasiert, hochglänzend, feinteilig krakeliert. Brand: ox., hart gebrannt. Inv.-Nr. 1075/159, 225. FO: bis 7,73 m über Wr. Null. Fayence Henkeltopf 12 2 RS, 4 WS, 1 BS eines bauchigen Henkeltopfes mit etwas verdicktem, aufgestelltem Rand, Deckelfalz, randständigem Bandhenkel, gegenüber auf dem Rand angarnierter Haltenase/Griff- knubbe und abgesetztem, umgeschlagenem Fuß. – 2. H. 18. Jh. (Taf. 3,12) RDm: 10,3 cm, H: 12,5 cm, BDm: 7,4 cm. Dekor: auf dem Hals ein horizontal umlaufender Grat. S: Michaelerplatz-Fay 2. Oberfläche: auf der Innenseite opak hell graublau („dunkelgraugrün“) glasiert, glänzend, stark kra- keliert. Außenseite fein manganbraun gespritzt, darunter opak weiß getrübte Stellen erkennbar, stark korrodiert (durch Bodenlagerung?). Bodenunterseite unglasiert, hellbeige. Gebrauchsspuren: auf der Innenseite und besonders auf dem Deckelfalz sowie auf der dem Hen- kel gegenüberliegenden Außenseite brauner Belag. Inv.-Nr. 1075/113, 163, 193, 287, 340, 364, 377, 530. FO: bis 7,73 m über Wr. Null.

Kleine bauchige Töpfe (Apothekenabgabegefäße) 13 2 RS, 1 WS und Boden eines kleinen, stark bauchigen Topfes mit ausgebogenem Rand (Bin- derand) und abgesetztem Fuß (Apothekenabgabegefäß). – (2. H.) 18. Jh. (Taf. 3,13) RDm: 3,9 cm, H: 4,9 cm, BDm: 3 cm. S: Michaelerplatz-Fay 2. Oberfläche: Außenseite und Randinnenseite opak „hellblaugrau“ glasiert, glänzend bis seiden- matt, kaum krakeliert. Glasur der Innenseite geringfügig getrübt, nahezu farblos mit beiger Farb- wirkung. Bodenunterseite unglasiert. Herstellungstechnologische Merkmale: auf der Innenseite anhaftender Tonpatzen. Vgl.: Schweiz, Schloss Hallwil: ähnlich, mit gerundet eingezogener Fußzone; Kranzfelder 1982, Nr. 467c: beidseitig grün glasierte Irdenware, schwerpunktmäßig 18. Jh. Inv.-Nr. 1071/41, 629, 668. FO: unter Niveau 7,76 m über Wr. Null. 14 2 RS, 4 WS und Boden eines kleinen, stark bauchigen Topfes mit ausgebogenem Rand (Bin- derand) und abgesetztem Fuß (Apothekenabgabegefäß). – (2. H.) 18. Jh. (Taf. 3,14) RDm: 4,9 cm, H: 7,4 cm, BDm: 3,7 cm. S: Michaelerplatz-Fay 2. Oberfläche: Außenseite und Randinnenseite opak „hellgrünlichgrau“ glasiert, glänzend bis seiden- matt, sehr stark krakeliert. Glasur der Innenseite nur schwach getrübt, mit beiger Farbwirkung. Bodenunterseite unglasiert. Vgl.: Nürnberg: Kranzfelder 1982, Nr. 655: Fayence, schwerpunktmäßig 1./2. D. 18. Jh. Inv.-Nr. 1075/15, 56, 126, 149, 187, 237, 498. FO: bis 7,73 m über Wr. Null. 15 Kleiner bauchiger Topf mit ausgebogenem Rand (Binderand) und abgesetztem Fuß (Apothe- kenabgabegefäß). – (2. H.) 18. Jh. (Taf. 3,15) RDm: 5,5 cm, H: 7,2 cm, BDm: 3,5 cm. S: Michaelerplatz-Fay 2 – museales Ganzgefäß, nur ein Abschlag auf dem Rand. Oberfläche: beidseitig mit Ausnahme der Bodenunterseite opak weiß glasiert, mehrfach feinste schwarze Punkte, hochglänzend, nicht krakeliert. Fassungsvermögen: 1/10 Liter. Inv.-Nr. KF 405/1. FO: Niveau 1, bis 8,86 m über Wr. Null.

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16 Kleiner bauchiger Topf mit ausgebogenem Rand (Binderand) und abgesetztem, umgeschlage- nem Fuß (Apothekenabgabegefäß). – (2. H.) 18. Jh. (Taf. 3,16) RDm: 4,9 cm, H: 8,2 cm, BDm: 3,8 cm. S: Michaelerplatz-Fay 2. Oberfläche: beidseitig mit Ausnahme der Bodenunterseite opak weiß mit geringem Graustich gla- siert, glänzend, nicht krakeliert. Herstellungstechnologische Merkmale: Gefäß nicht einwandfrei gedreht, an einer Stelle Verdi- ckung. Fassungsvermögen: 1/10 Liter. Vgl.: Wien: Kohlprath (Anm. 53) Kat.-Nr. 403: Tiegel, H: 6,7 cm, weiß glasiert, 18. Jh. Inv.-Nr. KF 433/1. FO: unter 7,76 m über Wr. Null. 17 Kleiner bauchiger Topf mit waagerecht umgelegtem Rand (Binderand) und abgesetztem Fuß (Apothekenabgabegefäß). – (2. H.) 18. Jh. (Taf. 3,17) RDm: 6,1 cm, H: 8,3 cm, BDm: 4 cm. S: Michaelerplatz-Fay 2. Oberfläche: beidseitig mit Ausnahme der Bodenunterseite opak weiß mit geringem Graustich gla- siert, vielfach feinste schwarze Punkte, glänzend, nicht krakeliert. Fassungsvermögen: 3/20 Liter. Inv.-Nr. KF 403/1. FO: Niveau 1, bis 8,86 m über Wr. Null. 18 2 RS, 5 WS, 2 BS eines kleinen bauchigen Topfes mit waagerecht umgelegtem Rand (Binde- rand) und abgesetztem Fuß (Apothekenabgabegefäß). – (2. H.) 18. Jh. (Taf. 3,18) RDm: 7 cm, H: 9,8 cm, BDm: 4,4 cm. S: Michaelerplatz-Fay 2. Oberfläche: beidseitig mit Ausnahme der Bodenunterseite opak weiß mit leichtem Rosastich gla- siert, darin vielfach feine schwarze Partikel, ein grün ausblutender Punkt, glänzend, nicht krake- liert. Inv.-Nr. 1055/150, 224, 409, 575, 583, 635, 640, 754. FO: bis 8,86 m über Wr. Null. 19 Kleiner bauchiger Topf mit ausgebogenem Rand (Binderand) und abgesetztem Fuß (Apothe- kenabgabegefäß). – (2. H.) 18. Jh. (Taf. 3,19) RDm: 4 cm, H: 5,2 cm, BDm: 3 cm. S: Michaelerplatz-Fay 2 zugewiesen – nahezu intaktes museales Ganzgefäß mit kleiner alter Ab- schlagstelle auf dem Fuß – keine Scherbenprobe entnommen, Beobachtungen an Bodenunter- seite. Oberfläche: beidseitig mit Ausnahme der Bodenunterseite ursprünglich opak weiß glasiert. Glasur durch Korrosion jetzt überwiegend dunkelbraun, matt, stark krakeliert. Fassungsvermögen: rund 1/30 Liter. Vgl.: Wien, Michaelerplatz: Kaltenberger 2008, Taf. 12 Kat.-Nr. 67: Fayence, H: 5,2 cm; Nürn- berg: formal ähnlich; Kranzfelder 1982, Nr. 655: Fayence, schwerpunktmäßig 1./2. D. 18. Jh. Inv.-Nr. KF 440/1. FO: bis 6,73 m über Wr. Null. 20 Kleiner bauchiger Topf mit ausgebogenem Rand (Binderand) und abgesetztem Fuß (Apothe- kenabgabegefäß). – (2. H.) 18. Jh. (Taf. 3,20) RDm: 4 cm, H: 5,5 cm, BDm: 3 cm. S: Michaelerplatz-Fay 2 zugewiesen – nahezu intaktes museales Ganzgefäß mit kleiner alter Bruchstelle – keine Scherbenprobe entnommen, Beobachtungen an Bodenunterseite. Oberfläche: beidseitig mit Ausnahme der Bodenunterseite ursprünglich opak weiß glasiert. Glasur durch Korrosion jetzt überwiegend dunkelbraun, seidenmatt bis matt, stark krakeliert. Nadelsti- che, feinkörnig bzw. nicht aufgeplatzte Blasen. Auf der Bodenunterseite braune Glasurflecke, sehr viele Nadelstiche. Fassungsvermögen: etwas weniger als 1/20 Liter. Inv.-Nr. KF 434/1. FO: unter 7,76 m über Wr. Null. 21 1 RS, 7 WS und Boden eines kleinen bauchigen Topfes mit waagerecht umgelegtem Rand (Binderand) und abgesetztem Fuß (Apothekenabgabegefäß). – (2. H.) 18. Jh. (Taf. 3,21) RDm: 4 cm, H: 6,8 cm, BDm: 4 cm. S: Michaelerplatz-Fay 2. Oberfläche: beidseitig mit Ausnahme der Bodenunterseite ursprünglich opak weiß glasiert. Glasur durch Korrosion jetzt vor allem auf der Außenseite überwiegend braun, matt, sehr stark sehr fein- teilig krakeliert.

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Inv.-Nr. 1071/60, 62, 63, 76, 82, 234, 244, 505, 595, 609. FO: unter Niveau 7,76 m über Wr. Null. 22 Kleiner bauchiger Topf mit ausgebogenem Rand (Binderand) und abgesetztem Fuß (Apothe- kenabgabegefäß). – (2. H.) 18. Jh. (Taf. 3,22) RDm: 5 cm, H: 5,7 cm, BDm: 3,4 cm. S: Michaelerplatz-Fay 1 – museales Ganzgefäß, keine Scherbenprobe entnommen, Beobachtun- gen an unglasiertem Fuß. Oberfläche: beidseitig mit Ausnahme der Bodenunterseite opak hellgrau (RAL 9018 Papyrusweiß) glasiert, seidenmatt, stark krakeliert. Herstellungstechnologische Merkmale: Der umgelegte Rand wurde an einer Stelle bereits vor dem Auftragen der Glasur beschädigt, so dass eine größere Fehlstelle entstand. Dennoch wurde das Gefäß glasiert, verkauft und verwendet. Gebrauchsspuren: Innenseite dunkelbraun – durch Einwirkung des Inhaltes auf die Glasur. Auf der Bodenunterseite anhaftender rotbrauner Belag (Sinter?). Fassungsvermögen: 1/20 Liter. Inv.-Nr. KF 407/1. FO: Niveau 1, bis 8,86 m über Wr. Null. 23 Kleiner bauchiger Topf mit waagerecht umgelegtem Rand (Binderand) und abgesetztem Fuß (Apothekenabgabegefäß). – (2. H.) 18. Jh. (Taf. 3,23) RDm: 5,5 cm, H: 5,1 cm, BDm: 3 cm. S: Fayence, mäßig mittelfein gemagert, oxidierend hellbeige mit rosa Kern gebrannt. Magerungsanteile: mittelfein; mehrfach gerundete, opak weiße Partikel bis 0,5 mm, sehr verein- zelte kantige, ziegelfarbige Partikel bis 0,5 mm. Matrix: mäßig gemagert, feinporig. Farbe der frischen Bruchfläche: Kern rosa 5YR 7/6 reddish yellow, darüber dünn hellbeige 10YR 8/4 very pale brown. Oberfläche: beidseitig mit Ausnahme der Bodenunterseite opak weiß glasiert mit unregelmäßig beige bis nahezu weißer Farbwirkung, je nach Dicke des Glasurauftrages, seidenmatt, stark kra- keliert. Brand: ox., mäßig hart gebrannt. Herstellungstechnologische Merkmale: Glasur während des Brandes schlecht verronnen. Fassungsvermögen: etwas weniger als 1/20 Liter. Vgl.: Schweiz, Schloss Hallwil: Kranzfelder 1982, Nr. 467a: beidseitig grün glasierte Irdenware, schwerpunktmäßig 18. Jh.; Nr. 468a: innen grün glasierte Irdenware, schwerpunktmäßig 18. Jh. Inv.-Nr. KF 404/1. FO: Niveau 1, bis 8,86 m über Wr. Null. 24 Kleiner bauchiger Topf mit ausgebogenem Rand (Binderand) und abgesetztem Fuß (Apothe- kenabgabegefäß). – (2. H.) 18. Jh. (Taf. 4,24) RDm: 4,6 cm, H: 5,4 cm, BDm: 3,8 cm. S: Michaelerplatz-Fay 1 – museales Ganzgefäß, keine Scherbenprobe entnommen, Beobachtun- gen an alten Abschlagstellen auf dem Bauch. Magerungsanteile: mehrfach unregelmäßig gerundete, dunkelrostfarbige Eisenoxidkonkretionen bis 0,25 mm. Oberfläche: beidseitig mit Ausnahme der Bodenunterseite opak RAL 9001 Cremeweiß glasiert, mit großflächiger grauer Fleckung unter der Glasur (durch ehemaligen Inhalt oder Bodenlage- rung? verursacht), glänzend, stark krakeliert. Fassungsvermögen: geringfügig mehr als 1/20 Liter. Inv.-Nr. KF 431/1. FO: bis 8,86 m über Wr. Null.

Habanische Fayence aus der Westslowakei Bauchiger Topf (Apothekenstandgefäß, Albarello) 25 12 WS und Boden eines schwach bauchigen Topfes mit abgesetztem Fuß (Apothekenstand- gefäß). – Westslowakei, habanisch, 3. D. 17. Jh. (Taf. 4,25) BDm: 6,6 cm. Dekor: Kobaltblau, abgesetzter Fuß mit blauer Linie dekoriert; auf der Wandung Rest einer Kar- tusche, eingerahmt von floralem Rankenwerk.

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Vgl.: Kalesný 1981, Abb. 211 = Pišútová 1981, Abb. 2: habanisches Apothekengefäß, Westslo- wakei, dat. 1672; Kybalová (Anm. 68) Kat.-Nr. 41: sechsseitige Flasche, Westslowakei, dat. 1674; Kalinová (Anm. 68) Abb. 10: Fass, Westslowakei, 2. H. 17. Jh.; Pastieriková 2005, 118 SNM E-1102: Teller, Westslowakei, um 1680. S: Fayence, sehr stark fein gemagert, oxidierend hellbeige gebrannt. Magerungsanteile: fein; sehr viele gerundete, farblos bis weiß durchscheinende Partikel (Quarz/ Feldspat) bis 0,25 mm, vereinzelte rostfarbige Eisenoxidkonkretionen bis 0,25 mm. Matrix: sehr stark gemagert, geringfügig feinstporig. Farbe der frischen Bruchfläche: hellbeige 10YR 8/3 very pale brown. Oberfläche: beidseitig und Bodenunterseite opak hellgrau RAL 9018 Papyrusweiß glasiert, sei- denmatt, etwas krakeliert. Glasur auf der Bodenunterseite mit vielen Nadelstichen und aufge- platzten Blasen. Brand: ox., hart gebrannt. Vgl.: Wien, Michaelerplatz: formal Kaltenberger 2008, Kat.-Nr. 83, Scherben hier geringfügig hel- ler, sonst gleich. Inv.-Nr. 1061/43; FO: unter 8,86 bis 7,76 m über Wr. Null. 1071/16, 44, 200, 236, 241, 607, 678, 699, 704; FO: unter Niveau 7,76 m über Wr. Null.

Mit Scharffeuerfarben dekorierte Fayencen aus Niederösterreich Birnkrüge 26 Birnkrug mit trichterförmigem Hals, ausgestelltem Fuß und unterrandständig angarniertem, hochgezogenem Bandhenkel. – Niederösterreich, posthabanisch, dat. 1786 (Taf. 4,26) RDm: 7,4 cm, H: 17,8 cm, BDm: 7,2 cm. Dekor: in kobaltblauem Kranz aus Fiederblattleiste und einer mit Manganbraun fein strukturierten Masche oben und unten, manganbraune Jahreszahl 1786, begleitet oben und unten von einer zarten manganbraunen Zierleiste, bestehend aus zentralem Stern und seitlich immer kleiner wer- denden vertikalen Strichen. – Die gleiche Zierleiste Birnkrug Kaltenberger 2008, Kat.-Nr. 79. S: Michaelerplatz-Fay 1 – museales Ganzgefäß, keine Scherbenprobe entnommen, Beobachtung an alten Bestoßungen auf dem Rand und Henkelabrissen. Oberfläche: beidseitig mit Ausnahme der Bodenunterseite opak weiß (sehr ähnlich RAL 9001 Cremeweiß) glasiert, glänzend, im Henkelbereich etwas krakeliert. Herstellungstechnologische Merkmale: auf der Außenseite des Bauches Drehrillen unter der Gla- sur erkennbar. Auf der Bodeninnenseite markante Drehschnecke. Inv.-Nr. KF 409/1; FO: Niveau 1, bis 8,86 m über Wr. Null. 1055/755; FO: bis 8,86 m über Wr. Null. 27 2 RS, 4 WS und Unterteil eines Birnkruges mit schwach trichterförmigem Hals, ausgestelltem Fuß und unterrandständig angarniertem, hochgezogenem Bandhenkel. – Niederösterreich, post- habanisch, dat. 1784 (Taf. 4,27) RDm: 7,3 cm, H: 18,5 cm, BDm: 8 cm. Dekor: in grünem Kranz aus einer Fiederblattleiste mit Masche oben und unten mit manganbrau- ner Binnenzeichnung brauner Bär nach links. Darüber manganbraun „A . O(Rest fehlt)“, darunter Jahreszahl 1784. Marke: auf der Bodenunterseite manganbraun großes „S.“–H: 4,3 cm. S: Michaelerplatz-Fay 1. Oberfläche: beidseitig opak weiß (sehr ähnlich RAL 9001 Cremeweiß) glasiert, glänzend, im Hen- kelbereich etwas krakeliert. Bodenunterseite unglasiert. Inv.-Nr. KF 388/1 und 1055/38, 72, 120, 176, 428, 648, 686. FO: bis 8,86 m über Wr. Null. 28 Birnkrug mit trichterförmigem Hals, ausgestelltem Fuß und unterrandständig angarniertem, hochgezogenem Bandhenkel. – Niederösterreich, 2. H. 18. Jh. (Taf. 5,28) RDm: 6,7 cm, H: 18,2 cm, BDm: 7,5 cm. Dekor: durch sehr starke Korrosion nur mehr Dekorreste erkennbar: manganbraun konturierter, springender Hirsch nach rechts mit nach links zurückgewendetem Haupt und Geweih. Reste der Landschaft und Vegetation manganbraun konturiert und zum Teil gelb gemalt. S: Michaelerplatz-Fay 2. Oberfläche: beidseitig stark braun korrodiert. Bodenunterseite unglasiert. Inv.-Nr. KF 435/1. FO: unter 7,76 m über Wr. Null. 1 RS nicht anpassend 1071/211.

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29 Brste. eines Birnkruges mit schwach trichterförmigem Hals, abgesetztem Fuß und unterrand- ständig angarniertem, hochgezogenem Bandhenkel. – Niederösterreich, 2. H. 18. Jh. (Taf. 5,29) RDm: 6,8 cm, H: 18,1 cm, BDm: 7,5 cm. Dekor: manganvioletter Doppeladler, in den Klauen Palmwedel, grün hervorgehoben. S: Michaelerplatz-Fay 2. Oberfläche: beidseitig opak RAL 9001 Cremeweiß glasiert, seidenmatt, stellenweise glänzend, sehr viele feinste schwarze Partikel in der Glasur, nicht krakeliert. Bodenunterseite unglasiert. Inv.-Nr. 1061/2, 94; FO: unter 8,86 bis 7,76 m über Wr. Null. 1071/11, 79, 218, 255, 415, 416, 518, 579, 617, 630, 720; FO: unter Niveau 7,76 m über Wr. Null. 1075/236, 349; FO: bis 7,73 m über Wr. Null.

Krug mit Doppelhenkel („Maienvase“) 30 Bauchiger Krug mit nahezu zylindrischem Hals, abgesetztem Fuß und eingerollten Doppelhen- keln („Maienvase“). – Niederösterreich, 2./3. D. 18. Jh. (Taf.5,30) RDm: 6,5 cm, H: 15 cm, BDm: 5,8 cm. Dekor: kobaltblaue dreilappige Blüte mit Fiederblättern, darüber Granatapfelmotiv. Vgl.: Österreichische Fayencen 1993, Kat.-Nr. 263: Birnkrug, Niederösterreich, um 1770. S: vermutlich Michaelerplatz-Fay 2. Keine Scherbenprobe entnommen – museales Gefäß, mit ab- gebrochenem Henkel und einer alten Abschlagstelle auf dem Rand; keine rezenten Abschläge. Oberfläche: beidseitig mit Ausnahme der Bodenunterseite opak weiß mit Graustich glasiert, stel- lenweise mit vielen feinsten schwarzen Partikeln, glänzend, nur stellenweise sehr wenig krakeliert. Inv.-Nr. KF 441/1. FO: bis 6,73 m über Wr. Null.

Walzenkrug 31 Brste. eines Walzenkruges mit ausgestelltem Fuß und wandständigem Wulsthenkel. – Nieder- österreich, spätes 18. Jh. (Taf. 6,31) RDm: 7,7 cm, H: 10,5 cm, BDm: 8 cm. Dekor: dreimal an vertikaler manganbrauner Linie seitlich alternierend gelbe Blüten und jeweils zwei grüne Blätter, nach oben hin kleiner werdend. Entlang des Randes und des Fußes jeweils drei manganbraune horizontal umlaufende Linien. S: Michaelerplatz-Fay 2. Oberfläche: beidseitig mit Ausnahme der Bodenunterseite opak weiß mit blaugrauem Farbstich glasiert. Außenseite braun korrodiert, matt, stark krakeliert; Innenseite kräftiger graublau, glän- zend, stark krakeliert. Inv.-Nr. 1071/96, 230, 243, 252, 254, 418, 745, 780; FO: unter Niveau 7,76 m über Wr. Null. 1075/247; FO: bis 7,73 m über Wr. Null.

Krüge in Fassform 32 Brste. eines kleinen, sehr schwach bauchigen Kruges mit unterrandständig angarniertem, ge- schwungenem Wulsthenkel. – Niederösterreich? (2. H.) 18. Jh. (Taf. 6,32) RDm: 6,8 cm, H: 6,7 cm, BDm: 5,8 cm. Dekor: Fass, zur Angabe der Fassdauben vertikale manganbraune Streifen, jeweils drei horizontal umlaufende manganbraune Linien zur Angabe der Weidenruten. S: Michaelerplatz-Fay 2. Oberfläche: beidseitig und Bodenunterseite mit Ausnahme der Standring-Unterseite opak weiß glasiert. Auf der Außenseite braun korrodiert, seidenmatt bis matt, nicht krakeliert; auf der Innen- seite Glasur mit kräftigem Rosastich, eine größere Stelle mit grüner Schattierung, seidenmatt, großflächig mit vielen feinsten schwarzen Partikeln; Bodenunterseite mit graublauer Fleckung, glänzend, krakeliert. Herstellungstechnologische Merkmale: ausgedrehter dünner Standring. In der Henkeloberseite eingestochenes Loch für die Montage eines Deckels. Inv.-Nr. 1055/629; FO: bis 8,86 m über Wr. Null. 1071/253, 576; FO: unter Niveau 7,76 m über Wr. Null. 1075/488, 540; FO: bis 7,73 m über Wr. Null. 33 2 RS, 1 WS, 3 BS eines fassförmigen Kruges, unterer Henkelabriss erhalten. – Niederöster- reich? (2. H.) 18. Jh. (Taf. 6,33) RDm: 8 cm, H: 11,8 cm, BDm: 7,3 cm.

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Marke: auf der Bodenunterseite manganbraunes „A“–H: 1,5 cm. Vgl.: gleiche Marke manganbraun: Wiener Kunstauktionen (Anm. 92) Kat.-Nr. 591: Birnkrug mit kobaltblauer Bemalung, Niederösterreich, 2. H. 18. Jh. Dekor: an Außenseite braune vertikale Linien zur Angabe der einzelnen Fassdauben, horizontale Rillenbündel mit Braun und Ocker strukturiert zur Angabe der Weidenruten zum Zusammenhalten der Fassdauben. S: Michaelerplatz-Fay 1. Oberfläche: beidseitig und Bodenunterseite (hier stellenweise abgeplatzt) mit Ausnahme der Standring-Unterseite opak weiß mit kräftigem Rosastich glasiert, seidenmatt, nicht krakeliert. Herstellungstechnologische Merkmale: ausgedrehter Standring. Inv.-Nr. 1075/219, 257, 282, 294, 339. FO: bis 7,73 m über Wr. Null.

Kanne mit passendem Deckel 34 Kanne mit kantig gedrückter und ausgezogener Schnauze, knapp unterrandständig angarnier- tem Henkel, unten mit „Schwänzchen“ angarniert. – Niederösterreich? 18. Jh. (Taf. 6,34) Dazu passender Deckel Kat.-Nr. 35. RDm: 6,7 cm. Dekor: durch sehr stark braun korrodierte Glasur kaum mehr erkennbar, zum Teil nur mehr im Streiflicht anhand des Reliefs des Farbauftrages sowie geringer gelber, grüner und blauer Farb- reste. Gesamter Dekor sehr fein und zart, Konturierung ursprünglich kobaltblau oder mangan- braun. In der Begrenzungsleiste entlang des Randes feine sternförmige Blüte mit gelbem Mittel- punkt, daneben zarte tulpenförmige Blüte. In der Mitte seitlich unter der Schnauze floraler Dekor, gelb und grün gehöht. An den Seiten jeweils in gezackten/sternförmigen Kartuschen Architektur, Reste von gelber Höhung erhalten. Als Verbindungselement vorne eine breite Leiste, gefüllt mit feinen Zacken. Untere Begrenzung als blaue horizontal umlaufende Linie noch partiell erkennbar. S: Michaelerplatz-Fay 1. Oberfläche: beidseitig braun korrodiert. Inv.-Nr. 1055/862. FO: bis 8,86 m über Wr. Null. 35 Einfallender Zargendeckel mit spitz zu einer Schnauze gezogener Zarge. Zur Kanne Kat.-Nr. 34 gehörend und genau passend; Zarge entsprechend der Kannenschnauze spitz ausgezogen. – Niederösterreich? 18. Jh. (Taf. 6,35) RDm: 6,8 cm, Zargen-Dm: 4,5 cm. Dekor: auf der Oberseite durch starke Korrosion nur mehr schlecht erkennbar. Um den Knauf konzentrischer Ring, beidseitig begleitet jeweils durch eine Reihe aus alternierend angeordneten kleinen Sternen und Dreipunkt-Motiven. Entlang des Randes eine Bogenreihe, gefüllt mit vertika- len Strichen, bekrönt von einem Punkt. S: nicht erkennbar – museales Objekt mit zwei alten Bestoßungen, keine Scherbenprobe entnom- men. Oberfläche: beidseitig aufgetragene Glasur braun korrodiert, glänzend, nicht krakeliert. Inv.-Nr. 1055/565. FO: bis 8,86 m über Wr. Null.

Henkelschüssel 36 4 RS, 4 WS, 1 BS einer kalottenförmigen Henkelschüssel mit Kremprand, randständig angar- niertem Bandhenkel und ausgedrehtem Standring. – Niederösterreich? 2. H. 18. Jh. (Taf. 7,36) RDm: 22 cm, H: 7,7 cm, Standring-Dm: 10,2 cm. Dekor: Kobaltblau, auf dem Rand gezackte Büschel, auf der Wandung abstrahierter floraler De- kor, Behangornament. Kobaltblau an dicker aufgetragenen Stellen zu Braun korrodiert. S: Michaelerplatz-Fay 2. Oberfläche: beidseitig und Bodenunterseite mit Ausnahme der Standring-Unterseite opak RAL 9002 Grauweiß glasiert, glänzend, stellenweise geringfügig krakeliert. Inv.-Nr. 1071/39; FO: unter Niveau 7,76 m über Wr. Null. 1075/49, 216, 252, 362; FO: bis 7,73 m über Wr. Null.

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Henkeltassen 37 2 RS, 1 RS-WS-BS einer kleinen Henkeltasse mit knapp unterrandständigem Henkel, unten mit kleiner Volute angarniert und ausgedrehtem Standring. – Niederösterreich, (2. H.) 18. Jh. (Taf. 7,37) RDm: 6 cm, H: 3,3 cm, Standring-Dm: 3,5 cm. Dekor: monochrom Manganbraun/-violett: Bordüre mit gefüllten Bögen und hängenden Spitzblät- tern. S: Michaelerplatz-Fay 2. Oberfläche: beidseitig und Bodenunterseite mit Ausnahme der Standring-Unterseite opak weiß glasiert, glänzend, sehr wenige Nadelstiche, nicht krakeliert. Inv.-Nr. 1071/19, 725; FO: unter Niveau 7,76 m über Wr. Null. 1143/27; FO: 7,76 bis 6,73 m über Wr. Null. 38 3 RS, 1 WS einer Henkeltasse mit unterrandständigem Henkel, unten mit kleiner Volute angar- niert (Henkeltasse). – Niederösterreich, (2. H.) 18. Jh. (Taf. 7,38) RDm: 8 cm. Dekor: Kobaltblau, auf der Außenseite vertikale „Pfeifen-“/Zungenmotive zwischen horizontal um- laufenden blauen Linien oben und unten. Kobaltblau an dicker aufgetragenen Stellen zu Braun korrodiert. Vgl.: sog. Pfeifendekor sehr häufig auf Birnkrügen aus Niederösterreich, z. B. in Kobaltblau: Ös- terreichische Fayencen 1993, Kat.-Nr. 210: Birnkrug, Niederösterreich, 2. H. 18. Jh.; in verschie- denen Scharffeuerfarben und unterschiedlichen Varianten, auf Krügen der 2. H. 18. Jh. ebd., Kat.-Nr. 211–214; 216; 220–225; 227–229; 232–237. S: Michaelerplatz-Fay 2. Oberfläche: beidseitig opak weiß glasiert, glänzend, an der Außenseite sehr wenige Nadelstiche, nicht krakeliert. Inv.-Nr. 1071/233, 414, 574, 687. FO: unter Niveau 7,76 m über Wr. Null.

Unterteller 39 5 RS, 1 BS eines Tellers mit geringfügig ausgebogenem Rand und ausgedrehtem Standring (Unterteller zu Tasse oder Koppchen). – Niederösterreich, (2. H.) 18. Jh. (Taf. 7,39) RDm: 12 cm, H: 3,3 cm, Standring-Dm: 6,9 cm. Dekor: Kobaltblau und Manganbraun/-violett: innerhalb manganbrauner Linien und Umrissen ko- baltblauer Dekor, in der Tellermitte abstrahierte sternförmige Blüte. Vgl.: eine sehr ähnliche Bordüre auf dem Rand eines Birnkruges, ebenfalls in den Farben Kobalt- blau und Manganviolett: Österreichische Fayencen 1993, Kat.-Nr. 207: Niederösterreich, um 1770. S: Michaelerplatz-Fay 2. Oberfläche: beidseitig opak RAL 9001 Cremeweiß glasiert, vielfach feinste schwarze Partikel, glänzend, nicht krakeliert. Inv.-Nr. 1075/110, 144, 148, 168, 198, 372. FO: bis 7,73 m über Wr. Null.

Teller 40 4 RS, 1 RS-WS-BS eines Tellers mit abgesetzter Fahne und ausgedrehtem Standring. – Nie- derösterreich? 2. D. 18. Jh. (Taf. 7,40) RDm: 22 cm, H: 2,4 cm, Standring-Dm: 13,5 cm. Dekor: auf der Fahne kobaltblauer, abstrahierter floraler Dekor, gebildet aus Granatapfelmotiv und Fiederblätterranken. Kobaltblauer Dekor an dick aufgetragenen Stellen braun korrodiert. S: Michaelerplatz-Fay 2. Oberfläche: Glasur auf der Oberseite opak weiß, auf der Unterseite (mit Ausnahme der Standring- Unterseite) nur weiß getrübt, nicht vollständig opak. Die Stoßstelle der unterschiedlichen Glasuren ist auf der Unterseite der Fahne sichtbar. Inv.-Nr. 1075/118, 128, 145, 174, 183, 208. FO: bis 7,73 m über Wr. Null. 41 1 RS, 4 RS-WS-BS eines (zur Gänze zusammengesetzten) Tellers mit glattem Rand. – Nieder- österreich? (2. H.) 18. Jh. (Taf. 7,41) RDm: 19,8 cm, H: 2,8 cm, BDm: 14,5 cm.

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S: Michaelerplatz-Fay 1 – Beobachtung anhand alter Bruchstellen, keine Scherbenprobe entnom- men. Oberfläche: beidseitig opak RAL 9001 Cremeweiß glasiert, viele schwarze Partikel, seidenmatt bis matt, großteilig krakeliert; einzelne Bruchstücke unterschiedlich stark braun korrodiert. Herstellungstechnologische Merkmale: überdreht. Vor allem auf der Bodenunterseite deckt die Glasur häufig über den rostfarbigen Eisenoxidkon- kretionen nicht ab, diese liegen frei und bluten rostfarbig aus. Inv.-Nr. 1061/3; FO: unter 8,86 bis 7,76 m über Wr. Null. 1071/551; FO: unter Niveau 7,76 m über Wr. Null. 1075/312, 347, 477; FO: bis 7,73 m über Wr. Null. 42 3 RS-WS-BS eines Tellers mit abgesetzter Fahne mit fünf vertikalen, erhabenen Rippen und leicht geschwungenem Rand. – Niederösterreich? (2. H.) 18. Jh. (Taf. 8,42) RDm: 21,8 cm, H: 2,8 cm, BDm: 15,5 cm. S: Michaelerplatz-Fay 2. Oberfläche: auf der Oberseite opak RAL 9010 Cremeweiß glasiert, mit vielen, stellenweise sehr vielen, schwarzen feinen Partikeln, seidenmatt, nicht krakeliert. Unterseite mit getrübter, jedoch nicht so stark opaker Glasur wie auf der Oberfläche glasiert. Herstellungstechnologische Merkmale: überdreht, auf der Bodenunterseite drei konzentrische Ril- len. Auf der Rückseite der Fahne korrspondierend mit den erhabenen Stegen der Oberseite läng- liche Druckmulden, in der Mitte mit einem kantigen Werkzeug verstärkt. Gebrauchsspuren: auf dem Boden vielfache Kratz- und Schneidespuren. Inv.-Nr. 1061/24, 27, 115; FO: unter 8,86 bis 7,76 m über Wr. Null. 1071/432, 717; FO: unter Niveau 7,76 m über Wr. Null.

K. K. Majolika-Geschirrfabrik, Holitsch, Westslowakei (1743–1827) Terrine 43 5 RS-WS und Boden einer ovalen Schüssel (Terrine) mit vertikal eingedrückter Wandung, Standring und quergestellten Wulsthenkeln. – Holitsch, 1750–1765 (Taf. 8,43) RDm: 22,5 cm, H: 8,3 cm, BDm: 12,5 cm. Marke: auf der Bodenunterseite Manganbraun „H“ oder „HF“ ligiert – H: 0,4 cm. Vgl.: Kybalová 1970, 157 ähnlich Nr. 2–3. Dekor: in den Scharffeuerfarben Manganbraun, Kupfergrün, Antimongelb, wenig Kobaltblau und Eisenoxidrot: Dekor mit Früchten und Insekten. S: Holitsch. Oberfläche: beidseitig und Bodenunterseite mit Ausnahme der Standring-Unterseite opak weiß mit kräftigem Graustich glasiert, vielfach feine schwarze Partikel, glänzend, stark krakeliert. Herstellungstechnologische Merkmale: in eine Form gedrückt, die das Außenrelief vorgibt. Henkel nicht symmetrisch gegenüberliegend angarniert. Vgl.: Kybalová 1970, Form Typentaf. Nr. 11; gleiche Terrine mit gleichem Dekor ebd., Abb. 9: Terrine mit Dekor aus Früchten und Insekten, 1750–1765. Inv.-Nr. 1071/640; FO: unter Niveau 7,76 m über Wr. Null. 1075/101, 130, 241, 281, 501; FO: bis 7,73 m über Wr. Null.

Teller 44 4 RS, 4 WS, 6 RS-WS-BS, 12 BS eines Tellers mit abgesetzter Fahne und geschwungenem Rand. – Holitsch, 1750–1765 (Taf. 9,44) RDm: 24 cm, H: 2,8 cm, BDm: 15 cm. Marke: auf der Bodenunterseite manganbraun „HP“ ligiert – H: 0,9 cm. Vgl.: Kybalová 1970, 159 Nr. 67; Pichelkastner/Hölzl 1981, 151 Marke 7. Dekor: in den Scharffeuerfarben Manganbraun, Kupfergrün, Antimongelb, wenig Eisenoxidrot: Dekor mit Früchten und Insekten, in der Bodenmitte Zwetschken. S: Holitsch. Oberfläche: beidseitig opak weiß mit kräftigem Graustich glasiert, vielfach sehr feine schwarze Partikel, glänzend, stark krakeliert. Herstellungstechnologische Merkmale: überdreht. Vgl.: Kybalová 1970, Form Typentaf. Nr. 2.

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Inv.-Nr. 1071/411, 562, 637; FO: unter Niveau 7,76 m über Wr. Null. 1075/35, 115, 158, 205, 226, 230, 233, 284, 298, 316, 341, 350; FO: bis 7,73 m über Wr. Null. 45 2 RS, 1 WS, 8 RS-WS-BS, 8 BS eines Tellers mit abgesetzter Fahne und geschwungenem Rand. – Holitsch, 3. V. 18. Jh. (Taf. 9,45) RDm: 23,8 cm, H: 3,4 cm, BDm: 16 cm. Marke: auf der Bodenunterseite manganbraun „H“–H: 1 cm. Vgl.: Kybalová 1970, 157 ähnlich Nr. 5–7; Pichelkastner/Hölzl 1981, 151 sehr ähnlich Marke 8. S: Holitsch. Oberfläche: beidseitig opak weiß mit Graustich glasiert, vielfach sehr feine schwarze Partikel, glänzend, stark krakeliert. Herstellungstechnologische Merkmale: überdreht. Vgl.: Form: Kybalová 1970, Typentaf. Nr. 2. Inv.-Nr. 1055/581; FO: bis 8,86 m über Wr. Null. 1071/2, 83, 171, 220, 237, 261, 569, 604, 634, 641, 678, 705; FO: unter Niveau 7,76 m über Wr. Null. 1075/57, 84, 120, 191, 206, 240, 265, 353, 360, 451, 809; FO: bis 7,73 m über Wr. Null.

Savona, Italien 46 RS-WS einer Henkeltasse; dazugehörender, jedoch nicht anpassender kleiner Henkel. – Sa- vona, 2. H. 17.–18. Jh. (Taf. 9,46) RDm: 9 cm. Dekor: beidseitig auf opak „türkiser“ Glasur, kobaltblauer floraler Dekor mit dünnen dunkelblauen Umrisslinien und Binnenzeichnung. Auf der Außenseite auf einem Strauß ein Vogel nach links. In- nenseite in zwei Zonen gegliedert, in der unteren wieder floraler Dekor und Girlande wie auf dem Teller Glaser 2000, Kat.-Nr. 68. Vgl.: Mez-Mangold 1990, 159 Nr. 209: Chevrette, Marke: Wappen von Savona, Savona, Werk- statt Guidobono, um 1690; Glaser 2000, Kat.-Nr. 68: Teller, Savona, Werkstatt Grosso, 1648– 1698; Kat.-Nr. 69: Kanne, Savona, 1650–1700. S: Savona. Oberfläche: beidseitig opak „türkis“ glasiert, glänzend bis seidenmatt; entlang des Randes zwei Nadelstiche. Inv.-Nr. 1071/206. FO: unter Niveau 7,76 m über Wr. Null. 47 1 RS, 1 WS, Boden einer hohen Tasse/Koppchen („Schokoladebecher“). – Savona, 18. Jh. (Taf. 9,47) Standring-Dm: 3 cm. Dekor: auf opak hellblauem Grund zart kobaltblauer gemalter Dekor: abstrahierte Vegetation un- ter Wolken (?). Marke: auf der Bodenunterseite in Kobaltblau dünn gemalte „Krone“. – Der Oberteil entspricht annähernd dem Wappen von Savona („Stemma di Savona“): Mez-Mangold 1990, 230 Nr. 313. S: Savona. Oberfläche: beidseitig, nur mit Ausnahme der Standring-Unterseite opak „türkis“ glasiert, glän- zend bis seidenmatt. Herstellungstechnologische Merkmale: Gefäß außergewöhnlich zart und dünnwandig gedreht. Inv.-Nr. 1061/62, 73; FO: unter 8,86 bis 7,76 m über Wr. Null. 1071/99; FO: unter Niveau 7,76 m über Wr. Null. 48 Randfrgm. einer eckigen Schüssel, außen an einer Seite vertikal gerippt. – Savona, 18. Jh. (Taf. 9,48) erhaltene H: 1,5 cm. Dekor: beidseitig auf opak hellblauem Grund zart kobaltblauer gemalter Dekor. Auf der Innenseite Motive aufgrund der Kleinheit des Stückes nicht zu erkennen. Auf der Außenseite einfache schrä- ge Striche. S: Savona. Oberfläche: Beidseitig opak „türkis“ glasiert, glänzend bis seidenmatt. Inv.-Nr. 1075/318. FO: bis 7,73 m über Wr. Null.

Fayence aus Iznik (Türkei) 49 Rand-Wand-Boden eines Koppchens. – Türkei, spätes 17.–18. Jh. (Taf. 9,49) RDm: 6,7 cm, H: 3,8 cm, Standring-Dm: 2,9 cm.

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Dekor: an Außenseite floraler Dekor innerhalb schwarzbrauner Umrisslinien blau („schwarzgrau- blau“), eisenrote Punkte als Füllmotive. Auf der Bodeninnenseite Blüte: innerhalb schwarzer Um- risslinien blau („schwarzgraublau“). Marke: auf der Bodenunterseite schwarzbrauner Stern. S: sehr fein; keine Magerungspartikel erkennbar. Matrix: porig. Farbe der frischen Bruchfläche: hellrosa ähnlich 5YR 8/2 pinkish white. Oberfläche: beidseitig nur mit Ausnahme der Standring-Unterseite opak weiß glasiert, hochglän- zend. Brand: ox., sehr hart gebrannt. Inv.-Nr. 1055/525, 613. FO: bis 8,86 m über Wr. Null.

Porzellan China Porzellan mit unterglasurblauem Dekor – Teller 50 5 RS, 1 WS, 5 BS eines achteckigen Tellers. – China, Qing-Dynastie, Periode Kangxi (1662– 1722), um 1700–1720 (Taf. 10,50) RDm: 11,6 cm, H: 2 cm, Standring-Dm: 6,6 cm. Marke: Unterglasurblau: Lotosblüte im Doppelkreis. Dekor: Unterglasurblau, auf der Innenseite dichter floraler Dekor, auf der Außenseite in jedem Feld eine Blüte. S: Porzellan, gesintert, weiß, darüber transparente farblose Glasur. Vgl.: Krahl 1986, Form: Kat.-Nr. 2337; 2351; Dekor: Kat.-Nr. 2335: um 1700–1720. Inv.-Nr. 1071/37, 73, 610, 707; FO: unter Niveau 7,76 m über Wr. Null. 1075/36, 38, 79, 90, 156, 297; FO: bis 7,73 m über Wr. Null.

– Koppchen 51 3 RS, 2 BS eines Koppchens. – China, Qing-Dynastie, Periode Kangxi, 1. D. 18. Jh. (Taf. 10,51) RDm: 8,9 cm, H: 5,5 cm, Standring-Dm: 4,2 cm. Marke: auf der Bodenunterseite geringer Rest einer unterglasurblauen Marke. Dekor: Unterglasurblau, auf der Außenseite Blütenzweige, auf der Bodeninnenseite Reste eines floralen Dekors. S: Porzellan, gesintert, weiß, darüber transparente, schwach hellblaue Glasur. Inv.-Nr. 1071/1, 3, 22, 38; FO: unter Niveau 7,76 m über Wr. Null. 1075/500; FO: bis 7,73 m über Wr. Null. 52 RS-WS eines Koppchens. – China, Qing-Dynastie, Periode Kangxi, 1. D. 18. Jh. (Taf. 10,52) RDm: 7,4 cm. Dekor: Unterglasurblau, auf der Außenseite Blütenzweige, auf der Innenseite Rest einer Blüte. S: Porzellan, gesintert, schwach graustichig, darüber transparente farblose Glasur. Im Model geformte, plastische Rippen. Inv.-Nr. 1055/697. FO: bis 8,86 m über Wr. Null. 53 RS eines Koppchens. – China, Qing-Dynastie, Periode Kangxi, spätes 17. bis frühes 18. Jh. (Taf. 10,53) RDm: 9 cm. Dekor: Unterglasurblau, beidseitig floraler Dekor mit dünner Umrisszeichnung und Füllung mit dunkelblauen Punkten. Vgl.: vergleichbare Dekorweise Schmidt 1990, Kat.-Nr. 116: Teller, China, spätes 17. bis frühes 18. Jh. S: Porzellan, gesintert, weiß, darüber transparente, schwach hellblaue Glasur. Inv.-Nr. 1055/169. FO: bis 8,86 m über Wr. Null.

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Chinesisches Porzellan im Imari-Stil („China-Imari“) Koppchen 54 1 RS, 3 WS, 1 BS eines Koppchens. – chinesischer Imari-Stil, um 1730 (Taf. 10,54) RDm: 8,8 cm, H: 4,7 cm, Standring-Dm: 3,5 cm. Dekor: Unterglasurblau, Aufglasurfarben Eisenrot und Gold. Außen Landschaft mit Baum, darunter Tempel in kräftigem Unterglasurblau. Auf der Bodeninnen- seite unterglasurblaue Blüte im Doppelkreis, ergänzt mit eisenroten Blütenspitzen. S: Porzellan, gesintert, schwach graustichig, darüber transparente, schwach hellblaue Glasur. Gold sehr stark, Eisenrot etwas abgerieben. Inv.-Nr. 1071/5, 235, 592, 702, 736. FO: unter Niveau 7,76 m über Wr. Null. 55 3 RS, 1 BS eines Koppchens. – chinesischer Imari-Stil, um 1730 (Taf. 10,55) RDm: 8,9 cm, H: 4,7 cm, Standring-Dm: 3,4 cm. Dekor: Unterglasurblau, Aufglasurfarben Eisenrot und Gold. Landschaft mit Baum und Tempel/Haus (sehr ähnlich wie Kat.-Nr. 54) nur helleres Blau. Auf der Bodeninnenseite unterglasurblaue Blüte in Doppelkreis. S: Porzellan, gesintert, weiß, darüber transparente, schwach hellblaue Glasur. Gold sehr stark, Eisenrot etwas abgerieben. Inv.-Nr. 1071/209, 231, 689, 695. FO: unter Niveau 7,76 m über Wr. Null.

Unterteller 56 4 RS, 2 RS-WS-BS, 2 BS eines kleinen Tellers (Unterteller). – chinesischer Imari-Stil, um 1730 (Taf. 10,56) RDm: 13,1 cm, H: 2,5 cm, Standring-Dm: 6,9 cm. Dekor: Unterglasur Kobaltblau, Aufglasurfarben Eisenrot und Gold. Außenseite unterglasurblauer Zweig. Auf der Innenseite Landschaft mit Doppelhaus mit links da- neben stehender Fahne. S: Porzellan, gesintert, schwach graustichig, darüber transparente, schwach hellblaue Glasur. Gold sehr stark, Eisenrot etwas abgerieben. Inv.-Nr. 1071/13, 17, 20, 247, 593, 628, 650, 714. FO: unter Niveau 7,76 m über Wr. Null. 57 1 RS-WS-BS, 1 WS-BS eines kleinen Tellers mit gerippter Wandung (Unterteller) – chinesi- scher Imari-Stil, um 1730 (Taf. 10,57) RDm: 10,7 cm, H: 2 cm, Standring-Dm: 5,9 cm. Dekor: Unterglasur Kobaltblau, Aufglasurfarben Eisenrot und Gold. Auf der Innenseite Blütenranken mit Päonie und Granatäpfeln, auf der Außenseite Zweige. S: Porzellan, gesintert, schwach graustichig, darüber transparente, sehr schwach hellblaue Gla- sur. Gold sehr stark, Eisenrot etwas abgerieben. Vgl.: Krahl 1986, 1063 Kat.-Nr. 2373: ca. 1700–1725 (außen entsprechend, Innenseite mit ande- rem Dekor). Inv.-Nr. 1071/434; FO: unter Niveau 7,76 m über Wr. Null. 1075/361; FO: bis 7,73 m über Wr. Null.

Porzellan mit braunem Fond Teller (Unterteller) 58 3 RS, 3 BS eines kleinen Tellers (Unterteller). – China, Qing-Dynastie, 1. D. 18. Jh.? (Taf. 11,58) RDm: 11,8 cm, H: 2,1 cm, Standring-Dm: 7 cm. Dekor: auf der Innenseite brauner Fond, darin drei Kartuschen mit braunem floralem Aufglasurde- kor. S: Porzellan, gesintert, schwach graustichig, auf der Außenseite (ohne Dekor) transparente, sehr schwach hellblaue Glasur. Inv.-Nr. 1061/61; FO: unter 8,86 bis 7,76 m über Wr. Null. 1071/7, 59, 213; FO: unter Niveau 7,76 m über Wr. Null.

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China (?) nach europäischem Vorbild Tassen 59 1 RS-WS, 1 WS, 1 BS einer hohen Henkeltasse mit dünnem Wulsthenkel. – 18. Jh.? (Taf. 11,59) RDm: 6,6 cm, H: 6,9 cm, Standring-Dm: 3,8 cm. Dekor: Aufglasurdekor in Eisenrot und weitere Farbe?, jetzt zu Braun korrodiert. Blütenzweig und Insekten. S: Porzellan, gesintert, darüber sehr dünne transparente, farblose Glasur. Inv.-Nr. 1075/348, 352, 363. FO: bis 7,73 m über Wr. Null. 60 2 BS-WS einer hohen Tasse. – 18. Jh.? (Taf. 11,60) Standring-Dm: 3,6 cm. Dekor: Aufglasurdekor in Eisenrot, Rosa und jetzt zu Braun korrodierter Farbe. S: Porzellan, gesintert, darüber sehr dünne, transparente, farblose Glasur. Inv.-Nr. 1075/7, 342. FO: bis 7,73 m über Wr. Null.

Porzellanmanufaktur Wien Koppchen 61 1 RS-WS-BS, 2 RS, 1 BS eines Koppchens. – Wien, nach 1749 bis vor 1784 (Taf. 11,61) RDm: 6,9 cm, H: 4,3 cm, Standring-Dm: 3,5 cm. Dekor: Unterglasurblau. Auf der Außenseite „indianische Blumen“ wie Untertasse, auf der Boden- innenseite eine Blüte (gleiche wie Untertasse). Marke: auf der Bodenunterseite unterglasurblauer Bindenschild. Innerhalb entlang des Standrings eingeritztes Blindzeichen „VX“ ligiert. Keine Blaumalernummer, keine Jahresangabe, vor 1784. S: Porzellan gesintert, weiß, darüber transparente, farblose Glasur. Inv.-Nr. 1061/81; FO: unter 8,86 bis 7,76 m über Wr. Null. 1075/85, 131, 346; FO: bis 7,73 m über Wr. Null.

Teller (Unterteller) 62 1 RS-WS-BS, 1 RS eines Teller (Untertasse). – Wien, nach 1749 bis vor 1784 (Taf. 11,62) RDm: 12 cm, H: 2,3 cm, Standring-Dm: 6 cm. Dekor: auf der Innenseite unterglasurblaue „indianische Blumen“. In der Bodenmitte eine Blüte (gleiche wie Koppchen auf Bodeninnenseite) – Hinweis auf Zusammengehörigkeit. Marke: auf der Bodenunterseite Rest des unterglasurblauen Bindenschildes (?). Innerhalb entlang des Standringes zwei kleine eingestochene Punkte (Funktion Blindstempel?). S: Porzellan gesintert, weiß, darüber transparente, farblose Glasur. Inv.-Nr. 1075/212, 273. FO: bis 7,73 m über Wr. Null. 63 3 RS-WS-BS, 1 BS-WS eines Tellers (Untertasse). – Wien, 1783 (Taf. 11,63) RDm: 14 cm, H: 3,2 cm, Standring-Dm: 6,8 cm. Dekor: Unterglasurblau. Fels und Vogel. Marke: auf der Bodenunterseite unterglasurblauer Bindenschild, darunter Blaumalernummer „11“ (Aloisius Neumann 1783–1787), Blindstempel „8“: Weißdrehernummer (Georg Clausner 1783). – Keine Jahresangabe, vor 1784. S: Porzellan gesintert, hellbeige, darüber transparente, farblose Glasur (schlechteres Produkt?). Inv.-Nr. 1075/355, 357, 374, 727. FO: bis 7,73 m über Wr. Null. Zu Koppchen Kaltenberger 2008, Kat.-Nr. 87 (nach 1749 bis vor 1784) – Auch dort Hinweis auf nicht reinweißen Scherben: mit zarter gelblich grauer Tönung.

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Abgekürzt zitierte Literatur Achenbach 1990 Nora v. Achenbach in: Schmidt 1990, 352. Barsewisch 1988 B. v. Barsewisch, Unterglasurblaue Malerei. KERAMOS 121, 1988. Du Boulay 1987 A. du Boulay, Chinesisches Porzellan (Essen 1987). Chilton 2009 M. Chilton, Die Freuden des Trinkens. In: M. Chilton (Hrsg.), Fired by Passion. Barockes Wiener Porzellan der Ma- nufaktur Claudius Innocentius Du Paquier 2 (Stuttgart 2009) 672–763. Feddersen 1972 M. Feddersen, Chinesisches Porzellan. Ein Brevier2 (Braunschweig 1972). Girmond 1990 S. Girmond, Die Porzellanherstellung in China, Japan und Europa. In: Schmidt 1990, 107–142. Glaser 2000 S. Glaser, Majolika. Die italienischen Fayencen im Germanischen Nationalmuseum Nürnberg. Bestandskat. (Nürnberg 2000). Hakenjos 2000 B. Hakenjos, Ri Sampei und Toseki. Eine Kurzgeschichte des Arita- und Imari-Porzellans. In: Pantzer 2000, 8–16. Heinitz-David 1977 F. Heinitz-David, Wunder des Porzellans. Ferner Osten (Baden-Baden 1977). Kalesný 1981 F. Kalesný, Habáni na Slovensku (Die Habaner in der Slowakei) (Bratislava 1981). Kaltenberger 2002 A. Kaltenberger, Frühneuzeitliches Fundmaterial aus Wien 3, Barmherzigengasse 17. FWien 5, 2002, 198–240. Kaltenberger 2008 A. Kaltenberger, Die neuzeitliche Keramik aus den Grabungen Wien 1, Michaelerplatz (1990/1991). FWien 11, 2008, 144–240 bes. 158–173 Kat.-Nr. 37–88; 178. Kaltenberger 2009 A. Kaltenberger, Keramik des Mittelalters und der Neuzeit in Oberösterreich 1. Grundlagen. Stud. Kulturgesch. Oberösterr. 23 = Nearchos 17 (Linz 2009). Krahl 1986 R. Krahl et al., Chinese Ceramics in the Topkapi Saray Museum Istanbul. A Complete Catalogue. III. Qing Dynasty Porcelaines (London 1986). Kranzfelder 1982 U. Kranzfelder, Zur Geschichte der Apothekenabgabe- und Standgefäße aus keramischen Materialien unter beson- derer Berücksichtigung der Verhältnisse in Süddeutschland vom 18. bis zum beginnenden 20. Jahrhundert (Diss. Univ. München 1982). Kybalová 1970 J. Kybalová, Holitscher Fayence. Kunstwiss. Stud. 44 (München, Berlin 1970). Langer 1988 H. Langer, Österreichische Fayencen (München 1988). Lehner-Jobst 2009 C. Lehner-Jobst, Die kultivierte Welt: Porzellan im höfischen Alltag. In: M. Chilton (Hrsg.), Fired by Passion. Barockes Wiener Porzellan der Manufaktur Claudius Innocentius Du Paquier 2 (Stuttgart 2009) 568–671. Mez-Mangold 1990 L. Mez-Mangold, Apotheken-Keramik-Sammlung „Roche“. Katalog (Basel 1990). Neuwirth 1978 W. Neuwirth, Markenlexikon für Kunstgewerbe 4. Österreich, Wiener Porzellan. Malernummern, Bossiererbuchstaben und -nummern, Weißdreher- und Kapseldrehernummern 1744–1864 (Wien 1978). Neuwirth 1990 W. Neuwirth, Wiener Porzellan vom Spätbarock zum Art Déco, im Zeichen des Bindenschilds2 (Wien 1990). Österreichische Österreichische Fayencen. Sammlung Dr. Hermann Langer und andere. Auktion 15. Mai 1993. Heilbronner Kunst- Fayencen 1993 und Auktionshaus Dr. Jürgen Fischer 73 (Heilbronn 1993). Pantzer 2000 P. Pantzer, Imari-Porzellan am Hofe der Kaiserin Maria Theresia, Hetjens-Museum Düsseldorf, Deutsches Keramik- museum, 21. Juli–15. Oktober 2000 (Düsseldorf 2000). Pastieriková 2005 M. Pastieriková, Die Keramiksammlung des Slowakischen Nationalmuseums in Martin. In: Keramik3 – gebrannte Idylle. Typen, Regionen, Museen. Ethnographisches Museum Schloss Kittsee, 9.5.–1.11. 2004. Kat. Ethnograph. Mus. Schloss Kittsee 26 (Kittsee 2005) 116–121. Pichelkastner/Hölzl E. Pichelkastner/E. Hölzl, Bruckmann’s Fayence-Lexikon. Majolika, Fayence, Steingut (München 1981). 1981 Pišútová 1981 I. Pišútová, Fayencen (Bratislava 1981). Reichel 1980 F. Reichel, Altjapanisches Porzellan aus Arita in der Dresdner Porzellansammlung (Würzburg 1980). Reichel/Schulle F. Reichel/W. Schulle, Das ostasiatische Porzellan und die Bemühungen um seine Nacherfindung in Europa. In: R. 1982 Sonnemann/E. Wächtler (Hrsg.), Johann Friedrich Böttger. Die Erfindung des europäischen Porzellans (Stuttgart 1982) 50–70. Schmidt 1990 U. Schmidt (Hrsg.), Porzellan aus China und Japan. Die Porzellangalerie der Landgrafen von Hessen-Kassel. Staatl. Kunstslg. Kassel. Kat. Abt. Kunsthandwerk u. Plastik 3 (Berlin 1990). Tarcsay 2008 K. Tarcsay, Die neuzeitlichen Glasfunde aus den Grabungen Wien 1, Michaelerplatz (1990/1991). FWien 11, 2008, 246–310 bes. 250–261; 264. Wiesner 1981 U. Wiesner, Chinesisches Porzellan. Die Ohlmer’sche Sammlung im Roemer-Museum, Hildesheim (Mainz 1981).

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Taf. 1: Haus Nr. 5, Keller 10–11, untere Verfüllung des Entsorgungsschachtes: oxidierend gebrannte, innenseitig glasierte Irdenware (Kat.-Nr. 1–4). M 1:3 (Zeichnungen: A. Kaltenberger, Fotos: R. Kaltenberger-Löffler)

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Taf. 2: Haus Nr. 5, Keller 10–11, untere Verfüllung des Entsorgungsschachtes: oxidierend gebrannte, innenseitig glasierte Irdenware (Kat.-Nr. 5–7), beidseitig glasierte Hohldeckel (Kat.-Nr. 8–9) und malhorndekorierte Irdenware (Kat.-Nr. 10–11). M 1:3 (Zeichnungen: A. Kaltenberger, Fotos: R. Kal- tenberger-Löffler)

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Taf. 3: Haus Nr. 5, Keller 10–11, untere Verfüllung des Entsorgungsschachtes: Fayence (Kat.-Nr. 12–23), Henkeltopf und Apothekenabgabegefäße. M 1:3 (Zeichnungen: A. Kaltenberger, Fotos: R. Kaltenberger-Löffler)

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Taf. 4: Haus Nr. 5, Keller 10–11, untere Verfüllung des Entsorgungsschachtes: Apothekenabgabegefäß aus Fayence (Kat.-Nr. 24), Albarello aus ha- banischer Fayence (Kat.-Nr. 25), Birnkrüge aus Fayence (Kat.-Nr. 26–27). M 1:3 (Zeichnungen: A. Kaltenberger, Fotos: R. Kaltenberger-Löffler)

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Taf. 5: Haus Nr. 5, Keller 10–11, untere Verfüllung des Entsorgungsschachtes: Fayence (Kat.-Nr. 28–30), Birnkrüge und „Maienvase“. M 1:3 (Zeich- nungen: A. Kaltenberger, Fotos: R. Kaltenberger-Löffler)

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Taf. 6: Haus Nr. 5, Keller 10–11, untere Verfüllung des Entsorgungsschachtes: Fayence (Kat.-Nr. 31–35), walzen- oder fassförmige Krüge und Kanne mit passendem Deckel. M 1:3 (Zeichnungen: A. Kaltenberger, Fotos: R. Kaltenberger-Löffler)

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Taf. 7: Haus Nr. 5, Keller 10–11, untere Verfüllung des Entsorgungsschachtes: Fayence (Kat.-Nr. 36–41), Henkelschüssel und -tassen sowie Teller. M 1:3 (Zeichnungen: A. Kaltenberger, Fotos: R. Kaltenberger-Löffler)

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Taf. 8: Haus Nr. 5, Keller 10–11, untere Verfüllung des Entsorgungsschachtes: Fayenceteller (Kat.-Nr. 42) aus Niederösterreich? sowie Terrine (Kat.-Nr. 43) aus Holitsch, Westslowakei. M 1:3 (Zeichnungen: A. Kaltenberger/G. Reichhalter, Fotos: R. Kaltenberger-Löffler)

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Taf. 9: Haus Nr. 5, Keller 10–11, untere Verfüllung des Entsorgungsschachtes: Fayence aus Holitsch, Westslowakei (Kat.-Nr. 44–45), aus Savona, Italien (Kat.-Nr. 46–48) und aus der Türkei (Kat.-Nr. 49). M 1:3 (Zeichnungen: A. Kaltenberger, Fotos: R. Kaltenberger-Löffler)

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Taf. 10: Haus Nr. 5, Keller 10–11, untere Verfüllung des Entsorgungsschachtes: Porzellan aus China (Kat.-Nr. 50–53) und „China-Imari“ (Kat.-Nr. 54– 57). M 1:3 (Zeichnungen: A. Kaltenberger, Fotos: R. Kaltenberger-Löffler)

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Fundort Wien 13, 2010. – Urheberrechtlich geschützt, Keine unerlaubte Vervielfältigung gestattet. © Museen der Stadt Wien – Stadtarchäologie A. Kaltenberger, Neuzeitliche Keramikfunde aus den Grabungen Wien 1, Michaelerplatz Aufsätze

Taf. 11: Haus Nr. 5, Keller 10–11, untere Verfüllung des Entsorgungsschachtes: Porzellan aus China (Kat.-Nr. 58–60) und aus der Porzellanmanufaktur in Wien (Kat.-Nr. 61–63). M 1:3 (Zeichnungen: A. Kaltenberger, Fotos: R. Kaltenberger-Löffler)

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Fundort Wien 13, 2010. – Urheberrechtlich geschützt, Keine unerlaubte Vervielfältigung gestattet. © Museen der Stadt Wien – Stadtarchäologie Fundchronik Übersichtskarte

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Fundort Wien 13, 2010. – Urheberrechtlich geschützt, Keine unerlaubte Vervielfältigung gestattet. © Museen der Stadt Wien – Stadtarchäologie Übersichtskarte Fundchronik

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Fundort Wien 13, 2010. – Urheberrechtlich geschützt, Keine unerlaubte Vervielfältigung gestattet. © Museen der Stadt Wien – Stadtarchäologie Fundchronik Spätneolithikum/Späte Bronzezeit/Neuzeit

Wien 22, Aspern – ehemaliges Flugfeld Im Vorfeld der geplanten Verbauungen im Rahmen des Stadterweiterungspro- jektes „Seestadt Aspern“ wurden zwischen 29.6. und 30.11. 2009 am ehema- ligen Flugfeld Aspern gezielt archäologische Untersuchungen von der Stadtar- chäologie Wien angesetzt. Grundsätzlich wird von der Projektplanung (Wien 3420 Aspern Development AG) versucht, durch zeitlich vorgezogene Kriegs- mittelbergung und archäologische Abklärung die darauf folgenden Einzelbau- vorhaben zu beschleunigen bzw. zu entlasten (sog. Baufeldbereinigung). So wurden 2009 einige als öffentliche Freiflächen und Straßen geplante Bereiche vorgegeben, die mittels Suchschnitten bzw. flächiger Humusabnahme sondiert und gegebenenfalls weitergehend untersucht wurden. Abb. 1: Fundpunkt 1 (GC: 2009_03). Wien 22, Obwohl wir uns inmitten einer ursprünglich reichen und weitläufigen urge- Aspern, ehemaliges Flugfeld – zukünftige „See- schichtlichen Siedlungszone befinden, lässt sich wegen großflächiger Boden- stadt“. störungen des 20. Jahrhunderts (Verbauungen, Lehm- und Sandgruben, Geländeplanierungen, Bodenaustausch) die Fundwahrscheinlichkeit in keiner Weise vorab einschätzen (abschnittsweise Fundleere ist v. a. erhaltungsbe- dingt).1 In den Untersuchungsgebieten wurde daher möglichst großflächig die Humusdecke abgezogen; im Hinblick auf eine rationelle Arbeitsweise muss- ten aber Teilbereiche mit offensichtlich negativem Befund oder mit intakten Leitungen oder Wegen ausgespart werden. Bei sehr weitläufigen Baufeldern wurden Suchschnitte gezogen, welche den räumlichen Möglichkeiten entspre- chend möglichst gleichmäßig verteilt und mindestens 8 m breit angelegt wur- den. Die Mächtigkeit der abgezogenen Humusauflage betrug zwischen 0,35 und 0,55 m; in Bereichen von dunklen, lehmig verfüllten Geländeabsenkungen (Gerinne, Sutten) wurde auf etwa 0,75–1,15 m abgetieft. Vereinzelt aber nahe- zu überall wurden moderne Störungen angetroffen, wie z. B. von Leitungskü- netten, Flughafeneinbauten, Kriegseinbauten, Bombentrichtern, Altgrabungen, Schuttvergrabungen etc.

Bei den untersuchten Flächen – insgesamt wurden ca. 23.000 m2 aufgedeckt – handelt es sich in erster Linie um einen ca. 18 m breiten Streifen, welcher von der Johann-Kutschera-Gasse weg in Verlängerung der Straße „An den alten Schanzen“ quer durch das beinahe gesamte ehemalige Flugfeld führt, sowie

1 Siehe dazu auch die weiter nördlich gele- nördlich und südlich daran anschließende Bereiche im westlichen bis mittleren genen Sondierungen aus dem Jahr 2008: M. Abschnitt dieses Streifens. Etwa 360 m von der Johann-Kutschera-Gasse ent- Penz, Wien 22, Aspern – ehemaliges Flugfeld. fernt ist derzeit eine Informationsstelle über die geplanten Bauvorhaben einge- FWien 12, 2009, 221 f. (auch mit älterer Litera- tur). richtet (Infopoint – Abb. 1). In deren Umkreis konnten noch zahlreiche unge- 2 Entgegen der Ansicht der Ausgräber (O. stört gebliebene archäologische Befunde aufgedeckt werden, obwohl hier be- Harl/Ch. Spiegel, Wien 22 – Aspern. FÖ 19, reits durch Josef F. Kastner (Zwischenkriegszeit) und Otto Seewald (1939) 1980, 432 f.) lässt sich in deren Materialien sehr wohl „eine Vielfalt der Kulturperioden wie punktuell sowie durch Ortolf Harl und Christine Spiegel (1979/80) mittels flä- zur Zeit Kastners“ finden (nach Durchsicht im chiger Freilegungen archäologische Bergungen vorgenommen wurden. Depot des Wien Museums sowie von Ch. Spiegel, Siedlungsfunde der frühen Urnenfel- Ganz ähnlich den Ergebnissen der Rettungsgrabungen von 1979/80 anlässlich derzeit aus Wien XXII – Aspern [Diss. Univ. des Baues des General-Motors-Opel-Werkes wurden 2009 erneut urge- Innsbruck 1985]: mittleres und spätes Neolithi- schichtliche Siedlungsreste aus der späten Jungsteinzeit (klassische Badener kum [Lengyel, Badener Kultur], Mittel- und Spätbronzezeit, Spätlatène, Römische Kaiser- Kultur) sowie aus der späten Bronzezeit (frühe/ältere Urnenfelderkultur) er- 2 zeit, Neuzeit). fasst. Es handelt sich dabei um verstreut gelegene, unterschiedliche Arten

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Abb. 2: Viele der Befunde wie hier diese spätneolithische Vorratsgrube waren hauptsächlich mit feinem, graubraunem (Au-)Lehm verfüllt. (Foto: M. Penz)

Abb. 3: Neuzeitliche Pferdebestattung, ein Überrest der Schlacht von Aspern 1809. (Foto: M. Penz) von Siedlungsgruben mit entsprechenden Funden (Keramik, Knochen, Stein- und Geweihgeräte, Hüttenlehm). Die Befunde waren in den unterschiedlich mächtig anstehenden gelblichen Lösslehm eingetieft, der hier über Schotterla- gen anzutreffen ist; unter einem 0,45–0,75 m mächtigen Oberboden waren sie meist noch zwischen 0,2 und 0,9 m tief erhalten geblieben. Die vereinzelte Lage der Gruben spiegelt dabei nicht die vollständige bzw. ursprüngliche Siedlungs- struktur wider, sondern nur die besseren Erhaltungsbedingungen der tiefer reichenden Keller- bzw. Vorratsgruben (Abb. 2) im Vergleich zu den in der Re- gel etwas seichter eingetieften Hausfundamenten oder Grabstätten. In einem 245 m weiter östlich gelegenen Grabungsbereich waren erfreulicher- weise auch die alten oberflächennahen Bodenschichten besser erhalten ge- blieben (Arbeitsplanum auf ca. 0,30 m über Wr. Null; ca. 0,45 m Humusaufla-

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ge), wo dann zusätzlich zu den sonst üblichen Siedlungsgruben auch (erstmals in Aspern) ein vollständiger Grundriss eines urgeschichtlichen Pfostenbaues dokumentiert werden konnte. Der annähernd West-Ost gerichtete Bau ist ein- schiffig, weist jedoch an seinen Längsseiten Zu- bzw. Vorbauten auf und er- reicht insgesamt eine Ausdehnung von ca. 6612 m.3 In den von hier wiederum weiter östlich anschließenden Bereichen zeigte sich völlige Befundleere, hier wurden als geologischer Untergrund weder der gelbliche Lösslehm noch die seichter abgelagerten Schotterkörper angetroffen, sondern nur tiefer reichen- de, teils schluffigere, teils sandigere, helle Lehme. Ergänzend erwähnt werden soll noch eine isoliert gelegene, höchstwahrschein- lich spätmittelalterliche Speichergrube sowie vereinzelte kleine neuzeitliche Gruben und Tierreste, u. a. verscharrte Pferdekadaver. Dass die äußersten Ex- tremitäten und Schädel bei diesen Pferdeskeletten fehlten, lässt auf eine Ver- wertung der Tierhäute (Gerberei) schließen. Jedenfalls sind letztere Befunde mit der großen Napoleonschlacht bei Aspern im Jahre 1809 in Verbindung 3 Die Datierung muss derzeit noch offen- bleiben; infrage kommen Badener- oder Ur- zu bringen, mit deren Relikten hier im Gelände ebenfalls immer wieder gerech- nenfelderkultur. net werden muss (Abb. 3). (M. P.)

Wien 17, St.-Bartholomäus-Platz Vom 22. September bis 10. November 2009 fand im Zuge der Neugestaltung des St.-Bartholomäus-Platzes eine Denkmalschutzgrabung durch die Stadtar- chäologie Wien statt (Abb. 1). Dafür musste bis zu einer Tiefe von ca. 0,60 m die bisherige Oberfläche entfernt werden. Nachdem die Asphaltdecke abgetra- gen worden war, traten unmittelbar darunter in zwei Arealen auf dem Platz Res- te von frühneuzeitlichen Bestattungen und zahlreiche dislozierte menschliche Knochen zutage (siehe Beitrag H. Krause, 240 ff.). Neben diesem ehemaligen Friedhof fanden sich auch urgeschichtliche und römische Siedlungsreste (siehe Beitrag H. Krause, 231 ff.). Westlich der Kalvarienbergkirche wurde eine Grube von annähernd quadratischer Form (oberer Dm: 1,2061,30 m, erhaltene OK Abb. 1: Fundpunkt 2 (GC: 2009_02). Wien 17, 44,80 m über Wr. Null, unterer Dm: 1,1061,20 m, UK 44,60 m über Wr. Null) St.-Bartholomäus-Platz. mit deutlich abgerundeten Ecken festgestellt (Abb. 2), deren gräulich braune

Abb. 2: Grube aus der späten Hallstatt-/frühen Latènezeit nach Abbau ihrer Verfüllung. (Foto: H. Krause)

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Verfüllung einige Keramikscherben, wenige Tierknochen, vereinzelt Schlacke sowie Holzkohlepartikel und gebrannten Lehm (Dm: bis 3 cm) enthielt. Einige der großteils graphithältigen bzw. graphitierten Keramikfragmente können an- hand ihrer Form bzw. Verzierung wohl in die späte Hallstatt- bis frühe Latène- zeit datiert werden. (H. K.)

Wien 1, Am Hof 10 Vom 16. Dezember 2008 bis zum 23. Dezember 2009 wurden die Ausgrabun- gen auf dem Grundstück der Zentralfeuerwache anlässlich der Unterkellerung der Atemschutzräume im Haus Am Hof 10 (= ehemaliges Bürgerliches Zeug- haus) durch die Stadtarchäologie Wien fortgesetzt (dazu ausführlich Beitrag M. Mosser, 50 ff.; zu den mittelalterlichen Befunden siehe Beitrag I. Gais- bauer/M. Mosser, 233 ff.). Das Areal lag im Nahbereich der westlichen Umfas- sungsmauer des Legionslagers Vindobona. Den ältesten, während der Gra- bungen erfassten Strukturen aus der Errichtungszeit des Lagers am Ende des 1. Jahrhunderts n. Chr. sind Reste des Erdwalls sowie eine Backstube mit vier nebeneinandergesetzten Lehmkuppelöfen zuzuordnen. Diese lag ent- lang der ebenfalls aufgedeckten via vallaris, die vom bereits seit 1953 bekann- Abb. 1: Fundpunkt 3 (GC: 2008_02). Wien 1, ten, an der Sohle mit Ziegeln gedeckten Abwasserkanal begleitet wurde. Nach Am Hof 10. Aufgabe der Backöfen folgte eine Reihe mächtiger Pfostengruben, welche viel- leicht zu einem hölzernen Einbau an der Lagermauer zu ergänzen sind. In spät- römischer Zeit wurde dieser jedenfalls von einem in zwei Bauphasen fassbaren, langgestreckten Gebäude abgelöst, welches durch Bruchsteinfundamente mit aufgehendem Steinsockel charakterisiert war. (M. M.) 1 Hier werden vorwiegend Funde aufge- führt, deren Fundortangaben mit dem Aspang- Wien 3, Aspanggründe bahnhof oder dem Wiener Neustädter Kanal in Auf dem Bauplatz 3 der Aspanggründe (GC: 2009_05) fand vor der Neuver- Zusammenhang gebracht wurden. Sie liegen in etwa in dem Areal südlich des Rennwegs, bauung des Geländes vom 17. August bis zum 27. Oktober 2009 eine archäo- ab der Fasangasse nach Osten bis St. Marx. logische Untersuchung durch die Stadtarchäologie Wien statt. Außer Bauten Die reichhaltige Siedlungsfundstelle zwischen des 19. Jahrhunderts, die von Verkehrs- und Transportstrukturen stammen Rennweg 44 und Aspangstraße (GC: 1990_01) befindet sich ebenfalls in diesem Be- (siehe Beitrag M. Müller, 247 f.), konnten verschiedene Gruben aus der Römer- reich. Dazu siehe: M. Müller, Die Auswertung zeit dokumentiert werden. der Grabungen Rennweg 44 (1989/90) im Be- reich der römischen Zivilsiedlung von Vindobo- Die Aspanggründe gehören zu den archäologisch interessanten Gebieten, da na. FWien 5, 2002, 302–312. sie im Bereich der Zivilstadt von Vindobona liegen. Es ist daher nicht verwun- 2 GC: 1799_01; G. Dembski, Drei römische derlich, dass in diesem Umfeld immer wieder zahlreiche Befunde und Funde Münzschatzfunde aus der Umgebung Renn- weg – ein Exkurs. In: Ausgewählte Funde angetroffen wurden. vom Rennweg 44 in Wien. WAS 6 (Wien 2004) 96 f. Überblick über bedeutende Funde und Befunde aus der nächsten Umge- 3 GC: 1800_01, im Bereich des Rennwegs ca. auf Höhe der Fasangasse; Dembski (Anm. bung der Aspanggründe1 2) 98 f. Bereits Ende des 18. und Anfang des 19. Jahrhunderts wurden hier im Zuge 4 GC: 1798_01, genauer Fundort ist nicht der Arbeiten für den Wiener Neustädter Kanal (siehe Beitrag M. Müller, bekannt („unfern dem Belvedere“); M. Groß- mann, Untersuchungen zum Iuppiter- und Kai- 146 ff.) etliche nennenswerte Funde aufgedeckt. So fand man 1799 einige Zie- serkult im municipium Vindobonense – Ein Dis- 2 gel und 298 römische Goldmünzen und im Jahr darauf 1446 römische Silber- kussionsbeitrag. FWien 7, 2004, 200–210 münzen3. Auch der rechte Fuß einer überlebensgroßen Bronzestatue und eine Abb. 3; H. Satzinger, Das Kunsthistorische Museum in Wien. Die Ägyptisch-Orientalische ägyptische Hockerstatue (um 1200 v. Chr., 19. Dynastie) gehören zu diesem Sammlung. Zaberns Bildbd. Arch. 14 (Mainz/ 4 Fundspektrum. Rhein 1994) 5 f.

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Abb. 1: Römische Befunde am Südostrand der Zivilstadt von Vindobona (Aspanggründe und Rennweg 93). (Plan: N. Piperakis)

5 GC: 1803_01; F. A. de Paula Gaheis, Entlang des Rennwegs wurden sowohl in den nahe liegenden Schottergruben Wanderungen und Spazierfahrten in die Ge- als auch bei der Anlage des Wiener Neustädter Kanals und der Errichtung von 2 genden um Wien 4 (Wien 1801) 123; 285 f.; Gebäuden mehrere römische Stein- und Ziegelsärge, Keramik, Münzen, Glas- F. v. Kenner, Neue römische Funde in Wien 5 II. Mitt. ZK 5 N. F., 1879, 35; ders., Die ar- gefäße und Lampen sowie Mauerreste und Gewölbe gefunden. Bei Bauarbei- chäologischen Funde aus römischer Zeit. In: ten für die Verbindungsbahn zwischen Süd- und Nordbahn kamen 1849 beim Geschichte der Stadt Wien I (Wien 1897) – Wiener Neustädter Kanal ein Marmortorso einer männlichen Statue und ein Fin- 122 124. 6 6 GC: 1849_02; Großmann (Anm. 4) 198– ger einer weiteren Bronzestatue zutage. Etwas weiter östlich, in der Steingas- 210; Kenner 1897 (Anm. 5) 124; 159. se, wurden 1903 römische Mauern, Estrichböden7 sowie viele Befunde, die auf 7 GC: 1903_27; FT V, 16–17. 8 ein Gräberfeld hindeuten, und ein Ofen aufgedeckt . 8 GC: 1903_32, Gräberfeld in der Steingas- se 36–40 und 33–37; GC: 1904_24, Ofen in Als 1905 das alte Linienamtsgebäude bei St. Marx demoliert wurde, entdeckte der Steingasse 33–36; FT IV, 138; V, 16; F. man einen Fußboden aus Ziegeln und einen Straßenrest.9 Und beim Abgraben v. Kenner, Römische Funde in Wien in den des Erdreiches im Bereich Rennweg/Aspangstraße/Ziakplatz fanden sich 1907 Jahren 1901 bis 1903. JZK N. F., 2. Bd., 1. 10 Teil, 1904, 166; ders., Römische Funde in römische Brandgräber, Gruben und (Töpfer-)Öfen mit unzähligen Funden. Wien aus den Jahren 1904 und 1905. JZK Nordöstlich des Aspangbahnhofgeländes, zwischen der Lissagasse und der N. F., 3. Bd., 1. Teil, 1905, 214–222. Landstraßer Hauptstraße, wurden beim Abtragen einer bis zu 3 m hohen Bo- 9 GC: 1905_32, Rennweg 97; Kenner 1905 (Anm. 8) 211–212; ders., Forschungen in Vin- denerhebung eine römische Kulturschicht, Gräbchen und Gruben (Dm rund dobona. JA 3, 1909 (1910) Beibl. 59–60. 2,90 m), römische Keramik, darunter Terra Sigillata, Eisenstücke, ein Schwert 10 GC: 1907_22; FT V, 100–104; FA-RZ III, 11 Karte 7, Rennweg u. Verlängerung Aspang und Ziegelstücke ausgegraben (Abb. 1). Eine weitere, seichte Grube, die Bahn gegenüber Kasärne, 11./12. und 13. Ju- als Brandgrube oder Mulde bezeichnet wurde, fand man im Jahre 1910 beim ni 1907 und Karte 9, Aspang Bahn vis à vis Ka- Bau einer Wasserleitung in 2 m Tiefe vor dem Haus Aspangstraße 29. Ihr obe- särne, 2. Juli 1907. – 11 GC: 1907_21; Kenner 1909 (Anm. 9) rer Durchmesser betrug 7 8 m und sie enthielt römische Keramik sowie ein 12 Beibl. 80–84 Plan 40 nach S. 60; FT V, 97. Fragment einer Beinnadel.

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Abb. 2: Die im Jahr 2009 aufgedeckten römischen Befunde auf Bauplatz 3. (Plan: N. Piperakis)

Im Osten der Aspanggründe konnten 1999 Reste eines Grabensystems auf ei- ner Länge von 20 m in Nordost-Südwest-Richtung und 15 m in Nordwest-Süd- ost-Richtung sowie eine römische Grube freigelegt werden (Abb. 1).13

Römische Befunde und Funde der Grabung von 2009 Die römischen Befunde wurden im nördlichen Teil des Bauplatzes 3 angetrof- fen (Abb. 2). In der südlichen Hälfte des Geländes wurde größtenteils nur 0,60 m tief gebaggert, da unter den durchschnittlich nur 0,50 m mächtigen mo- dernen Planierschichten (Schuttschichten mit Resten von Einbauten, die nach Abbruch des Bahnhofs 1977 einplaniert wurden, und Teile der geschotterten Gleiskörper) der geologische Boden anstand. Dabei handelt es sich hier um Schwemmlöss, von dem allerdings fast nirgendwo die originale Oberkante vor- handen war (gem. OK: 21,60–20,95 m über Wr. Null). Unmittelbar südlich des Wiener Neustädter Kanals befanden sich rötlich brau- ne, schluffige Lehmschichten, die dem sog. antiken Humus oder Waldboden ähnelten (OK max.: 21,71 m über Wr. Null). Der östlichste römische Befund in dieser Fläche war ein kleines, sich nach un- ten verjüngendes Gräbchen (4). Es verlief in Nordost-Südwest-Richtung und war rund 4 m lang, oben 0,50 m breit und an der Sohle 0,10–0,20 m schmal. Es befand sich ca. 320 m nordwestlich von dem bereits oben erwähnten Gra- 12 GC: 1910_37; FA-RZ III, Aspangstrasse bensystem (Abb. 1 GC: 1998_17) und hatte dieselbe Orientierung. vis à vis d. Bahnhof und Aspangstrasse 29, 13. und 14. Juni 1910. Rund 12 m nordwestlich des Gräbchens lagen drei seichte Grubenkomplexe 13 GC: 1998_17, Aspanggründe (Gra- (Abb. 3). Zu einer annähernd ovalen, 11 m großen, Nordost-Südwest ausge- bungen der Jahre 1998–2000); E. H. Huber, richteten Grube lassen sich anscheinend drei Vertiefungen (166) ergänzen. Ihre Wien 3, Aspangbahnhof. FWien 2, 1999, 166; dies., Wien 3, Aspangbahnhof. FWien 3, Mitte und ihr südöstlicher Rand waren von Bahneinbauten und Kabeltrassen 2000, 200; dies., 3 – Aspangbahnhof. FÖ 39, zerstört worden. An ihrer Ostseite schnitt eine ovale, muldenförmige, 1,80 m 2000, 693–694.

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Abb. 3: Überblick über die römische Grubenlandschaft am Ende der Grabung. (Foto: M. Müller)

lange Vertiefung ein (59). In die zweitoberste der einander ähnlichen Verfüll- schichten dieses Grubenkomplexes waren 12 Steckenlöcher eingetieft. Westlich daneben befand sich eine Grube (154), die mindestens etwa 4,3064,30 m groß gewesen sein dürfte. In dieser gab es verschiedene Verfül- lungen, darunter auch lössige Schichten, die an der Sohle einen länglichen Bu- ckel in Nord-Süd-Richtung bildeten. Besonders an der Südseite der Grube gab es mehrere muldenförmige Vertiefungen. Diese drei ovalen Gruben waren je ca. 0,75–1 m lang und lagen etwas höher (OK: durchschnittlich 21,50 m, gegen- über 21,40 m über Wr. Null der großen Grube). Die ovale Grube (71) südlich davon war 1,8061,20 m groß. Südöstlich der soeben besprochenen Befunde waren zwei weitere muldenför- mige Gruben nur mehr sehr seicht erhalten. In die 2,20 m lange Grube (46) war eine 0,80 m große runde Grube eingetieft. Die zweite Grube (53) war 1,80 m lang. Ganz im Norden, am Rand des Wiener Neustädter Kanals bzw. des Umlei- tungsgerinnes, lag unter neuzeitlichen Schichten und Pfostenlöchern eine Mul- de (167), die mit rötlichem Lehm und fragilen, bemalten römischen Wandver- putzstückchen, Ziegelfragmenten und Keramikresten verfüllt war. Die Gruben- reste (155) nordwestlich davon waren von einer Störung unterbrochen. Der östliche Teil war noch 0,80 m lang und 0,45 m breit erhalten und enthielt eine Brandgrabverfüllung. Darin fanden sich Fragmente einer tegula und etwas Ke- ramik. Insgesamt hatte dieser Befund eine Ausdehnung von 2,95 m. Südlich davon befand sich eine große, unregelmäßig ovale, 0,25 m tiefe Grube (157). Sie war 4,80 m lang und 3,25 m breit und mit mittelbraunem, sandigem Lehm verfüllt. In ihren Boden waren im Norden und im Süden zwei ovale Mul- den (noch 16 cm tiefer, bis 20,56 m über Wr. Null) eingetieft. Die südliche Mul- de war 2 m lang und 1,80 m breit. Sie enthielt rötlich braunen, lössigen Lehm mit einigen kleinen römischen Keramikfragmenten. Am Übergang von der obe- ren Verfüllschicht der größeren Grube zu dieser Verfüllung gab es einen flachen

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Stein und mehrere große Knochenstücke. Die nördliche Vertiefung hatte eben- falls eine Länge von 2 m. In der Schicht über der sandig-lehmigen Verfüllung der großen Grube fand sich ein zarter Terra-Sigillata-Rand eines Bechers aus severischer Zeit.

Resümee Zur Erforschung der römischen Zivilstadt konnten wichtige Erkenntnisse ge- wonnen werden: Es scheint sich hier tatsächlich um den südlichen Stadtrand- bereich gehandelt zu haben (Abb. 1). Die eigentliche Siedlung mit Wohn- und Werkstattbauten hat sich offensichtlich – da im Schwemmlöss im südlichen Be- reich des Bauplatzes keine tieferen Grubenbauten erhalten waren – nicht weiter nach Süden ausgedehnt als bis zu den Gruben in der nördlichen Hälfte des Bauplatzes.14 Die südlichste aufgefundene Grube (53) war 121 m von der Mitte des Rennwegs (= Limesstraße) entfernt. Bei den unregelmäßigen Grubenkom- plexen wird es sich um Lehmentnahmegruben gehandelt haben. Die Wohn- und anderen Gebäude dürften sich noch etwas weiter nordöstlich, näher an 14 Höher liegende Befunde wie seichte Gru- 15 der Limesstraße befunden haben. Die zuletzt und bereits 1999 ausgegrabe- ben und Gräbchen könnten durch die Bahn- nen Strukturen weisen alle dieselbe Orientierung auf, nämlich rechtwinkelig und bauten entfernt worden sein. 15 An dieser Stelle seien vorab die weiteren parallel zur Limesstraße. Dieser Abschnitt der Limesstraße verläuft (nach einem Grabungen im Ostteil der Aspanggründe im Knick) in diesem Bereich in derselben Ausrichtung wie die via principalis des Jahr 2010 erwähnt, die ebenfalls Gruben, Legionslagers, d. h. sie folgt anscheinend dem ursprünglichen römischen Ver- Gräbchen, aber auch Ausrissmauern der Rö- merzeit zutage brachten (siehe auch Abb. 1). messungssystem. GC: 2010_02, Bauplatz 5, südlich von As- Auf Bauplatz 3 konnten neben Bruchstücken der üblichen Gebrauchskeramik pangstraße 59–65; GC: 2010_03, Rennweg des späten 1. bis 3. Jahrhunderts n. Chr. 20 kleine Terra-Sigillata-Fragmente 93 und 93a; Grabungsleitung: S. Jäger-Wer- sonig und I. Mader. geborgen werden, die sich fast alle in spätantoninische bis severische Zeit da- 16 Ich danke D. Gabler und S. Jäger-Wer- 16 tieren (ca. 170–235 n. Chr.) lassen. (M. Mü.) sonig für die Hilfe.

Wien 17, St.-Bartholomäus-Platz Anlässlich der Neugestaltung des St.-Bartholomäus-Platzes im 17. Wiener Ge- meindebezirk führte die Stadtarchäologie Wien vom 22. September bis 10. No- vember 2009 eine Denkmalschutzgrabung durch (Abb. 1). Diese brachte ne- ben mittelalterlich/neuzeitlichen Friedhofsbefunden und einer urgeschichtlichen Grube (siehe auch Beiträge H. Krause, 226 f. sowie 240 ff.) römische Sied- lungsreste zum Vorschein. Seit dem 18. Jahrhundert wurden um die Kalvarien- bergkirche sowie in ihrer unmittelbaren Umgebung immer wieder Funde aus der Römerzeit geborgen.1 Nordöstlich der Grube mit Fundmaterial aus der späten Hallstatt-/frühen Latè- nezeit wurde ein Nord-Süd verlaufendes Gräbchen (Abb. 2) mit hellbraun-oran- gefarbener, sandig-lehmiger Verfüllung festgestellt, das viel Ziegelbruch und Abb. 1: Fundpunkt 2 (GC: 2009_02). Wien 17, -splitt sowie Kies, Schotter und Steine bis 10 cm Durchmesser enthielt (siehe St.-Bartholomäus-Platz. Beitrag H. Krause, 241 Abb. 1). Das Gräbchen war auf einer Länge von ca.

7 m zu verfolgen, hatte eine Breite von 0,32 bis 0,37 m und war noch ca. 1 Siehe www.kulturgut.wien.at s. v. St.- 0,22 bis 0,24 m tief erhalten (UK 44,43 m über Wr. Null). Sein Querschnitt Bartholomäus-Platz (GC: 1953_06), St.-Bar- war rechteckig. Nach einer ca. 2 m breiten Unterbrechung (Störung durch tholomäus-Platz 4 (GC: 1958_03), Kalvarien- berggasse 28 (GC: 1748_02), Elterleinplatz Grabgruben und Künette) folgte im Süden ein weiteres Gräbchen mit ähnlicher (GC: 1748_01; 3000_63), Hernalser Haupt- Verfüllung und Dimension mit einer Länge von ca. 3 m (erhaltene OK 44,76 m, straße 67 (GC: 1897_18).

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Abb. 2: Nördliches Mauerausrissgräbchen mit teilweise entfernter Verfüllung. (Foto: H. Krause)

UK 44,69 m über Wr. Null), das aber nicht exakt in der Flucht des nördlichen Pendants lag, so dass nicht sicher ist, ob diese beiden Befunde zu einem Ob- jekt gehörten.2 Diese Befunde stellen wohl die Verfüllung eines Ausrisses einer ehemaligen Mauer dar. Ihre ursprünglichen Längen waren nicht mehr ermittel- bar. Unmittelbar westlich des nördlichen Mauerausrisses konnte ein Pfosten- loch (erhaltene OK 44,66 m, UK 44,57 m über Wr. Null) festgestellt werden, das offenbar zur Mauerkonstruktion gehört haben dürfte. In der Verlängerung des südlichen Mauerausrisses wurden ebenfalls zwei Pfostenlöcher in einer Tiefe von 44,81 bzw. 44,73 m über Wr. Null angetroffen. Eine eventuell in Ana- logie zum nördlichen Befund östlich von ihnen verlaufende Mauer war an dieser Stelle nicht mehr feststellbar, da hier die oberen Schichten bereits gestört wa- ren. Die Verfüllung des nördlichen Mauerausrisses enthielt auch ein Keramik- bruchstück aus der Spätlatènezeit und Reste römischer Ziegel. Unter ihnen war auch ein römischer Warzenziegel. Ebenfalls dürfte die westlich des nördli- chen Mauerausrisses ergrabene orange-hellrote Planierschicht (erhaltene OK von 44,92 bis 45,07 m über Wr. Null) diesem wahrscheinlich römerzeitlichen Bau zuzuordnen sein. Die Planierschicht bestand aus verziegeltem Lehm mit Abdrücken pflanzlicher Beimengungen und enthielt vereinzelt Holzkohle- und Kalkpartikel sowie Ziegelsplitter. Sie war vielfach durch die in der frühen Neuzeit angelegten Grabgruben gestört. Dadurch fand sich auch umgelagertes Mate- rial dieser ehemaligen Schicht in den Grabgruben und -verfüllungen, in denen auch zahlreiche römische Ziegelfragmente von Tegulae und Imbrices sowie vereinzelt römische Keramikscherben angetroffen wurden. Auch innerhalb der Grabungsfläche im Norden des Platzes (nördliches Fried- hofsareal) fanden sich an einigen Stellen Reste einer Planierschicht aus verzie- geltem Lehm (erhaltene OK 44,45 m, UK 44,22 m über Wr. Null), die hier ca. 0,23 m stark und vergleichbar mit der orange-hellroten Planierschicht westlich 2 Die Platzoberfläche fällt nach Norden hin der Kalvarienbergkirche war. Die Verziegelung des Lehms und die Holzkohle- ab, so dass auch die archäologischen Befunde der leichten Hanglage entsprechende Tiefen partikel deuten auf einen Brand hin, der zur Zerstörung eventuell auch hier vor- aufweisen. handener Bauten aus der Römerzeit geführt haben dürfte. Ebenso wurden auf

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diesem Areal in den Friedhofsschichten und Grabgrubenverfüllungen einige rö- mische Dachziegel- und Keramikfragmente angetroffen. (H. K.)

Wien 1, Am Hof 10 Vom 16. Dezember 2008 bis zum 23. Dezember 2009 wurden im Zuge der Unterkellerung der Atemschutzräume der Feuerwehrzentrale Am Hof 10 1 Zum Bürgerlichen Zeughaus siehe W. archäologische Untersuchungen durch die Stadtarchäologie Wien vorgenom- Hummelberger, Das Bürgerliche Zeughaus. men. Neben den überaus umfangreichen römerzeitlichen Befunden (siehe Wiener Geschichtsbücher 9 (Wien 1972); vgl. Beitrag M. Mosser, 50 ff. und 227) lieferten die Grabungen auch weitreichende auch ders., Zur Geschichte des Bürgerlichen Zeughauses in Wien. In: Das Wiener Bürgerli- Erkenntnisse zu mittelalterlichen Strukturen im Bereich des ehemaligen Bürger- che Zeughaus. 3. Sonderausst. HMW (Wien 1 lichen Zeughauses (Abb. 1). 1960) 7–21.

Abb. 1: Fundpunkt 3 (GC: 2008_02). Wien 1, Am Hof 10: Mittelalterliche Siedlungsreste innerhalb des ehemaligen Bürgerlichen Zeughauses (= Zentral- feuerwache). (Plan: M. Mosser, Ch. Ranseder)

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Auf der Parzelle des im Jahr 1562 errichteten Zeughauses sind zwei Vorgängerbauten durch historische Quellen do- kumentiert. Beide gehörten dem jüdischen Viertel an, das mit dem Pogrom von 1421 aufgelöst wurde.2 Das nördliche dieser beiden Häuser ist als der jüdische Fleischhof überliefert.3 Dieser war zwar in seiner Bausub- stanz nur spärlich archäologisch zu erfassen, eine überaus hohe Zahl an Tierknochen innerhalb der Erdplanierungen für die ältesten Fußböden des Bürgerlichen Zeughauses geben allerdings ein eindrucksvolles Zeugnis für diesen mittelalterlichen Schlachtbetrieb.4 Zuvor soll im Hochmittelalter, nach der Quellenlage ab dem 12. Jahrhundert, die erste Babenbergerresidenz im Um- feld des heutigen Platzes Am Hof gelegen haben.5 Eindeu- tige archäologische Spuren für diese Babenbergerpfalz sind bislang nur in geringem Maße vorhanden.6 Wohl zu den ältesten mittelalterlichen Befunden, die bei den Grabungen Am Hof zum Vorschein kamen, zählt ein mächtiger, 4 m breiter und bis zu 1,90 m tiefer Graben (OK 16,80, UK 14,90 m über Wr. Null), der unmittelbar oberhalb des Nord-Süd orientierten römischen Abwasser- kanals in dessen Flucht angelegt worden war (Abb. 2). Von diesem Graben konnte nur die westliche Böschung aufge- deckt werden. Dessen Sohle liegt genau unterhalb der frühneuzeitlichen Mauer zum Innenhof des Bürgerlichen Abb. 2: Hochmittelalterliche Grabenanlage in Schnitt 8, Blickrichtung Sü- Zeughauses, also der östlichen Begrenzung des Gra- den. (Foto: M. Mosser) bungsareals. Die Datierung dieses Grabens ins Mittelalter ergibt sich durch den Umstand, dass dessen Oberkante in etwa jener der sog. Schwarzen Schicht entspricht, die allerdings nur auf einer kleinen Fläche

2 Hummelberger 1972 (Anm. 1) 34 f. im östlich anschließenden Schnitt 11 angetroffen wurde. Die Funde aus und 3 K. Lohrmann, Die Wiener Juden im Mittel- unterhalb der Grabenböschung bzw. aus der Verfüllung bestanden aber aus- alter. Gesch. Juden Wien 1 (Berlin,Wien 2000) 7 schließlich aus römerzeitlichem bzw. spätrömischem Material. Die Verfüllung 55; 102. 4 M. Mosser, Wien. 1. Bezirk, Am Hof 10. dieses Grabens und eine weitere Grubenverfüllung mit umfangreichem mittel- FÖ 47, 2008, 598; ders., Wien 1, Am Hof 10. alterlichem Fundmaterial liegen stratigraphisch unterhalb eines Ost-West orien- FWien 12, 2009, 203. tierten Bruchsteinmauerfundaments eines mittelalterlichen Hauses. 5 R. Perger, Die Grundherren im mittelalter- lichen Wien, Teil I. JbVGW 19/20, 1963/64, Auch wenn in der oben erwähnten Grube verschiedene Verfüllschichten doku- 40–45; K. Lohrmann/F. Opll, Regesten zur mentiert werden konnten, so lässt sich aufgrund der Keramik keine zeitliche Frühgeschichte von Wien. Forsch. u. Beitr. Abfolge dieser Schichten feststellen. Abgesehen von einem gewissen Anteil rö- Wiener Stadtgesch. 10 (Wien 1981) 108 Nr. 380 mit Quellenangaben und weiterer Literatur. mischer Fragmente liegt v. a. hochmittelalterliche Keramik des 12./13. Jahr- 6 Vgl. G. Buchinger/P. Mitchell/D. Schön, hunderts vor. Alle Fragmente sind scheibengedreht und wechselhaft gebrannt, Das Palais Collalto – Vom Herzogshof und Ju- denhaus zum Adelspalast. ÖZKD 56/4, 2002, als Magerung finden sich sowohl Graphit als auch Glimmer in unterschiedli- 404–408. chem Verhältnis. Formal handelt es sich um Topfbruchstücke. Auch aus der 7 So wurde u. a. unterhalb der Grabenbö- Lehmplanierung für die mittelalterliche Bruchsteinmauer stammt entsprechen- schung eine Münze des Theodosius (388– 395 n. Chr.) aufgefunden. Für die Bestimmung de Keramik des 12./13. Jahrhunderts, darunter das Randfragment einer Lam- danken wir C. Litschauer. pe mit deutlichen Nutzungsspuren.

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Die mittelalterliche Keramik lässt zwar noch gewisse Spielräume in der präzisen Datierung offen, die Beschaffenheit des Materials suggeriert jedoch eine relativ zeitgleiche Verfüllung. Von diesem südlich des Fleischhofs liegenden Privathaus, das sich bis 1421 im Eigentum der jüdischen Familien Suesman und Smoyel befunden hatte,8 wur- den bei den Ausgrabungen das bereits oben erwähnte, auf bis zu 12 m Länge nachgewiesene Bruchsteinfundament der Südmauer (B 1,20 m), eine 20 m nördlich davon und parallel dazu verlaufende Steinrollierung (B 0,95 m) als Fun- dament einer weiteren Mauer sowie Ausrisse und Lehmfachwerkwände von Zwischenmauern aufgedeckt (Abb. 1). Dazu kommt eine Reihe von infrastruk- turellen Einrichtungen: Im südlichen Teil des Hauses fand sich ein kreisrunder, ursprünglich mit Holz ausgekleideter, mit zahlreicher mittelalterlicher Keramik und Tierknochen verfüllter Latrinen(?)schacht9 (Dm 1,60 m). Im Spätmittelalter ist in dessen Verfüllung eine Feuerstelle gesetzt worden. Bei der Keramik aus dem möglicherweise als Latrinenschacht anzusprechen- den Objekt handelt es sich großteils um Material des 14. bzw. des 13./14. Jahrhunderts. Vereinzelt sind auch noch Fragmente eher dem 12./13. Jahr- hundert zuzuordnen. Römisches Material fehlt vollständig. Eine zeitliche Abfol- ge der verschiedenen Verfüllschichten wird sich erst nach einer vollständigen Bearbeitung bestätigen oder verwerfen lassen. Allerdings scheint sich abzu- zeichnen, dass die tiefste dokumentierte Verfüllschicht geringfügig älter ist als die übrigen. Ein ebenfalls runder Grubenschacht (Dm 1,80 m) mit mittelalterlichem Verfüll- material wurde weiter nördlich angelegt. Die Keramik aus diesem Schacht ent- stammt dem 13./14. Jahrhundert, auch wenn sich eine größere Anzahl von Fragmenten dem 12./13. Jahrhundert zuordnen lässt. Die Fragmente weisen zum Teil deutliche grobschuppige Glimmermagerung bzw. Graphitbeimen- gung auf. Die beiden Schächte wurden insgesamt ca. 3,50 m tief ausgegraben, ohne dass ihre Unterkanten erreicht worden wären. Von Bedeutung sind weiters zwei sehr gut erhaltene, in den Tiefen Graben ent- wässernde Abwasserkanäle. Die Seitenmauern des auf 6 m Länge nachgewie- senen nördlichen Kanals (B 0,35 m) bestanden hauptsächlich aus Bruchstei- nen mit wenig (römerzeitlichem) Ziegelbruch, wobei die Abdeckplatten und die Steinplatten der Sohle in der frühen Neuzeit (vor oder im Zuge des Zeug- hausbaus von 1562) entfernt worden waren. Bei der Keramik, die von unterhalb der Kanalsohle, aus der Verfüllung des Ka- nals bzw. aus dem Bereich der Kanalmauern stammt, überwiegen die römi- schen Fragmente. Einzigen Anhaltspunkt für eine Datierung bieten vier reduzie- rend gebrannte Fragmente, die beim Abbau der nördlichen Kanalmauer zutage traten und dem 14./15. Jahrhundert zugeordnet werden können. Bei einem der Stücke handelt es sich um das gut erhaltene Randfragment eines spätmit- 8 P. Harrer-Lucienfeld, Wien, seine Häuser, telalterlichen Flachdeckels. Menschen und Kultur. Bd. 2 Teil 2 (unpubl. Die entsprechende Ausrissverfüllung über dem Kanal enthielt zahlreich Kera- Mskr. WStLA, Wien 1941) 284. 9 Die Ansprache als Latrinenschacht erfolg- mik, u. a. Ganzgefäße des 16. Jahrhunderts. Generell setzt sich das Material te aufgrund der Grünfärbung des anstehenden aus Fragmenten zusammen, die vom 14./15. bis zum 16. Jahrhundert streuen. Löss am Rand der Grube.

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Abb. 3: Spätmittelalterlicher Kanal mit Fäkalienverfüllung und südlich angrenzender Mauer des jü- dischen Privathauses (Schnitt 10), Blickrichtung Osten. (Foto: M. Mosser)

Bei den Fragmenten, die dem 16. Jahrhundert zugeordnet werden können, handelt es sich um stark verdickte, tendenziell sogar wieder zur Gefäßwand ge- bogene Krempränder und in einigen Fällen um innen glasierte Kragenrandfrag- mente. Das Spektrum der älteren Formen des 14./15. Jahrhunderts umfasst neben Topffragmenten auch Becher und Krugformen sowie Kachelfragmente, in einem Fall liegt sogar ein kleines Fragment einer glasierten Maßwerkkachel vor. Der südliche Abwasserkanal, unmittelbar an die Innenseite des südlichen Bruchsteinmauerfundaments gesetzt, war in noch beinahe vollständigem Zu- stand auf 5,80 m Länge in einem leicht geschwungenen Verlauf erhalten. Die Seitenmauern (B 0,20–0,30 m) bestanden aus in Lehm und Mörtel gesetzten, mittelalterlichen handgestrichenen Ziegeln (Maße: 2461165cm)sowieaus großen steinernen Abdeckplatten (bis zu 75650 cm). Auch die mit Steinplat- ten(bis80650 cm) gepflasterte Kanalsohle war noch vollständig vorhanden. Die keramischen Funde aus dem Bereich unter der Kanalsohle – dem Baugru- benunterbau – setzen sich aus römischen und mittelalterlichen Fragmenten zu- sammen. Die mittelalterlichen Fragmente entstammen dem 12./13. Jahrhun- dert und zeigen sowohl plattigen Glimmer als auch Graphit, die Oberfläche weist auf eine oxidierende Brennphase nach reduzierendem Brand. Die Verfüllung dieses südlichen Kanals enthielt noch getrocknete Fäkalienreste (Abb. 3). Aus der geplanten naturwissenschaftlichen Analyse der Verfüllung sind überaus spannende Ergebnisse über die Ernährungsgewohnheiten oder auch Krankheitsbilder der mittelalterlichen Bevölkerung von Wien zu erwarten. (I. G./M. M.)

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Wien 1, Riemergasse 7 Im Zuge einer geplanten, bis dato allerdings noch nicht durchgeführten Umge- staltung des ehemaligen Handelsgerichtsgebäudes Riemergasse 7 zu einem Hotel mit Tiefgarage konnten zwischen dem 4.11. 2008 und dem 15.1. 2009 die dreizehn im Vorfeld des Bauvorhabens angelegten Bohrprofile auch archäologisch untersucht werden. Der dreiseitig freistehende, sich von der Zedlitz- bis zur Jakobergasse erstreckende Monumentalbau wurde um 1906/08 bzw. 1909/11 im Sezessionsstil errichtet und diente von 1912 bis 2003 als Sitz des Handels- und Bezirksgerichts.1 Aus historischer Sicht liegt der Standort im Bereich der Lagervorstadt von Vindobona bzw. unweit der mit- telalterlich/neuzeitlichen Stadtbefestigung. Eine Reihe von römerzeitlichen und mittelalterlichen Altfunden in der Umgebung lassen auf neue archäologische Er- kenntnisse hoffen.

1 Dehio-Handbuch Wien. I. Bezirk – Innere Historische Ausgangssituation Stadt (Horn, Wien 2003) 358 f. Nach dem Bau des Legionslagers von Vindobona um die Wende vom 1. zum 2. 2 Einen Überblick zur Geschichte des Le- nachchristlichen Jahrhundert2 entwickelten sich entlang der Ausfallstraßen klei- gionslagers bietet M. Mosser, Judenplatz. Die Kasernen des römischen Legionslagers. ne Siedlungen (canabae legionis) und es sind auch Bestattungsplätze außer- WA 5 (Wien 2008) mit weiterführender Litera- halb der Lagermauern nachzuweisen, die in den meisten Fällen Nachnutzungen tur.

Abb. 1: Fundpunkt 5 (GC: 2009_01). Wien 1, Riemergasse 7 sowie Fundorte in der näheren Um- gebung. (Plan: Ch. Reisinger)

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Abb. 2: Die Jakobskirche beim Stubentor im Jahr 1724, Handzeichnung von Salomon Kleiner. (nach M. Eisler [Hrsg.], Das barocke Wien – Historischer Atlas der Wiener Ansichten [Wien, Leipzig 1925] Taf. 113)

dieser Vorstädte darstellen, als sich etwa ab dem zweiten Drittel des 3. Jahr- hunderts nach Dezimierung der Truppenstärke deren Bevölkerung in den Schutz der Lagermauern zurückzog.3 Eine dieser Ausfallstraßen verlief unweit des Handelsgerichts, und zwar ausgehend von der porta principalis dextra des Lagers etwa bei der Kramergasse/Ertlgasse über die Wollzeile nach Osten und somit in Richtung Zivilsiedlung von Vindobona im 3. Wiener Gemeindebe- zirk.4 Entsprechend konnten am Grundstück selbst in der Riemergasse 7 sowie im näheren Umfeld Befunde zu Bauten der canabae legionis als auch zu mittelkai- serzeitlichen und spätantiken Bestattungen dokumentiert werden (vgl. Abb. 1). Es handelt sich unter anderem um drei Grabsteine aus dem 2. bis 3. Jahrhun- dert sowie um einen Altar der Fortuna Conservatrix, Funde, die bereits Mitte des 16. Jahrhunderts gemacht wurden und bis auf eine Grabstele (GC: 1553_01, Riemergasse 7) heute verschollen sind. Bei der Errichtung des rück- 3 M. Kronberger, Siedlungschronologische wärtigen Teils des Handelsgerichtsgebäudes Jakobergasse 3/Zedlitzgasse 2A Forschungen zu den canabae legionis von Vin- dobona. Die Gräberfelder. MSW 1 (Wien 2005) wurde 1910 außerdem ein spätantiker Sarkophag mit Skelettbestattung ge- bes. 36–40. borgen (GC: 1910_04). Weitere entsprechende Funde wurden am Dr.-Karl- 4 S. Sakl-Oberthaler, Untersuchungen zur Limesstraße in Wien-Simmering. FWien 2, Lueger-Platz 4/Dominikanerbastei (GC: 1901_5) und in der Wollzeile 29 (GC: 5 1999, 110–114. 1900_14) aufgedeckt. 5 Zu den römerzeitlichen Funden und Be- Bezüglich der mittelalterlich/neuzeitlichen Besiedlung Wiens (Abb. 1) dürften funden aus dem Projektgebiet siehe Kronber- ger (Anm. 3) 69–72; 265–267 Taf. 13,15–17; sich Spuren des erstmals im Jahr 1236 erwähnten Klosters der Augustiner- 37–38. Chorfrauen St. Jakob auf der Hülben auf dem Areal entdecken lassen

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(Abb. 2).6 Es handelte sich hierbei um das einzige Frauenkloster, das unter den Babenbergern innerhalb der Stadtmauer entstand.7 Häufige Brände sowie die Türkenbelagerung im Jahr 1529 und ein Erdbeben im Jahr 1590 fügten der Kirche mit ihrem rechteckigen, zweischiffigen Innenraum und dem Kloster mit Kreuzgang immer wieder schwere Schäden zu.8 Im Zuge der weitreichenden Reformen Josephs II. wurde das Kloster 1783 aufgehoben, 1784 von den Nonnen verlassen und die Klostergruft im Jahr 1786 geräumt.9 In der Folge wurde das Areal anderweitig genutzt und baulich verändert. 1884 konnten beim Abtragen der Reste der Stubenbastei die östlichen Fundamente der Kir- che mit Strebepfeilern dokumentiert werden. Beim Abbruch des Klosterhofes im Jahr 1906 legte man schließlich die gesamte Westfassade der ehemaligen Kirche frei, die in ein nach 1784 errichtetes dreistöckiges Wohnhaus einbezo- gen worden war, in dem auch alte Grabplatten als Hofpflasterung Verwendung gefunden haben sollen.10 Ob durch die geplante Umgestaltung des ehemaligen Handelsgerichtsgebäu- des auch Teile der mittelalterlich/neuzeitlichen Stadtbefestigung archäologisch erfasst werden können bzw. etwaige mittelalterliche Vorgängerbauten des Klosters zum Vorschein kommen, wird abzuwarten sein.

Auswertung der Bohrprofile11 Die Probebohrungen wurden relativ regelmäßig verteilt in den bereits einge- schoßig unterkellerten Bereichen des Gebäudes durchgeführt. Die Ergebnisse lassen tiefgreifende historische (Bau-)Maßnahmen vermuten und in den nicht unterkellerten Hofbereichen noch relativ ungestörte Befunde erhoffen. Unterhalb einer rund 1,4–1,5 m starken, offensichtlich flächendeckenden neu- zeitlichen Bauschuttschicht (durchschnittliche UK 5,7 m über Wr. Null), die ver- 6 P. Csendes, Die Entwicklung der Stadt im mutlich auf das oben erwähnte dreistöckige Wohnhaus zurückzuführen ist, 13. und 14. Jahrhundert. In: P. Csendes/F. konnte zumeist eine unterschiedlich mächtige, dunkelbraune lehmige Kultur- Opll (Hrsg.), Wien. Geschichte einer Stadt 1. Von den Anfängen bis zur Ersten Wiener Tür- schicht (durchschnittliche UK 4,5 m über Wr. Null) mit mittelalterlichem und kenbelagerung (1529) (Wien, Köln, Weimar neuzeitlichem Material dokumentiert werden. Hier dürfte es sich aus derzeitiger 2001) 77. Sicht um die Reste der Einplanierung des Chorfrauenklosters St. Jakob auf 7 F. Opll, Eine Stadt im Aufbruch – Wien in der spätbabenbergischen Epoche. In: Csen- den Hülben handeln. Einzelne etwas tiefer reichende Lagen (tiefste dokumen- des/Opll (Anm. 6) 100. tierte UK: 1,25 m über Wr. Null) unterschiedlicher Zusammensetzung stellen 8 R. Perger/W. Brauneis, Die mittelalterli- vermutlich sekundär verfüllte Fundament- bzw. Mauerausrisse unbekannter chen Kirchen und Klöster Wiens. Wiener Ge- schichtsbücher 19/20 (Wien, Hamburg 1977) Zeitstellung dar oder sind im Bereich von Gruben angelegt worden. Ein Bohr- 198–200; F. Opll, Krisenzeiten und ihre Bewäl- kern im Westen des nordöstlichen Traktes (KB11e_n) könnte weiters aufgrund tigung – Vom Interregnum zur frühhabsburgi- der Tiefe und der wenig kompakten, lockeren Zusammensetzung des zum Teil schen Epoche. In: Csendes/Opll (Anm. 6) 108; F. Czeike, Historisches Lexikon Wien 3 aschigen Materials auch einem Grabenbereich entstammen. Möglicherweise (Wien 2004) 336 f. s. v. Jakobskirche. ist er Teil des Grabensystems der im 13. Jahrhundert errichteten und in der 9 Perger/Brauneis (Anm. 8) 200 f.; Czeike Mitte des 16. Jahrhunderts umgebauten älteren Stadtmauer Wiens. (Anm. 8). 10 Zur Nachnutzung siehe Anm. 9. An Funden konnte neben neuzeitlicher Keramik und einem Reitersporn auch 11 Messung jeweils ab rund 7,25 m über Wr. mittelalterliches und römisches Material geborgen werden. (C. L.) Null.

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Wien 17, St.-Bartholomäus-Platz Durch die vom 22. September bis 10. November 2009 durchgeführte Denk- malschutzgrabung der Stadtarchäologie Wien anlässlich der Neugestaltung des sich um die Kalvarienbergkirche in Hernals erstreckenden St.-Bartholo- mäus-Platzes wurden neben einigen wenigen urgeschichtlichen und römi- schen Siedlungsresten (siehe Beiträge H. Krause 226 f. und 231 ff.) vor allem frühneuzeitliche Bestattungen sowie zahlreiche dislozierte menschliche Kno- chen freigelegt und dokumentiert (Abb. 1). Unmittelbar unter der Asphaltdecke bis zum untersten, von den Baumaßnahmen betroffenen Niveau (0,60 m unter der Platzoberfläche) traten in zwei Bereichen des Platzes mehr als 300 Gräber zutage. Das eine Areal erstreckte sich westlich der Kalvarienbergkirche (südli- cher Friedhof). Das andere lag im Norden des Platzes (nördlicher Friedhof). Durch rezente Aufgrabungen (Künetten) in den letzten Jahrzehnten waren be- reits zahlreiche Gräber zerstört worden. Dies war vor allem im Westen und Nor- den des Platzes der Fall. Die Ausgrabungen ergaben, dass dieser ehemalige Friedhof der Pfarre Hernals einst jeweils durch eine Mauer und eine dazwischenliegende grabfreie Zone, die wohl ursprünglich ein Weg bzw. ein kleiner Platz gewesen sein dürfte, in zwei Bereiche getrennt war.

Der nördliche Friedhof Das ausgegrabene nördliche Friedhofsareal gehörte offenbar unmittelbar zur nördlich von ihm gelegenen ehemaligen Pfarrkirche, die 1784/85 aufgelassen und abgetragen worden war und deren Reste (gotischer Chor) 1958 beim Bau des Hauses St.-Bartholomäus-Platz 4 dokumentiert wurden (GC: 1958_03; Abb. 1). Bei dieser Ausgrabung kamen auch Bestattungen zutage. Die Existenz einer dem hl. Bartholomäus geweihten Pfarrkirche in Hernals ist für das 14. Jahrhundert bezeugt.1 Eine 0,50–0,55 m breite Friedhofsmauer, die in Spuren noch im Osten und im Südosten dieses Grabungsbereichs erfasst werden konnte (erhaltene OK von Süden nach Norden von 44,51 m bis 43,76 m über Wr. Null), bildete die Um- grenzung des einstigen Gottesackers und zog sich wohl ursprünglich komplett um die Kirche herum. Ihre spärlichen Reste bestanden aus einem Maueraus- rissgräbchen, in das Baumaterial wie kleine Steine (Dm: bis 8 cm) und Dachzie- gelfragmente sowie viel kalkhaltiger Mörtel locker eingebracht worden war. Die Mauer war mehrmals leicht abgewinkelt. Dies lässt auf einen dem Chor der Kir- che angepassten, polygonalen Verlauf schließen. Der Bereich von der nördli- chen Grabungsgrenze bis zum Haus St.-Bartholomäus-Platz 4 und der west- lichen bis zum Pfarrhaus war durch mehrere rezente Künetten derart umgegra- ben, dass hier keine Gräber bzw. Grabreste mehr ungestört vorhanden waren. Dislozierte Knochen und spärliche Grabreste in diesen Bereichen wiesen aber diese dennoch als ursprüngliches Friedhofsareal aus. Aufgrund der räumlichen Beschränktheit des um die Pfarrkirche liegenden Friedhofs kam es über Jahr- hunderte hinweg zur Wiederbelegung älterer Grabstellen. Daher wiesen die 1 W. J. Bandion, Steinerne Zeugen des Glaubens. Die heiligen Stätten der Stadt Wien Friedhofsstraten und Grabgrubenverfüllungen sehr viele dislozierte menschli- (Wien 1989) 344 f. che Knochen auf. Teilweise wurden auch regelrechte Deponierungen solcher

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Abb. 1: Fundpunkt 2 (GC: 2009_02). Wien 17, St.-Bartholomäus-Platz. Übersichtsplan der Grabungsbefunde. (Plan: Ch. Reisinger)

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Abb. 2: Nördlicher Friedhof. Grab 246, Ausschnitt mit Gürtel und Textil- Abb. 3: Nördlicher Friedhof. Grab 280 (juveniles Individuum mit Toten- resten aus der Renaissancezeit. (Foto: H. Krause) haube bzw. -krone) schneidet Gräber 279 und 281. (Foto: H. Krause)

Überreste in Grabgruben beobachtet. Insgesamt wurden 164 Gräber bzw. Reste von ihnen freigelegt und geborgen. Die Gräber lagen teilweise übereinan- der oder überschnitten einander. Im mittleren Teil der Grabungsfläche war die Belegung am dichtesten, zur Friedhofsmauer hin gab es nur wenige Gräber, ei- ne Bestattung befand sich sogar außerhalb der Friedhofsmauer im Südosten. Beim derzeitigen Aufarbeitungsstand lassen sich keine Grabreihen erkennen. Auffällig ist, dass es zwei verschiedene Ausrichtungen der Gräber gab, die sich auch stratigraphisch trennen ließen. So dürften die West-Ost ausgerichteten Gräber älter als die Süd-Nord ausgerichteten sein. Unter den West-Ost orien- tierten Gräbern sind diejenigen die älteren, bei denen keine Sargreste und zumeist auch keine Beigaben oder Trachtbestandteile, ausgenommen Ge- wandhäkchen bzw. -schließen, vorhanden waren. Wie die oberirdische Grab- gestaltung ausgesehen haben mag, ist anhand archäologischer Befunde nicht zu klären, hier ist man auf entsprechendes Bildmaterial angewiesen. Die für christliche Bestattungen typische Art der Beisetzung war die gestreckte Rü- ckenlage des Toten mit dem Kopf im Westen und dem Blick nach Osten, von wo die Wiederkehr Christi am Jüngsten Tag erwartet wurde. Aus welchem Grund es zu einer Änderung dieser Ausrichtung kam, wird noch zu untersu- chen und zu klären sein. Unter den Funden aus den Gräbern sind die Reste von in situ aufgefundenen Gürteln mit Metallbeschlägen und -schließen hervorzuheben. Besonders be- merkenswert ist der Gürtel aus einer West-Ost orientierten Sargbestattung (Grab 246; Abb. 2) sowie die Totenhaube bzw. Totenkrone eines juvenilen In- dividuums aus einer Süd-Nord orientierten Sargbestattung (Grab 280; Abb. 3). In der Grube des Grabes 280, das die Gräber 279 und 281 schnitt, fanden sich auch Reste einer Garnrolle mit Lahnfaden. In einigen Gräbern wurden zudem religiöse Beigaben (Devotionalien) wie Rosenkränze, Medaillen und Komposit- amulette, sog. Breverl, gefunden. Über die genaue Datierung der Gräber kann bei derzeitigem Aufarbeitungs- stand noch nicht viel gesagt werden. Anhand der schriftlichen Überlieferung ist mit einer Belegungsdauer vom Mittelalter bis Oktober 1786 zu rechnen, als der Friedhof im Zuge der josephinischen Begräbnisreform von 1784, die

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Abb. 4: Südlicher Friedhof mit Kalvarienbergkirche. Überblick über die Grabungsfläche mit Grab- gruben, nach Osten. (Foto: E. Pichler) die Schließung aller Friedhöfe innerhalb von Ortschaften forderte, aufgelassen wurde.2

Der südliche Friedhof (Abb. 4) Der südliche Friedhof erstreckte sich westlich der seit dem Barock bestehen- den Kalvarienbergkirche, die nach Abriss der alten Pfarrkirche deren Funktion übernahm. Auch dieser Friedhof war von einer Mauer umgrenzt. Spärliche Reste von ihr konnten im Nordosten dieses Areals festgestellt werden (Abb. 1 und Abb. 5; erhaltene OK: 44,68–44,80 m, UK: 44,60–44,68 m über Wr. Null, nach Norden abfallend). Sie verlief von Südosten nach Nordwesten, war 0,60 m breit und auf einer Länge von 1,48 m zu verfolgen. Das Mauerwerk bestand aus kleinteiligen Bruchsteinen in Kalkmörtelbindung. Sie schnitt ein Süd-Nord ausgerichtetes Grab (Grab 31) und ist daher jünger als dieses. Daraus folgt, dass die Mauer erst errichtet wurde, nachdem dieser Bereich bereits für Bestattungen genutzt worden war. Durch die Grabungen wurde nur ein kleiner Teil dieses einstigen Friedhofs freigelegt. Er dürfte sich in südlicher und westlicher Richtung weiter fortsetzen bzw. bereits der Errichtung der Häuser St.-Bartholomäus-Platz 1 und 2 großteils zum Opfer gefallen sein. Die Belegungsdichte war hier weitaus geringer als auf dem nördlichen Friedhof. Insgesamt wurden 136 Gräber fest- gestellt. Aber auch hier gab es Bestattungen, die einerseits zum überwiegen- den Teil Süd-Nord (vereinzelt Nord-Süd) und andererseits West-Ost orientiert waren, wobei Erstere von Letzteren geschnitten wurden. Daraus ergibt sich, dass die West-Ost orientierten Gräber hier die jüngeren sein dürften. Eine Mas- sierung von Gräbern ließ sich im Nordosten dieses Areals feststellen, während im südlichen Teil deutlich weniger Gräber zutage traten. Es waren hier durch- 2 Pfarre Hernals – Kalvarienbergkirche, Sterbe-Buch. Für die Pfarre Herrnals V.U.W. aus Grabreihen erkennbar. Wann es zu der Umorientierung der Gräber gekom- W. von 1ten Monats Tage May, im Jahre men sein mag, ist derzeit noch unklar. Die Toten lagen ebenfalls in gestreckter 1784–1809, 36.

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Rückenlage, ihre Armhaltung konnte variieren, meist wa- ren die Arme angewinkelt (Gebetsgestus), so dass die Hände auf dem Brustkorb bzw. Bauchbereich verschränkt waren. Viele der Gräber enthielten als Zeichen der barocken Frömmigkeit Devotionalien wie Rosenkränze, Wallfahrts- und Gnadenmedaillen, Kreuze sowie Kompositamulette. Vereinzelt trugen Individuen Fingerringe. Reste von Schu- hen, Knöpfen und Gewandhäkchen bzw. -ösen sowie eine Schuhschnalle sind Zeugnisse der Bekleidung der Toten. Gürtel, wie die auf dem nördlichen Friedhof aufgefunde- nen, fanden sich jedoch nicht. Zwei Individuen waren mit einer Totenkrone aus Perlen, Pailletten und Lahnfäden (Grab 62 mit nur wenig erhaltenen Resten, Grab 176) bei- gesetzt worden. Anhand der historischen Überlieferungen und der Beigaben sowie der Trachtbestandteile der Ver- storbenen kann von einer Belegungszeit des südlichen Friedhofs ca. vom zweiten Viertel des 17. Jahrhunderts bis Oktober 1786 ausgegangen werden.3 Dieser Fried- hofsbereich ist demnach später als der zur Pfarrkirche gehörige nördliche Friedhof entstanden und war ebenfalls von einer Mauer umschlossen. Auffällig ist auch, dass sich hier weitaus mehr Gräber mit beigegebenen Devotionalien fanden, die damit einen Hinweis auf die Belegungszeit Abb. 5: Südlicher Friedhof. Reste der Mauer (Befund 32) als nördlicher nach der Rekatholisierung bzw. Gegenreformation geben Abschluss des Friedhofs, geschnitten von Grab 31. (Foto: G. Reichhalter) (siehe unten). Möglicherweise wurde dieser Friedhof annä- hernd zeitgleich mit dem Kalvarienberg angelegt. Eine ge- nauere Datierung kann erst die Auswertung liefern. Weiters kamen im südlichen Teil des südlichen Friedhofes zwei mit Bauschutt verfüllte Kalkgruben zum Vorschein, eine weitere fand sich im Nordosten des Platzes (Abb. 1, KBG). Sie enthielten vorwiegend neuzeitliches Baumaterial wie Ziegel-, Mörtel- und Stuckreste.

Historische Überlieferung 1301 wurde erstmals ein St.-Bartholomäus-Altar in Hernals urkundlich er- wähnt.4 In dieser Zeit ist bereits auch ein Friedhof bei der Kirche anzunehmen. 3 Freundl. Mitteilung E. Pichler: Aus den Sterbematriken der Pfarre Hernals geht hervor, In der Reformationszeit im 16. Jahrhundert wurde Hernals ein Zentrum des dass bis Oktober 1786 Bestattungen auf dem Protestantismus, das mit den Herrschaftsinhabern, den Familien Geyer Friedhof um die Pfarrkirche Hernals durchge- (1515–1587) und Jörger (1587–1622), in Zusammenhang stand. 1568 und führt wurden. 4 www.kalvarienbergkirche.at (Stand 7.4. 1571 gewährte Kaiser Maximilian II. dem Adel im Erzherzogtum Österreich Reli- 2010); St. Zabusch, 17 Bezirksmuseum Her- gionsfreiheit in dessen Herrschaften. Nach der Auflösung des evangelischen nals. WGBl Beih. 3 (Wien 2002) 19 f. 5 R. Leeb, Der Streit um den wahren Glau- Zentrums im Landhaus in der Herrengasse in Wien im Jahr 1577 durch Kaiser 5 ben – Reformation und Gegenreformation in Rudolf II. strömten evangelische Wiener Bürger zur Predigt nach Hernals. Österreich. In: R. Leeb et al., Geschichte des 1609 führte Helmhard der Jörger in seiner Patronatskirche den öffentlichen, Christentums in Österreich. Von der Spätanti- ke bis zur Gegenwart. Österr. Gesch. Ergbd. evangelischen Gottesdienst ein. Ab 1576 wurden auf dem Kaiserlichen Gottes- 3 (Wien 2003) 251 f. acker vor dem Schottentor, der sich auf dem Areal des alten Allgemeinen Kran-

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kenhauses (Hof 8/9) befand, auch Tote evangelischer Konfession bestattet.6 Eine gedruckte Leichenpredigt aus dem Jahr 1623 berichtet von einer in Her- nals gehaltenen Predigt und danach erfolgten Beisetzung auf dem neuen Got- tesacker zu Wien vor dem Schottentor.7 Ob in der protestantischen Zeit der Friedhof um die Hernalser Pfarrkirche ebenfalls belegt wurde, ist derzeit noch offen. Matthäus Merian zeigt in seiner „Topographia Provinciarum Austriacarum“ von 1649 auch Hernals und berichtet über die Geschichte des Ortes in der Zeit des Protestantismus und der Gegenreformation.8 Auf der abgebildeten Ansicht des Schlosses Hernals ist der „Hernalsische Gottesacker“ oben links im Bild deut- lich abseits der Kirche gelegen gezeichnet. Ob die Lage des Friedhofs der Wahrheit entspricht und mit dem von Matthias Fuhrmann genannten außerhalb des Ortes, auf freiem Feld gelegenen, viereckigen evangelischen Friedhof gleichzusetzen ist, kann bei derzeitigem Kenntnisstand nicht geklärt werden.9 Annähernd an derselben Stelle ist in jüngeren Plänen (z. B. im Franziszeischen Katasterplan von 1819) aber ebenfalls ein Friedhof dargestellt, der sich beim heutigen Lorenz-Bayer-Platz/Haslingergasse befand. Vielleicht wurde dieses Areal später erneut als Friedhof genutzt. Bisher ist man allerdings davon aus- gegangen, dass dieser Friedhof erst am 28. Oktober 1786 eingeweiht worden ist.10 1620 begann die Gegenreformation. Im Zuge dieser wurden die Güter der Jör- ger durch den kaiserlichen Fiskus eingezogen, weil sie sich weigerten, dem Kai- ser Ferdinand II. zu huldigen und sich ihm zu unterwerfen. 1625 kam die Pfarre Hernals daher an das Domkapitel zu St. Stephan.11 Um den Katholizismus an diesem Ort wieder zu festigen, wurde ein Passionsweg errichtet, der von St. Stephan in Wien seinen Ausgang nahm. Am 23. August 1639 gab es die erste Wallfahrt von Wien zum Heiligen Grab, das neben der Pfarrkirche von Her-

nals errichtet worden war. Zum Jahr 1641 ist überliefert, dass ein neuer Fried- 6 L. Senfelder, Der kaiserliche Gottesacker 12 hof geweiht wurde. vor dem Schottenthor. BMAVW 36/37, 1902, Der Kreuzweg wurde während der Zweiten Türkenbelagerung im Jahre 1683 221 f. 240. 7 E. Ursinus, Christliche Leich- und Trost- zerstört. Von 1709 bis 1714 wurde der Kalvarienberg mit einer kleinen Kirche predigt nach ableiben der Frau Barbara Bayrin errichtet. Auf dem Stich von Salomon Kleiner von 1724 sind dieser Kalvarien- … gehalten zu Hernals den 8. Aug. 1623 13 (Nürnberg 1623). berg mit der kleinen Kirche sowie die Annenkapelle im Vordergrund darge- 8 M. Merian, Topographia Provinciarum stellt. Man sieht rechts vom Kalvarienberg auch das von einer Mauer umgebe- Austriacarum … (Frankfurt a. M. 1649, Reprint ne Friedhofsareal mit Grabkreuzen und einem zentralen Hochkreuz. Wien 2005) 43 mit Abb. zwischen S. 42 und 43. Ein im Diözesanarchiv aufbewahrter „Einreichplan“ zur Errichtung eines Klos- 9 M. Fuhrmann, Historische Beschreibung ters der Pauliner-Eremiten aus der Zeit um 1742 zeigt auch die Grundrisse Und kurz gefaste Nachricht Von der Römisch. des Kalvarienberges, der Annenkapelle und der Pfarrkirche. Die Ausdehnung Kaiserl. und Königlichen Residenz-Stadt Wien, Und Ihren Vorstädten. Teil 1 (Wien 1766) 375. des südlichen Friedhofs mit seiner nördlichen Mauer, die vom Kalvarienberg 10 Siehe Anm. 2. zur Annenkapelle verlief, wird daraus ebenfalls ersichtlich. Interessant ist je- 11 www.kalvarienbergkirche.at (7.4. 2010); doch, dass das Areal um die Pfarrkirche (nördlicher Friedhof) nicht als Kirchhof Zabusch (Anm. 4) 23. 12 Diözesanarchiv Wien, Protokolle des Wie- ausgewiesen ist. Bauliche Überreste der Annenkapelle haben sich archäolo- ner Domkapitels, Bd. 13 (1640–1648) fol. 102. gisch nicht eindeutig nachweisen lassen. Ob die spärlichen Reste von Ziegel- 13 M. Lehmann, Der Kalvarienberg im mauerwerk, die an zwei Stellen im Westen des Platzes beobachtet wurden, Abendland. In: J. F. Aumann/F. Zabusch (Hrsg.), 200 Jahre Kalvarienbergkirche in Her- zur Annenkapelle oder zu einem anderen Bau an dieser Stelle gehörten, muss nals. Festschr. – Ausstellungsführer. Schr. offenbleiben. 1785 wurde die alte Pfarrkirche abgetragen. Seit November 1786 Hernalser Heimatmus. (Wien 1969) 23.

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wurden keine Bestattungen mehr auf dem Friedhof um die Pfarrkirche bzw. den

14 Freundl. Mitteilung E. Pichler. Allerdings Kalvarienberg durchgeführt. Den Sterbematriken der Pfarre Hernals, die seit ist zumeist nicht bekannt, auf welchem der da- 1684 erhalten sind, lässt sich entnehmen, dass von 1684 bis 1786 ca. 7000 mals bereits bestehenden Friedhöfe. Menschen auf dem Hernalser Friedhof begraben wurden.14 1769 wurde anstel- 15 F. Zabusch, Die Ausstellung „200 Jahre Kalvarienbergkirche“. In: Aumann/Zabusch le der kleinen Kirche eine größere Kalvarienbergkirche gebaut und geweiht. Der 15 (Anm. 13) 10. heutige Erweiterungsbau der Kirche wurde 1894 vollendet. (H. K.)

Wien 1, Rudolfsplatz 12 (Rudolfspark) Anfang März 2009 wurde im Zuge der Vorbereitungen für die Neugestaltung der Parkanlage am Rudolfsplatz eine unter das Platzniveau führende Stiegen- anlage aufgedeckt (Abb. 1). Eine Untersuchung ergab, dass diese Stiege und der mit ihr verbundene Gang zu einer massiven, aus Stahlbeton errichteten Bunkeranlage aus dem Zweiten Weltkrieg gehört (Abb. 2). Der Vorfall wurde sofort bei der Bundespolizeidirektion Wien gemeldet.1 Von der Landesleitzen- trale der Bundespolizeidirektion Wien wurden die Feuerwehr und ein „spreng- stoffkundiges Organ“ angefordert, um allfällige gefährliche Kriegsrelikte zu ent- sorgen. Bei dieser Sichtung wurden keine explosiven Stoffe vorgefunden. Diese unterirdische Anlage, deren Decke aus der sog. Braunschweiger Beweh- 2 Abb. 1: Fundpunkt 6 (GC: 2009_10). Wien 1, rung errichtet worden war, besteht aus zwei miteinander verbundenen Tiefge- Rudolfsplatz 12 (Rudolfspark). schoßen und einem Stollensystem, das für die Anrainer über die angrenzenden Keller und Fluchtgänge zugänglich war. Es handelt sich hierbei somit um eines der Hauptausstiegs-Bauwerke des „Luft-Schutz-Raumnetzes Innere Stadt“, 1 Meldung am 5.3. 2009 beim Stadtpoli- die gegen Ende des Zweiten Weltkriegs zum Schutz der Bevölkerung bei Bom- zeikommando Innere Stadt, Polizeiinspektion benangriffen meist unter Parkanlagen errichtet wurden.3 Über diese Ausgänge Laurenzerberg 2. Bericht im Kurier vom 7.3. 2009, 21. konnten die Anrainer das großräumig angelegte unterirdische Gangsystem, 2 Es handelt sich hierbei um mehrere in den das die einzelnen Luftschutzkeller miteinander verband, nach Zerstörungen Beton eingelassene Schichten von Stahldraht- der angrenzenden Gebäude verlassen.4 matten mit genau definiertem Abstand. Durch diese Konstruktion erzielte man eine höhere Festigkeit bei Bombentreffern. Die Bewehrung wurde an der Technischen Hochschule in Braunschweig entwickelt. Dazu: A. Winter/ Th. Kristen, Die Braunschweiger Schutzbe- wehrung. Baulicher Luftschutz 6, 1942, 8– 12; E. Hampe, Der Zivile Luftschutz im Zweiten Weltkrieg (Frankfurt a. M. 1963) 273; www. amaot.de//bunker8.htm (14.5. 2010). 3 Pläne von Hauptausstiegen in Wien 1 sind für den Morzinplatz, Burggarten, Volksgarten, Stadtpark und die Mölker Bastei erhalten. Da- zu siehe: R. Hauptner, Das „Luftschutz-Raum- netz Innere Stadt“ in Wien 1944/45. WGBl 50/ 2, 1995, 98–101; M. La Speranza, Luftschutz- einrichtungen in den Kellern der Wiener Innen- stadt. FWien 3, 2000, 187. 4 Hauptner (Anm. 3) 96–104 bes. 102 f.; La Speranza (Anm. 3) 187 f.; ders., … und für die Bevölkerung wird angeordnet: Luft- schutzmaßnahmen in Wien. In: Im Keller. Ös- terreich im Zeichen des Luftschutzes. Be- gleitbd. Sonderausstellung Heeresgeschichtli- ches Museum Wien, 21.11. 2007–25.5. Abb. 3: Plan von 1944 zu dem „L-S-Raumnetz Innere Stadt“ mit dem Hauptausstiegsbauwerk Ru- 2008 (Wien 2008) 58. dolfsplatz. (© WStLA, Kartographische Sammlung, Inv.-Nr. 120.099)

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Nach dem aus dem Jahr 1944 erhaltenen Plan (Abb. 3) waren in dieses Bauwerk auch ein Raum für eine Wache und eine Schleuse integriert. Bei der Schleuse handelt es sich um einen verschließbaren, abgedichteten Raum, der das Eindringen von Kampfstoffen (Gasen) in das Stollen- system verhindern sollte.5 Ein zwei Meter breiter, im zwei- ten Tiefgeschoß befindlicher Tunnel führt unter der Straße direkt in Richtung des Hauses Rudolfsplatz 12. Dieser war, wie sich bei der Besichtigung der Anlage herausstellte, nach wenigen Metern mit Erd- und Schuttmaterial verfüllt. Einen Hinweis darauf, dass diese Bunkeranlage offensicht- lich erst knapp vor dem Kriegsende gebaut worden war, gibt die nicht entfernte Holzverschalung der Haupttreppe im zweiten Tiefgeschoß. Aus dem Schutt des Luftschutzbauwerks konnten einige Abb. 2: Verschütteter Stiegenabgang zum ersten Tiefgeschoß und Ab- zeithistorische Funde geborgen werden. Neben einigen gang zum zweiten Tiefgeschoß (links). (Foto: M. La Speranza) Militaria (Wehrmachtshelm, Gürtelschnalle …) und etlichen Gebrauchsgegenständen (Batterie, Glasflaschen, Kamm, Parfüm- und Arznei- fläschchen, Taschenlampe, Teller, Töpfe, Vasen …) lagen auch zahlreiche grün glasierte Ziegel eines Keramikofens im Schutt verstreut.6 Der Bauschutt befand sich hauptsächlich in den beiden oberen Stiegenabgängen. Weiters wurden 5 Aufgrund des vorgefundenen Zustands mehrere Winterhilfswerk-Abzeichen gefunden, darunter etliche Kunststofffigu- (keine Türen) ist davon auszugehen, dass er nicht mehr fertiggestellt wurde. ren (Fallschirmspringer, Polizist, Sturzkampfbomber) aus diversen Straßen- 6 Für die Hilfe bei der Bergung der Funde 7 sammlungen. Bauarbeiter fanden im Park die Reste eines Karabiners und ei- sei Herrn Dr. Gerhard Hertenberger vielmals nes Degens. Von einem Baggerfahrer wurden in einer Künette an einer anderen gedankt. 7 Zu den Winterhilfswerk-Abzeichen, die Stelle des Parks mehrere scharfe russische Werfergranaten aufgedeckt. Aus während des Krieges als Massenware in Um- der Sachverhaltsdarstellung geht hervor, dass insgesamt 19 russische Werfer- lauf waren: Ch. Öllerer/M. La Speranza, Wien granaten sichergestellt wurden.8 17, Dornerplatz. FWien 4, 2001, 275. 8 Meldung beim Stadtpolizeikommando In- Das Bauwerk wurde nach wenigen Wochen wieder vollkommen zugeschüttet. nere Stadt, Polizeiinspektion Laurenzerberg 2 (M. La Sp.) vom 30.3. 2009.

Wien 3, Aspanggründe Im Vorfeld der Errichtung eines neuen Wohn- und Geschäftsareals auf den sog. Aspanggründen in Wien 3 wurden auf den westlichen vier Bauplätzen (Bauplatz 1–3 und 6) vom 17. August 2009 bis zum 15. April 2010 durch die Stadtar- chäologie Wien Ausgrabungen durchgeführt (Abb. 1). Neben römischen Gruben auf Bauplatz 3 (siehe Beitrag M. Müller, 227 ff.) konnten zahlreiche neuzeitliche Befunde freigelegt werden (dazu ausführlich Beitrag M. Müller, 146 ff.). Der stratigraphisch älteste Befund auf Bauplatz 1 war eine große neuzeitliche Grube. Weiters konnten hier Reste des Kellerbereichs des 1977 geschleiften Bahnhofsgebäudes der Aspangbahn, ein eingewölbter Werkskanal und eine weitere kleine Grube entdeckt werden. Ein Teilbereich des Mitte des 19. Jahr- hunderts fertiggestellten Hafenbeckens des von 1797 bis 1803 gebauten Wiener Neustädter Kanals konnte auf den Bauplätzen 1 und 2 (GC: 2009_09) freigelegt werden. Von dieser zwischen Wien und Wiener Neustadt

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Abb. 1: Fundpunkt 4 (GC: 2009_09; 2009_05; 2009_06). Wien 3, Aspanggründe.

für den Transport von Lasten errichteten Wasserstraße konnten stellenweise sowohl das ältere, vor der Errichtung des Hafenbeckens gebaute Hauptgerinne als auch die Einmündungsstelle des jüngeren Hauptkanals in das Hafenbecken dokumentiert werden. Ein offensichtlich um das Hafenbecken geführtes Umlei- tungsgerinne wurde auf allen vier Bauplätzen festgestellt. Von der einst aufwän- digen Pflasterung des Hafenbeckens wurden auf Bauplatz 2 noch einige Rei- hen mit polygonal geformten, rötlichen Kalksteinen vorgefunden. Auf Bauplatz 3 konnte nur mehr der Nordteil eines Holzgebäudes (Stall?) aus- gegraben werden, das vermutlich ins 19. Jahrhundert zu datieren ist. Ein Kanal mit Ziegelwänden und einer Abdeckung aus großen Steinblöcken verlief in Nordwest-Südost-Richtung und konnte auf den Bauplätzen 2, 3 und 6 aufge- nommen werden. Im rechten Winkel dazu wurde auf dem Baugrundstück 6 ein weiterer schmaler Kanal (1 m breit) dokumentiert. (M. Mü.)

Wien 9, Währinger Straße 29–31 Vom 28. bis zum 30. September 2009 wurde von der Stadtarchäologie Wien auf den Grundstücken Währinger Straße 29–31 anlässlich der Errichtung eines Institutsgebäudes der Universität Wien eine archäologische Voruntersuchung durchgeführt (Abb. 1).

Historische Ausgangssituation Die Wahrscheinlichkeit, auf diesem Areal auf archäologisch aufschlussreiche Befunde zu stoßen, war aufgrund der bereits dokumentierten Funde im Bereich der näheren Umgebung sehr hoch. Funde und Befunde, die vor allem auf die Existenz eines römerzeitlichen Gräberfeldes hinweisen, wurden auf den nächst- 1 Abb. 1: Fundpunkt 7 (GC: 2009_07). Wien 9, gelegenen Grundstücken dokumentiert. Währinger Straße 29–31. Von ganz besonderem Interesse war der erhöhte westliche Bereich der beiden Liegenschaften, der – wie auf Plandarstellungen des 18. und 19. Jahrhunderts zu sehen ist – als Ziergarten gestaltet und bis in unsere Zeit unverbaut geblie-

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ben war. Der östliche, zur Straße gewandte Bereich war hingegen verbaut ge- wesen.2 Das ehemals weiter südlich gelegene Haus, Währinger Straße 29, war zum Großteil nicht unterkellert gewesen, das nördlich gelegene Bauwerk,Währinger Straße 31, hingegen schon. In letzterem Bereich war demnach nicht mehr mit römischen Gräberbefunden zu rechnen.3

Archäologische Dokumentation Um das Gebiet flächendeckend sondieren zu können, wurden acht Schnitte über den gesamten Baubereich verteilt angelegt; drei davon im erhöhten west- lichen Gelände, vier im nördlichen Teil des Grundstückes und einer im östli- chen, nicht unterkellerten Bereich des ehemaligen Hauses Währinger Straße Nr. 29.

Ergebnis In keinem der Schnitte wurden Befunde oder Funde römischer Herkunft ange- troffen. Alle acht enthielten zwei bis drei Schichten von ähnlichem Aufbau: Die obersten ein bis zwei Straten waren als Planierungen anzusprechen, die un- terste Schicht war von sandiger/lössiger Konsistenz und fundleer. Eine Mauer, die in drei Schnitten von Osten nach Westen an der Terrainkante des erhöhten Bereichs verlaufend dokumentiert werden konnte, könnte schon in der Barock- zeit eventuell als Gartenmauer oder Grundstücksgrenze fungiert haben. Sie hatte eine Breite von 0,55 m und war bis zu einer Höhe von ca. 0,70 bis 1 Siehe www.kulturgut.wien.at s. v. Van- 0,80 m im Profil erhalten. Die Mauerziegel waren, soweit sie dokumentiert wer- Swieten-Gasse 1 (GC: 1861_04); Boltzmann- den konnten, durchwegs handgefertigt und wiesen keine Stempelung auf.4 gasse 5 (GC: 1910_52); Währinger Straße/ Boltzmanngasse (GC: 1912_21); Währinger Straße 25 (GC: 1956_06). Funde 2 Zum Beispiel Vogelschau von Joseph Da- Aus den Planierungsschichten wurden einige Ziegelfragmente geborgen. Sie niel Huber (1769–1774), Franziszeischer Ka- – „ “ „ “ taster (1817 1824). waren mit den Stempeln HD (Heinrich Drasche), AM (Alois Miesbach) 3 Die Befunde aus der näheren Umgebung und „EM“ (vermutlich Familie Engelmaier aus Pfaffstätten?), also von Ziegelpro- befanden sich, soweit publiziert, in einer Tiefe duzenten des 19. Jahrhunderts, versehen. Einige wenige Keramikfragmente von 0,80 bis 2 m gemessen von der Gelände- oberkante. konnten nach einer ersten Sichtung an das Ende des 18./Anfang des 19. Jahr- 4 Dokumentierte Ziegelmaße 2761367; hunderts datiert werden. (I. M.) 2661367und25612,566,5 cm.

Wien 13, Einsiedeleigasse 4 Anfang März 2009 wurde ein Teil des Altbestandes des Hauses in Wien 13, Ein- siedeleigasse 4 abgerissen. Da in Ober-St.-Veit bereits an mehreren Stellen verschiedene unterirdische Kanäle angetroffen worden waren, informierten his- torisch interessierte Anrainer die Stadtarchäologie Wien über diese Baustelle und ersuchten um deren Beobachtung.1 Tatsächlich wurde am 11.5. 2009 am Westrand des Grundstücks ein Kanal angeschnitten und zum Teil abgetra- gen (Abb. 1). Die beiden 0,90 m dicken Seitenwände des 2 m breiten Kanals (lichte Weite) waren aus Bruchsteinen errichtet. Die östliche Kanalwange war 2,03 m hoch, 1 An dieser Stelle sei besonders Herrn R. Wawera gedankt, der die Stadtarchäologie ihre Oberkante lag bei 68,13 m und ihre Unterkante bei 66,10 m über Wr. Null. Wien durch zahlreiche Informationen unter- Den oberen Abschluss der Mauer bildete ein Steinquader. Auf einer Höhe von stützte.

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67,39 m über Wr. Null setzte ein auf einem Gesims ruhendes Ziegelgewölbe an. Es war 0,50 m stark und aus einander abwechselnden Läufer- und Binderscha- ren gefertigt. Das Gewölbe erhob sich um 0,35 m, der innere Scheitel lag bei 67,74 m über Wr. Null (Abb. 2). Die lichte Höhe konnte nicht ermittelt werden, da am Boden Schutt lagerte und eine Begehung oder Räumung aus Sicher- heitsgründen nicht möglich war; sie wurde auf 1,30 m geschätzt. Eine Laser- Messung ergab, dass das in Richtung Süden ansteigende Teilstück bis zu 15 m erhalten war. Am gestörten Nordende knickte das Gewölbe um etwa 60 Grad nach unten ab, von diesem Teil konnte nur noch der Ansatz knapp nach der Baunaht verfolgt werden. Ob der Kanal an dieser Stelle abgesenkt worden war und weiterführte oder ob er hier in einen Brunnen oder eine Zister- Abb. 1: Fundpunkt 8 (GC: 2009_12). Wien 13, ne abgeleitet wurde, ließ sich nicht mehr feststellen. Einsiedeleigasse 4. Über der östlichen Hälfte des Kanals war im Südprofil eine 0,60 m hohe Bruchsteinlage zu erkennen, die von der Oberseite der Kanalabdeckung bis zur rezenten Planierung (d. h. bis auf eine Höhe von 69,09 m über Wr. Null) reichte. Sie war im unteren Teil 1,10 m breit, im oberen 0,70 m. Obwohl stellen- weise sauber geschlichtet, scheinen die Steine im oberen Bereich nur lose auf- einandergelegt worden zu sein. Mangels Mörtelverbindung liegt hier eine Tro- ckenmauer, möglicherweise ein Fundament vor. Da diese Mauer an den Kanal angebaut wurde, ist sie zweifellos jüngeren Datums, ihr Zweck bleibt ungewiss. 2 www.wien.gv.at/kulturportal/public Am Franziszeischen Kataster aus der Zeit um 1830 ist westlich der Einsiedelei- (17.5. 2010). 3 G. Weissenbacher, In Hietzing gebaut. gasse der Marienbach eingezeichnet, der einst als offenes Gerinne in Nord- Architektur und Geschichte eines Wiener Be- Süd-Richtung durch Ober-St.-Veit floss.2 Obwohl er nur als kleiner Bach dar- zirks 1 (Wien 1996) 14; www.hietzing.at/Be- zirk/geschichte1.php?id=238&tags=Ober_St_ gestellt ist, konnte er im Falle von Unwettern zu einem reißenden Gewässer an- dot_Veit&menu=3 (17.5. 2010). schwellen, das mitunter ganze Häuser schwer beschädigte, was nachweislich 4MA37– Baupolizei, KG 01209 Ober-St.- im Juni 1898 das letzte Mal der Fall war.3 Um weiteren derartigen Verwüstun- Veit, EZ 29. Für die Aushebung des Plans ist Dr. G. Klözl vom Bezirksmuseum Hietzing zu gen vorzubeugen, wurde die Einwölbung des Marienbaches beschlossen. Der danken. Einreichplan für dieses Projekt liegt aus dem Dezember 1903 vor. Laut Vermerk

Abb. 2: Kanalöffnung von Süden. (Foto: Stadtarchäologie Wien)

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wurde dieses Vorhaben allerdings erst im Mai 1905 verhandelt.4 Am General- stadtplan von 1904 ist jedoch an dieser Stelle kein Wasserlauf mehr zu sehen.5 5 www.wien.gv.at/kulturportal/public Das bedeutet, dass der Bach in diesem Bereich im Jahre 1904 schon einge- (17.5. 2010). wölbt war, aber möglicherweise musste die Einwölbung nach weiteren Über- 6 Auch das bei F. Czeike, Historisches Le- 2 6 xikon Wien 4 (Wien 2004) 179 s. v. Marien- schwemmungen ausgebessert oder sogar neu errichtet werden. Darauf bach, angegebene Datum der Fertigstellung scheinen auch die Ergebnisse von Mörteluntersuchungen hinzudeuten, die an- am 1.3. 1916 lässt in diesem Zusammenhang lässlich der Aufdeckung des Kanals im Jahre 1991 in der Hietzinger Hauptstra- vermuten, dass die Einwölbung in Etappen er- folgte. ße 149 vorgenommen wurden. Die Verfugung der Gewölbeziegel erfolgte dem- 7 Untersuchungen durch das BDA, Hinweis 7 nach im 20. Jahrhundert. (J. G./Ch. Ö.) Dr. G. Klözl.

Negativkataster

Adresse/Vorhaben mögliche Bodendenkmale Beobachtung Wien 1, Drahtgasse 3: Aufzug im Hof geplant Legionslager, mittelalterliche Siedlungsreste Das Vorhaben wurde bisher nicht realisiert. Wien 1, Kärntner Straße 29–33: Abbruch Bereich der canabae legionis, mittelalter- Der Aushub blieb in der bestehenden Kubatur, liche Siedlungsreste es wurde kein neues Erdreich abgehoben. Wien 1, Kärntner Straße: neue Pflasterung Bereich der canabae legionis, mittelalter- Es wurde lediglich die alte Pflasterung entfernt liche Siedlungsreste und neue aufgetragen. Leitungen und Kanäle wurden stellenweise ausgewechselt, allerdings in der bestehenden Trasse. Wien 2, Kleine Sperlgasse: Neubau Friedhof Im infrage kommenden Bereich nur Baurest- masse. Wien 3, Landstraßer Hauptstraße 48: Neubau urgeschichtliche Siedlungsreste, römische lediglich Streufunde in Planierungen, keine Gräber, mittelalterliche Vorstadt Befunde Wien 3, Ungargasse 21–23: Neubau im Hof urgeschichtliche Siedlungsreste, römische Das Vorhaben wurde bisher nicht realisiert. Gräber Wien 10, Gudrunstraße: Suchschnitt für UVP römische Straße keine Befunde und Funde Hauptbahnhof Wien 12, Tivoligasse: Errichtung eines Hotels römische Siedlungsreste Das Vorhaben wurde bisher nicht realisiert. Wien 13, Markwardstiege: Ausstiegsschacht des mittelalterliche Siedlung keine Befunde oder Funde Lainzer Tunnels Wien 13, Angermayergasse: Ausstiegsschacht des urgeschichtliche Siedlungsreste keine Befunde oder Funde Lainzer Tunnels Wien 13, Veitingergasse: Ausstiegsschacht des urgeschichtliche Siedlungsreste vereinzelt urgeschichtliche Keramikfragmente Lainzer Tunnels Wien 21, Brünner Straße 250: Neubauten urgeschichtliche Siedlungsreste keine Befunde oder Funde Wien 21, Senderstraße: Straßenverbreiterung (An- urgeschichtliche Siedlungsreste Das Vorhaben wurde bisher nicht realisiert. legen eines Radwegs) Wien 22, Erzherzog-Karl-Straße/Lavaterstraße: urgeschichtliche Siedlungsreste keine Befunde oder Funde Neubauten Wien 23, Rudolf-Waisenhorn-Gasse: Neubauten römische Wasserleitung keine Befunde oder Funde diverse Kanalverlegungsarbeiten im gesamten Stadtgebiet lt. Information MA 31 – Wasserwerke

Fundmeldungen

Adresse Objekte Bestimmung Wien 12, Altomontegasse 35 Bein, Metall Rinderzahn, rezentes Metall Wien 22, Wagramer Straße 174 Brunnen mit Balustrade rezent

(J. G./Ch. Ö.)

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Tagungsberichte

“Late Roman Glazed Pottery Production Der Grund, weshalb Produkte, die mit denen mis stellte die Möglichkeit vor, die Herkunft des in Carlino and in Central-East Europe. aus Carlino vergleichbar sind, in so weitläufigen in der Glasur enthaltenen Bleis zu analysieren. Production, Function and Distribution” Gebieten wie z. B. entlang des limes vorkom- In der anschließenden Diskussion schlug Clau- Carlino (I) men, könnte in ihrer gezielten Herstellung für dio Capelli eine Anwendung dieser Methode 27.–29. März 2009 das Militär liegen. Diese Hypothese wird aller- zusammen mit der traditionellen archäometri- Carlino, ein römisches Töpferzentrum nahe dings durch das Fehlen von militaria in Carlino schen Methode für den Scherbentyp vor, um Aquileia in Oberitalien, war in der Spätantike und Umgebung nicht unterstützt. bessere Ergebnisse in der Erforschung des auf die Produktion glasierter Ware spezialisiert. Die Ergebnisse der beiden Kongresse haben Herstellungsortes zu erzielen. Die für die Forschung wichtigen Fragen nach gezeigt, dass bei punktueller Prüfung aus mor- Für die Bleiglasur in den untersuchten Gebieten den Abnehmern dieser Produkte und nach phologischer wie auch archäometrischer Sicht lässt sich wahrscheinlich nur im Falle von Stü- den Gründen für diese Spezialisierung in die- ein gemeinsames technisches Wissen ange- cken aus Vindobona-Leopoldau ein Doppel- sem Gebiet, wurden bereits 2006 formuliert nommen werden kann, aber die Produkte nicht brennverfahren nachweisen (R. Chinelli, R. (siehe R. Chinelli/Ch. Magrini/F. Sbarra, Die Er- identisch sind und daher auf keine zentrale Pro- Sauer). In den anderen Fällen kann nach den forschung der spätantiken Produktion römi- duktion geschlossen werden kann. Die Exis- Hypothesen und Untersuchungen von C. Ca- scher glasierter Keramik in der Ostalpenregion tenz mehrerer kleiner Produktionsstätten für pelli nur ein Brennvorgang infrage kommen. In- und in den Donauprovinzen. FWien 9, 2006, glasierte Keramik kann angenommen werden. teressant ist auch ein Beispiel aus Savaria 276–279) und während einer ersten Tagung Durch Untersuchungen der Produktionsstätten (Szombathely-Romkert) in Ungarn (Ch. Magri- im Jahr 2007 international diskutiert (siehe Ta- (Ch. Magrini, F. Sbarra; R. Chinelli) konnte ge- ni, F. Sbarra), bei dem besondere Strukturen gungsbericht in FWien 11, 2008, 350 und Ch. zeigt werden, dass es, mit Ausnahme von Car- und technische Erfindungen das Brandglasur- Magrini/F. Sbarra [a cura di], La ceramica inve- lino, in den betrachteten Regionen tatsächlich verfahren vereinfacht haben könnten. Gerwulf triata tardoromana nell’arco alpino orientale e keine komplexen Töpferzentren gegeben ha- Schneider konnte durch chemische Untersu- nelle province danubiane. Atti del I incontro In- ben dürfte. Das ihnen gemeinsame technische chungen (WD-XRF) bestätigen, dass die gla- ternazionale di Archeologia a Carlino, Carlino Wissen könnte durch zirkulierende Töpfermeis- sierte Keramik von Carlino im Vergleich mit 14–15 dicembre 2007 [Carlino 2009]). Das ter zustande gekommen sein. der lokalen Gebrauchskeramik kalkarm ist: Ei- zweite internationale Treffen, welches wieder Im Folgenden möchte ich mich auf einige Bei- ne Beobachtung, die auch bei der spätantiken in Carlino vom 27. bis zum 29. März 2009 statt- träge der letzten Tagung, die die Themenkom- glasierten Keramik in anderen Gebieten des fand, stand unter dem Titel “Late Roman Gla- plexe Archäometrie, Produktion und Distribu- Römischen Reiches gemacht werden konnte. zed Pottery Production in Carlino and in Cent- tion zum Schwerpunkt hatte, konzentrieren. Die Ergebnisse eines Survey in der Umgebung ral-East Europe. Production, Function and Dis- In der Einleitung beklagte Ninina Cuomo di von Carlino (Ch. Magrini, F. Sbarra) haben kei- tribution”. Caprio das fehlende Studium der traditionellen ne neuen Hinweise für die Interpretation des Bemerkenswert ist, dass die glasierten Kera- Techniken des Töpferhandwerks in der ar- Fundortes gebracht. Es scheint, dass das Töp- mikprodukte (v. a. geschlossene Formen) prak- chäologischen Forschung. Dieser Bereich sei ferzentrum in Carlino nur für kurze Zeit glasierte tisch kaum in der Umgebung von Carlino und ebenso wichtig wie die Archäometrie, er könne Keramik produzierte, entweder hatte das Zen- auch nur selten im benachbarten Aquileia zu in einigen Fällen sogar herangezogen werden, trum wirtschaftlichen Misserfolg oder es kam finden sind, obwohl Aquileia, wie C. Zaccaria um archäometrische Ergebnisse zu verifizieren. zu einem anderen Ereignis, das archäologisch während der zweiten Tagung betonte, in der Di Caprio erinnerte an das komplizierte Herstel- nicht nachweisbar ist. Trotzdem ist die Menge Spätantike eine Nachblüte erlebte und daher lungsverfahren von Keramik und hob v. a. die der dort produzierten und gefundenen gla- eigentlich der natürliche Markt für Carlino ge- Trocknungsphase hervor, die darüber ent- sierten Keramik so groß wie in keinem anderen wesen wäre. Diese Keramik ist dagegen v. a. scheidet, ob ein Objekt verwendbar ist oder bis jetzt erforschten Töpferzentrum Panno- in den Gebieten der Claustra Alpium, am Do- nicht. Die bekannte Forscherin stellte außer- niens. In der letztgenannten Region scheinen naulimes und in Pannonien verbreitet. dem die Frage in den Raum, warum für die Gla- verschiedene Töpferzentren existiert zu haben, Die erste Tagung konzentrierte sich darauf, die sur dieser Keramik im westlichen Teil des Rö- nach den Keramikproben zu schließen, die bis- Ähnlichkeiten zwischen den glasierten Produk- mischen Reiches Blei benutzt wurde, wo doch lang archäometrisch untersucht wurden (C. ten von Carlino und den glasierten Keramikfun- ausreichend Sand zur Verfügung stand. Capelli, R. Sauer). Bereits 1981 hatten P. Ar- den der oben genannten Fundorte (insbeson- Claudio Zaccaria wies in diesem Zusammen- thur und D. Williams auch aufgrund ihrer Stich- dere in Slowenien, Österreich und Ungarn) zu hang darauf hin, dass die Bleiminen in Spanien proben diesen Verdacht geäußert. prüfen. Bei der zweiten Tagung wurde der Ra- und auf dem Balkan unter kaiserlicher Kontrolle Herkunft und Entwicklung der spätantiken gla- dius auf Serbien, Bulgarien und die Slowakei standen. Blei habe man auch recycelt, ein Um- sierten Keramik sind noch immer offene For- (D. Dobreva, Sn. Cˇ ernacˇ -Ratkovic´ , M. Tapa- stand, der die Interpretation von Blei-Isotopen schungsfragen: In Pannonien gibt es bereits vicˇ ki-Ilic´ , E. Krekovicˇ ) erweitert. in der Keramikglasur behindern kann. Paolo Ni- vom 2. bis zum Anfang des 3. Jahrhunderts

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n. Chr. eine Herstellung glasierter Keramik, die fahren bei der Verrichtung von Erdarbeiten hat, dass sich die von ihm getroffenen Maßnah- die Formen der Terra Sigillata nachzuahmen und die notwendige Absicherung der Baustel- men zum Schutz seiner Mitarbeiter nicht nach- scheint. Diese Produktion ließ sich noch nicht len in diesem Zusammenhang sowie über die teilig für Dienstnehmer anderer Unternehmen in einen Zusammenhang mit der späteren gla- notwendigen Schutzmaßnahmen bei Arbeiten auswirken. Die einzelnen Arbeitgeber haben sierten Keramik bringen, nichtsdestoweniger im Freien, über die Gefahren im Umgang mit auch darauf zu achten, dass die Schutzmaß- ist klar, dass die Glasurtechnik in Pannonien Elektrogeräten sowie über Absturzgefahren nahmen koordiniert werden. nicht unbekannt war. (R. Ch.) und die korrekte Aufstellung von Leitern und Aus den Berichten über die Gefahren und Vor- die Sicherung von Verkehrswegen auf den schriften bei der Verrichtung der alltäglichen Ar- Baustellen berichtet. beit auf Baustellen sollen folgende Hinweise „Sicherheitsschulung – Archäologie“, Se- Grundsätzlich besteht die Pflicht, jeden Ar- und Bestimmungen erwähnt werden: Bei Ab- minar der Allgemeinen Unfallversiche- beitsunfall innerhalb von fünf Tagen dem Versi- sturzgefahr (besteht u. a. bei Vertiefungen im rungsanstalt (AUVA), Unfallverhütungs- cherungsgeber zu melden. Auch „Beinahe-Un- Boden usw. sowie bei mehr als 2 m Absturzhö- dienst fälle“ sind meldepflichtig, denn die Analysen der he) müssen Absturzsicherungen, Abgrenzun- Wien (A) Situationen sind grundlegende Voraussetzun- gen und dergleichen angebracht werden. De- 29.–30. April 2009 gen zur Verbesserung zukünftiger Bedingun- taillierte Ausführungen über Absturzsicherun- Da die Ausgrabungen der Stadtarchäologie gen. Es ist auch darauf zu achten, dass ausrei- gen (sog. Wehre) erfolgten in dem Vortrag über Wien zumeist baubegleitend als Notgrabungen chend ausgebildete Ersthelfer auf den Baustel- Erdarbeiten und Baustellenabsicherung. Bei auf den zahlreichen Baustellen Wiens durchge- len anwesend sind (ab fünf Personen muss ein Erdarbeiten geschehen leider oft tödliche Un- führt werden, besteht für alle, die in diesem Be- ausgebildeter Ersthelfer vor Ort sein). Ist der fälle, da das Gewicht des Erdmaterials unter- reich tätig sind, ein erhöhtes Unfallrisiko und Ersthelfer abwesend, muss sein Stellvertreter schätzt wird. Demnach müssen bei Arbeiten somit auch der Bedarf, über die Gefahren auf diese Aufgabe übernehmen. Diese Bestim- ab einer Tiefe von 1,25 m besondere Sicher- diesem Arbeitsplatz und deren Verhütung Be- mung wird umso wichtiger, als dass sich laut heitsmaßnahmen (Abböschen, Verbauen oder scheid zu wissen. Unfallstatistik in Österreich täglich 470 Arbeits- Bodenverfestigungen) getroffen werden. Fällt Bewusstseinsbildend hinsichtlich der Bedeu- unfälle ereignen und die Arbeiten in der Bau- die Entscheidung auf das Abböschen, so gilt, tung der Unfallverhütung auf Ausgrabungen branche zu den gefährlichsten zählen. Jeder je härter das Material ist, desto steiler kann war der dramatische tödliche Arbeitsunfall ei- fünfte Unfall ereignet sich auf einer Baustelle. der Neigungswinkel sein. Auch die Arbeits- nes Salzburger Archäologen im März 2005. In- Zu den Grundsätzen der Gefahrenverhütung raumbreiten sind genau festgelegt, sie richten folgedessen organisierte der Verein der „Stan- (§ 7 AschG [ArbeitnehmerInnenschutzgesetz]) sich nach der Tiefe in den Gräben. Prinzipiell desvertretung der MuseumsarchäologInnen gehören dem Arbeitsbeginn vorausgehende müssen alle Vorrichtungen unter fachkundiger Österreichs“, der sich mit Sicherheitsfragen organisatorische und technische Maßnahmen Aufsicht durchgeführt werden. Ist die Auf- und Unfallverhütung auf Ausgrabungen ausei- zur Beseitigung und Vermeidung von Gefahren sichtsperson nicht anwesend, muss ein Stell- nandersetzt, im Februar 2006 die erste Sicher- sowie die entsprechende Ausrüstung zum vertreter schriftlich genannt werden. heitstagung in Salzburg. Schutz des Arbeitnehmers. Weiters muss der Bei der Verwendung von Leitern ist darauf zu Eine weitere Gelegenheit, Wissenswertes über Dienstnehmer vor der Aufnahme der Tätigkeit achten, dass lediglich stabile, genormte Model- Gefahrensituationen, Unfallvermeidung bzw. über die sichere Verrichtung der Arbeit unter- le (EN 131) zum Einsatz gebracht werden. Un- mehr Sicherheit auf dem gefährlichen Arbeits- wiesen werden (§ 14 AschG). Der Beschäftigte ter anderem wurde in diesem Zusammenhang platz Ausgrabung und Baustelle zu erfahren, hat im Sinne der Gefahrenverhütung u. a. fol- auch über das richtige bzw. sichere Benützen wurde den ArchäologInnen der Stadtarchäolo- gende Pflichten zu erfüllen (§ 15 AschG): die Ar- der Leitern (Greiftechnik, beim Auf- oder Ab- gie Wien auch im Rahmen des zweitägigen Se- beitsmittel (Behälter, Geräte, Maschinen …) stieg wenig Werkzeug tragen, auf Standsicher- minars „Sicherheitsschulung – Archäologie“ vorschriftsgemäß zu benutzen, die persönliche heit achten usw.) informiert, wobei auch die geboten, das von Mitarbeitern des Unfallverhü- Schutzausrüstung zweckentsprechend zu ver- Länge der Leiter eine wichtige Rolle spielt; sie tungsdienstes und einem Referenten der wenden, Schutzeinrichtungen ordnungsgemäß soll bei der Aufstellung mindestens 1 m Über- Rechtsabteilung der AUVA vom 29. bis zu benutzen, die Meldepflichten (Arbeitsunfälle, stand haben. 30.4. 2009 geleitet wurde und in Räumlichkei- Beinahe-Unfälle usw.) zu beachten. Missach- In dem Vortrag über Ergonomie waren Erläute- ten der Stadtarchäologie Wien stattfand. tungen dieser Vorschriften führen zu Verwal- rungen über die möglichen gesundheitlichen Nach der Information über die Aufgaben der tungsstrafen. Auf Empfehlung des Juristen Probleme, die durch falsches Heben und Tra- AUVA wurde in den fünf Vorträgen des ersten Thomas Pfeiffer ist es vor allem aus strafrechtli- gen an der Wirbelsäule (z. B. Bandscheiben- Seminartages auf folgende Themenschwer- cher Sicht für ArchäologInnen von Vorteil – vorfälle) entstehen können, zentrales Thema. punkte eingegangen: Grundsätze der Gefah- auch wenn es sich bei Ausgrabungen verwal- Auch Ratschläge über Sonnenschutzmaßnah- renverhütung generell sowie bei der Benützung tungsrechtlich nicht immer um Baustellen han- men und die Verwendung von Sonnenbrillen von Hebezeugen,Werkzeugen und Maschinen, delt –, die Vorschriften der Bauarbeiterschutz- mit dem notwendigen UV-Schutz wurden ge- eine rechtliche Einführung zu Fragen über Ver- verordnung und jene zur Unfallverhütung einzu- geben. antwortung, Recht und Haftung, Risiken im halten. Eine Verordnung, die sich auf Arbeit- Abschließend ist festzuhalten, dass es mittler- Umgang mit chemischen Substanzen, ein Vor- nehmer verschiedener Arbeitgeber auf einer weile glücklicherweise viele Vorkehrungen trag über Ergonomie – besonders über das Baustelle bezieht und somit auch von auf Bau- zum Schutz der ArbeitnehmerInnen auf Bau- korrekte Heben und Tragen von Lasten – sowie stellen tätigen ArchäologInnen zu befolgen ist, stellen gibt und dass selbst die Zeit in dem äu- über Transport und Richtlinien der Ladegutsi- besagt, dass jeder Vorgesetzte dafür zu sorgen ßerst lehrreichen zweitägigen Seminar kaum cherung. Am zweiten Tag wurde über die Ge-

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ausreichend war (wie auch die Vortragenden schließlich im Nah- bzw. Uferbereich der Do- “The XXIst International Limes (Roman immer wieder betonten), die wichtigsten Fakten nau in und um Budapest (mit der namengeben- Frontiers) Congress 2009” darzulegen. den Csepel-Insel). Newcastle upon Tyne (GB) Im Anschluss an die Vorträge wurde den Mitar- Die wissenschaftlichen Beiträge zum Tagungs- 16.–23. August 2009 beiterInnen der Stadtarchäologie Wien die programm spannten sodann auch geografisch Der alle drei Jahre stattfindende Limeskon- Möglichkeit geboten, im Zuge einer Fotoprä- einen Bogen von England über Portugal, Spa- gress, als Sammelpunkt zu allen archäologi- sentation Situationen des Baustellenalltags zu nien und Frankreich bis ins östliche Mitteleuro- schen Aspekten der römischen Militärge- kommentieren und zu analysieren, um in Zu- pa. In der Hauptsache wurden aktuelle Gra- schichte, kehrte 2009 anlässlich seines 60-jäh- kunft Gefahren sofort zu erkennen und präven- bungen (zumeist Bestattungsplätze) vorge- rigen Bestehens an den Ort seiner Gründung, tiv agieren zu können. (U. E.-K.) stellt, doch gab es auch eine Reihe von über- nach Newcastle upon Tyne zurück. Das Flair greifenden Abhandlungen, die zumeist als der eher mittelgroßen Stadt am östlichen Aus- Zwischenberichte laufender Aufarbeitungspro- gangspunkt des Hadrianswalls bildete ideale “Bell Beaker Days along the Riverside”, jekte ebenfalls die derzeitigen Probleme und Voraussetzungen zur Zelebrierung dieser tradi- Tagung der «Association Archéologie et Ergebnisse zur Diskussion brachten (etwa Fra- tionellen Veranstaltung. gobelets» gestellungen zu Siedlungsmuster, sozialen Ver- Stilecht ging im Vorprogramm die alle 10 Jahre Budapest, Szentendre (H) änderungen, Metallurgie, Archäozoologie und stattfindende, diesmal 13., “pilgrimage” entlang 7.–11. Mai 2009 Anthropologie). Neueste österreichische Quel- des Hadrianswalls vonstatten, ehe nach einer Die «Association Archéologie et gobelets» ist len zu den seltenen Siedlungsnachweisen weiteren Vorexkursion zum Legionsstandort eine internationale Vereinigung von Archäolo- konnten aus Wien (durch den Berichterstatter) York (Eburacum) das eigentliche Kongresspro- gen (Vereinssitz in Genf), die Phänomene der als auch aus Niederösterreich (durch D. Kern) gramm startete. Hier mussten an der Universi- Glockenbecherkultur erforschen. Ursprünglich präsentiert werden. Größter Gewinn aus öster- tät 200 Vorträge für 300 TeilnehmerInnen an von einer schweizererisch-französischen For- reichischer Sicht konnte natürlich aus den Bei- vier Tagen jeweils auf vier parallel laufende Sek- schergruppe initiiert, umfasst dieses Netzwerk trägen benachbarter Länder geschöpft wer- tionen aufgeteilt werden. Diese vier Vortragsta- von Spätneolithikum- und Frühbronzezeitspe- den, da die archäologischen Hinterlassen- ge wurden durch drei Exkursionen zu Militäran- zialisten mittlerweile ca. 80 Personen bzw. In- schaften hier aufs Engste miteinander ver- lagen, die im Gegensatz zu den Kastellen und stitutionen aus 12 europäischen Ländern. Der wandt sind. Glücklicherweise waren Befestigungen am Hadrianswall weniger be- Umstand, dass das “Bell Beaker Package”, KollegInnen (auch ohne Vorträge) aus der kannt sind, unterbrochen. Es handelte sich da- quasi als Markenzeichen dieser Kulturerschei- Tschechischen und der Slowakischen Repu- bei hauptsächlich um Marschlager und Kastelle nung, von Marokko bis Dänemark und von Ir- blik sowie natürlich aus Ungarn sehr zahlreich im Vorfeld und im Hinterland des Hadrianswalls land bis Ungarn ziemlich gleichartig und zeit- vertreten. Gerade Letztere konnten eine breite wie High Rochester, Risingham, Corbridge, gleich in der 1. Hälfte des 3. Jahrtausends v. Palette aktuellster Forschungsergebnisse prä- Lanchester, Binchester, Piercebridge oder Chr. in Erscheinung tritt, begünstigt natürlich sentieren, gab es doch durch die großflächigen Whitley . Daneben führte ein Teil der Ex- intensive überregionale Vergleiche und Kontak- Rettungsgrabungen auf den neu errichteten kursion in den Lake District und auch ein Ab- te. (Unter “Bell Beaker Package” sind Leitfor- Autobahntrassen um Budapest in den letzten stecher in die Küstenstadt Scarborough mit ih- men wie die stempelverzierten Glockenbecher, Jahren enorme Fundzuwächse in quantitativer rer Burg aus dem 12. Jahrhundert und weni- Kupferdolche, Armschutzplatten und Silexpfeil- wie auch qualitativer Hinsicht. Erfreulicherweise gen römischen Überresten war inkludiert. Zahl- spitzen gemeint, die als Prestigegüter regelhaft ist auch eine Publikation der Tagungsbeiträge reiche Museumsbesuche und die Besichtigung herausragenden Männergräbern beigegeben geplant. der beiden Hadrianswall-Kastelle und Archäo- wurden. Um den falschen Eindruck einer ein- Ein wesentlicher Punkt neben den Vorträgen logieparks von Wallsend und South Shields er- heitlichen archäologischen Kultur zu vermei- waren die Besuche von Ausstellungen und Mu- gänzten das überaus reiche Rahmenpro- den, spricht man auch vom „Glockenbecher- seen, wo in zusätzlichen „Workshops“ (Aquin- gramm. phänomen“, das verschiedene Kulturen inner- cum Museum und Ausstellungsräumlichkeiten Die Vorträge selbst wurden auf nicht weniger halb seines Verbreitungsgebietes miteinander in Szentendre) Gelegenheit zur Begutachtung als 22 Sektionen aufgeteilt und bildeten einen verbindet.) und zum „Be-greifen“ der zahlreichen Neufun- bunten Querschnitt zu zahlreichen Themen im Die seit 1996 jährlich stattfindenden Treffen de geboten wurde. Willkommene Abwechs- Umfeld des römischen Limesgebietes. In Erin- werden dementsprechend in den verschie- lung im Rahmenprogramm bot ein Ausflug nerung an die erst kürzlich verstorbene Vivien densten (natürlich „glockenbecherführenden“) zum archäologischen Park in Százhalombatta Swan fanden Referate zum Themenkreis Ländern abgehalten. Zuletzt erklärten sich südwestlich von Budapest, in dem u. a. auch Frauen und Familien in der römischen Armee das Historische Museum der Stadt Budapest eine glockenbecherzeitliche Hausrekonstruk- statt, wobei v. a. der Beitrag von Penelope Alli- und das Museum des Komitates Pest bereit, tion präsentiert wird. Einzigartiger Höhepunkt son über die Verteilung von Fundmaterial in rö- die Tagung zwischen 7. und 11. Mai 2009 in war jedoch eine ausgedehnte Schifffahrt auf mischen Lagern, das Frauen und Kindern zuzu- Budapest und Szentendre (Ungarn) zu veran- der Donau: „Unter Deck“ wurden Teile der Kon- ordnen ist, für kontroverse Diskussionen sorg- stalten. Der Titel “Bell Beaker Days along the ferenz abgehalten, „auf Deck“ konnte man in te. Riverside” nimmt nicht nur Bezug auf die den Pausen, „eingedeckt“ mit ungarischen Neben den jeweiligen Sektionen zu den jüngs- Veranstaltungsorte, sondern passenderweise Buffetköstlichkeiten, die Uferzonen der Donau ten regionalen archäologischen Forschungen in auch auf die Fundorte der dortigen Csepel- vorüberziehen lassen. Auch auf diese Weise den römischen Militärprovinzen bzw. im Barba- Gruppe der Glockenbecherkultur. Deren Sied- näherte man sich – über den Genius Loci – ricum, galt diesmal das besondere Augenmerk lungsspuren konzentrieren sich fast aus- den “Bell Beaker Csepel People”.(M.P.)dem “Presenting the Roman Frontiers”:Hier

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wurden u. a. neben den Weltkulturerbe-Projek- 200. Jahrestag der Sprengung der Wiener Markus Jeitler (ÖAW, Hofburgprojekt) stellte ten oder der Neugestaltung des Museums in Burgbefestigung im Herbst 1809, der sich an- „Schriftquellen zur Bauorganisation der Wiener Vindonissa auch das neu eröffnete Römermu- bot, den aktuellen Stand des „Forschungspro- Stadtbefestigung im 16. Jahrhundert“ vor; seum in Wien von Michaela Kronberger prä- jektes zur Bau-, Ausstattungs- und Funktions- exemplarisch für die Wiener Löblbastion, wo ei- sentiert. Die Beiträge dieser Sektion werden geschichte der Wiener Hofburg“ zu reflektieren. ne gute Quellenevidenz vorliegt. Sein Vortrag auch in einer eigenen, vom Kongressband un- Dieses, insbesondere auch mit der Figur des zeigte die Dringlichkeit einer gründlichen Quel- abhängigen Publikation veröffentlicht. Andreas Hofer verbundenen Datums aus der lenrecherche, ohne die jede Aufarbeitung einer Auch soziologische Aspekte, aus der Interpre- Zeit der Napoleonischen Kriege wurde auch entsprechenden Thematik auf der Strecke blei- tation des archäologischen Fundguts gewon- andernorts und in zahlreichen Medien „ge- ben wird. nen, wurden verstärkt unter die Lupe genom- dacht“. Claudia Reichl-Ham (Heeresgeschichtliches men. Vor allem der Unterschied zwischen mili- Wegen der meist noch bevorstehenden Aufar- Museum Wien) schilderte in ihrem Beitrag „… tärisch und zivil, aber auch Essensgewohnhei- beitungsprojekte der Stadtarchäologie Wien die Festung zu halten oder mit ihr zu fallen. ten oder die Identität der römischen Soldaten zur Stadtbefestigung (Grabungen Weihburg- Die Burgbastei und ihre militärhistorische Be- waren Thema zahlreicher Vorträge, wie z. B. gasse, Ronacher, Wipplingerstraße und Neu- deutung 1683“ in dramatischer Form die Ereig- der Beitrag von Sabine Deschler-Erb, der das torgasse) wurde dieser Termin von einigen da- nisse der Belagerung durch die Türken 1683, in Pozential archäozoologischen Fundmaterials ran beteiligten KollegInnen wahrgenommen deren Mittelpunkt die Burgbastion stand, und im Bezug auf soziale Differenzierungen ver- und mit großem Interesse verfolgt. Die (ange- gab Einblicke in den Festungskrieg dieser Zeit. schiedener Bevölkerungsgruppen beleuchtete. kündigten) 16 Beiträge stammten von einer Diether Kramer (ehem. Landesmuseum Joan- Von den TeilnehmerInnen wurde eine weitere hochkarätigen, zum Teil internationalen Riege neum Graz) stellte die „Entwicklung der Grazer Sektion zur Rezeption des römischen Limes von Wissenschaftlern und widmeten sich einer Stadtbefestigung im 16. und 17. Jahrhundert“ “in a globalized world” sehr gut angenommen, breit gefächerten Palette von Themen, die ei- vor, die enge zeitliche Parallelen mit Wien auf- die Studien zu Grenzen allgemein, zum „Li- nen zeitlichen Bogen von den Anfängen der weist und somit im Rahmen einer allfälligen Ge- mes“-Begriff in Nazi-Deutschland und zu den Befestigung bis zu ihrem Ende spannten und samtdarstellung mit einzubeziehen ist. sich ändernden Perspektiven bezüglich Gren- dabei z. B. auch vergleichende städteplaneri- Der nächste Abschnitt war bereits „nichtkriege- zen und dem römischen Limes in der heutigen sche oder soziologische Aspekte behandelten. rischen“ Themen gewidmet; Jochen Martz Zeit zum Inhalt hatte. Die Anfänge vermittelte Ferdinand Opll (Wiener (ÖAW, Hofburgprojekt) gab Einblicke in die Ent- Natürlich wurden auch weitere, eher traditionell Stadt- und Landesarchiv) mit dem Thema wicklung der „Gärten auf der Burgbastei“ vom bei den Limeskongressen verankerte Themen „Schutz und Symbol – Zur Stadtbefestigung 16. bis zum 19. Jahrhundert, darüber hinaus wie Gräberfelder und Bestattungssitten, Zivil- Wiens vom hohen Mittelalter bis zur Mitte des aber auch in die der benachbarten kaiserlichen siedlungen im Umfeld der Lager und Kastelle, 19. Jahrhunderts“. Heike Krause (Stadtar- Gartenanlagen, die nach und nach der Bevöl- Fragen der Truppenversorgung oder zu den rö- chäologie Wien) bot unter dem Titel „Die früh- kerung geöffnet worden waren. Aber auch mischen Flottenverbänden beleuchtet. Beson- neuzeitliche Stadtbefestigung von Wien: Ak- Werner Michael Schwarz (Wien Museum) zeig- ders von Interesse im Bezug auf die Vergleich- tuelle Grabungsergebnisse der Stadtarchäolo- te mit dem Referat „Stau und Unbehagen. Zur barkeit mit dem römischen Legionslager Vindo- gie Wien (Weihburggasse, Ronacher, Wipplin- Kritik der Stadtbefestigung im 18. Jahrhun- bona, dessen aktuelle Befundsituation der Au- gerstraße und Neutorgasse)“ grundlegende dert“, basierend auf zeitgenössischen Reisebe- tor in Grundzügen vorstellte, waren die und „tiefgehende“ Einblicke in den Aufbau richten, die verkehrstechnischen und sozialen Vorträge zu den neuesten Ergebnissen der und die innere Organisation der Befestigung Probleme, die die Befestigung um das zuneh- Grabungen im Legionslager Straßburg von und wies auf die offenen Fragestellungen hin- mend anwachsende Wien verursacht hatte. Gertrud Kuhnle und der Geoprospektionen im sichtlich Bauablauf, Planung, Nutzung, Nach- Anna Mader-Kratky und Christian Benedik Lager Caerleon von Peter Guest (www.cardiff. nutzung etc. hin. Paul Mitchell (ÖAW, Hofburg- (ÖAW, Hofburgprojekt) leiteten mit ihren Vorträ- ac.uk/hisar/archaeology/crc/index.html), die projekt) präsentierte die „Hofburg als Festung gen bereits die Endphase der Befestigung mit einige in diesen Lagern bisher unbekannte (13.–16. Jahrhundert)“ und somit deren Ent- der Sprengung von 1809 und den Planungen Baustrukturen präsentierten. wicklung im angegebenen Zeitraum als auch für den Äußeren Burgplatz ein. Die abschlie- Nach einer emotionalen Abschlussveranstal- deren Bezug zur frühneuzeitlichen Befestigung, ßenden Beiträge widmeten sich der Nutzung tung, bei der Ruse in Bulgarien als nächster insbesondere zur Burgbastion, von der – zur im Vormärz, der „Bildwürdigkeit“ der Befesti- Austragungsort des Limeskongresses 2012 Überraschung der Teilnehmer – Reste entdeckt gung und schließlich der Planung der Ringstra- vorgestellt wurde, folgten an drei Tagen noch werden konnten. ße. weitere Nachexkursionen ins römische Schott- Den europäischen Kontext stellte Pieter Mar- Die virtuelle „Wiederauferstehung“ war durch land bzw. zum Hadrianswall. (M. M.) tens (Department of Architecture, Urbanism Herbert Wittine (Technische Universität Wien) und Planning, Katholieke Universiteit Leuven) unter dem Titel „Möglichkeiten einer dreidimen- mit dem Vortrag “Vienna’s 16th-Century Forti- sionalen Visualisierung historischer Objekte am „Die Wiener Burgbefestigung“ fications in Their European Context” her. Im Beispiel der Wiener Hofburg“ zu erleben. Beim Wien (A) Rahmen der Präsentation früher Festungsanla- abschließenden Besuch der Kleinausstellung 30. November–1. Dezember 2009 gen der 1520er- und 1530er-Jahre in den Nie- „Wien 1809“ im Wiener Stadt- und Landesar- Am 30. November und 1. Dezember 2009 ver- derlanden, Belgien, Frankreich, Italien und chiv – mit der Möglichkeit, im Studiensaal Be- anstaltete die Österreichische Akademie der Deutschland stellte er die Frage, ob italienische festigungspläne zu studieren – konnten sich Wissenschaften, Kommission für Kunstge- oder auch lokale Einflüsse bei Planung und Er- die TeilnehmerInnen in die Materie vertiefen. schichte, eine Tagung unter dem Motto „Die richtung zum Tragen gekommen seien. (G. R.) Wiener Burgbefestigung“. Anlass war der

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“Vindobona – Aquincum”, Problems of satorischen und wissenschaftlichen Strukturen dung neuer Technologien vorgestellt, wie z. B. Urban Archaeology in Budapest and der beiden Einrichtungen oder auch zur techni- akustische Messsysteme in der Unterwasser- Vienna schen Ausrüstung, EDV-Einsatz und Daten- archäologie oder eine Laserscanmethode Wien (A) banken, zur Vermittlungs- und Öffentlichkeits- vom Flugzeug aus (Airborne Laserscan), um 3.–4. Dezember 2009 arbeit etc. Während die KollegInnen in Wien das Bodenrelief ohne störenden Bewuchs auf- Dieser im kleinen Kreis, also hauptsächlich von bereits über eine gut bestückte Datenbank zu nehmen und hinsichtlich archäologisch rele- MitarbeiterInnen des Aquincum Museums, der den Fundorten und Funden auf dem Stadtge- vanter Spuren auswerten zu können. Stadtarchäologie Wien und der Kuratorin der biet verfügen, die nicht nur das wissenschaftli- Dem reichhaltigen Beiprogramm, u. a. die Er- Archäologischen Abteilung des Wien Museums che Arbeiten erleichtert, sondern v. a. schon öffnung der von der Stadtarchäologie Wien abgehaltene Workshop zu den speziellen bei der Planung eines Bauvorhabens für die konzipierten Posterausstellung zur neuzeitli- Problemen einer Stadtarchäologie in beiden Verhandlungen eingesetzt werden kann, ist chen Befestigung von Wien, eine Mittelalterfüh- Hauptstädten stellte bereits die Gegeneinla- das diesbezügliche Äquivalent in Budapest rung durch die Innenstadt sowie ein Lokalau- dung dar zu einer Tagung desselben Themen- noch im Aufbau begriffen. Die Wiener hingegen genschein im neuen Römermuseum und auf kreises, die im Herbst 2008 in Budapest statt- ließ der Umstand aufhorchen, dass das Aquin- der Grabung „Am Hof“, wurde reges Interesse gefunden hatte (siehe FWien 12, 2009, cum Museum für die Kalkulation der Kosten entgegengebracht. Überhaupt war die Tagung 220 f.). Diesmal traf man einander für zwei Ta- und die Logistik rund um die Ausgrabungen ei- von einer sehr freundschaftlichen Atmosphäre ge in den Räumlichkeiten der Stadtarchäologie nen eigenen Angestellten beschäftigt, was die geprägt und wir profitierten alle von dem ge- Wien zu einem dichten Programm von Vorträ- ungarischen Wissenschaftler erheblich entlas- meinsamen Erfahrungsaustausch. Nachdem gen. ten dürfte. die Budapester Delegation mit den frisch ge- Zum einen dienten diese der Vertiefung der Bei- Zum anderen wurde über aktuelle Grabungen druckten Beiträgen der Vorjahrstagung als träge des Vorjahres beispielsweise zur rechtli- in den beiden Hauptstädten berichtet, die ja ei- Gastgeschenk überraschte, wurde beschlos- chen Situation zwischen Denkmalschutzge- ne ähnliche geschichtliche Entwicklung eng sen, auch die in Wien gehaltenen Vorträge in ei- setz, privaten und öffentlichen Bauwerbern miteinander verbindet. Es wurden auch inter- nem weiteren Band von „Aquincum Nostrum“ und archäologischen Institutionen, den organi- disziplinäre Forschungsprojekte unter Anwen- zu veröffentlichen. (U. St.)

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MitarbeiterInnen der Stadtarchäologie Wien 2009 In der Auflistung nicht angeführt sind die zahlreichen temporären Mitarbeiter auf den Ausgrabungen der Stadtarchäologie Wien, deren Bezahlung dan- kenswerterweise von den jeweiligen Bauträgern übernommen wurde.

Name Projekt Tätigkeit Adler-Wölfl, Dr. Kristina Judenplatz Grabungsaufarbeitung Ausstellung Konzept Börner, Mag. Wolfgang EDV Betreuung und Koordination Internetportal „Wien Kulturgut“ Projektleitung und Koordination Tagung „Kulturelles Erbe und neue Tech- Tagungsorganisation nologien“ Initiative zur „Harmonisierung von Kultur- Projektleitung portalen österreichweit“ Chinelli, Dott.ssa Rita Rennweg 44 Grabungsaufarbeitung, zeichnerische Aufnahme der Funde Projekte „Glasierte Keramik“ und „Oxidie- Projektleitung, zeichnerische Aufnahme der Funde rend gebrannte Gebrauchskeramik“ Depot des Wien Museum Mitbetreuung der archäologischen Bestände Chmelar, Werner Judenplatz Grabungsaufarbeitung Aspern (Flugfeld), U-Bahn-Archäologie, Ausgrabung St.-Bartholomäus-Platz, Währinger Straße 29–31 Czeika, Dr. Sigrid Wipplingerstraße 33 und 35, Rennweg 16, Wissenschaftliche Bearbeitung der Tierknochenfunde, Restaurie- Weihburggasse 28–32 rung von Tierknochen Dollhofer, Mag. Lotte Publikationswesen Redaktion Eisenmenger, Dr. Ursula Rennweg 44, Schützengasse 24 Grabungsaufarbeitung St.-Bartholomäus-Platz Ausgrabung Eisenmenger-Klug, Dr. Ursula Publikationswesen Redaktion Am Hof 10, Aspanggründe Ausgrabung Eleftheriadou, Mag. Eleni Projekt Zivilstadt Grabungsaufarbeitung St.-Bartholomäus-Platz Ausgrabung Fischer Ausserer, Mag. Karin Leitung Stadtarchäologie Wien Projektkoordination, Management Gaisbauer, Mag. Ingeborg Öffentlichkeitsarbeit Junior- und Seniorarchäologie, Ausstellungen Weihburggasse 28–32, Sensengasse 1–3, Grabungsaufarbeitung Neutorgasse 4–8 Groiß, Mag. Johannes Bodendenkmalpflege Baustellenbeobachtung, Transporte Gruber, Dr. Gertrud Publikationswesen Redaktion Bibliothek Inventarisierung, Bücherankauf und -tausch Hanus, Petra Restaurierung Restaurierung von Keramik- und Knochenfunden in Zusammenar- beit mit der Initiative Seniorarchäologie Helgert, Mag. Heidrun Administration Assistenz der Leitung, Personalangelegenheiten Öffentlichkeitsarbeit Medienkontakte Jäger-Wersonig, Mag. Sabine Judenplatz, Schützengasse 24 Grabungsaufarbeitung Aspanggründe Ausgrabung Krause, Mag. Heike Ausstellung Konzept, Gestaltung Zollergasse 32 Grabungsaufarbeitung St.-Bartholomäus-Platz Örtliche Grabungsleitung Projekt Stadtbefestigung Aufarbeitung Burgenprojekt Burgeninventarisierung Wien Krüger, Doris Restaurierung Restaurierung von Keramik- und Knochenfunden in Zusammenar- beit mit der Initiative Seniorarchäologie Litschauer, Mag. Constance Antike Münzfunde Wiens Bearbeitung der Münzen Diverse Grabungen Zeichnerische Aufnahme der Funde Sensengasse 1–3 Grabungsaufarbeitung Am Hof 10, St.-Bartholomäus-Platz, As- Ausgrabung panggründe Riemergasse 7 Baustellenbeobachtung

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Mader, Dr. Ingrid Währinger Straße 29–31 Örtliche Grabungsleitung Aspanggründe Ausgrabung Projekt Stadtbefestigung Auswertung Öffentlichkeitsarbeit Juniorarchäologie, Stadtführung EDV Digitalisierung Mosser, Dr. Martin Judenplatz, Wipplingerstraße 35, Renn- Grabungsaufarbeitung weg 16 Am Hof 10 Örtliche Grabungsleitung Digitale Bauaufnahme der Tribunenhäuser Müller, Mag. Michaela Rennweg 44 Koordination der Fundbearbeitung Projekt Zivilstadt Auswertung für Museum und Vorträge Aspanggründe Örtliche Grabungsleitung Öllerer, Dr. Christoph Wissenschaftliche Koordination Bodendenkmalpflege Baustellenbeobachtung, Transporte UVP-Gutachten Gutachten Kulturgut Einsiedeleigasse 4 Örtliche Grabungsleitung Penz, Mag. Martin Aspern (Flugfeld) Örtliche Grabungsleitung Rennweg 16 Grabungsaufarbeitung Piperakis, Nikolaos Projekt Zivilstadt Planbearbeitung Am Hof 10, Aspanggründe Ausgrabung Fundbearbeitung Fotografieren Ranseder, Mag. Christine Publikationswesen Gestaltung von Publikationen und Werbemitteln, Anzeigenverwal- tung Ausstellungen Konzept, Gestaltung Reichhalter, Dipl. Graph. Gerhard Diverse Grabungen Zeichnerische Aufnahme der Funde Burgenprojekt Burgeninventarisierung Wien Burgenprojekt Burgeninventarisierung Niederösterreich (Kooperationsprojekt) Projekt Stadtbefestigung Aufarbeitung St.-Bartholomäus-Platz Ausgrabung Reisinger, Dr. Christian EDV Aktualisierung der Fundort-Datenbank Kulturgüterkataster GIS-Anwendung (ArchKat) Am Hof 10, Aspanggründe, St.-Bartholo- Ausgrabung mäus-Platz Sakl-Oberthaler, Mag. Sylvia U-Bahn-Archäologie Baustellenbetreuung, Grabungsleitung Wipplingerstraße 33, Judenplatz, Renn- Grabungsaufarbeitung weg 44, Schützengasse 24 Aspern (Flugfeld), St.-Bartholomäus-Platz Ausgrabung Kulturvermittlung Ausstellungskonzepte, Vorträge, Führungen Projekt „Die römischen Lampen von Vin- Projektleitung dobona“ Schulz, Mag. Michael Inventarisation Diathek, Inventar Administration Personalangelegenheiten Aspanggründe Ausgrabung Stipanits, M. A. Ute Publikationswesen Redaktion Aspanggründe Ausgrabung Tarcsay, Dr. Kinga Judenplatz Aufarbeitung Uhlirz, DI Susanne EDV GIS, Homepages, Systemadministration, User-Betreuung Tagung „Kulturelles Erbe und neue Tech- Publikation, Tagungsorganisation nologien“ Administration

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Fundort Wien 13, 2010. – Urheberrechtlich geschützt, Keine unerlaubte Vervielfältigung gestattet. © Museen der Stadt Wien – Stadtarchäologie Namenskürzel/Abkürzungsverzeichnis

Namenskürzel

C. L. Constance Litschauer Ch. Ö. Christoph Öllerer G. R. Gerhard Reichhalter H. K. Heike Krause I. G. Ingeborg Gaisbauer I. M. Ingrid Mader J. G. Johannes Groiß M. La Sp. Marcello La Speranza M. M. Martin Mosser M. Mü. Michaela Müller M. P. Martin Penz R. Ch. Rita Chinelli U. E.-K. Ursula Eisenmenger-Klug U. St. Ute Stipanits

Abkürzungsverzeichnis Zitate und Abkürzungen basieren im Allgemeinen auf den Publikationsrichtlinien der Römisch-Germanischen Kommission des Deutschen Archäologi- schen Instituts. Abkürzungen antiker Autoren und deren Werke erfolgen nach Der Neue Pauly 1 (Stuttgart 1996).

Weitere Abkürzungen ADV Automationsunterstützte, elektronische Datenver- Inv.-Nr. Inventarnummer arbeitung, Informations- und Kommunikations- JbOÖMV Jahrbuch des Oberösterreichischen Musealverei- technologie nes Anf. Anfang JbVGW Jahrbuch des Vereins für die Geschichte der Stadt Anm. Anmerkung Wien ANRW Aufstieg und Niedergang der Römischen Welt JZK Jahrbuch der K. K. Zentral-Kommission für Erfor- (Berlin, New York) schung und Erhaltung der Kunst- und Historischen AÖ Archäologie Österreichs Denkmäler ArchA Archaeologia Austriaca KA Kriegsarchiv B Breite Kat.-Nr. Katalognummer BAR British Archaeological Reports KHM Wien Kunsthistorisches Museum Wien BDA Bundesdenkmalamt Österreich L Länge BDm Bodendurchmesser Lfg. Lieferung Bef.-Nr. Befundnummer LIMC Lexicon Iconographicum Mythologiae Classicae Beih. Beiheft/e (Zürich) bes. besonders M Maßstab BMAVW Berichte und Mittheilungen des Alterthums-Verei- M. Mitte nes zu Wien MA Magistratsabteilung BS Bodenstück MAG Mitteilungen der Anthropologischen Gesellschaft CarnuntumJb Carnuntum Jahrbuch Wien CIL Corpus Inscriptionum Latinarum MAK Österreichisches Museum für angewandte Kunst/ CSIR Corpus Signorum Imperii Romani. Corpus der Gegenwartskunst Skulpturen der römischen Welt MGH Monumenta Germaniae Historica D. Drittel MIÖG Mitteilungen des Institutes für Österreichische Ge- Dig. Digitalisiert schichtsforschung Diss. Dissertation Mitt. ZK Mitteilungen der Zentral-Kommission für Denkmal- Dm Durchmesser pflege E. Ende Mskr. Manuskript ebd. ebenda MSW Monografien der Stadtarchäologie Wien EPRO Études préliminaires aux religions orientales dans MV Museum Vindobonense – Inventarisationskürzel für l’Empire romain (Leiden) Objekte aus der archäologischen Sammlung der erh. erhalten Museen der Stadt Wien FA Fundakten des Wien Museum Karlsplatz MZK Mehrzweckkarte der Stadt Wien Fl. Fläche N. F. Neue Folge Fnr. Fundnummer NHM Wien Naturhistorisches Museum Wien FÖ Fundberichte aus Österreich NÖ Niederösterreich fol. folio ÖAW Österreichische Akademie der Wissenschaften FÖMat Fundberichte aus Österreich Materialheft o. J. ohne Jahr FP Fundprotokolle des Wien Museum Karlsplatz OK Oberkante FRA Fontes Rerum Austriacarum OPEL Onomasticon provinciarum Europae latinarum I–IV FT Fundtagebücher des Wien Museum Karlsplatz; (Wien 1999–2005) verfasst von J. Nowalski de Lilia und F. v. Kenner ÖStA Österreichisches Staatsarchiv FWien Fundort Wien ox. oxidierend GC Grabungscode ÖZKD Österreichische Zeitschrift für Kunst- und Denk- HHöhe malpflege H. Hälfte ÖZV Österreichische Zeitschrift für Volkskunde HHStA Österreichisches Staatsarchiv, Haus-, Hof- und RAC Reallexikon für Antike und Christentum (Stuttgart) Staatsarchiv RDm Randdurchmesser HMW Historisches Museum der Stadt Wien – jetzt Wien red. reduzierend Museum Karlsplatz Reg. Regest/en

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Fundort Wien 13, 2010. – Urheberrechtlich geschützt, Keine unerlaubte Vervielfältigung gestattet. © Museen der Stadt Wien – Stadtarchäologie Abkürzungsverzeichnis

rek. rekonstruiert v verso RIB R. G. Collingwood/R. P. Wright (ed.), The Roman VB Verwaltungsbezirk Inscriptions of Britain Verf. Verfasser/in RLÖ Der römische Limes in Österreich vgl. vergleiche RS Randstück WA Wien Archäologisch Rst Randstärke WAS Wiener Archäologische Studien RZ Römerzeit WGBl Wiener Geschichtsblätter SoSchrÖAI Sonderschriften des Österreichischen Archäologi- WHO World Health Organization schen Institutes WM Wien Museum T Tiefe WPZ Wiener Prähistorische Zeitschrift Tab. Vindol. Tabulae Vindolandenses Wr. Null Wiener Null = 156,68 m über Adria UH Unsere Heimat. Zeitschrift des Vereines für Lan- WS Wandstück deskunde von Niederösterreich Wst Wandstärke UK Unterkante WStLA Wiener Stadt- und Landesarchiv Univ. Universität WStLB Wiener Stadt- und Landesbibliothek unpubl. unpubliziert Zl. (Akten-)Zahl

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Fundort Wien 13, 2010. – Urheberrechtlich geschützt, Keine unerlaubte Vervielfältigung gestattet. © Museen der Stadt Wien – Stadtarchäologie Abbildungsnachweis/Impressum/Inserentenverzeichnis

Abbildungsnachweis FWien 13, 2010 Die Stadtarchäologie Wien war bemüht, sämtliche Bild- und Urheberrechte zu eruieren und abzugelten. Bei Beanstandungen ersuchen wir um Kon- taktaufnahme. Als Grundlage für Pläne und Kartogramme (Fundchronik) wurde, wenn nicht anders vermerkt, die MZK der Stadt Wien (MA 14 – ADV, MA 41 – Stadt- vermessung) verwendet. Wir danken den Kollegen für die gute Zusammenarbeit. Für die Drucklegung wurden sämtliche Pläne und Tafeln von L. Doll- hofer, G. Gruber, Ch. Ranseder und S. Uhlirz nachbearbeitet. Einband: Wasserglacis mit dem Karolinentor, Aquarell v. J. T. Raulino, um 1820, © WM, Inv.-Nr. 105.890 – S. 6, Abb. 2, © ÖStA, KA,Geniestabspläne CI/Wien a1, Nr. 29, 1753 – S. 7, Abb. 3, © ÖStA, KA,Geniestabspläne CI/Wien a1, Nr. 35, 1759 – S. 12, Abb. 5, © WM, Inv.-Nr. 13.462 – S. 13, Abb. 6, © WM, Inv.-Nr. 13.463 – S. 14, Abb. 7, © ÖStA, KA, Kartensammlung VIIe 107b Wien, Inv.-Nr. 169E) – S. 15, Abb. 8, © ÖStA, KA,Geniestabspläne CI/Wien a2, Nr. 02, 1834 – S. 16, Abb. 9, © WM, Inv.-Nr. 105.890 – S. 55, Abb. 3, © WM, Inv.-Nr. 16013/34 – S. 56, Abb. 4, © WM, Inv.-Nr. 16013/ 19 – S. 83, Abb. 4, © KHM Wien, Inv.-Nr. V 2535 – S. 85, Abb. 5, © Antakya Arkeoloji Müzesi – S. 121, Abb. 4, © WM, Inv.-Nr. 196.846/9,10 – S. 123, Abb. 5, © WM, Inv.-Nr. 105.977/4 – S. 147, Abb. 1, © WM, Inv.-Nr. HMW 34272 – S. 246, Abb. 3, © WStLA, Kartographische Sammlung, Inv.-Nr. 120.099.

Impressum Inserentenverzeichnis Fundort Wien. Berichte zur Archäologie erscheint einmal jährlich. Wiener Geschichtsblätter 113 Abonnement-Preis: EUR 25,60 MediaHistoria.com 145 Einzelpreis: EUR 34,– ARWAG 156 Herausgeber: Stadtarchäologie Wien. Leitung: Karin Fischer Ausserer Albrechtsberger 157 Redaktion und Lektorat: Lotte Dollhofer, Ursula Eisenmenger-Klug, BIG 157 Gertrud Gruber, Ute Stipanits Layout: Christine Ranseder Satz/Umbruch: Roman Jacobek Umschlaggestaltung: Pink House Studio Anzeigenverwaltung: Heidrun Helgert Schriftentausch: Gertrud Gruber Obere Augartenstraße 26–28/32, A–1020 Wien Tel.: (+43) 1/4000 81 157 E-Mail: [email protected] Druck: Robitschek & Co Ges.m.b.H., 1050 Wien Auslieferung/Vertrieb: Phoibos Verlag Anzengrubergasse 16/9 A–1050 Wien, Austria Tel.: (+43) 1/544 03 191; Fax (+43) 1/544 03 199 www.phoibos.at, [email protected] Kurzzitat: FWien 13, 2010 Alle Rechte vorbehalten © Museen der Stadt Wien – Stadtarchäologie ISBN 978-3-85161- 042- 0, ISSN 1561- 4891 Wien 2010

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