Fast Ein Volk Von Zuckerbäckern?
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Fast ein Volk von Zuckerbäckern? Bündner Konditoren, Cafetiers und Hoteliers in europäischen Landen bis zum Ersten Weltkrieg Ein wirtschaftsgeschichtlicher Beitrag Stand 02.06.2009 Dolf Kaiser, Fast ein Volk von Zuckerbäckern 1 Inhaltsübersicht Allgemeiner Teil Vorwort Bündner in Venedig bis 1766 Arbeitsbedingungen, Schicksale, Reisen Italien als Auswanderungsland Triest und Dalmatien Zuckerbäcker und Kaffeehausbesitzer in Deutschland Landsleute in Ost- und Nordeuropa Frankreich, Spanien und übrige Länder Europas als Ziel der Auswanderung Schlusswort Dokumentarischer Teil Alphabetische Bestandesaufnahme nach Städten von A bis Z Abkürzungen Zeittafel Genealogische Tabellen Anmerkungen und Quellenangaben Quellenvermittler und Informanten Herkunftsortsverzeichnis Personenverzeichnis Bildnachweis Dolf Kaiser, Fast ein Volk von Zuckerbäckern 2 Vorwort Das Gewerbe der Zuckerbäcker und Cafetiers im Ausland nimmt in der Kultur- und Wirtschaftsgeschichte Graubündens einen wichtigen Platz ein. Wäre es demnach angebracht, die Bewohner dieses Bergkantons als "fast ein Volk von Zuckerbäckern" zu bezeichnen? Der In Schlesien geborene Silvaplaner Konditor und Chronist Giachem L’Orsa beklagte sich 1807 in seinen Aufzeichnungen im "Neuen Sammler", dass es in seinem Heimatdorf keine Schcneider und keine Schuhmacher gebe, dafür aber 28 Zuckerbäcker. Um die Mitte des vorletzten Jahrhunderts schilderten Eugen Baron von Vaerst, der spätere Besitzer und Herausgeber der "Breslauer Zeitung", die Lage dieser" süssen Branche" wie folgt: " Die vorzüglichsten Zuckerbäcker auf der ganzen Erde, die man auch in allen grossen Städten inner- und ausserhalb Europas findet, kommen aus Graubünden. Dort haben die Leute, die wir von Mexiko bis Petersburg in grauen Jacken und weissen Schürzen sehen, grosse Steinpaläste. " (270) In ähnlichem Sinn äusserte sich später Professor C. Witte aus Halle in einem 1855 in Berlin gehaltenen Vortrag: "Insbesondere ist es eine Industrie, die den Engadinern eigen und durch ihre Landeskinder überallhin verbreitet ist: Alle jene sogenannten Schweizer Bäcker, die in London und Neapel, in Petersburg und Lissabon , ja New York dieselbe Ware liefern, sie stammen aus dem Engadin oder aus einem der nächsten Täler. Sie breiten ihr süsses Netz über Europa aus und wandern von einer Hauptstadt zu anderen." Die Frage nach den Gründen für diese grosse Verbreitung des Zuckerbäckerberufes lässt sich nur ungenau beantworten. Wahrscheinlich darf man annehmen, dass infolge der Zugehörigkeit zu einer konfessionellen Minderheit – zuerst in Venedig und später auch in anderen Städten – der berufliche Bewegungsspielraum sehr begrenzt war. Die Berufslehre oder das Anlernen, wie es in früheren Zeiten üblich war, erfolgte stets im Famlien-, Verwandten- oder Freundeskreis. Die Spezialisierung und Vervollkommnung durch unermüdlichen Einsatz in dieser recht krisenfesten Berufsbranche entwickelte sich im Laufe der Jahrzehnte zu einer Gewinn bringenden Erwerbsquelle. Die periodische Auswanderung kommerzieller Prägung brachte dem Kanton beträchtliche finanzielle Mittel. Am meisten profitiert hat die Region Oberengadin mit der längsten Auswanderungstradition; sie entwickelte sich im Laufe des 19. Jahrhunderts zum ersten Finanzplatz des Kantons. Mit den im Ausland verdienten Geldern der Zuckerbäcker und Cafetiers konnten die Pionierleistungen der neu begründeten Hotelindustrie weitgehend finanziert werden. Interessanterweise wurde das Konditoreigewerbe in der engeren Heimat (Beispiel Engadin) von eingewanderten Ausländern ausgeübt. Die vorliegende Untersuchung soll vor allem einen dokumentarischen Abriss darstellen, ohne Anspruch auf Vollständigkeit erheben zu wollen. Ich bin mir durchaus bewusst, dass meine Forschungen nur die Spitze eines Eisberges berühren; deshalb soll auch auf eine statistische Auswertung der ermittelten Personen verzichtet werden. Eine ähnliche Zusammenstellung Dolf Kaiser, Fast ein Volk von Zuckerbäckern 3 erfolgte in den Jahren 1965/67 in rätoromanischer Sprache im "Fögl Ladin", später auch als Separatdruck "Cumpatriots in terras estras" erschienen. Damals meldeten sich über 90 Zeitungslserinnen und –leser aus dem In- und Ausland und stellten mir wesentliche und seltene Dokumente zur Verfügung. Das vorliegende Werk fusst teilweise auf meiner früheren Veröffentlichung. Dabei wurde aber auf die Erwähnung von Söldnern und Künstlern verzichtet. Hingegen erfolgte eine Erweiterung des Personenbestandes und der einzelnen Kolonien in über 500 Städten. Es hat sich gezeigt, dass bei der Auswanderung sehr oft in der zweiten und dritten Generation ein Berufswechsel stattfand. Zum Beispiel: 1. Generation: Zuckerbäcker, 2. Generation: Cafetier, 3. Generation: Kaufmann oder Hotelier. Aus diesem Grund habe ich diese Berufe, sofern sie in verwandtschaftlicher Beziehung zu den Konditoren standen, mit berücksichtigt. Die Forschung hat weiter ergeben, dass praktisch alle protestantischen Regionen des Kantons mit dem Phänomen des süssen Berufes eng verknüpft waren. Freilich gab es auch aus katholischen Gebieten Vertreter dieser Branche, jedoch bildeten sie eine Minderheit. Zu den am meisten genutzten Quellen gehören vor allem die Kirchenbücher der einzelnen Gemeinden, die Volkszählungsergebnisse der Jahre 1835 und 1850, Adressbücher und Fremdenkontrollakten fremder Städte, Baedeker-Reiseführer sowie zahlreiche Dokumente, Verträge und Briefe aus in- und ausländischen Archiven, die hier zum erstenmal veröffentlicht werden. Nach einem allgemeinen, feuilletonistischen Teil soll vor allem der dokumentarische Teil, alphabetisch nach Auswanderungszielen gegliedert, den Schwerpunkt der Untersuchung bilden. Zum Abschluss werden noch einige genealogische Tabellen angefügt, um die Zusammenhänge und die Finanzbeteiligungen an den einzelnen Firmen besser zu belegen. Aufrichtigen Dank für die wohlwollende finanzielle Unterstützung, ohne die das vorliegende Werk nicht hätte erscheinen können. Die Veröffentlichung darf auch als Gemeinschaftswerk zahlreicher Mithelferinnen und Mithelfer, die mir mit Rat und Tat beistanden, bezeichnet werden. Ihnen sei ganz besonders herzlich gedankt. Vorwort zur zweiten Auflage Das beachtliche Interesse für mein im Jahre 1985 zum erstenmal aufgelegtes Buch überstieg die Erwartungen. Mit besonderer Freude nahm ich die vom Eidgenössischen Departement des Innern verliehene Auszeichnung meiner Veröffentlichung "Die schönsten Schweizer Bücher 1985" zur Kenntnis. Dolf Kaiser, Fast ein Volk von Zuckerbäckern 4 In der vorliegenden Ausgabe wurde der "Allgemeine Teil" mit wenigen Berichtigungen praktisch unverändert übernommen. Der "Dokumentarische Teil" konnte mit 15 neuen Auswanderungszielen und etwa 50 weiteren Personen ergänzt werden. Dabei möchte ich den zahlreichen aufmerksamen Leserinnen und Lesern danken, die mir bei diesen Ergänzungen wichtige Hilfe leisteten. Zürich, im April 1988 Dolf Kaiser Dolf Kaiser, Fast ein Volk von Zuckerbäckern 5 Bündner in Venedig bis 1766 Es ist offensichtlich, dass einige Bündner Täler in früheren Zeiten einen beachtlichen Wohlstand aufwiesen, was palastartige Prunkbauten vieler Engadiner -und Bergellerhäuser noch heute bestätigen. Andere Gebiete im Alpenraum, die ebenfalls vom Durchgangsverkehr begünstigt waren, können in dieser kulturarchitektonischen Entwicklung mit weit weniger Reichtum aufwarten. Es stellt sich dem Unkundigen die berechtigte Frage: Was hat Graubünden zu dieser wirtschaftlichen Blüte verholfen? Es dürfen wohl nicht nur Landwirtschaft, Bergbau und Transportwesen gewesen sein, die zu diesem Wohlstand geführt haben, sondern vielmehr waren es durch harte Arbeit in der Fremde erworbene Einkünfte, die periodisch auswandernde Kaufleute und Zuckerbäcker nach Hause schickten oder bei ihrer Rückkehr mitbrachten. Für alle Talschaften "Alt Fry Rätien" bedeutete die Auswanderung von jeher eine wirtschaftliche Notwendigkeit. vor allem für die Gebiete des Engadins, des Bergells und des Münstertals. Neben dem kriegerischen Söldnerwesen entstand schon sehr früh eine friedliche Auswanderung mit gewerblicher und handelsgeschäftlicher Tätigkeit, die bis weit ins 19. Jahrhundert hinein fortdauerte. Heute könnte man dieses Phänomen mit dem saisonalen Aufenthalt von Gastarbeitern in der Schweiz vergleichen. Auch brach der Kontakt der Auswanderer mit ihren Angehörigen in der Heimat nie ganz ab. Die Auswanderung hat sich in jedem Gebiet auf verschiedene Art entwickelt. Für das Engadin, das Puschlav, das Bergell, das Münstertal und das Albulatal, teilweise auch für die Landschaft Davos und das Prättigau steht die Geschichte der Zuckerbäcker und Cafetiers an erster Stelle. Im Bündner Oberland und auch in Mittelbünden fand der Söldnerdienst den grössten Zuspruch. Aus den Talschaften Mesocco und Calanca übten zahlreiche Stukkateure und Architekten in deutschen und böhmischen Landen ihren Beruf mit Erfolg aus; man denke nur an die Künstler Gabrieli, Zuccalli, Viscardi und viele andere, die in München, Salzburg, Wien und Prag bedeutende Kunstdenkmäler schufen. In der Geschichte der Graubündner Auswanderung im 15. und 16. Jahrhundert bildeten Stadt und Republik Venedig den Hauptanziehungspunkt für den Zuckerbäckerberuf. Der bekannte Bündner Chronist Nicolaus Sererhard schrieb 1742 in seiner "Delineation aller Gemeinden der III Bünde": "Von allerhand Sorten Bündner sollen gegen 3000 in Venedig sich befinden und von dannen ihr Brot ziehen, die meisten aber sind Engadiner und Bergeller. Die oberen Engadiner participieren etwas mehr von der Italiener Geschwindig- und Höflichkeit, die im untern Engadin hingegen sind in genere