Tai Ji Quan Stil Allgemeines Michael Steinmetz

Inhaltsverzeichnis

Die Geschichte des Yang-Stils ...... 1 Funktionsweise...... 6 Strategie und Taktik...... 8 Begriffe...... 9 Kampfkunst ...... 10  Energiearbeit...... 11 Vitalität...... 12 Quelle:...... 13 (Ein) Lied über Verständnis und Anwendung ...... 14 Quelle...... 16

Die Geschichte des Yang-Stils

Die Geschichte der Entwicklung und Übermittlung des Taijiquan wurde in den verschiedenen Perioden und geographischen Verbreitungsgebieten stets so angepasst und geglättet, von Brüchen und dunklen Flecken gesäubert, in die Vergangenheit extrapoliert und mit Anekdoten über legendäre Gestalten ausgeschmückt, dass sie letztendlich den jeweiligen Exponenten den höchstmöglichen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Vorteil versprach. Erleichtert wurde dies dadurch, dass die chinesischen Kampfkünste sich bis zum Ende der Kaiserzeit (1911) im wesentlichen außerhalb der gebildeten und schreibkundigen Führungsschicht Chinas, der Gentry, entwickelten. Es gibt praktisch keine verlässlichen Aufzeichnungen zu den Ursprüngen des Taijiquan. Die ersten schriftlichen Abhandlungen zur Theorie des Taijiquan tauchen erst nach dem Aufstieg der Yang- Familie in die Umgebung der mandschurischen Führungsschicht und der Gentry in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auf.

Es ist daher sehr problematisch, historisch gesichert den Ablauf der Entstehung des Taijiquan zu schildern. Die Anpassung der Geschichte des Taijiquan durch die Vertreter der verschiedenen Stile ist letztendlich ein Teil eines umfassenderen Anpassungsprozesses an die gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Bedingungen zu verschiedenen Perioden und an verschiedenen Orten. In diesem Prozess betonten einige Vertreter des Taijiquan jeweils unterschiedliche theoretische und praktische Aspekte dieser Kampfkunst und änderten entsprechend den Inhalt und die Methoden ihres Unterrichts ab. Andere Vertreter dieser Kampfkunst verweigerten sich dieser Anpassung und tradierten ursprünglichere Varianten.

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Taijiquan ist in seiner ursprünglichen Komplexität schwer zu erfassen. Folglich kommt es häufig genug zu Verzerrungen des praktischen und theoretischen Inhalts durch Lehrer, denen es an grundlegendem Verständnis und Können mangelt. Das Ergebnis dieser vielschichtigen Entwicklung ist, dass der Zweck und Inhalt dessen, was unter dem Begriff Taijiquan unterrichtet wird, sehr breit gefächert, unterschiedlich, ja teilweise sogar widersprüchlich ist.

Die Entstehungsgeschichte des Yang-Taijiquan in der vorherrschenden "Mainstream"-Version geht von dem daoistischen Mönch als Urvater oder direkten Gründer des Taijiquan aus. Er soll um die Zeit des Dynastiewechsels von der Ming- zur Qing- (Mandschu-)Dynastie, der sich 1644 vollzog, gelebt haben. Taijiquan gehört demnach zur "Inneren Schule" Neijiaquan der chinesischen Kampfkünste, die in den daoistischen Klöstern des Wudang Gebirge ihren geographischen und philosophischen Ursprung haben. Sie sind das konzeptionelle und ideologische Gegenstück zu der "Äußeren Schule" Waijiaquan des buddhistischen Shaolin-Klosters.

Taijiquan bzw. die Essenz der Inneren Schule des Zhang Sanfeng soll dann an Zongyue weitergegeben worden sein. Durch Wang Zongyues Schüler Jiang Fa wurden dann schließlich die daoistischen Kampfkunstkonzepte und -prinzipien an Changxing (1771-1853) aus dem Dorf Chenjiagou in der nordchinesischen Provinz überliefert. In Chenjiagou wurde in geschlossener Familientradition innerhalb der Chen-Sippe, angefangen von um 1660, ein Familienstil tradiert, der sich Paochui, "Kanonen-Hämmern", nennt und seine Ursprünge im Shaolin-Kloster hat. Durch den Einfluss der Inneren Schule soll dann der Chen-Familienstil "weicher" geworden sein.

Chen Changxing unterrichtete erstmals einen Schüler außerhalb der Chen-Sippe, nämlich (1799-1872). Yang Luchan, der Begründer des Yang-Stils des Taijiquan, machte schließlich die von überlieferte Kampfkunst in der Hauptstadt bekannt, indem er in zahlreichen Herausforderungen unbesiegt blieb. Er und seine Söhne Yang Banhou (1837-1892) und (1839-1917) unterrichteten in Beijing eine kaiserliche Ausbildungsdivision, vor allem aber Verwandte des Kaiserhauses.

Um das Training den körperlich verweichlichten Verwandten des Kaisers anzupassen, soll dann das Üben der Hauptform des Yang-Stils verlangsamt und explosive Bewegungen abgewandelt oder entfernt worden sein. Nur noch der Gesundheitsaspekt sei dem mandschurischen Adel vermittelbar gewesen. Das sei dann der Grund dafür, dass der Yang-Stil entschärft und die charakteristische langsame Form angenommen habe.

Nachdem 1911 die Monarchie einer unstabilen Republik Platz gemacht hatte, musste sich auch die Yang-Familie umorientieren. Taijiquan wurde einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich gemacht. (1883-1936), der dritte Sohn von Yang Jianhou, spielte hierbei die aktivste Rolle. Er trieb die Verbreitung des Stils auch in Südchina voran und verbrachte seine letzten Jahre in Shanghai. Er vereinfachte die Hauptform immer weiter und setzte bis heutige gültige Standards für das Yang- Taijiquan.

Diese - stark verkürzte - Entstehungsgeschichte des Taijiquan im Yang-Stil ist heute in , Taiwan und im Westen in der einen oder anderen Variation, ausgeschmückt mit zahlreichen Anekdoten, bestens bekannt. Die Geschichte des Taijiquan wird dabei in einer kontinuierlichen und zwangsläufigen Entwicklungslinie von einer erhabenen daoistischen Kampfkunst, hin zu einer rein chinesisch geprägten Gesundheitsmethode und Gymnastik dargestellt. An dieser Stelle möchte ich hierzu aber einige kritische Punkte anmerken, die einerseits Bruchstellen in der Entwicklung aufzeigen, andererseits den Einfluss des jeweils vorherrschenden Zeitgeistes deutlich machen.

Die Entstehungsgeschichte hält schon einer näheren Betrachtung des angebliche Gründers des Taijiquan Zhang Sanfeng nicht stand. Zwar wird Zhang Sanfeng in Dokumenten wie der Geschichte der Ming-Dynastie erwähnt, doch lässt sich keine eindeutige Verbindung zwischen ihm bzw. den

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Wudang-Stilen und der Kampfkunst der Chen-Sippe oder Yang-Taijiquan nachweisen. Auf Grund des Einflusses des daoistischen Gedankenguts gibt es ähnliche Prinzipien in den Wudang- und Taijiquan- Stilen, aber die Techniken unterscheiden sich zu stark, als dass man eine unmittelbare Abstammung des Taijiquan aus dem Wudang-Boxen herleiten könnte.

Auch die Figur des ist historisch nicht eindeutig zuzuordnen. Ihm wird der wichtigste theoretische Text über das Taijiquan zugeschrieben. Die ursprünglichen Dokumente der Inneren Schule erwähnen zwar Zhang Sanfeng, nicht aber eindeutig Wang Zongyue - es wird lediglich ein gewisser Wang Zong erwähnt. Es ist also nicht zweifelsfrei belegt, dass er der Mittler zwischen Wudang und den Stilen in Chenjiagou ist.

Interessant ist die Frage der Rolle, die von Vertretern des Yang-Familie dem Jiang Fa auf den Stil und Unterricht des Chen Changxing zugeschrieben wurde. Die von ihm übermittelten Prinzipien sollen bei der Kampfkunst des Chen-Klans den Wandel von einem Stil der Äußeren zu einem der Inneren Schule bewirkt haben, also von einer auf Muskelkraft und eigener Aggressivität basierenden Methode hin zu einem auf innerer Kraft und dem Ausnützen gegnerischer Aktivität beruhenden Konzept. Es gibt jedoch mehrere Hinweise darauf, dass es diesen glatten Übergang nicht gab, sondern dass zumindest zeitweise der Großteil der Chen-Sippe ihren Familienstil Paochui kaum oder gar nicht verändert weiterübte. In der Tat war es in Chenjiagou nicht üblich, die eigene Kampfkunst an Außenstehende weiter zu geben, oder von Außenstehenden andere Stile zu übernehmen. Diese Abschottung ist ein typisches Charakteristikum für chinesische Stile im Allgemeinen und für Familienstile im Besonderen. Den der praktische Anwendungszweck solcher Kampfkünste für eine Familie bzw. Sippe lag in der gewaltsamen Verteidigung gegen äußere Angriffe und Durchsetzung der eigenen Interessen gegenüber anderen Familienverbänden.

Nur jemand wie Chen Changxing, der womöglich mit dem Familienstil nicht sonderlich gut zurecht kam (er wurde ursprünglich wegen seiner Steifheit gehänselt), könnte aufnahmebereit für von Außen kommende Lehren, wie etwa die eines Jiangfa, gewesen sein. Wenn dem so war, übernahm er aber offensichtlich nicht einfach die Prinzipien dieses neuen Stils, um sie in seine Bewegungen und die Chen-Formen zu integrieren, sondern er übernahm auch dessen Techniken und Teile von Formen. Dies ist die einzig logische Erklärung für die grundlegenden Unterschiede zwischen dem Chen- und dem Yang-Stil des Taijiquan, die mir eine direkte Abkunft des Yang-Stils aus dem Chen-Stil unwahrscheinlich erscheinen lassen. Nicht nur dass die Techniken mit einer anderen Betonung und Dynamik geübt werden, vor allem ist die grundlegende Kraft anders ausgeprägt, was deutlich auf verschiedene Ursprünge hindeutet: Im Chen-Stil herrscht eine spiralenartige, bohrende Kraftentfaltung vor, im Yang-Stil dagegen eine walzenartige, schwellende. Eine alternative Erklärung ist, dass Yang Luchan nach seiner Lehrzeit bei Chen Changxing auch Elemente aus einem oder mehreren anderen Stilen aufnahm. Tatsächlich gibt es in den Kampfanwendungen Ähnlichkeiten zum Tongbeiquan.

Das stärkste Indiz dafür, dass der Yang-Stil nicht direkt vom Chen-Stil abstammt ist die Kluft in den Formen der beiden Stile. Die früheste Aufzeichnung der ursprünglichen Form von Yang Luchan findet man bei dem Li Yiyu, der wiederum die Form von , einem direkten Schüler von Yang Luchan gelernt hatte. Diese Form hat 55 "Figuren" (aus mehreren zusammenhängenden Einzelbewegungen bestehende Abläufe) und basiert im Ablauf grob auf der ersten Chen-Form. Sie ist der direkte Vorläufer der langen Yang-Form, die je nach Zählweise und Variation 78, 81, 88, 89, 108 oder mehr Figuren hat. Die alte Yang-Form in 88 bzw 89 Figuren wurde von Yang Jianhou, dem Sohn von Yang Luchan praktiziert und ist die Form, die Wang Yongquan, Lu Zhiming und schließlich auch mir überliefert wurde. Diese Form ist im Wesentlichen eine Erweiterung der Yang Luchan Form in 55 Figuren. Sie ist auch die Grundlage für die modernisierten und verkürzten Formen, die mit Yang Chengfu, dem Enkel von Yang Luchan ihren Anfang nahmen.

Die Form von Yang Luchan weist allerdings große Unterschiede zu den beiden bis heute tradierten Chen-Formen auf und es gibt nur eine geringe Anzahl gleicher Bezeichnungen für einzelne Figuren. Aber auch die gemeinsamen Figuren unterscheiden sich im Ablauf, Art der eingesetzten Kraft und Dynamik der Ausführung stark voneinander. Darüber hinaus gibt es in der Yang Form Techniken, die in den Chen Formen nicht vorkommen. Damit erscheint mir die weit verbreitete Theorie

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unglaubwürdig, dass die Yang-Form innerhalb von drei Generationen aus den beiden Chen-Formen entwickelt wurde. Yang Luchan hatte womöglich die beiden Formen der Chen-Familie nicht weiter überliefert. Die Annahme liegt daher nahe, dass Yang Luchan von Chen Changxing eine andere Form - denkbar wäre, eine von Jiang Fa an Chen Changxing überlieferte - erlernt hatte. Diese Form bildete dann die Grundlage des Yang-Stils. Ein weiteres Indiz für die Richtigkeit dieser Annahme ist die oben erwähnte Exklusivität der Tradierung chinesischer Familien-Stile: Chen Changxing konnte einen von Außen gekommenen Stil nur bedingt an Mitglieder der Chen-Sippe weiter geben, gleichzeitig durfte er nicht einfach den Chen-Stil an einen Außenseiter wie Yang Luchan unterrichten.

Damit wird auch eine weitere These der üblichen Theorien über die Entstehung des Yang-Stils erschüttert - nämlich die Behauptung, dass der Unterricht von körperlich degenerierten mandschurischen Adeligen es notwendig gemacht hätte, die Ausübung der Form zu verlangsamen und die explosiven Bewegungen der Chen-Formen heraus zu nehmen. Tatsächlich ist vor allem eine explosive Bewegung aus der von Li Yiyu dokumentierten Form in 55 Figuren in den verschiedenen Variationen der alten sechs Segmente Form und späteren verkürzten Formen verschwunden, nämlich ein Sprungtritt. Derartige Variationen bei einzelnen Techniken sind aber zumindest nicht ungewöhnlich und hängen von persönlichen Interpretationen sowie Konstitution und Alter des Ausübenden ab. Die Frage ist daher, ob in der ursprünglichen Form von Yang Luchan explosive Bewegungen von dem Charakter und in der Häufigkeit, wie sie aus den Formen des Chen-Stils bekannt sind, vorhanden waren.

Letztendlich lässt sich diese Frage nicht eindeutig beantworten, da vorhandene schriftliche Aufzeichnungen nicht detailliert genug sind. Meine persönliche Interpretation ist, dass der Lernprozess so komplex und schwierig ist, dass sich die Grundlagen der inneren Kraft des Yang-Taijiquan zunächst nur mit langsamen Bewegungen legen lassen. Folglich halte ich es für unumgänglich, dass die innere Kraft zunächst mit Hilfe einer langsamen und Form mit gleichmäßiger Geschwindigkeit erlernt wird. Später kann dann die Form schneller und mit explosiven Bewegungen ausgeführt werden. Dass diese schnelleren Variationen in der Yang-Familie in einem fortgeschrittenen Stadium geübt wurden, ist ebenfalls dokumentiert.

Die einzige offensichtliche Anpassung an die Bedingungen des mandschurischen Adels ist die Einführung des "kleinen Rahmens”. Die Schritte wurden in dieser Variante verkleinert, um das Üben in der beengenden Kleidung des Adels zu ermöglichen. Die Annahme, dass die mangelnde physische Belastbarkeit der mandschurischen Kaiserverwandten der Auslöser für eine Verlangsamung und Entschärfung der Form gewesen sei, erscheint auch nur auf den ersten Blick folgerichtig. Taijiquan war in der Hauptstadt Beijing als höchst effektive Kampfkunst bekannt geworden. Yang Luchan und seine Söhne wurden auf Grund ihres Rufes als Kämpfer von den kaiserlichen Verwandten zu Lehrern bestellt. Ein offensichtliches Zurückhalten von Kenntnissen oder eine Entschärfung der Kampfkunst hätte als Verrat interpretiert werden können - zumindest aber hätte es der Yang-Familie den Lebensunterhalt und die soziale Stellung gekostet.

Welches Interesse steht nun ursprünglich hinter dieser Glättung der Entwicklung des Yang-Taijiquan? Dazu ist ein Blick notwendig auf die Periode in der Taijiquan erstmals der größeren chinesischen Öffentlichkeit zugänglich gemacht und die Geschichte, Prinzipien und Techniken in Form von Lehrbüchern erstmals umfassend fixiert wurden. Dies war in der frühen Republikzeit. Die chinesische Republik begann nach dem Sturz der mandschurischen Kaiserhauses im Jahr 1911 und endete mit der kommunistischen Machtübernahme 1949 in Festlandchina. China war seit Mitte des 19. Jahrhunderts von europäischen Kolonialmächten und später auch von Japan militärisch, wirtschaftlich und in gewisser Hinsicht auch kulturell überwältigt worden. Mit dem Zusammenbruch der maroden Mandschurenherrschaft war der Weg offen für die Diskussion neuer Gesellschaftskonzepte. Gleichzeitig herrschte aber eine Orientierungslosigkeit und Enttäuschung über den Westen, der China auch nach Abschüttelung der feudalen Strukturen nicht als gleichwertig anerkannte. Dies führte zu einer nationalistischen Gegenreaktion und zu einer Besinnung auf die chinesischen Stärken.

Leibeserziehung zur Stärkung der Nation war im Westen und Japan ein weit verbreiteter Gedanke und hatte bereits verschiedene Mitglieder der Reformbewegung von 1898 beeindruckt. Der Gedanke

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fasste auch in der Republik China Fuß. Jedoch als Gegenstück zur westlichen Gymnastik besann man sich auf die Vielzahl der einheimischen Kampfkünste. Es wurden mehrere private und staatliche Institute für Kampfkünste gegründet, die diese praktisch durch öffentlichen Unterricht und theoretisch durch Fachbücher verbreiteten. Damit verliesen die chinesischen Kampfkünste erstmals im großen Stil den engen Bereich der Sippentraditionen.

Das Taijiquan der Yang-Familie brachte in diesem Prozess zwei große Vorteile gegenüber anderen Stilen zur Geltung: Erstens verfügte es über die langsame Hauptform, die sukzessive vereinfacht und verkürzt wurde, um den Unterricht von großen Schülerzahlen mit unterschiedlichen körperlichen und geistigen Voraussetzungen zu ermöglichen. Zweitens gehörte es nicht direkt zu den zahllosen Stilen, die sich auf das buddhistische Kloster Shaolin als Ursprung berufen. Seine Konzepte sind daoistisch geprägt, so dass man Taijiquan als rein chinesisch in Hinblick auf das Gedankengut und die Transmission präsentieren konnte - im Gegensatz zu den Shaolin-Stilen, als deren Urvater der aus Indien stammende Mönch Boddhidarma, Gründer des Zen-(Chan-)Buddhismus, angesehen wurde.

Daher hob sich das Taijiquan in den Augen der Öffentlichkeit schnell von der Masse der chinesischen Kampfkünste ab. Durch die Glättung und Ausschmückung der Entstehungsgeschichte mit den Elementen wie Wudang-Stile und Zhang Sanfeng als mythischen Gründer wurde die Position des Taijiquan in der Konkurrenzsituation mit anderen Kampfkünsten gestärkt. Die Vertreter anderer Stile bastelten derweil aus den gleichen Gründen ebenfalls an ihren eigenen Mythen.

In den zwanziger und dreißiger Jahren gab es allerdings bereits Versuche von linksgerichteten Gelehrten wie Tang Hao das Taijiquan mit Hilfe moderner wissenschaftlicher Methoden von seinen mythischen Elementen zu säubern. Sie befanden sich im Widerspruch zu nationalistisch orientierten Vertretern des Taijiquan wie Zheng Manqing, die letztendlich mit ihrer Version erfolgreicher waren, wohl weil diese dem Zeitgeist und dem Bedürfnis der Übenden, Teil einer großen Tradition zu sein, besser entsprach. Dass diese ausgeschmückte Version der Entstehungsgeschichte auch in der westlichen Literatur über das Taijiquan vorherrscht, hängt einerseits damit zusammen, dass in den sechziger und siebziger Jahren die Zheng Manqing-Variante als erste Abart des Taijiquan aus Taiwan in den Westen übertragen wurde. Andererseits lässt sich auch bei uns mit einem blumigen Entstehungsmythos eine unserem Kulturraum völlig fremdartiges Bewegungssystem leichter präsentieren und besser verkaufen.

Nach Gründung der Volksrepublik China wurde Taijiquan zu einem staatlich propagierten Instrument zur Förderung der Volksgesundheit. Selbst während der für die traditionellen Kulturgüter Chinas verheerenden Kulturrevolution (1966-1976) konnte Taijiquan für gesundheitliche Zwecke geübt werden, allerdings begab sich jeder in Gefahr, der den Aspekt der Kampfkunst offensichtlich unterrichtete oder übte.

Die Regierung der Volksrepublik China hat die verschiedensten Kampfkünste zusammengefasst und unterstützt auf nationaler und internationaler Ebene die Verbreitung ausgewählter Stile mit vereinheitlichten Formen als Wettkampfsportarten. Dazu gehört auch das Taijiquan.

Dass hierbei der ursprüngliche individuelle Kampfkunstcharakter verloren geht, wenn es um das Erringen von Punkten nach ästhetischen Kriterien geht, liegt auf der Hand. Auch der meditative Aspekt ist für den Wettkampf unbedeutend. Tatsächlich geht es der Regierung auch weniger darum, die Kampfkünste in ihrer tradierten Form zu erhalten, sondern sie durch die Vereinheitlichung in Form von Sportarten zentralisiert zu kontrollieren. Dies liegt zunächst allgemein in der Natur einer autoritären Regierung, es gibt aber auch einen konkreten historischen Hintergrund, nämlich die Verbindung von diversen Kampfkünsten mit Geheimgesellschaften vor allem während der Ming- (1368-1644) und Qing-Dynyastie (1644-1911). Diese entzogen sich definitionsgemäß staatlicher Kontrolle und waren an zahlreichen Aufständen beteiligt. Der im Westen bekannteste Aufstand war der Boxer-Aufstand (1898-1900), in dem mit Aberglauben und Magie vermischte Kampfkünste eine tragende und tragische Rolle spielten.

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Im heutigen China ist aber Taijiquan in der Öffentlichkeit nicht so sehr als Wettkampf- und Leistungssport bekannt, sondern als therapeutisch orientierter Breitensport. Staatlich propagierte vereinfachte Formen der verschiedenen Taijiquan-Stile werden dort vor allem von älteren Leuten als eine Art Gymnastik mit -Elementen geübt, und auch als Bewegungstherapie von Ärzten verschrieben. Dieses Bild des Taijiquan als Altersgymnastik beherrscht in China die öffentlichen Meinung, so dass Taijiquan häufig dort nicht mehr mit Kampfkunst assoziiert wird. Daneben gibt es aber weiterhin eine relativ kleine Zahl von Übenden die versuchen Taijiquan als vollständige Kampfkunst zu erhalten. Diese agieren auch heute noch teilweise außerhalb des staatlich kontrollierten Bereichs.

Der Ausgangspunkt für die Verbreitung des Taijiquan im Westen waren in den sechziger und siebziger Jahren Hongkong und Taiwan. Während sich die Volksrepublik China zu dieser Zeit noch gegen den Westen abschottete, konnten Lehrer aus diesen Gebieten ungehindert reisen und Taijiquan in westlichen Ländern unterrichten. Während das Niveau dieser Lehrer sehr schwankte, war gleichzeitig die Rezeptionsfähigkeit sehr einseitig. Taijiquan wurde zunächst im Zuge der Hippie-Bewegung als alternative Bewegungsform entdeckt und mit pazifistischem Gedankengut vermischt, das der ursprünglichen Kampfkunst völlig fremd ist. Seit den achtziger Jahren wurde dann Taijiquan im Zuge der Esoterik-Welle als "Meditation in Bewegung" propagiert.

Die Problematik der Rezeption im Westen liegt weniger darin, dass auf Grund eines anderen kulturellen Hintergrunds neue Interpretationen des Taijiquan entstanden sind - als Erweiterung der bestehenden Herangehensweise an diese Kampfkunst sind diese an sich eine Bereicherung. Vielmehr entstehen negative Wirkungen dadurch, dass die Grundlagen völlig ignoriert werden und Taijiquan zu einem Synonym für beliebige langsam ausgeführte Bewegungsabläufe geworden ist. Die strengen Anforderungen einer Kampfkunst, die keineswegs Selbstzweck sind, sondern dem Übenden in allen Aspekten zu einem hohen Niveau verhelfen, werden häufig völlig über Bord geworfen.

Diese Beliebigkeit führt dazu, dass Taijiquan seine positiven Auswirkungen auf Gesundheit und Psyche nicht oder nicht voll entfalten kann. Zum Beispiel führt Ungenauigkeit bei der Haltung dazu, dass Verspannungen nicht gelöst werden können und das Erlangen der grundlegenden Bewegung aus dem Körperzentrum heraus unmöglich wird. Dies wiederum kann zu Überbelastungen von einzelnen Gelenken führen. Darüber hinaus wird es erschwert, zu tieferer geistiger Ruhe zu gelangen, da diese durch die körperliche Entspannung bedingt wird.

Diese Entwicklungen, die in China und in westlichen Ländern auf jeweils eigene Weise zu einer Degeneration der Qualität und des Wertes des Taijiquan geführt haben, sind wahrscheinlich unvermeidlich, sobald sich eine Verbreitung einer komplexen Bewegungskunst an große Massen richtet und dazu inhaltlich verflacht werden muss. Nach wie vor gibt es aber Traditionen, die die ursprüngliche Essenz dieser Kampfkunst aufrecht erhalten. Diese gehen aber in die Tiefe individueller Entwicklungsmöglichkeiten und nicht in die Breite eines Massenmarktes. Dennoch sind viele dieser Traditionslinien heute weitaus offener und zugänglicher für den wirklich Interessierten, und darin besteht meines Erachtens die Hoffnung für die Zukunft des Taijiquan.

Funktionsweise

"Am ganzen Körper Wohlbehagen zu empfinden, das ist der Urvater sämtlicher Methoden".

Dieser Leitsatz aus der Yang-Familie ist das Grundprinzip für alle Aspekte des Taijiquan - Vitalität und Gesundheit, Entspannung und Meditation, Kampfkunst.

Dies scheint ein einleuchtendes und erstrebenswertes Prinzip zu sein, doch wie kann man es in jeder Situation einhalten? Die Frage sieht zunächst recht einfach aus, wenn man nur die langsamen Bewegungen des Taijiquan vor Augen hat. Tatsächlich ist es auch sehr schwer, bei der Ausführung von langsamen Bewegungen eine umfassende Entspannung zu erreichen. Die Problematik dieser

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Frage wird aber erst richtig deutlich, wenn man die ursprüngliche Zielsetzung des Taijiquan herausgreift, nämlich Effektivität im Zweikampf.

Für Effektivität im Kampf ist es unabdingbar, sich explosiv und dynamisch zu bewegen und hohe Schlagkraft zu entwickeln. In den meisten Kampfstilen wird dies durch abwechselnde Spannung und Entspannung der äußeren Skelettmuskulatur erreicht. Eine tiefere Form der Entspannung in der Bewegung, wie sie im Taijiquan angestrebt wird, ist dadurch nicht möglich. Weil die bei dieser Methode angewandten Hebelkräfte zunächst auf den eigenen Bewegungsapparat wirken, können sie zudem bei einer zu hohen Belastung über einen längeren Zeitraum zu Schädigungen der Gelenke führen.

Das Zentrum der Bewegung im Tajiquan liegt im Hüft- und Beckenbereich, insbesondere in der tieferen Bauchmuskulatur. Dort wird bei jeder Richtungsänderung ein Kraftimpuls erzeugt oder in einer fortgeschrittenen Stufe verstärkt, der dann über den korrekt ausgerichteten Gelenkapparat in die Extremitäten und darüber hinaus übertragen wird. Die Skelettmuskulatur wird dabei hauptsächlich passiv bewegt, die Zwischenräume zwischen den einzelnen Wirbeln und zwischen den Gelenkenden erweitern und verengen sich abwechselnd. Diese Art des "Öffnens" und "Schließens" bewegt Gewebe, Muskulatur und sogar innere Organe mit, so dass bei langsamer Bewegung - wie z. B. in der Taijiquan-Form - ein einzigartiger und tief gehender Massageeffekt erreicht wird. Bei schneller und dynamischer Bewegung in den Kampfanwendungen wird eine Art Schockwelle ausgehend vom oder verstärkt durch das Körperzentrum erzeugt.

Die Voraussetzung für diese Art der Bewegung des Körperzentrums ist aber eine völlige Umstellung der Koordination unserer Bewegungen, so wie wir sie von Jugend an gewöhnt sind. Die "plumpe Kraft" wie sie von den Taijiquan Meistern genannt wird, muss durch die "innere Kraft", neijin , ersetzt werden. Dies ist in der Regel ein langer und schwieriger Prozess, in dem der Übende gezwungen ist, sehr tief in sich zu gehen, und die weit ins Unbewusste übergegangenen Bewegungsabläufe von Grund auf umzustellen.

Um diese unbewussten Bewegungsabläufe umzugestalten, ist es notwendig, eine Übungsmethodik anzuwenden, die über den gewöhnlichen Lernprozess beim Erlernen von Bewegungen hinaus geht. Denn die einfachste Weise Bewegungsabläufe zu erlernen, besteht in einem Wechselspiel aus Beobachtung, Nachahmung und Korrektur des Nachgeahmten. Doch kann man den inneren Bewegungsablauf, die Kraftübertragung im Körperinneren als außenstehender Beobachter nicht erfassen, solange man ihn noch nicht beherrscht. Dies ist analog zum Erlernen von ganz grundlegenden Bewegungsfähigkeiten wie Gehen, Schwimmen oder Fahrrad fahren. Jemand, der z. B. Fahrrad fahren lernen möchte, kann aus der Beobachtung anderer Leute beim Fahrradfahren nur eine beschränkte Menge an Informationen heraus ziehen, die ihm beim Erlernen weiter hilft. Das entscheidende Element, in diesem Fall das spezifische Gleichgewichtsgefühl für das Fahren auf zwei Rädern, bleibt dem Auge verborgen. Er kann dieses Gleichgewichtsgefühl nicht einfach nachahmen, er muss es selbst durch wiederholtes Versuchen in sich entwickeln.

Da also dem Taijiquan Schüler einerseits über einfaches Beobachten der Bewegungen des Lehrers die essentiellen Informationen nicht zugänglich sind und er andererseits unbewusst gewordene Koordinationsmuster auflösen und durch neue ersetzen muss, ist auch eine besondere Lern- und Übungsmethode notwendig. Im Zentrum dieser Übungsmethode steht eine Schnittstelle zwischen bewusstem Denken und unbewussten Ressourcen von Geist und Körper. Diese Schnittstelle wird im Chinesischen als yi bezeichnet, das subjektive und intuitive Erfassen der Grundbedeutung einer bestimmten Interaktion von Menschen, Lebewesen oder Gegenständen mit der Umwelt. Diese Interaktionen können ganz einfacher Natur sein, wie das Wegwerfen eines schweren Gewichtes, das Springen eines Fisches, der Widerstand denn das Wasser einem Körper entgegensetzt. Wichtig ist dabei der unmittelbare subjektive Eindruck, der dem Beobachter durch diese Interaktion vermittelt wird und der auch bei entsprechender Intensität der Vorstellung dieser Interaktion körperliche Reaktionen auslöst. Wie bereits erwähnt, kann eine umfassende Muskelentspannung in der Bewegung erreicht werden, wenn man sich vorstellt, dass man sich mit dem ganzen Körper im Wasser befindet und bei jeder Bewegung den Widerstand des Wassers fühlt

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und es mit bewegt. Wenn diese Vorstellung zu einem realen körperlichen Empfinden wird, kommt es zu der angestrebten Entspannung.

In einem fortgeschritteneren Stadium wird yi so eingesetzt, dass mehrere Vorstellungen miteinander kombiniert werden. Beispielsweise kann das oben erwähnte Empfinden, sich im Wasser zu bewegen, mit der Vorstellung, dass der Körper von einer Energiekugel umgeben ist, dessen Zentrum im Körper auf Höhe des Bauchnabels ist. Die Energiekugel wird aus diesem Zentrum heraus verlagert, rotiert, vergrößert oder kontrahiert. Eine Voraussetzung dafür, dass die Energiekugel nicht einfach nur als Visualisierung existiert, sondern wirklich um den ganzen Körper herum zu spüren ist, ist wiederum das reale Empfinden des Widerstands von Wasser bei sämtlichen Bewegungen und am ganzen Körper.

Diese spezielle Methodik führt zu einer tiefen Entspannung der Rumpf- und Extremitätenmuskulatur. Allmählich bekommt der Übende dann auch das Gefühl für die innere Energie neiqi . Dies äußert sich in einem Gefühl von energetischer Geladenheit am und im ganzen Körper. Dazu kommen typische Phänomene wie Kribbeln und Wärmegefühl in Händen und Füßen. Dieses Gefühl der energetischen Geladenheit wird dann in jede Bewegung integriert, so dass schließlich eine Bewegungsart zustande kommt, die den Dreh- und Angelpunkt der Gesundheitsmethode des Taijiquan darstellt. Diese wird kurz zusammengefasst als: "Mit Hilfe des yi das (gemeint ist neiqi) in Bewegung versetzen und mit Hilfe des qi den Körper bewegen."

Das Gefühl für neiqi bzw. die energetische Geladenheit ist also das Anzeichen dafür, dass eine tief gehende Entspannung erreicht ist. Deswegen wird dies von seiner Funktion her auch als "Signalflagge" bezeichnet. Darauf aufbauend kann dann die innere Kraft neijin sich entwickeln, die nur durch einen entspannten und integrierten Körper fließen kann.

Die grundlegenden Unterschiede zwischen Taijiquan und der Mehrzahl westlicher Bewegungsformen und Sportarten lassen sich folgendermaßen zusammenfassen:

1. Die Bewegung wird im Taijiquan als Ausdruck eines subjektiv erfahrbaren energetischen Prozesses gesehen, in dem die auf Entspannung und integrierter Haltung beruhende innere Energie das Bindeglied zwischen bewusster Steuerung und körperlicher Ausführung der Bewegung darstellt. Vereinfacht dargestellt wird in westlichen Sportarten die Bewegung als objektiv nachvollziehbarer mechanischer Prozess gesehen, in dem bewusste und unbewusste geistige Ressourcen die Bewegung durch abwechselnde Muskelkontraktionen in den entsprechenden Körperteilen direkt steuern.

2. Sämtliche Bewegung im Taijiquan (Schritte und Gewichtsverlagerung, Angriffs- und Verteidigungsbewegungen der Gliedmaßen) werden aus der Körpermitte, genauer gesagt aus dem Bereich im Körperinneren zwischen Bauchnabel und Damm, gesteuert. Die Kraft wird durch den ansonsten entspannten Körper geleitet. Dadurch entsteht einerseits eine Art innere Massage, andererseits eine federnde oder peitschende Schlagkraft. In westlichen Sportarten ist sehr häufig das zu bewegende Körperteil der Ansatzpunkt für das Erlernen und Ausführen einer Bewegung. Die Muskulatur im Becken-/ Hüftbereich wird erst in zweiter Linie unterstützend eingesetzt (Ausnahmen von dieser Regel sind Sportarten, die auf einer sehr starken Hüftdrehung beruhen wie z.B. Golf oder Kugelstoßen). Dadurch herrscht muskuläre Spannung in allen bewegten Körperteilen.

Strategie und Taktik

Die Kampfkunst Taijiquan ist eine Kunst der Anpassung an die Absicht des Gegners und der Manipulation seiner Handlungen. Der Anwender strebt danach, die Angriffsrichtung und -kraft des Gegners zu dessen eigenem Nachteil auszunutzen. Hat der Anwender die gegnerische Angriffsabsicht erkannt, dann positioniert er sich so, dass er dem gegnerischen Angriff eng am Mann entgeht. Einerseits kann er dadurch

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die gegnerische Kraft so manipulieren, dass dieser aus dem Gleichgewicht oder zumindest in eine ungünstige Position gerät, andererseits kann er gleichzeitig mit der Ausweichbewegung oder unmittelbar danach einen Gegenangriff führen, der den Gegner in die Defensive drängt.

Dabei ist es ein strategisches Grundprinzip, dass der Anwender des Taijiquan sich in ergänzender Weise zu seinem Gegner verhält. Greift der Gegner auf der direkten Linie an, erfolgen Abwehr und Gegenangriff auf der indirekten Linie (um den Angriff herum) - greift er auf der indirekten Linie an, erfolgen Gegenangriff und Kontrolle auf der direkten Linie (in die Lücke des Angriffs hinein). An dem Ort und zu dem Zeitpunkt, an dem der Gegner die Kraft seines Angriffs entfaltet, ist eine Leere entstanden - an dem Ort und zu dem Zeitpunkt, an dem der Gegenangriff seine Wucht entfaltet, ist eine Leere in der Deckung des Gegners vorhanden.

Die Aktionen im Taijiquan gestalten sich also komplementär zum Input (Angriffskraft, -struktur und - absicht) des Angreifers. Die Kraft und die Intentionen des Angreifers werden nicht geblockt oder unterbrochen, sondern weiter- und umgeleitet. Es entsteht ein Zusammenspiel der Kräfte, eine Harmonie im Konflikt. In dieser Hinsicht ähnelt Taijiquan dem japanischen Aikido. Allerdings gibt es nicht wie im Aikido eine Beschränkung der Mittel, um zu vermeiden, dem Gegner ernsthaft zu schaden. Im Taijiquan wird stets dasjenige Mittel eingesetzt, das in der jeweiligen Situation unmittelbar die beste Erfolgsaussicht hat, die eigene Unversehrtheit zu bewahren.

Auf der taktischen Ebene werden die gegnerischen Angriffsmöglichkeiten sehr schlicht und generisch kategorisiert, so dass die grundlegende Auswahl der entsprechenden eigenen Positionierung und der passenden Gegenmaßnahme möglichst einfach und direkt erfolgen kann. Das Üben einzelner Reaktionen auf verschiedene Angriffe dient nicht primär dazu sich einzelne Techniken anzueignen. Vielmehr ist das hauptsächliche Ziel, die für die Abwehr einer bestimmten Angriffsart (verschiedene Handangriffe, Tritte, Clinch- und Nahdistanzangriffe etc.) notwendigen Winkel, Distanzen und die verschiedenen Arten des Timings zu erlernen, um schließlich den gegnerischen Input optimal ausnützen zu können.

Grundlegend für die erfolgreiche Anwendung der Kampfkunst Taijiquan sind vor allem zwei Dinge:

1. Die Bewegung im Taijiquan wird erst durch die innere Kraft neijin zum Leben erweckt und damit im Kampf effektiv. Da die Voraussetzung für die Manifestation von neijin eine völlige Übereinstimmung mit den Bewegungsprinzipien des Taijiquan ist, können alle Bewegungen, die mit der inneren Kraft "geladen" sind, zu effektiven Kampfbewegungen werden. Umgekehrt führt der Versuch Techniken aus der Form ohne neijin in Kampfsituationen zu übertragen, zu schematischen, "toten" Bewegungen. Diesen mangelt es an Durchschlagskraft, Flexibilität, Geschwindigkeit und Timing. Diese Sprung von der gewöhnlichen, "plumpen Kraft" zur inneren Kraft zu vollziehen, ist die wesentliche Lektion des Teils des Lernprozesses , der die Entwicklung der persönlichen physischen und psychischen Ressourcen in den Vordergrund stellt (zhijizhigong).

2. Die hauptsächliche Lektion aus der Arbeit mit dem Partner (zhibizhigong) ist die Manipulation der gegnerischen Kraft und der dahinter stehenden (aggressiven) Absicht des Gegners - dies unter ständigen Einsatz der inneren Kraft. Dabei ist in der Praxis der Punkt des Kontakts von besonderer Bedeutung. In der Übung des toushou/push hands wird dies besonders deutlich. Der Kontakt geschieht hier hauptsächlich über das Handgelenk bzw. die Handwurzel und den Unterarm bzw. den Ellbogen. Tatsächlich kann aber die Kraft des Gegners an jeder beliebigen Körperstelle manipuliert und die eigene innere Kraft darüber zur Wirkung gebracht werden. Entscheidend ist hierbei, die Kraft des Gegners am Kontaktpunkt einerseits an sich vorbei fließen zu lassen, damit sie einen selbst nicht beeinflussen kann, anderseits eng an ihr haften zu bleiben, um sie so weiter führen zu können, dass der Gegner das Gleichgewicht verliert.

Begriffe

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Im Taijiquan ist das Verständnis und Beherrschen der konzeptionellen Fundamente und Zusammenhänge entscheidend. Jede Ausführung von Einzelbewegungen und jede Interpretation der verschiedenen Begriffe des Taijiquan basieren hierauf und bleiben andernfalls nur isoliertes Stückwerk. Beispielsweise stellen die häufig diskutieren "acht Kräfte" (oder Energien)(siehe Anhang) lediglich verschiedene Ausdrucksformen der gleichen inneren Kraft neijin dar. Das Verständnis von den acht Kräften (tatsächlich gibt es noch zahlreiche weitere Unterscheidungen) als unabhängige technische und konzeptionelle Einheiten verfehlt den ursprünglichen Sinn. Noch schlimmer wirkt es sich aus, wenn die acht Kräfte als einzelne Bewegungen oder Positionen aus der Form aufgefasst werden. Dies führt unvermeidlich zu einem "toten" Taijiquan.

Bewusst vorsichtig sollte man auch mit Begriffen wie "weich" und "nachgeben" umgehen. Diese Begriffe werden häufig in der westlichen Taijiquan-Literatur verwendet und sollen zumeist die Nähe der Konzeption des Taijiquan zu daoistischem Gedankengut darstellen. Über die Oberflächlichkeit dieser Assoziation mag man geteilter Meinung sein - in jedem Fall trägt die undifferenzierte Verwendung dieser und anderer Begriffe zu einem verzerrten Verständnis von Taijiquan als Kampfkunst und Gesundheitsmethode bei. Denn solche wörtlich übersetzten Begriffe transportieren in unserer Kultur teilweise andere Assoziationen als in China.

So ist der Begriff "nachgeben" nicht in dem Sinn von "zurückweichen" oder "sich zurückziehen" zu verstehen, wie es dem westlichen Denken nahe liegt. Denn dies würde bedeuten dem Gegner die Initiative zu geben, ja sich ihm früher oder später direkt auszuliefern. Tatsächlich lautet ein berühmter Satz von Yang Chengfu, der in den 20er Jahren des vergangenen Jahrhunderts erstmals Taijiquan einer breiteren Öffentlichkeit vermittelte: "Nicht einen Zoll darf man zurückweichen". Letztendlich bedeutet "nachgeben" im Kontext des Taijiquan, wie bei Strategie und Taktik geschildert, sich nicht der Kraft des Gegners entgegen zu stellen, sondern sie an sich vorbei zu führen, so dass sie abgeleitet wird und der Gegner gleichzeitig kontrolliert wird.

Die Betonung darauf "weich" zu sein, führt leicht zu einem bewussten oder unbewussten Streben nach Kraftlosigkeit und Laschheit. Die Bewegungen im Taijiquan sind nicht weich und kraftlos, sie sind geschmeidig und entspannt. Verstärkt werden derartige Fehlinterpretation durch den Umstand, dass Taijiquan von den meisten Übenden nicht mehr als Kampfkunst betrieben wird. Daher fehlen Kampfübungen mit einem unkooperativen Partner, die zu Effizienz und Dynamik und zu einem vertieften Verständnis für Entspannung in der Bewegung führen. Um so leichter ist es dann, ohne dieses Korrektiv in Missverständnisse zu verfallen.

Dieser Fehler führt - oft gepaart mit einem fehlenden Verständnis der Integration der körperlichen Strukturen - leicht zu Fehlhaltungen, die die Gelenke unnötig belasten. Dadurch werden die gesundheitlichen Effekte des Taijiquan reduziert oder gar vollständig konterkariert. So ist es eine Tatsache, die gerne von Taijiquan-Lehrern aus Image- bzw. kommerziellen Gründen unter den Teppich gekehrt wird, dass zahlreiche Taijiquan-Übende Schäden an den Kniegelenken erleiden. Denn das unbedingte Streben nach "Weichheit", ohne dass die unabdingbare Voraussetzung für eine umfassende Entspannung vorhanden ist, nämlich die grundlegende Bewegung aus dem Hüft- und Beckenbereich heraus, führt leicht zu einer Fehlbelastung des Unterkörpers und dabei besonders der Knie.

Auch wenn das Interesse eines Übenden sich auf die gesundheitlichen Vorteile und Entspannung beschränkt, ist es dennoch notwendig, dass er geleitet von einem Verständnis für die Anforderungen der Kampfkunst mit Hilfe von Übungen zur Integration der Körperhaltung und Freisetzung des Energieflusses sich eine gelenkschonende Haltung und tiefe Entspannung aneignet.

Kampfkunst

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Die Ansammlung und das Pulsieren der inneren Energie neiqi ist nicht nur für gesundheitliche Wirkungen entscheidend, sondern bildet auch die Grundlage für die innere Kraft neijin, genau wie es in einem klassischen Taijiquan Text, der Wu Yuxiang zugeschrieben wird, heißt: "Das Qi ist die (Signal-)Flagge", die anzeigt, dass die richtige Körperhaltung und das energetische Zentrum gefunden sind und die damit den Weg zur inneren Kraft weist. Entscheidend hierbei ist, dass die Energie vom Körperzentrum ausgehend bis in die Finger- und Zehenspitzen ausbreitet und nicht nur in einzelnen Körperteilen gespürt wird. Dies deutet nämlich darauf hin, dass die Muskulatur soweit entspannt und die Gelenke soweit "geöffnet" sind, dass die innere Kraft auf ihrem Übertragungsweg auf keine Blockaden mehr trifft, sondern sich ähnlich wie eine Welle im offenen Meer immer weiter bewegen kann.

Die innere Kraft tritt in den Partnerübungen und Kampfanwendungen in verschiedenen Ausdrucksformen auf - als Schlagkraft, manipulative Abwehrkraft, Antrieb für die Körperbewegungen und Schrittarbeit etc. Sie hervorzubringen und in allen möglichen Lagen zu beherrschen, stellt den Beleg dar, dass die körperliche und geistige Integration grundlegend gelungen und nicht bloß ein Wunschgedanke ist. Die innere Kraft und die Effektivität in der Kampfkunst sind die Manifestation des inneren und äußeren Wandels, der durch den meditativen Aspekt hervorgebracht wird. Da die innere Kraft die Arbeit mit der inneren Energie zur Voraussetzung hat, ist sie gleichzeitig eine Vertiefung des gesundheitlichen Aspekts.

Die eigentliche Bedeutung des Kampfkunstaspekts liegt meiner Meinung nach auch nur sekundär in der Selbstverteidigung. Denn dafür ist die Methodik des Taijiquan im Vergleich zu anderen Kampfkünsten einfach zu zeitaufwendig - wenn sie auch sehr effektiv ist. Sie liegt darin, dass das vollständige Verständnis und die Beherrschung eines einmaligen Systems zur Integration von Körper und Geist vollständig erhalten bleiben und von Generation zu Generation weiter gegeben werden können.

Es besteht also im Taijiquan eine fundamentale Übereinstimmung zwischen Kampfkunst, Gesundheitsmethode und Meditation. Taijiquan als Kampfkunst verlangt eine hohe Übungsintensität und zwingt einen schlicht den meditativen und gesundheitlichen Aspekt vollständig zu verstehen und zu verinnerlichen, da einem sonst die Grundlage für Effektivität im Kampf, nämlich die innere Kraft, verschlossen bleibt. Dadurch wird ein Missverständnis oder Verflachen der anderen beiden Aspekte verhindert.

Denn durch die in den letzten Jahrzehnten weit verbreitete Betonung allein der gesundheitlichen Wirkungen besteht diese Gefahr akut. Taijiquan droht zu einer langsamen Gymnastik mit geringer Intensität und ohne tiefere psychische und physiologische Wirkung zu werden.

Energiearbeit

Taijiquan beginnt und endet mit dem , der Arbeit mit der inneren Energie. Erst wenn die innere Energie, neiqi, spürbar den ganzen Körper erfüllt, zeigt sich die vitalisierende Wirkung des Taijiquan in vollem Umfang. Dadurch erst wird auch der Durchbruch der inneren Kraft, neijin, als "Treibstoff" für Kampfanwendungen möglich. Daher stellt neigong den essentiellen Bestandteil im gesamten Lernprozess dar.

Die Erfahrung der inneren Energie am und im ganzen Körper ist ein Zeichen der Entspannung des Bewegungsapparates. Konkret bedeutet dies, dass - von dem Ober- und Unterkörper verbindenden Becken- und Hüftbereich ausgehend - sowohl in der Bewegung als auch in der Ruhe die richtige Haltung vorhanden ist; dass die Muskulatur von Oberkörper, Schultern, Armen und Beinen entspannt und wie große Federn bewegbar ist; dass die Gelenke und das Rückgrat durch diese Entspannung in der Lage sind, sich durch Impulse aus dem Körperzentrum heraus passiv zu öffnen und zu schließen.

Am wirkungsvollsten wird die innere Energie aufgebaut und angesammelt durch das meditative Stehen, zhanzhuang. Alle weiter führenden Übungen wie Form und Partnerübungen (push hands oder

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Kampfanwendungen) bauen darauf auf. Im Gegensatz zu vielen modernen Qigong-Formen wird dabei vermieden, sich die Ansammlung und den Fluss von Energie im Körper vorzustellen oder den Atem bewusst zu beeinflussen. Diese Methoden werden in ursprünglichen daoistischen Meditationssystem als oberflächlich und partiell angesehen; sie manipulieren den natürlichen Prozess der Ansammlung von innerer Energie und deren Fluss im Körper. Und dies kann sich bei falscher Atmung und Unterdrückung oder Manipulation emotionaler Energien sogar schädlich auswirken.

Ausgangspunkt für das meditative Stehen ist die korrekte Haltung: Als würde man auf einem hohen Schemel sitzen, wird das Becken senkrecht gestellt, die Leisten geöffnet und die innere Bauchmuskulatur und Beckenbodenmuskulatur im Laufe der Zeit aktiviert. Durch diese Haltung werden Ober- und Unterkörper über das Zentrum zu einer Einheit verbunden. Der Oberkörper wird durch die korrekte Beckenstellung aufgerichtet und "sitzt" entspannt auf Hüfte und Becken. Das Gewicht des Körpers wird nicht durch Spannung in Beinen und Leisten, die sich in Rücken und Nacken fortpflanzt, gehalten, sondern direkt über den Gelenk- und Knochenapparat in den Boden geleitet.

Bei regelmäßigem Üben werden schon bald Phänomene der inneren Energie spürbar, die mit dem Abbau der (Ver-)Spannung in den Muskeln einhergehen. Später verbindet sich dann ein hohes Maß an Entspannung mit einem Gefühl der Fülle im ganzen Körper und um den Körper herum. Konzentrationen und Flüsse von Energie werden spürbar. Schließlich wirkt sich die fortschreitende, immer mühelosere, körperliche Entspannung auch auf den Geist aus. Das Umherrasen der Gedanken verliert sich immer mehr im Hintergrund und das Bewusstsein beginnt, in sich selbst zu ruhen. Diese Ruhe wiederum verstärkt den Energiefluss, so dass ein positiver Kreislauf seinen Anfang nimmt.

Vitalität

Die positiven Auswirkungen auf Vitalität und allgemeinen Gesundheitszustand durch das Taijiquan basieren auf Entspannung, der Bewegung aus der Körpermitte heraus und der Entwicklung der inneren Energie. Die verschiedensten gesundheitlichen Effekte von Taijiquan und Qigong sind vor allem in China umfassend untersucht und dokumentiert worden. Ich möchte hier nur auf einige persönliche Erfahrungen eingehen.

Die Entspannung der Muskulatur von Rumpf und Extremitäten in der Bewegung - sozusagen ein "passives" Bewegen des Körpers jenseits der Hüfte und des Beckengürtels - führt nicht nur zu einem tiefen Massageeffekt bei Muskeln und Sehnen, sondern bewirkt auch das so genannte "Öffnen" und "Schließen" der Zwischenräume in den Gelenken einschließlich des Rückrats. Schließlich wird auch der Rumpf immer mehr von diesem Wechsel aus expandierenden und kontrahierenden Bewegungen erfasst, so dass auch die inneren Organe "massiert" werden. Nach einem kompletten Durchlauf der Form (die älteren Versionen der Yang-Form benötigen ca. 45 Minuten Übungszeit) fühle ich mich am ganzen Körper "durchgewalkt" und entspannt, vitalisiert und energiegeladen.

Eine weitere Wirkung ist die Stärkung des Immunsystems. Seit meiner Jugend hatte ich unter fast chronischem Erkältungen während des ganzen Jahres zu leiden. Dieses lästige Übel besserte sich umgehend, nachdem ich mit dem meditativen Stehen im Taijiquan angefangen hatte. Die Häufigkeit von Erkältungen hat sich normalisiert und die Genesung erfolgt deutlich schneller als früher. Diese Stärkung der Abwehrkräfte geht einher mit einer deutlichen Stärkung der Vitalität, so dass ich mich auch weitaus leistungsfähiger fühle.

Schließlich kehrt durch das regelmäßige Üben von Taijiquan ein grundlegendes Maß an Ruhe und Gelassenheit ein und die Belastbarkeit wächst. Stresssituationen kann ich als vorübergehendes Phänomen empfinden, die ich nach Ende des Stressauslösers bald hinter mir lassen kann. Folglich wirkt der Stress nicht mehr lange nach, so dass ich mich selbst und andere damit nicht mehr als unbedingt nötig belasten muss.

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Die positiven Auswirkungen auf Wohlbefinden und Gesundheit sind derjenige Aspekt des Taijiquan, der in den Augen der Öffentlichkeit - im Westen wie in China - heute die stärkste Beachtung findet. Tatsächlich zeigt sich nach relativer kurzer Zeit des Übens eine Besserung bei Beschwerden wie Rücken- und Gelenkschmerzen sowie Verspannungen aller Art. Die tiefer gehenden Veränderungen in Haltung, der körperlichen und psychischen Zentriertheit und der grundlegenden Stärkung der Vitalität ergeben sich dann im Laufe der Zeit durch intensives Üben. Die primären Impulse hierfür gehen wiederum vom meditativen Stehen, zhanzhuang, aus.

Quelle: http://taiji-quan.com/index.html Stefan Gätzner Klimstr. 2d 90455 Nürnberg Tel.: 0911 8189817 Fax: 0911 8199819 E-Mail: [email protected]

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(Ein) Lied über Verständnis und Anwendung Anonym

Das Tai – Chi – Chuan, seine dreizehn Haltungen [Stellungen],

Es gibt zwei Arten des Chi´s, unterschieden als Yin und Yang, dies ist geheimnisvoll.

Weil es acht grundlegende Bewegungen und fünf Schritte in seiner Strategie zu kämpfen umfaßt, wird das Tai – Chi – Chuan auch als die dreizehn Haltungen bezeichnet. Andere Namen für Tai – Chi – Chuan sind: „die weiche Abfolge“ (Mian Chuan) und „die lange Abfolge“ (Chang Chuan). Diese außerordentlichen Übungen sind ein umfassendes Training und beinhalten Strategien, zu kämpfen. Seine Grundlagen bestehen aus zwei Arten des Chi´s, nämlich Yin und Yang.

Vom Yin und Yang ursprünglich abgeleitet und hervorgebracht werden die unzähligen Techniken; doch sie alle gehören zum „Einen“ ( dem Ur-Prinzip). Alles gehört zu Einem. Tai – Chi – Chuan besteht aus zwei Polen, beinhaltet vier Phasen und es ist unbegrenzt. [infinite = ohne Grenzen, unbegrenzt, unendlich).

Von Yin und Yang ( den immateriellen und materiellen) Strategien in den Kampfkünsten, wird das Prinzip der Aufhebung [Neutralisation] hervorgehoben. {Anmerkung des Übersetzers: Gemeint ist auf Hartes, Durchdringendes mit Weichem, Annehmenden und auf Weiches mit Härte zu antworten.} Aus diesem Prinzip des Aufhebens werden all die unzähligen Techniken geschaffen.

Aus den zwei Polen des Tai – Chi´s - Yin und Yang – werden vier Phasen hervorgebracht; diese vier Phasen bringen wiederum acht Trigramme (ba gua oder pa-kua = die acht ursprünglichen oder Basis- Zeichen des Wandlungsbuches I-Ging) hervor, die acht Trigramme erzeugen vierundsechzig Hexagramme, und die Hexagramme bringen wiederum alles andere hervor. Die vier Phasen sind das äußerste [vollständige] Yin und das äußerste [vollständige] Yang, das unvollständige Yin und das unvollständige Yang.

Die Chinesen übersetzen diese Stelle mit „ohne Grenzen“, wörtlich „verschwommen und fei von Kanten“. Das beinhaltet das Gefühl auf einem nebligen Fluß zu sein, wo alle Dinge ununterscheidbar sind und die Ufer nicht sichtbar sind. Das Konzept des Grenzenlosen ist mehr ein Konzept der Formlosigkeit und des Ewigen, der unerschöpflichen Möglichkeiten, als ein Konzept reiner räumlicher Weite, des physikalischen Universums oder der endlosen Wiederholungen, mit der mathematischen Unendlichkeit.

“Folgt Ihr dem Wind, wie kann Euer Kopf dann herabhängen?“ Der Meister hat einen Leitsatz. Er möchte ihn heute den Menschen mitteilen, die ihn zu verstehen vermögen. “Wenn die Sprudelnde Quelle (Yong Quan, Niere 1) keine Wurzeln hat, dann hat die Hüfte keinen Herrn“, Ihr könnt dann noch so sehr versuchen unermüdlich zu lernen bis ihr sterbt, aber ihr werdet keinen Erfolg haben.

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“Wenn ihr schwankt und euch im Raum bewegt wie ein Drache im Wind, könnt ihr nicht das Gefühl kultivieren, als ob ihr von oben aufgehängt [wörtlich: suspended = herabgehängt] seid.“ {Anmerkung des Übersetzers: Gemeint ist die Verbindung des Punktes Hundert Zusammenkünfte, Bai Hui, Du Mai 20, mit dem Himmel} Ihr müßt den Körper gerade und aufrecht halten, wobei eine immaterielle Energie den Kopf anhebt und Euch das Gefühl vermittelt „oben“ aufgehängt zu sein. Zur selben Zeit muß Euer Chi herabsinken bis in die Fußsohlen zur Sprudelnden Quelle. Eine gute Verwurzlung zu haben ist absolut notwendig, um die Kraft bis in die Hände oder zu irgendeinem anderen Teil Eures Körpers zu bekommen; die gilt für alle Techniken. Eine gute Wurzel ist ebenso erforderlich für den effektiven Einsatz Eurer Hüfte. Wenn Ihr keine Verwurzlung und keine Kontrolle in Eueren Hüfte habt, sind alle eure Übungen vergeblich und eure Techniken ineffektiv. Stabile Verwurzlung heißt, daß Ihr Eure Mitte findet, Euch Euer Gleichgewicht erhaltet und Eure Grund(ein-)stellung korrekt ist. Jedes dieser Elemente muß geübt werden bis sie zur Gewohnheit geworden sind, damit Ihr die Wurzeln unter allen gegebenen Umständen findet. Der häufigste, einzelne Fehler, der von Kampfkünstlern und von Menschen im Allgemeinen gemacht wird, ist der Verlust der Wurzeln, sowie das Anheben der Mitte unter belastenden äußeren Umständen.

“Wenn Verständnis und Anwendung sich wechselseitig unterstützen, - gibt es noch irgendeinen anderen Trick? Nein! denn das wunderbare Chi kann Deine Hände erreichen.

Ein Übender in den Kampfkünsten muß zuerst die Prinzipien und Techniken erlernen und erst dann sollte er darüber nachdenken und die tiefere Bedeutung der Theorie begreifen. Erst danach wird er fähig sein, Theorie und Techniken vollständig anwenden. Nachdem er ausreichende Erfahrung in der Anwendung erlangt hat, sollte er zur Theorie zurückkehren und erneut darüber nachdenken und anschließend [die Erkenntnisse] auf die Techniken anwenden und so weiter und so fort. Verständnis und Anwendung unterstützen sich wechselseitig und werden einem helfen, ein Kampf–Künstler auf hohem Niveau zu werden. Wenn Du diesen Weg praktizierst, kann Dein Chi Deine Hände erreichen. Das wird nicht nur vorteilhaft für Deine Gesundheit sein, sondern auch nützlich in einer Auseinandersetzung.

Peng (abwehren), Lu (zurückweichen), Ji (drücken), An (schieben), Cai (ziehen), Lie (teilen), Zhou (drängen), Kao (stoßen), Jin (vorwärts), Tui (rückwärts), Gu (links), Pan (rechts), Ding (zentrieren). Wehre nicht [absichtlich], wehre ohne-Absicht ab; gebe nicht [absichtlich], gebe Absichts-frei nach.

Für alle dreizehn Haltungen gilt, daß Du dem Gesetz der natürlichen Antwort folgen solltest. Das Nachgeben [Annehmen] und das Abwehren [Neutralisieren] sollten keine großen, bewußten Bewegungen sein. Sie sollten natürlich und frei vom bewussten Wollen erfolgen. Versuche nicht nachzugeben. Stehe einfach ruhig und in eurer Mitte und laß die Dinge natürlich geschehen. Klebe einfach an Deinem Partner, folge ihm und wehre natürlich ab.

“Wünschst Du, mit dem Fuß vorwärts zu gehen, dann mußt Du mit dem hinteren Fuß loslaufen. Dein Körper ist wie eine sich bewegende Wolke. Wenn Du mit den Händen schlägst, warum die Hände benutzen? Dein ganzer Körper sind die Hände, doch Deine Hände sind nicht „Deine“ Hände.

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Jedoch solltest Du immer achtsam sein, um das zu schützen, was die ganze Zeit über geschützt sein sollte.“

Willst Du Dich bewegen, dann laufe mit dem hinteren Fuß los. Bewege Dich wie eine Wolke. Wenn Du schlägst, benutzt nicht die Kraft Deiner Arme. An Stelle dessen benutze die Kraft des gesamten Körpers, hervorgebracht von Deinen Beinen und kontrolliert von Deiner Hüfte. Es ist nicht einmal erforderlich, daß Du überhaupt Deine Hände einsetzt. An Stelle dessen Kannst Du jeden Teil des Körpers verwenden, der im Kontakt mit Deinem Partner steht. Jedoch, immer wenn Du handelst, dann erinnere Dich und frage Dich: „Was ist notwendig, um mich selbst zu schützen?“

übersetzt von Jörg aus

Quelle ” Secrets of the Ancient Masters” selected Readings with Commentary by Dr. Yang, Jwing-Ming ISBN 1-88696-971-X

14 Texte auf ca. 100 Seiten A Motivational Pocket Guide for Tai Chi Chuan

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