Von Hodann zu Amendt: Vorstellungen von sexueller „Liberalisierung“, kindlicher Sexualität und Geschlechterverhältnissen in der Sexualerziehung um 1900 und um 1968

Dieser Beitrag untersucht Kontinuitäten und Brüche in den Vorstellungen von Geschlechterverhältnissen und kindlicher Sexualität sowie in den gesellschaftlichen Haltungen zu Sexualmoral und Sexualverhalten von Jugendlichen am Beispiel der Diskurse über Sexualität und Sexualaufklärung von Jugendlichen um 1900 und um 1968. Dabei geht es mir insbesondere darum, den Begriff der „sexuellen Liberalisierung“ einer Kritik zu unterziehen, die zeigen soll, dass er, wenn überhaupt, nur einen äußerst begrenzten Erklärungswert besitzt und mehr verschleiert als zur Analyse beiträgt. Ich werde mich zunächst mit dem im Verständnis der Zeitgenossen „progressiven“ Aufklärungsdiskurs um 1900 (hier verstanden im weiteren Sinne als die Periode von der Jahrhundertwende bis 1933) beschäftigen und dann den Blick auf die späten 1960er und die 1970er Jahre lenken, die oft unter dem Schlagwort der „sexuellen Revolution“ verhandelt werden. Auch wenn ich Behauptungen historischer Kontinuitäten skeptisch gegenüber stehe – die sozialen und kulturellen Verhältnisse sind meist zu unterschiedlich –, gibt es Themenfelder und Fragen, die Jugendliche und Sexualaufklärer in beiden Zeitabschnitten bewegt haben. Zudem griffen die sogenannten Achtundsechziger auf Texte aus den späten 1920er und frühen 1930er Jahren zurück, insbesondere von Wilhelm Reich und Siegfried Bernfeld, die sie für ihre ideologischen Diskurse relevant hielten.

Der „progressive“ Aufklärungsdiskurs der Jahre um 1900

Siegfried Bernfeld (1892–1953) war bereits während seines Studiums über die Grenzen Wiens hinaus bekannt geworden als „der führende Repräsentant und intellektuelle Kopf“ der Jugendkulturbewegung.1 Peter Dudek sieht in der Jugendkulturbewegung den

1 Peter Dudek: „Er war halt genialer als die anderen“. Biografische Annäherungen an Siegfried Bernfeld, Gießen 2012, S. 51; vgl. Ulrich Herrmann: Die Jugendkulturbewegung. Der Kampf um die höhere Schule, in: Thomas Koebner, Rolf-Peter Janz, Frank Trommler (Hg.): „Mit uns zieht die neue Zeit“. Der Mythos Jugend, Frankfurt a. M. 1985, S. 224–244; Fritz Jungmann [d. i. Franz Borkenau]: Autorität und Sexualmoral in der freien bürgerlichen Jugendbewegung, in: Max wohl „entschiedenste[n] Ausdruck für die Versuche, im Kaiserreich und in der österreichisch-ungarischen Monarchie eine Gegenöffentlichkeit zu Elternhaus, Schule und Universität herzustellen“.2 Man kann die Jugendkulturbewegung als einen ersten Versuch von Jugendlichen beiderlei Geschlechts sehen, sich gegen die geltenden sexualmoralischen Normen des ausgehenden Kaiserreichs aufzulehnen. Sie war, in den Worten Ulrich Herrmanns, eine „wirkliche Emanzipationsbewegung“ gegen die Kontrolle und Überwachung durch Elternhaus und Schule und für „die Förderung und Intensivierung jugendlicher Intellektualität“ und, so Philip Lee Utley, „the twentieth century’s first left-wing political youth movement“.3

Trotz einer begrenzten Anhängerschaft von ca. 3.000 Personen gelang es der Jugendkulturbewegung, ihre kontroversen Themen in eine breitere Öffentlichkeit zu tragen. John Williams spricht von einer „moral panic“, die ihre Forderungen nach Unabhängigkeit sowie ihre Proteste gegen autoritäre Strukturen des Bildungssystems und gegen die strikten sexualmoralischen Normen 1913/14 auslösten.4 Ihr wesentliches Medium dazu war die von Bernfeld und Georges Barbizon (d. i. Georg Gretor, 1892–1943) redigierte Zeitschrift Der Anfang, die, da beide rechtlich noch minderjährig waren, als verantwortlichen Herausgeber den Spiritus Rector der Jugendkulturbewegung, Gustav Wyneken (1875–1964), angab. Rasch wurden die zwischen Mai 1913 und Juli 1914 in Franz Pfemferts (1879–1954) linkem Verlag „Die Aktion“ erschienenen grünen Hefte des Anfang zum reichsweit beachteten „Forum jugendlicher Gegenöffentlichkeit“, das von der Presse und in den bayerischen, preußischen und badischen Landtagen kontrovers diskutiert sowie von Kultusministerien mit größtem Argwohn beobachtet und scharf

Horkheimer u. a. (Hg.): Studien über Autorität und Familie. Forschungsberichte aus dem Institut für Sozialforschung [1936], reprint Lüneburg 1987, S. 669–705, S. 686–896. 2 Dudek: Annäherungen (Anm. 1), S. 52; ähnlich Herrmann: Jugendkulturbewegung (Anm. 1), S. 232. 3 Herrmann: Jugendkulturbewegung (Anm. 1), S. 224, 227f.; Philip Lee Utley: Radical youth. Generational conflict in the Anfang movement, 1912–January 1914, in: History of Education Quarterly, 1979, Jg. 19, S. 207–228, S. 207. 4 John Alexander Williams: Ecstasies of the young: sexuality, the youth movement, and moral panic in Germany on the eve of the First World War, in: Central European History, 2001, Jg. 34 , S. 163–189. kritisiert wurde, auch wenn die Auflage mit maximal 2.000 Exemplaren überschaubar blieb.5

Was Zeitgenossen am meisten überrascht und schockiert haben dürfte, war, dass sich im Anfang Jungen und Mädchen mit Sexualität und Sexualmoral auseinander setzten.6 Aber nicht nur hier, sondern auch in dem von Bernfeld Anfang 1913 in Wien begründeten „Sprechsaal“ konnten Jugendliche öffentlich u. a. über Fragen von Sexualität und Sexualmoral und das Verhältnis der Geschlechter diskutieren. Bernfeld hatte den Sprechsaal als ein unregelmäßig tagendes Diskussionsforum für Leser*innen des Anfang konzipiert, das in der Folgezeit rasch wuchs und in anderen Städten kopiert wurde. Allerdings stießen die Sprechsäle bald auf behördlichen Widerstand. In Wien überwachte die Polizei den Sprechsaal und verbot ihn schließlich im März 1914, während in München das Bayerische Kultusministerium im Januar 1914 Schülern nicht nur dessen Besuch untersagte, sondern auch das Lesen des Anfang verbot.7 Mitglieder des im Herbst 1912 ebenfalls von Bernfeld gegründeten „Akademischen Comité für Schulreform“ richteten daraufhin 1914 in Wien eine kostenlose Schülerberatungsstelle ein, den „Grünen Anker“, in dem diese sich von Ärzten*innen, Juristen, Pädagogen*innen und anderen Ansprechpartner*innen unter anderem zu sexuellen Fragen beraten lassen konnten.8 Im Frühjahr 1914 kam es zum zeitweisen Bruch mit Wyneken, der wegen seiner Unterstützung des Anfang und der Jugendkulturbewegung in den Fokus der Kritik seitens Politik und Polizei geraten war. Es hatte zudem interne Spannungen zwischen Wyneken

5 Dudek: Annäherungen (Anm. 1), S. 54; Williams: Ecstasies (Anm. 4), S. 178–184; Utley: Youth (Anm. 3); Philip Lee Utley: Schism, romanticism and organization: Anfang, January–August 1914, in: Journal of Contemporary History, 1999, Jg. 34, S. 109–124; Klaus Laermann: Der Skandal um den Anfang. Ein Versuch jugendlicher Gegenöffentlichkeit im Kaiserreich, in: Koebner u. a.: Zeit (Anm. 1), S. 360–381; Vanessa Tirzah Hautmann: Kultiviertes Triebleben. Sexualität und Geschlechtermoral in der Jugendzeitschrift Der Anfang, in: Karl Braun, Felix Linzner, John Khairi-Taraki (Hg.): Avantgarden der Biopolitik. Jugendbewegung, Lebensreform und Strategien biologischer „Aufrüstung“ (Jugendbewegung und Jugendkulturen. Jahrbuch 2017, Nr. 13), Göttingen 2017, S. 19–32, S. 22. 6 Williams: Ecstasies (Anm. 4); Laermann: Skandal (Anm. 5); Hautmann: Triebleben (Anm. 5). 7 Dudek: Annäherungen (Anm. 1), S. 64f., 68f.; Sabine Richebächer: Psychoanalyse im Exil. Otto Fenichel und die geheimen Rundbriefe der linken Freudianer, in: Jahrbuch der Psychoanalyse, 2000, Jg. 42, S. 125–164, S. 126; Herrmann: Jugendkulturbewegung (Anm. 1), S. 237f.; Laermann: Skandal (Anm. 5), S. 371ff.; Ulrich Linse: Die Entschiedene Jugend 1919–1921. Deutschlands erste revolutionäre Schüler- und Studentenbewegung, Frankfurt a. M. 1981, S. 35f.; Utley: Youth (Anm. 3), S. 213, 216. 8 Dudek: Annäherungen (Anm. 1), S. 63f, 71f.; Richebächer: Psychoanalyse (Anm. 7), S. 126; Herrmann: Jugendkulturbewegung (Anm. 1), S. 232–239. und Bernfeld, Barbizon und Walter Benjamin (1892–1940) gegeben, bei denen es um Wynekens Einfluss als offizieller Herausgeber der Zeitschrift sowie um dessen asketische Position gegenüber Sexualität, Alkohol und Rauchen ging.9

Sexuelle Identität, Sexualmoral und jugendliches Sexualverhalten sowie Freikörperkultur und Nacktheit waren in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg innerhalb der deutschen Jugendbewegung zu zentralen Themen geworden. Insbesondere Auseinandersetzungen über Homoerotik und Homosexualität sowie die Funktion des „pädagogischen Eros“ hatten die Gemüter der Jugendlichen, deren Eltern und einer breiteren Öffentlichkeit bewegt.10 Der der Frankfurter Schule nahestehende Soziologe Franz Borkenau (1900–1957) wies allerdings darauf hin, dass es sich eher um theoretische Diskussionen gehandelt und „eine wirkliche Befreiung des Sexus“ in der Jugendkulturbewegung nicht stattgefunden habe.11 Ebenfalls zentral war die Frage der Stellung von Mädchen innerhalb der Jugendbewegung, was vor und nach dem Krieg für erhitzte Auseinandersetzungen über das Verhältnis der Geschlechter zueinander sorgte.12

Mitglieder der Jugendbewegung äußerten sich verstärkt zu diesen Themen in der Öffentlichkeit. Im Oktober 1913 veröffentlichte der damals 20-jährige Herbert Blumenthal (1893–1978), ein Freund Bernfelds und Benjamins, einen Beitrag im Anfang mit dem programmatischen und gleichzeitig provozierenden Titel „Jugendliche Erotik“.

9 Williams: Ecstasies (Anm. 4), S. 179–183; Utley: Schism (Anm. 5), S. 118f. 10 Vgl. Sven Reiß: „Renaissance des Eros paidikos“. Erotisch-sexuelle Leitbilder und Alltagspraxen in der deutschen Jugendbewegung, in: Braun u. a: Avantgarden (Anm. 5), S. 61–75; Claudia Bruns: Politik des Eros. Der Männerbund in Wissenschaft, Politik und Jugendkultur (1880–1934), Köln u. a. 2008; Thijs Maasen: Pädagogischer Eros. Gustav Wyneken und die Freie Schulgemeinde Wickersdorf, 1995; Ulfried Geuter: Homosexualität in der deutschen Jugendbewegung. Jugendfreundschaft und Sexualität im Diskurs von Jugendbewegung, Psychoanalyse und Jugendpsychologie am Beginn des 20. Jahrhunderts, Frankfurt a. M. 1994. 11 Jungmann [Borkenau]: Autorität (Anm. 1), S. 638. 12 Vgl. Barbara Stambolis: Weiblichkeit im Männerbund. Von „lieblichen Jungfrauen“ zu „verbengelten Gestalten“, in: Historische Jugendforschung, 2010, NF 7, S. 55–74; Meike Sophia Baader: „Wie kam das Weib nun schließlich doch an die Lagerfeuer der Jugendbewegung?“ Gesellungs-, Vergemeinschaftungs- und Beziehungsformen als Geschlechterkonstruktionen um 1900, in: ebd., S. 75–95; Irmgard Klönne: „... nicht Wasser mehr und Feuer ...“: Das Geschlechterverhältnis in der Jugendbewegung, in: Ulrich Herrmann (Hg.): „Mit uns zieht die neue Zeit ...“. Der Wandervogel in der deutschen Jugendbewegung, Weinheim, München 2006, S. 155–169; Sabine Andresen: Mädchen und Frauen in der bürgerlichen Jugendbewegung. Soziale Konstruktion von Mädchenjugend, Neuwied 1997, Kap. 3 u. 5; Geuter: Homosexualität (Anm. 10), S. 59–67; Irmgard Klönne: „Ich spring‘ in diesem Ringe“: Mädchen und Frauen in der deutschen Jugendbewegung, Pfaffenweiler 1990; Marion E. P. de Ras: Body, Femininity and Nationalism. Girls in the German Youth Movement 1900–1934, New York u. a. 2008. Die Jugend habe entdeckt, so stellte er einleitend fest, „daß sie ein großes, reiches, gewaltiges Triebleben besaß, das in der Öffentlichkeit vom Philistertum tot geschwiegen wurde“.13 Lange sei die Jugend „den Geboten der ‚Moral‘ gefolgt, hatte zu unterdrücken versucht, was nicht zu unterdrücken war und mußte also ihre Triebe durch Heimlichkeit, durch verstecktes und verbotenes Tun schänden“. Hiergegen habe sich jetzt jedoch Widerstand gebildet, insbesondere in der Großstadtjugend. Diese lasse sich „nicht länger unterdrücken und schrie dem Philister die Wahrheit ins Gesicht, wie stark und gesund, wie unzerstörbar ihr Triebleben sei“. Sie stürzte sich in den „Strudel“ des Trieblebens, das „zum betonten Moment jugendlichen Lebens“ wurde. Blumenthal sah Sexualität „unumschränkt im Mittelpunkt des Daseins“ der Großstadtjugend stehend. Sie sei „zum Unbedingten geworden, zum absoluten Lebensinhalt“, was man auch an der zeitgenössischen Lyrik und Malerei sehen könne, die „rein erotisch“ geworden sei. Die Kunst „schreit es der Welt ins Gesicht, wie unanständig, wie schamlos die Jugend durch ihre Unterdrückung werden mußte“. Die Jugend sei jedoch erst von der repressiven bürgerlichen Sexualmoral in diese „Sumpf“ hineingetrieben worden.14

Blumenthals Beitrag entstand im Kontext einer weit über die Jugendbewegung hinausgehenden und seit dem Fin de Siècle zu beobachtenden Sexualisierung und sexuellen Objektivierung von Kindern und Jugendlichen, insbesondere von Mädchen. Seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts diskutierten Pädiater, Psychologen und Psychoanalytiker über die Existenz und Bedeutung kindlicher Sexualität. Künstler wie Heinrich Zille, Egon Schiele, Gustav Klimt, Otto Kokoschka oder Hugo Höppener (Fidus) in der Jugendbewegung und Fotografen wie Wilhelm v. Gloeden stellten öffentlich wirksam ihre Obsessionen mit dem nackten, (vor)pubertären Körper dar. Literaten wie Thomas Mann, Stefan George, Arthur Schnitzler, Karl Kraus oder Peter Altenberg phantasierten über das pubertäre Kind, insbesondere über das „Kindweib“ (Fritz Wittels), aber, wie im Fall von George und Mann, auch über Knaben. Der 1928 wegen sexuellem Missbrauch von minderjährigen Mädchen angeklagte Architekt Adolf Loos (1870–1933) kommentierte 1902: „Der Ruf nach Jugend erscholl. Das Weibkind kam in Mode. Man

13 Herbert Blumenthal: Jugendliche Erotik, in: Der Anfang. Vereinigte Zeitschriften der Jugend, NF1 (1913/14), Nr. 6, S. 166–169, dieses und die folgenden Zitate S. 166. 14 Ebd., S. 167. lechzte nach Unreife.“15 Immer wieder verhandelten Gerichte Fälle sexuellen Missbrauchs von Kindern, so zum Beispiel gegen Egon Schiele und Gustav Graef, gegen den Vorsitzenden des Alt-Wandervogels Wilhelm Jansen (1866–1943) und seinen „Päderastenclub“ oder in den 1920er Jahren gegen Wyneken – Fälle, über die die Presse jeweils sensationshungrig und ausführlich berichtete.16

Blumenthals Beitrag war ein Plädoyer dafür, die jugendliche Sexualität anzuerkennen. „Wir alle“, so schrieb er, „empfinden instinktiv, daß wir das Triebleben als solches nicht verleugnen dürfen, auch wenn es noch nicht Bestandteil der Kultur ist“.17 Es ging Blumenthal zum einen um den Protest gegen die bürgerliche Sexualmoral und zum anderen um „die prinzipielle Anerkennung eines wesentlichsten Lebensgebietes“, nämlich des Rechts der Jugend auf Sexualität. Es gehe „um unsere Erotik und also um ein heiliges Gut“, so stellte er emphatisch fest.18 Wie das jugendliche Sexualverhalten zu gestalten sei, schien ihm zunächst noch zweitrangig. „Darum sind wir so unentwegt positiv, wo es um jugendliche Erotik geht, so frei von Bedenken, so skrupellos; wir übernehmen die Erotik mit allem Drum und Dran an Unkultur […], wir machen den Tanz deutlich erotisch, wir flirten und lieben, wo wir nur können“ und „schaffen fortwährend

15 Adolf Loos: Damenmode, in: Dokumente der Frauen, 1902, Jg. 6, Nr. 23, S. 660–664, S.661f; Klaralinda Ma: Der „Fall“ Loos, in: Inge Podbrecky, Rainald Franz (Hg.): Leben mit Loos, Wien u. a. 2008, S. 161–172. Den Begriff „Kindweib“ prägte der Psychoanalytiker Fritz Wittels: Avicenna (d.i. Fritz Wittels): Das Kindweib, in: Die Fackel, 15.07.1907, Jg. 9, Nr. 230/231, S. 14– 33. 16 Lutz Sauerteig: Loss of innocence. Albert Moll, Sigmund Freud and the invention of childhood sexuality around 1900, in: Medical History, 2012, Jg. 56, S. 156–183; Kathrin Peters: Anatomy is sublime. The photographic activity of Wilhelm von Gloeden and , in: Michael Thomas Taylor, Annette Timm, Rainer Herrn (Hg.): Not Straight from Germany. Sexual Publics and Sexual Citizenship since Magnus Hirschfeld, Ann Arbor 2017, S. 170–190; Barnet Hartston: The Trial of Gustav Graef. Art, Sex, and Scandal in Late Nineteenth-Century Germany, DeKalb 2017; Peter Dudek: „Sie sind und bleiben eben der alte abstrakte Ideologe!” Der Reformpädagoge Gustav Wyneken (1875-1864) – Eine Biographie, Bad Heilbrunn 2017, Kap. 5; Sven Reiß: Päderastie in der deutschen Jugendbewegung. Eine kulturwissenschaftliche Annäherung, in: Zeitschrift für Pädagogik, 2016, Jg. 62, S. 670–683, S. 674f.; Jennifer Evans: Seeing subjectivity. Erotic photography and the optics of desire, in: The American Historical Review, 2013, Jg. 118, S. 430–462; Ludger Derenthal, Christine Kühn, Kristina Lowis (Hg.): Die nackte Wahrheit und Anderes. Aktfotografie um 1900, Berlin 2013; Bruns: Politik (Anm. 10), S. 242–245; Marina Schuster: Fidus. Maler keuscher Nuditäten, in: Michael Grisko (Hg.): Freikörperkultur und Lebenswelt. Studien zur Vor- und Frühgeschichte der Freikörperkultur in Deutschland, Kassel 1999, S. 207–237; Maasen: Eros (Anm. 10); Geuter: Homosexualität (Anm. 10), S. 38–43, 49–58, 196–210. 17 Blumenthal: Erotik (Anm. 13), dieses und die folgenden Zitate S. 167. 18 Ebd., S. 168. neue Gelegenheiten zur erotischen Geselligkeit der Jugend“.19 Dabei könne es die Jugend jedoch nicht belassen, sondern sie habe „die Verpflichtung, unser eigenes Triebleben zu gestalten“.20 Blumenthals Beitrag war damit auch eine scharfe Kritik an der erotischen Kultur, an dem Flirten und dem „Draufgängertum“, den „barbarische[n], unserem innersten Wesen ganz fremde[n] Tänze[n], in denen wir direkt mit unserem Leibe der Roheit [sic] und Häßlichkeit dienen“ und den „stickigen, schwülen, barbarisch dekorierten Sälen“. Er schloss seinen Beitrag mit dem Appell: „Aus dem Protest der Geknechteten muß die Schwärmerei der Freien werden.“21

Andere Autoren beklagten ebenfalls die Erotisierung der Kultur. So brandmarkte der Freistudent Friederich Mono das Tanzen, besonders den „Schieber“ (das Engtanzen) als eine „von der heutigen Moral ausnahmsweise erlaubte geschlechtliche Berührung“, durch die die Jungen der „widerlich forciert zu Schau getragenen Sinnlichkeit“ der Mädchen zum Opfer fallen würden.22 Mono warf Schülerinnen „eine üble, verwilderte Poussier-Erotik“ vor, zu deren Merkmalen er das „Dekolleté“ ebenso zählte, wie Parfüm, durchsichtige Strümpfe („Florstrümpfe“) und „transparenter Humpelrock“ (ein enger langer Rock) sowie durch Korsett, „Megabusol“ oder Watte vergrößerte Brüste. Die Schuld an dieser „Schweinerei“ hatten seiner Ansicht nach „Mädchenschule und Mädchenerziehung“, die dazu führten, dass „die engen Schranken, die früher dem weiblichen Geschlecht aufgerichtet waren“, gefallen seien.23 Diese veränderten Moralvorstellungen hätten zur „traurige[n] Selbsterniedrigung“ der Mädchen geführt.24 Notwendig sei daher eine „Verdrängung des verflucht dirnenmäßigen Beigeschmacks durch einen selbstbewußten Stolz“ bei den Mädchen.25

Ein Junge aus Wien namens Ernst kritisierte, dass die herrschende Sexualmoral Hand in Hand ginge mit einer verfehlten Sexualaufklärung, mit „schädigenden Verlogenheiten“, die „zu Unschuld und Unwissenheit noch die Unwahrheit“ hinzufügte. Es sei ein „Merkmal philiströser, unaufrichtiger, innerlich nicht ganz reiner Naturen“, „jenes

19 Ebd., S. 167. 20 Ebd., dieses und die folgenden Zitate S. 168. 21 Ebd. 22 Friederich Mono: Unsere Geselligkeit, in: Der Anfang, 1913/14, NF 1, Nr. 7, S. 200–210, S. 200f. 23 Ebd., S. 202. 24 Ebd., S. 203. 25 Ebd., S. 208. Mysterium“ der Liebe in „den teuflischen Nimbus eines ‚heiligen Geheimnisses‘“ zu kleiden. Die Liebe werde durch die „Schamlosigkeit, von der Nacktheit, dem reinsten Symbol reiner Wahrheit, [als] ‚heikel‘ zu sprechen“, zerstört. Ernst sah darin eine „Entfremdung natürlicher Ursprünglichkeit“ und forderte eine Rückkehr zur „naive[n] Keuschheit des Mittelalters“, als „man bei dem gröbsten Unwissen an weltlichen Geschehen der Natur tausendmal näher stand als heute, da illustrierte Bücher ohne Anstand gelesen wurden, die wegen ihrer Illustrationen heute als unsittlich einfach verboten würden“. Durch ein „allmähliches Rückerziehen der Jugend“ hoffte er wieder „zu einem mehr ursprünglichen Fühlen“ zurückfinden zu können.26

Das Verhältnis zwischen den Geschlechtern wurde in einer Zeit, in der Jungen und Mädchen an den Schulen und in ihrer Freizeit prinzipiell getrennt waren, zunehmend problematisch. Die Kommentare spiegeln die Verunsicherung von Jugendlichen wieder, wie sie mit ihren aufkommenden sexuellen Gefühlen umgehen konnten und durften, was die Sexualmoral ihnen gestattete und wo sie die Grenzen des Akzeptablen herausfordern konnten. Ein Ausweg aus diesen Verwirrungen schien sich mit dem Konzept der „Kameradschaft“ anzubieten, welches das Verhältnis zwischen Jungen und Mädchen ent- erotisieren und auf eine asexuelle Ebene heben sollte. Auf diese Weise hoffte man, gemeinsames Wandern, Übernachten und Baden in der Jugendbewegung zu ermöglichen.27 Ein männlicher Zeitzeuge erinnerte sich später: „Es war alles so rein kameradschaftlich, daß es nie ins Erotische ging.“28

Auch Mono propagierte ein kameradschaftliches Verhältnis zwischen Jungen und Mädchen, jedoch mit einer erotischen Ausrichtung. So suchte er „eine verstehende Kameradin als natürliche Ergänzung, eine Kameradin, die uns ebenbürtig zur Seite tritt“, denn „der junge Mann mit menschlichen, intellektuellen und seelischen Interessen steht sexuell […] allein“.29 Er hoffte, dass „sich auf dem Boden einer gesunden Geselligkeit eine

26 Ernst: Nacktheit – Wahrheit, in: Der Anfang, 1913/14, NF 1, Nr. 5, S. 138–140. 27 Klönne: Wasser (Anm. 12), S. 161–166; Klönne: Mädchen (Anm. 12), S. 258–264; Otto Neuloh, Wilhelm Zilius: Die Wandervögel. Eine empirisch-soziologische Untersuchung der frühen deutschen Jugendbewegung, Göttingen 1982, S. 93ff.; Jungmann [Borkenau]: Autorität (Anm. 1), S. 684. 28 So einer der von Wilhelm Zilius befragten männlichen Zeitzeugen, Neuloh, Zilius: Wandervögel (Anm. 27), S. 94. 29 Mono: Geselligkeit (Anm. 22), S. 205. Erotik entwickeln“ werde, die von einer „wohltuende[n] Ehrlichkeit“ geprägt sei.30 Solange solch ein kameradschaftliches Verhältnis, das „dem Austauschbedürfnis der Geschlechter in befriedigender Weise Genüge leiste“, nicht existierte, blieben der männlichen Jugend nur die „Bars, Caféhäuser, Operettentheater, Kabarett, Kellnerin, Tanz-, Laden- und andere Mädchen“, die Mono jedoch zutiefst ablehnte.31

Mädchen und junge Frauen wiesen die Versuche, sie für den Verfall der Moral verantwortlich zu machen, scharf zurück und beanspruchten eine gleichberechtigte Position in der Jugendbewegung. Sie wollten mit den Jungen „schreiten Seit‘ an Seit‘“ und sahen die Geschlechterdifferenzen nicht mehr als unüberbrückbare Gegensätze, „nicht Wasser mehr und Feuer“ wie es in Hermann Claudius‘ „Wanderlied“ von 1914 hieß.32 „Als ich den Artikel [von Mono] gelesen hatte, war ich zuerst wie vor den Kopf geschlagen“, und zwar „vor Entrüstung!“, beschwerte sich eine weibliche Stimme aus Berlin.33 Autoren wie Mono seien so „gedankenlos-unkameradschaftlich“, dass sie eine „weibliche ebenbürtige Kameradschaft“ nicht verdient hätten, so eine anonyme Studentin. Jungen dürften nur dann von Kameradschaft mit Frauen sprechen, wenn sie sich Frauen gegenüber selbst kameradschaftlich verhielten, z. B. einen Professor boykottierten, der Frauen aus seinen Seminaren ausschloss.34 Eine anonyme Studentin warf Mono „Aufgeblasenheit und Selbstgefälligkeit“ vor und meinte, dass weniger die Mädchenerziehung an den beklagten Umständen schuld sei, sondern „die ‚Moral‘ des männlichen Teils“ und der „naive Dünkel der männlichen Seele“, die sich in Monos Ausführungen widerspiegelte.35 G. Rün schrieb in ihrer Erwiderung, dass es nicht die Mädchen waren, die die Jungen mit ihrer Sinnlichkeit verführten, sondern die Jungen ließen ihnen nur die Wahl zwischen „Sumpf oder Einsamkeit“. Während sie selbst immer wieder nach einem Kameraden gesucht und zeitweise auch einen gefunden habe, sah sie sich oft mit ihrer „großen, großen Sehnsucht“ alleine gelassen.36 Sie berichtete von zwei Jungen, denen sie näher gekommen war. Einen der beiden, „einen Kameraden“, hatte sie

30 Ebd., S. 205f. 31 Ebd., S. 207. 32 Hermann Claudius: Wanderlied, in: Die arbeitende Jugend, Monatsbeilage des Hamburger Echo, Juni 1914; vertont von Michael Englert 1915. Vgl. Klönne: Wasser (Anm. 12), S. 155f. 33 H. S.: Protest, in: Der Anfang, 1913/14, NF 1, Nr. 9, S. 263. 34 Erwiderung. Von einer Studentin, in: Der Anfang, 1913/14, NF 1, Nr. 9, S. 261–263, S. 261f. 35 Ebd., S. 262; ähnlich auch H. S.: Protest, in: ebd., S. 263. 36 G. Rün: Erwiderung, in: ebd., S. 264f., S. 265. mit 17 Jahren kennengelernt. Die „Katastrophe“ war in ihren Augen jedoch nicht das „Erotische“, das sich bald entwickelt hatte, denn „wir […] sind ja doch gesunde Menschen, wir fühlen und empfinden ja doch wie die andern!“, sondern die Katastrophe war, „daß dann die Kameradschaft fort ist“ und nur das „Einsamsein“ übrig blieb.37

Auch wenn Mädchen noch vor dem Ersten Weltkrieg Aufnahme in Wandervogelgruppen fanden oder eigene Gruppen gründeten, blieb das gemeinsame Wandern von Mädchen und Jungen umstritten, so dass es zu Spaltungen in der Bewegung kam.38 Glaubt man dem jungen Alfred Kurella (1895–1975), dann war der Umgang zwischen Jungen und Mädchen doch nicht so asexuell, wie es die Bünde gerne gesehen hätten. Unvermeidlich hätten sich, so notierte er Anfang 1914, „einzelne Jungen und Mädchen enger“ zusammengeschlossen, „ihre letzten Ideen, Gedanken und Gefühle, Leiden und Freuden miteinander geteilt. Denn daß wir nicht eine Art Erotik haben wollen, die sich auf dunklen Promenadenbänken herumdrückt, ist doch wohl selbstverständlich.“39 Franz Borkenau kam jedoch auf der Basis seiner Gespräche mit Mitgliedern der Jugendkulturbewegung in den 1930er Jahren zu dem Schluss, dass die Forderung nach vorehelichem Geschlechtsverkehr und Promiskuität, zumindest in den Gruppen in Wien, eher theoretischer Natur war und es allenfalls zu „Jungehen“ unter Jugendlichen gekommen war. Erst gegen Ende des Ersten Weltkriegs löste sich die bürgerliche Sexualmoral so weitgehend auf, dass „der wirklichen Promiskuität“ ähnliche Verhältnisse zu beobachten waren und eine Rückkehr zu den sexualmoralischen Vorstellungen des Kaiserreichs ausgeschlossen schien, auch wenn die Diskussion über Sitte und Anstand während der Weimarer Republik nicht verstummte.40

37 Ebd., S. 265. 38 Bruns: Politik (Anm. 10), S. 229–232; Ras: Body (Anm. 12); Andresen: Mädchen (Anm. 12); Geuter: Homosexualität (Anm. 10), S. 59–67; Klönne: Mädchen (Anm. 12); Magdalena Musial: Die Mädchenbünde in der Jugendbewegung. Eine Bestandsaufnahme, in: Jahrbuch des Archivs der deutschen Jugendbewegung, 1984/85, Nr. 15, S. 13–36; Neuloh, Zilius: Wandervögel (Anm. 27), S. 90–97. 39 Alfred Kurella: Jungen und Mädels. Mit einer Epistel von unserm armen, vielgelästerten Wandervogel, in: Der Anfang, 1913/14, NF 1, Nr. 9, S. 258–260, S. 260. Vgl. auch die Diskussion über die (Un-)Möglichkeit eines kameradschaftliche Verhältnis zwischen Jungen und Mädchen in der Zeitschrift Wanderscharen 1919, Geuter: Homosexualität (Anm. 10), S. 210–212. 40 Jungmann [Borkenau]: Autorität (Anm. 1), S. 687, vgl. auch S. 698f. Vgl. Lutz Sauerteig: Sünde – Gefahr – Risiko – Management. Konzepte sexueller Gesundheit in der deutschen Sexualerziehung im 20. Jahrhundert, in: Virus, im Druck; Lutz Sauerteig: Sex, medicine and morality during the First World War, in: Roger Cooter, Mark Harrison, Steve Sturdy (Hg.): War, Auf der einen Seite sprachen sich, in der Tradition von Hans Blühers „Antifeminismus“, zahlreiche männliche Kommentatoren gegen den Zugang von Mädchen zur Jugendbewegung aus und viele Jungen verteidigten in ihrer „maskuline[n] Protesthaltung“ (Klönne) das elitäre Männerbundkonzept.41 Hans Breuer (1887–1918) etwa verlangte in seinem vielbeachteten fiktiven „Teegespräch“, mit dem er den Diskurs über Geschlechterrollen in der Jugendbewegung prägte, eine strikte Trennung der Geschlechter im Wandervogel. Denn das gemeinsame Wandern bewirke, dass „die Buben verweichlichen“ und die „Mädchen dagegen verbengeln und verwildern“ würden.42 Auf der anderen Seite forderten Mädchen und junge Frauen gegen Breuers Zementierung traditioneller Geschlechterrollen und gegen Blühers antifeministisches Diktum, Frauen seien „ungeistig“,43 mit wachsendem Selbstbewusstsein sowohl die volle Teilnahme in der Wandervogelbewegung als auch einen gleichberechtigten Zugang zum Bildungssystem und zur Berufstätigkeit. Sie verteidigten ihren Anspruch auf Intellektualität und Sexualität, auf Eros und Logos.44

Welchen Bruch mit den Konventionen der bürgerlichen Gesellschaftsmoral die Geschlechterverhältnisse in der Jugendbewegung bedeuteten, erkannte Elisabeth Busse- Wilson (1890–1974), als sie die biologistisch begründeten Geschlechterdifferenzen und -

Medicine and Modernity, 1860–1945, Stroud 1998, S. 167–188; Cornelie Usborne: The New Woman and generation conflict. Perceptions of young women’s sexual mores in the , in: Mark Roseman (Hg.): Generations in Conflict. Youth Revolt and Generation Formation in Germany, 1770–1968, Cambridge 1995, S. 137–163. 41 Hans Blüher: Was ist Antifeminismus?, in: Der Aufbruch. Monatsblatt aus der Jugendbewegung, 1915, Jg. 1, S. 39–44; Klönne: Wasser (Anm. 12), S. 161, Zitat S. 158. Vgl. Ute Planert: Antifeminismus im Kaiserreich. Diskurs, soziale Formation und politische Mentalität, Göttingen 1988; Reiß: Renaissance (Anm. 10), S. 66–71; Bruns: Politik (Anm. 10); Geuter: Homosexualität (Anm. 10). 42 Hans Breuer: Das Teegespräch, in: Wandervogel, 1911, Jg. 6, Nr. 1/2, S. 31–38, S. 34. Vgl. Bruns: Politik (Anm. 10), S. 233f.; Klönne: Mädchen (Anm. 12), S. 175–183. 43 Blüher: Antifeminismus (Anm. 41), S. 40. 44 Z. B. Dorothee Berendes, Idamarie Solltmann: Zwei Gespräche, in: Schriften zur Jugendbewegung, Mai 1916 (Die Jugend zum Sexualproblem I), S. 42–47; Susanne Köhler: Antwort auf Franz Sachs‘ „Rede an die Kameradinnen“, in: ebd., Juni 1916 (Die Jugend zum Sexualproblem II), S. 65–71; Lia Bergen: „Miteinander“, in: ebd., S. 89–91; Grete Gillet: Die Stellung der Mädchen in der freideutschen Jugend, in: Freideutsche Jugend, 1916, Jg. 2, S. 121– 123; Lucia Schmidt: Unsere Mädchen und die Frauenbewegung, in: ebd., S. 123–127; die Beiträge von Else Stroh und Ingeburg Meier: Antifeminismus und wir Freideutsche. Fünf Beiträge, in: ebd., 1917, Jg. 3, S. 72–87, S. 72–80; Marie Buchhold: Mädchen und Frauen, in: ebd., 1921, Jg. 7, S. 285–287. Vgl. Klönne: Mädchen (Anm. 12), S. 183–192, 219–237. rollen in Frage stellte und sie als sozial- und kulturbegründete Unterschiede beschrieb.45 Sie kritisierte, dass für Mädchen „jene Periode des Losgebundenseins, die dem jungen Manne zwischen der Schulzeit und dem Eintritt in das Berufsleben eingeräumt wird“, versagt werde.46 In ihren Augen habe erst das Kameradschaftskonzept, das eine „völlige Umstürzung der bürgerlichen Geschlechtsauffassung“ bedeutete, eine „grundsätzlich andere Einstellung zum Geschlechtlichen“ herbeigeführt und „das Gedeihen und Entstehen jenes menschlich-befreiten und herzlichen Verhältnisses zwischen Jünglingen und Mädchen“ ermöglicht, auch wenn es „zunächst durch asketische Strenge erkauft werden“ musste.47 Sie sah in der „radikale[n] Keuschheit“ der Jugendbewegung zunächst eine Reaktion auf die bürgerliche Sexualmoral und empfand die, unter anderem auch von Blumenthal kritisierte, Sexualisierung der Kultur als eine seltsame Ausprägung des Geschlechterverhältnisses: „diese Männer und Mädchen rühren sich nicht nur nicht an, sondern verlieben sich auch nicht und halten ihre unter derartigen Umständen bewahrte Neutralität für das Normale und Selbstverständliche“.48

Diese „Flucht vor dem Eros“ sei aber nur ein „Ausweichen vor dem eigentlichen Problem“, das Busse-Wilson zum einen in der bürgerlichen Sexualmoral mit ihrer „Unterdrückung“ jugendlicher Sexualität sah, in deren Folge die von Hans Blüher propagierte Männerbundidee in weiten Teilen der Wandervogelbewegung auf Resonanz gestoßen sei und zur Verbreitung der „mann-männlichen Liebeseinstellung“ als Verlegenheitslösung – sie sprach von „Not-Invertierten“ – geführt habe.49 Zum anderen erkannte sie „ein gewisses erotisches Manko“ und eine „äußere und innere Reizlosigkeit“, die für einen Teil der Mädchen in den Bünden typisch sei und diese für Jungen „weniger begehrenswert“ mache, eine Beobachtung, die vom Schriftsteller und liberalen Strafrechtsreformer Fritz Dehnow (1889–1960) geteilt wurde.50

45 Elisabeth Busse-Wilson: Liebe und Kameradschaft [1920], in: Werner Kindt (Hg.): Grundschriften der deutschen Jugendbewegung, Bd. 1, Düsseldorf u a. 1963, S. 327–334; vgl. Britt Großmann: Elisabeth Busse-Wilson (1890–1974). Eine Werk- und Netzwerkanalyse, Weinheim 2017. 46 Busse-Wilson: Liebe (Anm. 45), S. 327. 47 Ebd., S. 328. 48 Ebd., S. 329. 49 Ebd., S. 330. 50 Ebd., S. 330f.; Fritz Dehnow: Jugendbewegung und Sexualleben, in: Zeitschrift für Sexualwissenschaft, 1923/24, Jg. 10, S. 276f. Busse-Wilson sah zwar auch positive Anzeichen, denn die Jugend diskutiere über alternative Beziehungsformen zur bürgerlichen „Besitzehe“, die gleichwohl die Prinzipien von „Treue und Verpflichtung“ aufrechterhielten und für „die natürlichen Rechte des Liebesempfindens“ einträten.51 Sie befürchtete aber, dass aufgrund der von Jungen und Mädchen als „erotische(n) Einsamkeit“ empfunden Beziehungslosigkeit, die Jugendbewegung in Gefahr gerate, zum „Tummelplatz der Geschlechtslosen“ zu werden.52 Ihre Diagnose wurde von Franz Sachs (geb. 1894) bestätigt. Sachs befürwortete zwar den kameradschaftlichen Umgang von Jungen und Mädchen, denn er führe dazu, „daß an die Stelle der unschönen Explosionen zu einander [sic], die aus der überhitzten Atmosphäre der gegenseitigen Absperrung bis zum zwanzigsten Lebensjahr entstand, mehr und mehr die friedliche Harmlosigkeit eines ewigen Sonntagnachmittags tritt, an dem Kamerad und Kameradin im Endlichen miteinander spazieren gehen“.53 Wie Busse- Wilson befürchtete er jedoch, dass die Kameradschaft, das „Du-sagen, Hand in Hand gehen, Volkstanz […], eine neu erwachte Freude am Körper, am Nackten“ in „einen Zustand der Neutralität münden“ würde. In diesem Zustand würden Jungen und Mädchen „fühlen, daß man sich eigentlich nicht näher kommt, daß keine Geheimnisse und tiefsten Ahnungen aufwachsen, die zu dem herrlichen Erlebnis des Mann-Weib-Tums führen“.54 Die Gefahr sei, dass insbesondere die Jungen in einer dauerhaften Jugendlichkeit stecken blieben und nicht erwachsen werden würden und dass „die neutrale Beziehungslosigkeit unter den Geschlechtern“ eine spätere Ehe- und Familienschließung erschwere oder unmöglich mache.55 Fritz Dehnow bemerkte sarkastisch, in der Jugendbewegung der 1920er Jahre machten sich „sogenannte ‚junge Alte‘, ‚ewig Junge‘ […], die aller Biologie spotten wollten“, breit.56

Noch deutlicher in seiner Opposition zur bürgerlichen Sexualmoral wie auch zu Blühers Männerbundkonzept hatte sich zwei Jahre zuvor der linke Freideutsche Alfred Kurella geäußert. In scharfen Worten griff er die bürgerliche sexuelle Doppelmoral an und sprach

51 Busse-Wilson: Liebe (Anm. 45), S. 333. 52 Ebd., S. 332. 53 Franz Sachs: Das Verhältnis der Geschlechter, in: Adolf Grabowsky, Walter Koch (Hg.): Die freideutsche Jugendbewegung: Ursprung und Zukunft, Gotha 1920, S. 45–49, S. 45; Dudek: Annäherungen (Anm. 1), S. 78. 54 Sachs: Verhältnis (Anm. 53), S. 46. 55 Ebd., S. 47f. 56 Dehnow: Jugendbewegung (Anm. 50), S. 277. sich für das Recht von Jungen und Mädchen auf „freie Hingabe, auf das Geschlechts-, will sagen Geisteserlebnis“ aus, und damit für vorehelichen Geschlechtsverkehr und sexuelles Ausprobieren im Sinne von „Lehrjahre[n] der Weiblichkeit“ und „Lehrjahre[n] der Männlichkeit“.57 Mädchen und Jungen, die sich noch nicht zum Geschlechtsverkehr bereit fühlten, riet er, die „geschlechtliche(n) Forderung ihres Körpers“ durch „Selbstliebe“, durch Masturbation, zu befriedigen, die jedoch nicht zum „Götzendienst ungeistiger […] Lust“ ausarten dürfe.58 Jedoch „erst in der Hingabe an den Einen […] werdet Ihr in die Gemeinschaft der Lebenden aufgenommen“.59 Den ersten Geschlechtsverkehr beschrieb er als einen Übergangsritus des Jugendlichen zum Erwachsensein, der jedoch weder Jünglinge „zu Lüstlingen“ noch Mädchen „zu Huren“ mache, sondern zum „großen seelischen Erlebnis, zum stärksten Antrieb auf dem Wege unserer geistigen Menschwerdung“ werde.60 Kurella stilisierte damit Sexualität zur Kulturaufgabe, als „Notwendigkeit“ für „unsere Geistigkeit, unsere Kultur“, die gegenwärtig nahezu „religiöse Bedeutung“ habe.61 Frank Borkenau sprach zwar von Kurellas Flucht „ins Reich des Idealismus“.62 Allerdings war Kurella insofern doch realistisch, als dass er auch auf das Risiko einging, während dieser „Lehrjahre“ schwanger zu werden, was Jugendliche durch geeignete Methoden der Empfängnisverhütung verhindern könnten.63

Es überrascht wenig, dass Kurellas Plädoyer für vorehelichen Geschlechtsverkehr und Promiskuität – allerdings keine willkürliche, denn er setzte ein Zusammengehörigkeitsgefühl zwischen den Sexualpartnern voraus – aus unterschiedlichen Richtungen kritisiert wurde, z. B. von dem Rassenhygieniker Max v. Gruber (1853–1927) oder von Dankwart Gerlach (1890–1979) vom nationalistischen Flügel der Jugendbewegung.64 Für den kulturkritischen Verleger und Herausgeber der kulturpädagogischen Zeitschrift Die Tat, Eugen Diederichs (1867–1930), gehörten

57 Alfred Kurella: Körperseele, in: ders. (Hg.): Die Geschlechterfrage der Jugend, Hamburg 2. überarb. Aufl. 1920, S. 7–28, S. 15 [erschien zuerst in: Freideutsche Jugend, 1918, Jg. 4, S. 235– 252]. 58 Ebd., S. 14. 59 Ebd., S. 9 und 13. 60 Ebd., S. 12, 14, 23. 61 Ebd., S. 23. 62 Jungmann [Borkenau]: Autorität (Anm. 1), S. 700. 63 Kurella: Körperseele (Anm. 57), S. 15f. 64 Max von Gruber: Offener Brief, in: Alfred Kurella (Hg.): Die Geschlechterfrage der Jugend, Hamburg 1. Aufl. 1919, S. 15–16; Dankwart Gerlach: Geschlechterfragen, in: ebd., S. 11–15. diejenigen in der Freideutschen Jugend, die meinten, „sich subjektivistisch erotisch ausleben“ zu können, zu den „Zersetzungserscheinungen unserer Zeit“ und nicht „zum aufbauenden Teil unseres Volkstums“.65 Auch wenn er sich nicht namentlich auf Kurella bezog, richtete sich seine Kritik klar an dessen Adresse.

Kurellas Ansichten waren aber auch in der Freideutschen Jugend selbst umstritten.66 Der jugendbewegte Sozialökonom und religiöse Sozialist Eduard Heimann (1889–1967) beispielsweise verlangte, dass sich die Jugend „rein zu halten [habe] für die reine Liebe“.67 Er verteidigte Treue und Ehe als „Inbegriff allen Glückes und aller Schönheit“ und lehnte Empfängnisverhütungsmittel ab, denn der Wunsch nach Kindern ergebe erst die „unverminderte Ganzheit der Liebe“.68 Ganz ähnlich argumentierte Else Stroh, die von jugendlichen Paaren „Selbstzucht und Askese“ forderte, bis sie heiraten konnten.69 Franz Sachs glaubte an einen dritten Weg zwischen „dem Besitzaberglauben des früheren Ehemenschen und dem freischweifenden Sexual- und Liebeskommunismus“ à la Kurella. Dieser dritte Weg dürfe allerdings nicht „aus Jüngling und Mädchen ein neutral verwaschenes Wesen ‚Mensch‘“ machen, sondern müsse es beiden ermöglichen, „in heroischer Distanz zu einander entbrennen“ zu können, um „stolz und eigen, frei und doch zusammen […] den Weg [zu] beschreiten, während ein Flammenbogen sie verbindet“.70

Aus einer anderen Richtung argumentierend, sah der Arzt und Freideutsche Harald Schultz-Hencke (1892–1953) sowohl in den Vorschlägen Kurellas als auch Heimanns „Utopien im schlechten Sinn, keine wirkliche Lösungen“.71 Er stimmte zwar Kurellas sexualmoralischem Argument zu, dass sexuelle Beziehungen sich „so widerspiegeln [müssen], wie es den inneren Beziehungen wirklich entspricht“, warf ihm und Heimann aber vor, „die Selbstherrlichkeit des sexuell-körperlichen Triebes“ zu übersehen. Der

65 Eugen Diederichs: Freideutsche Jugend und sexuelle Frage, in: Die Tat, 1919/20, Jg. 11, S. 952– 953, S. 953. 66 Vgl. Klönne: Mädchen (Anm. 12), S. 124–127. 67 Eduard Heimann: Bemerkungen zur Geschlechterfrage, in: Freideutsche Jugend, 1918, Jg. 4, S. 252–257, S. 252. 68 Ebd., S. 254, 256. 69 Else Stroh: Ueber Eros, Liebe und Ehe, in: Freideutsche Jugend, 1919, Jg. 5, S. 309–313, S. 309. 70 Sachs: Verhältnis (Anm. 53), S. 48f. 71 Harald Schultz-Hencke: Hemmungen. Ein Beitrag zur Geschlechterfrage, in: Freideutsche Jugend, 1919, Jg. 5, S. 303–308, S. 303. Sexualtrieb sei ein „Reflex“, der alle moralischen Erwägungen überlagern würde.72 Entweder man akzeptiere dies oder unterdrücke den „sexuellen Reflex“, was zu „schwerer Nervosität“ führe.73 Der Ausweg war, dafür zu sorgen, dass „dem Trieb gar nicht die Möglichkeit gegeben wird, […] überhaupt aufzutreten“ und unter dieser Bedingung sei sexuelle Enthaltsamkeit „an sich sehr wohl möglich“.74 Damit werde in der Jugendbewegung „der Körper des anderen ‚tabu‘“.75

Vorsichtig drückte sich der führende Freideutsche und Arzt Knud Ahlborn (1888–1977) aus. Er betonte zwar, dass Kurella als erster „das Schweigen gebrochen“ und die Sexualprobleme der Jugend angesprochen habe, hielt dessen Lösungen aber für „verfehlt“, insbesondere dessen Ideen zur freien Liebe.76 Ahlborn forderte „vorausschauende Körper- und Willensbildung“ der Jugend, die einen kameradschaftlichen Umgang zwischen Jungen und Mädchen, eine „gemeinsame Körperausbildung“ sowie gemeinsames nacktes „Luft-, Sonnen- und Wasserbaden“ ermöglichen würde.77

Der junge Psychoanalytiker und Mediziner Otto Fenichel (1897–1946), der sich Anfang 1914 in Wien der Jugendkulturbewegung angeschlossen hatte, dagegen pries Kurellas Beitrag als „eine Tat“ und „Wendepunkt in der Geschichte der Jugendbewegung“.78 Ohne ihn beim Namen zu nennen, bezog sich Fenichel in seinem Beitrag auch auf Blumenthal und wies die bisher in der Jugendbewegung vertretenen Ansätze, durch Selbstbeherrschung und Askese die sexuellen Triebe zu kontrollieren, als krankmachend zurück. Er rief stattdessen Jugendliche zur „Redlichkeit“ gegenüber sich selbst und zur „innere[n] Wahrhaftigkeit“ auf, sich ihrer Sexualität zu stellen, denn: „Nicht Unglück zu verhüten gibt es, sondern Glück zu schaffen.“79 Fenichel formulierte hier eine neue, das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung und Toleranz einfordernde Sexualmoral, wenn er

72 Ebd., S. 304f. 73 Ebd., S. 305f. 74 Ebd., S. 306. 75 Ebd. 76 Knud Ahlborn: Noch eine Erwiderung auf Kurellas Aufsatz „Körperseele“, in: Freideutsche Jugend, 1919, Jg. 5, S. 170–174, S. 171, 173. 77 Ebd., S. 172. 78 Otto Fenichel: Grundsätze zu jeder Sexualethik, in: Kurella: Geschlechterfrage (Anm. 64), S. 30–37, S. 30; vgl. Elke Mühlleitner: Ich – Fenichel. Das Leben eines Psychoanalytikers im 20. Jahrhundert, Wien 2008, S. 60–62, 75. 79 Fenichel: Grundsätze (Anm. 78), S. 31f. postulierte: „Solange die Integrität der Gesellschaft dadurch nicht verletzt wird, ist jede Sexualhandlung jeder anderen gleichberechtigt.“ Er wies damit jede Form äußerlicher Kontrolle und Regulierung der Sexualität durch Staat und Gesellschaft zurück, einschließlich strafrechtlicher Bestimmungen gegen den sexuellen Missbrauch von Minderjährigen: „In eine Sache, die nur ein oder zwei Einzelmenschen betrifft, haben nur ein oder zwei Einzelmenschen dreinzureden.“80 Allerdings nur bei „unschädlichen (sexuellen) Handlungen“, dies war Fenichels einzige Einschränkung. Ansonsten sollte das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung für Frauen und Männer gleichermaßen gelten.81

Neben diesen theoretischen Diskussionen in der Jugendbewegung konnten Jugendliche zunehmend auch praktischen Rat in sexuellen Fragen finden. Dies war zwar noch weit entfernt von einer umfassenden sexuellen Aufklärung, aber langsam entwickelten sich erste Möglichkeiten für Jugendliche, sich über sexuelle Fragen zu informieren. So war es einzelnen, im Kontext der Revolution von 1918/19 entstandenen Schülerräten gelungen, an Berliner Schulen Vorträge über Fragen der Sexualität durchzusetzen, und der Zentrale Schülerausschuss setzte sich auf einem Treffen im Dezember 1918 in München für die Einführung von Sexualerziehung im Schulcurriculum ein.82 Die ebenfalls im Kontext der Revolution und im Umfeld von Hermann Schüllers (1893–1948) „Bund Aufbau“ entstandene „Freien Schülerschaft Berlin“ betrieb in ihrer praktischen Arbeit neben mehreren Sprechsälen Ende 1919 auch eine Arbeitsgruppe für Sexuologie am Dorotheenstädtischen Gymnasium, die von Otto Fenichel geleitet wurde.83 Schüllers Bund Aufbau und die Freie Schülerschaft Berlin waren Bestandteil der „Entschiedenen Jugend“ und sahen sich in der Tradition der Jugendkulturbewegung, der sie eine geistesrevolutionäre und sozialistische Wende verpassen wollten und in der sie die bürgerliche mit der proletarischen Jugendbewegung zu vereinen beabsichtigten.84 Neben diesen politischen Zielen ging es der „Entschiedenen Jugend“ auch um die Überwindung traditioneller bürgerlicher Familienkonzepte sowie um die „sexuelle Frage“. So hieß es im

80 Ebd., S. 34. 81 Ebd. 82 Andrew Donson: The teenagers’ revolution. Schülerräte in the democratization and right-wing radicalization of Germany, 1918–1923, in: Central European History, 2011, Jg. 44, S. 420–446, S. 428, 433. 83 Berlin: Sprechsäle und Arbeitsgruppen der freien Schülerschaft, in: Der Neue Anfang [Basel], 1919, Jg. 1, Nr. 21/22, S. 362; vgl. Mühlleitner: Fenichel (Anm. 78), S. 102, 107; Linse: Jugend (Anm. 7), S. 44ff. 84 Linse: Jugend (Anm. 7). Programm der Freien Schülerschaft vom Februar 1919, dass nur durch solche Schülergemeinschaften „die eigentlichen Nöte der Jugend, ihre Eingeengtheit in den Zwang der Tradition, die Formlosigkeit ihrer Erotik, die spielerische Unerfülltheit ihres Daseins, gelöst werden“ können.85 Eine Berliner Schülerin klagte über die in ihren Augen überholte Sexualmoral und dass immer noch „Schicklichkeit und Anstand“ eingefordert würden. „Wenn ein Mädchen sich von einem Jungen zur Schule bringen läßt, – es kann ihr Bruder sein, – so schickt sich das nicht.“ Unterhielt sich eine Schülerin mit einem ledigen Lehrer, „so gerät mindestens das halbe Lehrerinnenzimmer in Aufregung über diesen Verstoß gegen die gute Sitte!“86 Die Schülerin forderte demgegenüber „einen frischen neuen Geist“ an den Schulen, der Koedukation zulasse, durch den die Jugend „zu innerer Wahrheit und zu eigener Verantwortung erzogen werde“ und der so ein „neues Menschengeschlecht“ hervorbringe.87

Deutlich moderater als Kurella und Fenichel waren die Positionen des aus der Wandervogelbewegung kommenden sozialistischen Arztes, Sexualreformers und - pädagogen Max Hodann (1894–1946). Es ist nicht ausgeschlossen, dass er, damals noch Medizinstudent, auf dem Ersten Treffen der Freideutschen Jugend 1913 auf dem Hohen Meißner Kurella oder Bernfeld kennenlernte; später stand er mit Otto Fenichel in Kontakt.88 In seinen Aufklärungsbüchern bezog Hodann sich immer wieder auf die grünen Hefte des Anfang. Er notierte später in einem im Exil verfassten Entwurf zu seiner Autobiographie anerkennend, dass der Kreis um Wyneken „die geistige Krise“ der Zeit verstanden habe und die Mitglieder der Jugendkulturbewegung „unerschrocken“ daran gegangen seien, die „Pubertätsschwierigkeiten mit dem Seziermesser der Kritik zu behandeln“.89 Hodann stand jedoch deren „rein idealistischer Vorstellung, dass ‚die Jugend‘ aus sich heraus eine ihre eigene Kultur schaffen könne“, skeptisch gegenüber.

85 Programm der Freien Schülerschaft Berlin, in: Der neue Anfang [München], Jg. 1, 15.02.1919, Nr. 4, S. 63f., S. 64. 86 Herta: Rede einer Schülerin, in: Der neue Anfang [München], Jg. 1, 15.03.1919, S. 91–96, S. 95f. 87 Ebd., S. 96. 88 Dudek: Annäherungen (Anm. 1), S. 77; Williams: Ecstasies (Anm. 4), S. 172f.; Mühlleitner: Fenichel (Anm. 78), S. 77; vgl. Karl Braun: Jugendbewegung, Sexualaufklärung, Sozialhygiene. Das Beispiel Max Hodann (1894–1946), in: Braun u. a.: Avantgarden (Anm. 5), S. 33–60; die leider ungenügende Biographie von Wilfried Wolff: Max Hodann (1894–1946): Sozialist und Sexualreformer, Hamburg 1993. 89 Arbetarrörelsens Arkiv och Bibliotek, (ARAB), 233/1: Max Hodann: Flucht in die Wälder, [o. D.], S. 4. Der Jugendkulturbewegung fehle „die reale Beziehung zu den gesellschaftsgestaltenden Kräften“.90 Gleichzeitig kritisierte er die apolitische Haltung des Wandervogels, die er als unbefriedigenden „psychische[n] Vegetarismus“ abkanzelte.91

Drei Jahre nach dem Treffen auf dem Hohen Meißner veröffentlichte Hodann in Helene Stöckers Zeitschrift Die neue Generation seinen ersten Beitrag zur Diskussion über Jugendsexualität. Während sich die Mitglieder des Wandervogels „peinlich berührt“ gefühlt hätten, als Blüher 1912 Sexualität und Homosexualität thematisierte,92 hätten sich die Mitglieder der Jugendkulturbewegung in ihrer Zeitschrift „in erfreulicher Selbstsicherheit mit den Fragen des Verhältnisses der Geschlechter zueinander“ beschäftigt und sich zu sexuellen Fragen geäußert.93 Gleichwohl sah Hodann als prinzipielles Problem der Jugend, dass sie immer noch zutiefst geprägt sei von den Konventionen und sexualmoralischen Vorstellungen des 19. Jahrhunderts. „Auf dem Gebiete des Erotischen“ herrsche bei den meisten Jugendlichen „ein seelischer Wirrwar“ und eine Scheu, sich über ihre sexuellen Nöte zu äußern.94 Sich direkt auf Blumenthal beziehend, betonte er in seiner Kritik an Blüher, dass die Sexualität „eines der stärksten Momente im Leben überhaupt“ sei und es für die Jugend daher wichtig wäre, in diesen Fragen „ehrlich zu sein“, unabhängig davon ob sich die erotischen Gefühle auf das andere oder das eigene Geschlecht bezögen.95 Hodann, der im Auftrag der Centralarbeitsstätte für Jugendbewegung die Schriften zur Jugendbewegung herausgab,96 forderte in einem der sexuellen Frage der Jugend gewidmeten Themenheft im Mai 1916, Homosexualität als gleichberechtigte sexuelle Orientierung anzuerkennen und den § 175 des Strafgesetzbuches, den er für „eine Schmach der Zeit“ hielt, abzuschaffen.97 Man

90 Ebd., S. 2f. 91 Ebd., S. 3. 92 Vgl. Hans Blüher: Die deutsche Wandervogelbewegung als erotisches Phänomen. Ein Beitrag zur Erkenntnis der sexuellen Inversion, Berlin-Tempelhof 1912. 93 Max Hodann: Das erotische Problem in der bürgerlichen Jugendbewegung, in: Die Neue Generation, 1916, Jg. 12, Nr. 7–8, S. 199–206, Wiederabdruck in ders.: Sexualpädagogik, Erziehungshygiene und Gesundheitspolitik: Gesammelte Aufsätze und Vorträge (1916–1927), Rudolstadt 1928, S. 9–16, S. 13. 94 Ebd., S. 10f. 95 Max Hodann: Sexualität und Jugend, zugleich ein Versuch zur Kritik der Blüherschen Schriften, in: Schriften zur Jugendbewegung, Mai 1916 (Die Jugend zum Sexualproblem I), S. 34–41, S. 34. 96 Vgl. Braun: Jugendbewegung (Anm. 88), S. 38f. 97 Hodann: Sexualität (Anm. 95), S. 99. müsse sich offen mit Fragen kindlicher und jugendlicher Sexualität auseinandersetzen, denn Sexualität habe „mehr im Leben zu bedeuten, als nur Kinder entstehen zu lassen“.98

Von den Autoren, die Texte zur Sexualerziehung und zur Sexualpädagogik in der Zeit vor 1933 verfassten, war Hodann der innovativste und pragmatischste, aber auch umstrittenste Autor, der sich am offensten zeigte gegenüber den sexuellen Fragen und Problemen junger Menschen. Er war vielen Menschen ein Begriff, in der Arbeiterschaft kannte man ihn unter dem Spitznamen „Hodenmaxe“.99 Seine beiden Aufklärungsbücher für Kinder und Jugendliche, Bub und Mädel von 1924 und, zwei Jahre später, Woher die Kinder kommen, waren in der Arbeiterschaft verbreitet und markierten einen Wendepunkt in der deutschsprachigen Aufklärungsliteratur.100 Kein Autor zuvor hatte Aufklärungstexte in einer derart klaren, medizinisch präzisen und gleichzeitig verständlichen Sprache verfasst und mit Querschnittszeichnungen die Sexualanatomie des männlichen und weiblichen Körpers illustriert. Hodann äußerte auch hier sein Verständnis für die sexuellen Nöte der Jugend und stimmte nicht in den Kanon derjenigen ein, die Masturbation verdammten, sondern anerkannte den Anspruch Jugendlicher auf sexuelle Erfüllung.101 Angesichts dessen, dass ca. die Hälfte der 16- bis 17-jährigen Mädchen in Berlin bereits Geschlechtsverkehr gehabt hätten (bei Jungen sei das nicht viel anders), dürfe man nicht den „Kopf in den Sand stecken“, schrieb er 1924.102 Die bürgerliche Sexualmoral, die Jugendlichen Sexualaufklärung bis zur Ehe vorenthielt, nannte Hodann „eine Unmoral, eine Heuchelei schlimmster Sorte“.103 Deshalb erklärte er detailliert die Sexualanatomie, schrieb ausführlich über Reproduktion, beschrieb

98 Ebd., S. 35, 41. 99 Karl Fallend: Wilhelm Reich in Wien. Psychoanalyse und Politik, Wien, Salzburg 1988, S. 85– 93. 100 Max Hodann: Bub und Mädel. Gespräche unter Kameraden über die Geschlechterfrage, Leipzig 1924, erw. und überarb. Aufl. (4.–6. Tausend) [1924] (Entschiedene Schulreform. Abhandlungen zur Erneuerung der deutschen Erziehung, Bd. 25), 8. und letzte Aufl. 1928 mit, laut Hodann, insgesamt 40.000 verkauften Exemplaren (ARAB 233/5: Hodann an Redaktion der Zeitung „Nation“, Bern, v. 09.12.1946); Max Hodann: Woher die Kinder kommen: Ein Lehrbuch, für Kinder lesbar, Rudolstadt 1926, in überarb. Aufl. mit dem Titel: Bringt uns wirklich der Klapperstorch? Ein Lehrbuch für Kinder lesbar, Rudolstadt 1928, eine 2. Aufl. erschien 1930 mit einer Auflagehöhe von 25.000 Exemplaren. Vgl. Lutz Sauerteig: Representations of pregnancy and childbirth in (West) German sex education books, 1900s–1970s, in: Lutz Sauerteig, Roger Davidson (Hg.): Shaping Sexual Knowledge. A Cultural History of Sex Education in Twentieth Century Europe, London u. a. 2009, S. 120–160, S. 133ff. 101 Hodann: Bub (Anm. 100), S. 38. 102 Ebd., S. 12. 103 Ebd., S. 13. Methoden zur Empfängnisverhütung und diskutierte Fragen der Abtreibung. Es überrascht daher wenig, dass Hodanns im Greifenverlag erschienene Bücher auf Widerspruch stießen und zum Teil beschlagnahmt wurden.104

Hodann hielt es zwar für besser, wenn Jugendliche mit festen Beziehungen noch warten würden, denn „erst reife Menschen sollen sich in Liebe verbinden“.105 Dennoch äußerte er keine grundsätzlichen moralischen Vorbehalte dagegen, dass Jugendliche Geschlechtsverkehr hatten, vorausgesetzt, dass dies in einer festen Partnerbeziehung geschah. Die „geschlechtliche Verbindung als Liebesereignis hat für zwei Menschen, über die das Ereignis hereinbricht, mehr zu bedeuten, als nur der Erhaltung der Art zu dienen“.106 Wenn ein junges Paar Geschlechtsverkehr habe, sollte es sich allerdings über „Vorbeugungsmittel“ auskennen und diese verwenden. Es sei „hier, wie überall, besser, vorzubeugen, als hernach in Schwierigkeiten zu kommen und die Gesundheit der Frau aufs Spiel zu setzen“.107

Weder das Aufklärungsbuch noch der sexualpädagogische Elternratgeber der Psychoanalytikerin Annie Reich (1902–1971) waren so erfolgreich wie Hodanns Bücher.108 Reich stellte jedoch die Sexualerziehung stärker als Hodann in einen politischen Kontext. Man könne, so bemerkte sie einleitend zu ihrem Erziehungsratgeber, „die Frage der sexuellen Erziehung des Kleinkindes […] nur im Zusammenhang mit der allgemeinen Stellung der Sexualität in der kapitalistischen Gesellschaft“ betrachten.109 So verhinderte beispielsweise die „Wohnungsmisere der kapitalistischen Welt […] jede richtige Sexualerziehung“, u. a. weil es in Arbeiterwohnungen keine getrennten Schlafräume für Kinder gäbe und diese häufig im gleichen Bett wie ihre Eltern schlafen müssten.110 Deutlich kritisierte sie die Unterdrückung der Frau, die schon bei kleinen Mädchen und

104 Hans-Joachim Bergmann: „Deutschland ist eine Republik, die von Rudolstadt aus regiert wird“. Das Strafverfahren gegen Max Hodann und Karl Dietz im Rudolstadt des Jahres 1928 – zugleich ein Beitrag zur Geschichte des Greifenverlags, in: Marginalien, 1990, Nr. 117, S. 35–43. 105 Hodann: Klapperstorch (Anm. 100), S. 40f. 106 Hodann: Bub (Anm. 100), S. 68. 107 Ebd., S. 44f. 108 Annie Reich: Der Verein „Das Kreide-Dreieck“ erforscht die Geheimnisse der Erwachsenen, hg. von der Pädagogischen Abteilung des Sexualpolitischen Seminars in Berlin, Berlin [1932]; Annie Reich: Wenn dein Kind dich fragt ...: Gespräche, Beispiele und Ratschläge zur Sexualerziehung, Leipzig, Berlin, Wien [1932]. 109 Reich: Kind (Anm. 108), S. 3. 110 Ebd., S. 19. deren Sexualität anfange.111 Masturbation sah Reich für „vollkommen unschädlich“ an und riet Eltern, das Kind gewähren zu lassen, denn Masturbation sei „eine notwendige Vorbereitungsperiode für die spätere Sexualität der Erwachsenen“.112 Dieselbe Position hatte zuvor auch ihr Ehemann Wilhelm Reich (1897–1957) vertreten, der ebenfalls kein prinzipielles Problem darin sah, dass Jugendliche Geschlechtsverkehr hatten. Die Schwierigkeiten entstünden lediglich aus den sozialen und gesellschaftlichen Umständen wie Wohnungsnot, Sittlichkeit und „Schwangerschaftsangst“. Ob Jugendliche „ohne weiteres geschlechtlich verkehren“ sollten, hänge daher „im Einzelfall von dem Maß an seelischer Gesundheit, von der materiellen Abhängigkeit, von der Wohnungsfrage und anderen schwierigen Dingen ab“.113

Annie Reich schloss ihren Erziehungsratgeber, den sie ein Jahr vor der Trennung von ihrem Mann verfasste, mit der für die Achtundsechziger dann später so wichtigen Feststellung: „Erst die Befreiung des Proletariats von seinen Unterdrückern wird die Befreiung der Sexualität herbeiführen.“114 Immer wieder kam sie auf die politische Dimension der Sexualerziehung von Kindern und Jugendlichen und auf die Notwendigkeit einer antiautoritären Erziehung im Allgemeinen zurück. Das von Eltern frühzeitig aufgeklärte Kind, so stellte sie fest, werde „kritisch und selbständig“ und könne „nicht mehr mit Autorität“ erzogen werden. Zudem wisse es, „daß auch Eltern und Lehrer Menschen sind, die, wie es selbst, sexuelle Dinge tun“. Kinder sehen daher Erwachsenen nicht mehr als „unnahbare Gottheiten“. Reich argumentierte gegen „absolute[n] Gehorsam“, der die Grundlage jeder reaktionären Erziehung“ sei und „mit Prügel und militärischem Gehorsam […] brave Staatsbürger“ herbringe.115

Wesentlich für die Sexualtheorie von Wilhelm Reich und sein marxistisch- psychoanalytisches Denken war die Annahme einer im Naturzustand „gesunden“ Sexualität des Menschen.116 Die „orgiastische Potenz“ setze in diesem

111 Ebd., S. 25. 112 Ebd., S. 20f., Zitat S. 20. 113 Wilhelm Reich: Sexualerregung und Sexualbefriedigung, und: Beantwortung sexueller Fragen, Wien 1929, 4. Aufl. 1930, S. 37, Zitate S. 45f. 114 Reich: Kind (Anm. 108), S. 32. 115 Ebd., S. 16. 116 Vgl. Karl Fallend, Bernd Nitzschke (Hg.): Der „Fall“ Wilhelm Reich. Beiträge zum Verhältnis von Psychoanalyse und Politik, Frankfurt a. M. 1997, überarb. Aufl. 2002; Anna Bergmann: Zustand positive Energien frei. Sobald der Mensch die Möglichkeit zur freien sexuellen Entfaltung habe, sei er in der Lage, sein Triebleben zu steuern und ein ausgewogenes Verhältnis zwischen sozialen Ansprüchen und sexuellen Bedürfnissen zu finden. Im Gegensatz zu Freud ist für Reich der ungehemmte Sexualtrieb keine Bedrohung für die Kultur, d. h. die von Freud zur Kulturproduktion postulierte Sublimierung der Sexualität ist für Reich nicht nur unnötig, sondern gefährlich. Denn eine unterdrückte Sexualität führte laut Reich zu krankhaftem und asozialem Verhalten. „Die antisozialen Handlungen“, so Reich in der in den USA überarbeiteten Ausgabe der Funktion des Orgasmus von 1940, „entstammen sekundären, durch die Unterdrückung des natürlichen Lebens entstandenen Trieben, die der natürliche Sexualität widersprechen. […] Die neurotische Lustangst ist die Grundlage der Reproduktion der lebensverneinenden, Diktatur begründenden Weltanschauungen durch die Menschen selbst.“117 Reich postulierte damit einen kausalen Zusammenhang zwischen unterdrückter (genitaler) Sexualität und autoritären Strukturen, Grausamkeit und Faschismus.

Normalisierung kindlicher und jugendlicher Sexualität um 1968

Nach 1945 waren Hodanns Aufklärungsbücher ebenso in Vergessenheit geraten wie die radikalen Forderungen der Jugendkulturbewegung, Bernfelds Werk und die Arbeiten von Annie und Wilhelm Reich. Die Sexualerziehung der Adenauerschen Bundesrepublik war von einer Pädagogik geprägt, die auf traditionelle Familien- und Eheideale einer imaginierten intakten Vergangenheit der Jahrhundertwende zurückgriff, voreheliche Enthaltsamkeit predigte, Empfängnisverhütung verurteilte und traditionelle Geschlechterrollen verlangte. Diese Sexualpädagogik fügte sich in das Konzept der Re- Christianisierung und Wiederherstellung einer konservativen Gesellschaftsordnung, wie sie die Bonner Regierung des Rheinlandkatholizismus betrieb.118

Wilhelm Reichs „sexuelle Massenhygiene“ und seine Vision einer „freien“ Sexualität, in: Zeitschrift für Sexualforschung, 1996, Jg. 9, S. 315–334. 117 Wilhelm Reich: Die Funktion des Orgasmus. Sexualökonomische Grundprobleme der biologischen Energie, Frankfurt a. M. 1972, S. 16. 118 Lutz Sauerteig: From the fear of conception to the management of sex. Birth control in West German sex education material, c. 1945–1980, in: Lutz Niethammer, Silke Satjukow (Hg.): „Wenn die Chemie stimmt“ ...: Geschlechterbeziehungen und Geburtenkontrolle im Zeitalter der „Pille“, Göttingen 2016, S. 211–241; Sybille Steinbacher: Wie der Sex nach Deutschland kam. Der Kampf Die von den Sexualaufklärern der 1950er und frühen 1960er Jahre propagierte Sexualmoral wurde allerdings von Jugendlichen immer weniger praktiziert. Wie Umfragen zeigten, wandelten sich sowohl die sexualmoralischen Vorstellungen wie auch das Sexualverhalten von Jugendlichen in der Nachkriegszeit, vor allem in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre. Vorehelicher Geschlechtsverkehr wurde von einem zunehmenden Anteil der westdeutschen Bevölkerung als moralisch vertretbar angesehen und Jungfräulichkeit verlor die Bedeutung, die sie noch um 1900 besessen hatte. Sehr viel früher als noch ein oder zwei Generationen zuvor begannen Jugendliche, sexuelle Erfahrungen zu sammeln und zwar in allen Formen, von der Masturbation, über den ersten Kuss und Petting, bis hin zum ersten Geschlechtsverkehr. Immer weniger Jugendliche hielten sich noch an das Gebot vorehelicher Enthaltsamkeit. Besonders auffällig waren die Veränderungen im Sexualverhalten von Mädchen, die in den 1970er Jahren in der Mehrheit früher als Jungen sexuell aktiv wurden. Dies war bis dahin genau umgekehrt gewesen.119 Diese Veränderungen der sexualmoralischen Vorstellungen und des Sexualverhaltens sowie die von viele Zeitgenossen beklagte „Sexwelle“, die die Bundesrepublik in den 1950er und 1960er Jahren zu überrollen schien, sahen viele als ein Anzeichen für einen fortschreitenden Verfall der Sitten, der, so die Sorge, zu einer wachsenden Promiskuität unter Jugendlichen führen würde.120

Gegen Ende der 1960er Jahre begannen Sexualpädagogen wie beispielsweise der Arzt und Psychotherapeut Martin Goldstein, der später als Dr. Jochen Sommer und Dr.

um Sittlichkeit und Anstand in der frühen Bundesrepublik, München 2011, Kapitel 1; Sauerteig: Representations (Anm. 100), S. 138–140; Lutz Sauerteig: Die Herstellung des sexuellen und erotischen Körpers in der westdeutschen Jugendzeitschrift BRAVO in den 1960er und 1970er Jahren, in: Medizinhistorisches Journal, 2007, Jg. 42, S. 142–179; Dagmar Herzog: Sex After Fascism. Memory and Morality in Twentieth-Century Germany, Princeton u. a. 2005, Kapitel 3. 119 Lutz Sauerteig: East and West German Kinseys. Sex surveys and normalising young people’s sexuality after World War II, in: Sextant, im Druck; Sauerteig: Herstellung (Anm. 118), S. 15–17; Gunter Schmidt: Zur Sozialgeschichte jugendlichen Sexualverhaltens in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, in: Claudia Bruns, Tilmann Walter (Hg.): Von Lust und Schmerz. Eine Historische Anthropologie der Sexualität, Köln u. a. 2004, S. 312–325. 120 Elizabeth D. Heineman: Before Porn Was Legal. The Erotica Empire of Beate Uhse, Chicago, Ill. 2011, Kapitel 3 und 5; Steinbacher: Sex (Anm. 118), Kapitel 3; Annette Timm: The Politics of Fertility in Twentieth-Century Berlin, Cambridge u. a. 2010, S. 222–226, 297, 299; Eva-Maria Silies: Liebe, Lust und Last. Die Pille als weibliche Generationserfahrung in der Bundesrepublik 1960–1980, Göttingen 2010, S. 328–335; Sauerteig: Herstellung (Anm. 118), S. 17; Herzog: Sex (Anm. 118), Kapitel 2–3; Franz X. Eder: Die „Sexuelle Revolution“ – Befreiung und/oder Repression?, in: Ingrid Bauer, Christa Hämmerle, Gabriella Hauch (Hg.): Liebe und Widerstand: Ambivalenzen historischer Geschlechterbeziehungen, Wien u. a. 2005, S. 397–414. Alexander Korff die Sexualaufklärung der Jugendzeitschrift Bravo prägte, auf die Veränderungen in den sexualmoralischen Vorstellungen und im jugendlichen Sexualverhalten zu reagieren. Gleichzeitig stieg der Druck auf die Schulpolitiker*innen, Sexualaufklärung an den Schulen verpflichtend einzuführen. Nach langen Diskussionen einigten sich die Kultusminister der Länder 1968 darauf, Sexualaufklärung im Sinne einer Vermittlung biologischer Fakten über Reproduktion und Sexualität an Schulen verpflichtend einzuführen.121 Sowohl konservative wie auch liberale Kommentatoren kritisierten den hierzu 1969 von der Bundeszentrale für Gesundheitliche Aufklärung als Schulbuch für Sexualkunde herausgegebenen Sexualkunde-Atlas jedoch massiv wegen seines biologistischen Ansatzes.122

Zur gleichen Zeit wurde Wilhelm Reichs Sexualtheorie im linksalternativen Milieu in den späten 1960er und der 1970er Jahre wieder neu entdeckt und stieß hier als Erklärung für autoritäres Verhalten und Faschismus sowie als Handlungsanweisung, zu einer reformierten Menschlichkeit zu gelangen und den „Neuen Menschen“ zu schaffen, auf wachsendes Interesse. Insbesondere Reichs Bücher Die Funktion des Orgasmus von 1927 und Die sexuelle Revolution aus den 1930er Jahren, die um 1968 in zahlreichen Raubdrucken und offiziellen Reprints zirkulierten, wurden für die Achtundsechziger zu Kultbüchern, „zu einem Vademekum“.123 Basierend auf der von Reich inspirierten und von Herbert Marcuse (1898–1979) und Theodor W. Adorno (1903–1969) weiterentwickelten These, dass eine unterdrückte Sexualität zu Aggression und Autoritätshörigkeit führe und damit ursächlich für den Faschismus gewesen sei,124

121 Empfehlung zur Sexualerziehung in den Schulen, in: Sammlung der Beschlüsse der Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder der Bundesrepublik Deutschland, Nr. 659 v. 03.10.1968, Neuwied 1969; vgl. Sauerteig: Fear (Anm. 118), S. 215–216; Christin Sager: Das aufgeklärte Kind. Zur Geschichte der bundesrepublikanischen Sexualaufklärung (1950–2010), Bielefeld 2015, S. 132–134. 122 Sauerteig: Representations (Anm. 100), S. 145. 123 Sven Reichardt: Authentizität und Gemeinschaft. Linksalternatives Leben in den siebziger und frühen achtziger Jahren, Berlin 2014, S. 652. 124 Zur Rezeption von Psychoanalyse, Freud, Bernfeld, Marcuse und Reich in der Achtundsechzigerbewegung, Detlef Siegfried: 1968. Protest, Revolte, Gegenkultur, Ditzingen 2018, S. 59–70; Joachim C. Häberlen: The Emotional Politics of the Alternative Left. West Germany, 1968–1984, Cambridge 2018, S. 47–56; Christine Weder: Intime Beziehungen. Ästhetik und Theorien der Sexualität um 1968, Göttingen 2016. S. 38–120; Tatjana Freytag: Sexualität und Befreiung bei Herbert Marcuse, in: Meike Sophia Baader u. a. (Hg.): Tabubruch und Entgrenzung. Kindheit und Sexualität nach 1968, Köln 2017, S. 191–199; Reichardt: Authentizität (Anm. 123), S. 652–658; Ulrike Heider: Vögeln ist schön. Die Sexrevolte von 1968 und was von ihr bleibt, Berlin 2014, S. 31, 55–60; Anthony D. Kauders: Drives in dispute. The West German student strebten die Achtundsechziger eine von den bürgerlichen Moralnormen, den kapitalistischen Konsumzwängen und dem Leistungsprinzip „befreite“ und durch Liebe „geadelte“ Sexualität an. Ohne eine antikapitalistische Gesellschaftsreform wäre, so Marcuses Theorem, nur die scheinbare Freiheit einer repressiven Entsublimierung erreichbar, die vom politischen Kampf ablenkte. Der Diskurs über Sexualität rückte damit im linksalternativen Milieu in den Vordergrund des Projektes des „Neuen Menschen“, der seine Sexualität frei und befriedigt ausleben könne. Dieser „Neue Mensch“ sei Reich zufolge nicht mehr zu zerstörerischen oder sadistischen Handlungen fähig, sondern würde, ohne repressive Sublimierung, frei von Aggressionen gütig auf die Mitmenschen zugehen.

Es ging aber den alternativen Linken nicht nur um eine Kritik an den herrschenden sexualmoralischen Normen, sondern um mehr: Es ging ihnen darum, die Praktiken des „Sex-haben“ über den Geschlechtsverkehrs hinaus auszuweiten.125 Stichwortgeber war Herbert Marcuse, dessen Eros und Kultur (1957) und Der eindimensionale Mensch (1967) zu Basistexten der Achtundsechzigerbewegung wurden. Seine Interpretation der Beziehung von Sexualität und Befreiung sowie seine Verknüpfung der theoretischen Konzepte von Freud und Marx waren „paradigmatisch für die Gesamtausrichtung der klassischen kritischen Theorie“.126 Ein zentraler Kritikpunkt Marcuses war die Begrenzung des Sex auf die genitale Befriedigung. Er forderte stattdessen eine Sexualität, die den ganzen Körper mit all seinen erogenen Zonen einbezog und die sich zu einer polymorphen Sexualität ausweitete. Dies lenkte den Blick der Achtundsechziger auf die kindliche Sexualität, in der sie eine ursprünglichere Sexualität erkannten, die (noch) nicht von Kapitalismus, Konsumzwang und Rationalismus überformt war. Man wollte Sexualität

movement, psychoanalysis, and the search for a new emotional order, 1967–1971, in: Central European History, 2011, Jg. 44, S. 711–731; Kristina Schulz: 1968. Lesarten der „sexuellen Revolution“, in: Matthias Frese, Julia Paulus, Karl Teppe (Hg.): Demokratisierung und gesellschaftlicher Aufbruch. Die sechziger Jahre als Wendezeit der Bundesrepublik, Paderborn u. a. 2003, S. 121–133; Stefan Micheler: Der Sexualitätsdiskurs in der deutschen Studierendenbewegung der 1960er Jahre, in: Zeitschrift für Sexualforschung, 2000, Jg. 13, S. 1– 39, S. 10–14. 125 Joachim C. Häberlen: Feeling like a child. Dreams and practices of sexuality in the West German Alternative Left during the long 1970s, in: Journal of the History of Sexuality, 2016, Jg. 25, S. 219–245; Häberlen: Politics (Anm. 124), S. 186–194. 126 Freytag: Sexualität (Anm. 124), S. 191; Herbert Marcuse: Eros und Kultur. Ein philosophischer Beitrag zu Sigmund Freud [1955], Stuttgart 1957; Herbert Marcuse: Der eindimensionale Mensch. Studien zur Ideologie der fortgeschrittenen Industriegesellschaft [1964], Neuwied, Berlin 1967. wieder so unbegrenzt und ganzheitlich erleben wie Kinder – oder jedenfalls wie die Achtundsechziger glaubten, dass Kinder ihre Sexualität erlebten. Der Sex sollte nicht mehr auf den Orgasmus fixiert werden, sondern die Achtundsechziger wollten mittels verschiedener körperlicher und nichtkörperlicher Praktiken den gesamten Körper zur Quelle sexueller Lust werden lassen.127

Damit wurden in den 1970er Jahren die sogenannte „Befreiung“ der kindlichen Sexualität von den herrschenden sexualmoralischen Normen und die Sexualerziehung von Kindern und Jugendlichen zu Leitthemen der linksalternativen Bewegung.128 Neben Theoretikern wie Reich und Marcuse fanden dabei auch die vom Rowohlt-Verlag in hohen Auflagen verbreiteten Texte des britischen Reformpädagogen Alexander S. Neill (1883–1973) zur antiautoritären Erziehung enorme Beachtung. In Nachfolge seines Freunds Wilhelm Reich propagierte Neill ein freizügiges Ausleben jugendlicher Sexualität.129 Welche Rolle der Diskurs über kindliche und jugendliche Sexualität in der Achtundsechzigerbewegung spielte, werde ich im Folgenden anhand der Forderungen der Schülerbewegung, an Beispielen der im Kontext der Achtundsechzigerbewegung entstandenen Aufklärungsliteratur sowie anhand des Umgangs mit kindlicher Sexualität in Kinderläden und Kommunen zeigen.

Inspiriert von der Studentenbewegung und mit Unterstützung vom Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS) hatten sich Schüler, vornehmlich an Gymnasien, 1967 in einer Schülerbewegung organisiert.130 Eines ihrer zentralen Anliegen war es, in

127 Häberlen: Child (Anm. 125); Häberlen: Politics (Anm. 124), S. 188f. 128 Vgl. Jens Elberfeld: Von der Sünde zur Selbstbestimmung. Zum Diskurs „kindlicher Sexualität“ (Bundesrepublik Deutschland 1960–1990), in: Peter-Paul Bänzinger u. a. (Hg.): Sexuelle Revolution? Zur Geschichte der Sexualität im deutschsprachigen Raum seit den 1960er Jahren, Bielefeld 2015 , S. 247–283; Reichardt: Authentizität (Anm. 123), S. 762–767; Meike Sophia Baader: Zwischen Politisierung, Pädosexualität und Befreiung aus dem „Getto der Kindheit“. Diskurse über die Entgrenzung von kindlicher und erwachsener Sexualität in den 1970er Jahren, in: Baader u. a.: Tabubruch (Anm. 124), S. 55–84. 129 Alexander S. Neill: Summerhill. A Radical Approach to Education, London 1962, S. 208f. Sein Bestseller in Deutschland mit einer Auflagenhöhe von über einer Million Exemplaren in den 1970er Jahren war: A. S. Neill: Theorie und Praxis der antiautoritären Erziehung. Das Beispiel Summerhill [1962], Reinbek 1969. Vgl. Baader: Politisierung (Anm. 128), S. 58f.; Reichardt: Authentizität (Anm. 123), S. 727f; Andreas Gestrich: Kindheit und Jugend – individuelle Entfaltung im 20. Jahrhundert, in: Richard van Dülmen (Hg.): Entdeckung des Ich. Die Geschichte der Individualisierung vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Köln u. a. 2001, S. 465–487, S. 468ff. 130 Timothy S. Brown: West Germany and the Global Sixties: The Antiauthoritarian Revolt, 1962– 1978, Cambridge, New York 2013, pp. 244–252; Detlef Siegfried: Time is on my side. Konsum und Politik in der westdeutschen Jugendkultur der 60er Jahre, Göttingen 2006, pp. 498–506; Schülerzeitungen und Vortragsverstaltungen die Mitschüler*innen über Fragen von Sexualität und Empfängnisverhütung zu informieren. Lautstark und gegen den Widerstand von Lehrern, Eltern, Schulbürokratie und Politik forderten Schüler*innen nicht nur ein Recht auf Information über Sexualität, sondern auch auf Sex. Legendär ist 1968 der Aufruf des angehenden Soziologen und Frankfurter SDSlers Günter Amendt (1939–2011) vor Schüler*innen in Baden-Baden, „Reck und Schwebebalken, Kisten und Kasten – kurz, alle jene Kastrations- und Entjungferungswerkzeuge – aus der Turnhalle“ zu entfernen und stattdessen Decken und Matten auszubreiten, damit Schüler „sich paarweise ausstrecken, à fair l‘amour, um Liebe zu machen …“.131

Amendt wandte sich an Jörg Schröder (geb. 1938), Verleger des linken März-Verlags, mit dem Vorschlag, ein Aufklärungsbuch für Jugendliche zu verfassen, das sich von den verfügbaren Aufklärungstexten unterscheiden sollte. Inspiriert von Freud, Marcuse und Wilhelm Reich – aber, wie er später betonte, kein „Reichchianer“ wegen dessen „penetranten Heterozentrismus samt dazugehöriger Homophobie“ –,132 schrieb Amendt, oft in einem ironischen, teilweise schnoddrigen Ton, und illustrierte ein Team um Alfred von Meysenbug (geb. 1940) unter Verwendung von Fotos, Pop Art und Comics ein Aufklärungsbuch ganz neuen Stils: Sexfront erschien 1970 zum Preis von nur 5 DM.133

Torsten Gass-Bolm: Revolution im Klassenzimmer? Die Schülerbewegung 1967–1970 und der Wandel der deutschen Schule, in: Christina v. Hodenberg, Detlef Siegfried (Hg.): Wo „1968“ liegt, Göttingen 2006, S. 113–138, S. 119–124; Günter Amendt: „Sexfront“. Revisited, in: Zeitschrift für Sexualforschung, 2006, Jg. 19, S. 159–172, S. 162–163; Herzog: Sex (Anm. 118), Kapitel 4, bes. S. 147f; Axel Schildt: Nachwuchs für die Rebellion. Die Schülerbewegung der späten 60er Jahre, in: Jürgen Reulecke (Hg.): Generationalität und Lebensgeschichte im 20. Jahrhundert, München 2003, S. 229–251; Ulrike Heider: Schülerprotest in der Bundesrepublik Deutschland, Frankfurt a. M. 1984, S. 88–128, 169. 131 Amendt hatte dies 1968 in einem Vortrag im Rahmen eines Teach-ins zur Gründung einer Unabhängigen Schülergemeinschaft vor Schülern in Baden-Baden gefordert. Die Schüler*innen veröffentlichten den Text in ihrer neuen Schülerzeitung „Ça ira“, die wegen Aufforderung zur Unzucht daraufhin beschlagnahmt wurde. Deshalb verbreiteten andere Schülerzeitungen Amendts Vortragstext, z. B. Rote Schülerpresse. Organ der Sozialistischen Schülerbewegung, Nr. 1 [1968], in: Archiv der deutschen Jugendbewegung, Vorlass Linse, N 139, Nr. 145: Schülergruppen; Schüler-Zeitungen: Faire l'amour, in: Der Spiegel, 15.04.1968, Nr. 16, S. 78–80, S. 78; vgl. Torsten Gass-Bolm: Das Gymnasium 1945–1980. Bildungsreform und gesellschaftlicher Wandel in Westdeutschland, Göttingen 2005, S. 268. 132 Amendt: „Sexfront“ (Anm. 130), S. 164. 133 Günter Amendt: Sexfront, Frankfurt a. M. 1970. 1975 erschien eine Lizenzausgabe bei Zweitausendeins und ab 1982 übernahm Rowohlt die Rechte. Vgl. auch Massimo Perinelli: Günter Amendt: Sexfront (1970). Oder: „Das Einfache, das schwer zu machen ist“, in: Olaf Stieglitz, Jürgen Martschukat (Hg.): Race & Sex: Eine Geschichte der Neuzeit, Berlin 2016, S. 142–149; Weder: Beziehungen (Anm. 124), S. 121–147. Nahaufnahmen einer Vulva in Farbe und eine Fotoserie über einen sich versteifenden Penis, umgangssprachliche Wörter wie „ficken“, „vögeln“, „Möse“ oder „Schwanz“, Ratschläge für Mädchen und Jungen zu Masturbation, Petting und Orgasmus, Informationen über geeignete Verhütungsmittel und deren Anwendung sowie eine ausführliche Darstellung von männlicher und weiblicher Homosexualität als gleichberechtigte Sexualitäten – das konnten Jugendliche so in keinem anderen Aufklärungsbuch finden. Es überrascht daher wenig, dass Amendts Sexfront vor der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften landete. Das rheinland-pfälzische Sozialministerium hatte insbesondere an der Darstellung von Masturbation und Homosexualität Anstoß genommen sowie an den „obszöne[n] Fotografien […] und Zeichnungen“ und wollte die Sexfront auf dem Index sehen. Die Bundesprüfstelle wies den Antrag jedoch zurück.134

Amendt hatte sich in Sexfront allerdings nicht völlig vom genitalen Sexualdenken verabschiedet. Zwar erklärte er, „daß petting keine eigene Art des Sexuallebens“, sondern „vielmehr Teil des Sexualaktes“ sei. Ganz im Sinne der Ausweitung des erotischen Körpers führte er aus, „daß es keine Tabuzonen am männlichen oder weiblichen Körper gibt, daß Zunge und Lippen, Hände und Glied keine Haltezonen kennen, daß der Geschlechtsverkehr ebenso erregend ist wie wechselseitiges Küssen des Schwanzes und der Möse, wo die Zunge den Kitzler des Mädchen reizt, der Mund das Glied des Jungen umschließt und lutscht“. Er scheute auch nicht davor zurück, das Lecken am After zu erwähnen und hielt den Begriff „erogene Zone“ für „irreführend“, denn es seien „prinzipiell alle Bereiche des menschlichen Körpers erogen bzw. lustempfindlich“. Er stellte aber dann doch fest, es gäbe „besonders leicht erregbare Stellen dort, wo die Haut dünn und Nerven konzentriert sind“, wie beispielsweise an den weiblichen Brustwarzen.135 Zudem betonte er, dass Paare nur dann „ungetrübt“ Lust empfänden, „wenn der Geschlechtsverkehr nicht ausgeschlossen“ sei, denn wenn dieser „immer als

134 Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg (FZH), Nachlass Günter Amendt, 11/A10, M02, Mappe 2: Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften, Entscheidung Nr. 2283, 185. Sitzung über Sex-Front von Günter Amendt, 05.02.1971, S. 3; vgl. Perinelli: Amendt (Anm. 133), S. 137; Weder: Beziehungen (Anm. 124), S. 123f.; Micheler: Sexualitätsdiskurs (Anm. 124), S. 21f. 135 Amendt: Sexfront (Anm. 133), S. 37. unerfüllbarer Wunsch im Hintergrund steht, dann wird petting zu einer unbefriedigenden Fummelei“.136

Die Kritik ließ nicht lange auf sich warten. Der evangelische Religionslehrer Horst Kirchmeier (geb. 1933) monierte, dass Amendt nicht „Zärtlichkeit gleichwertig neben genitale Sexualität“ stelle, sondern sie „in den Bereich des ‚Prä-Sexuellen‘“ degradiert habe, auf das dann „die eigentliche, richtige Sexualität erst noch kommt – nämlich das klassische Vögeln“.137 Auch der Psychoanalytiker und Zeit-Autor Bernd Nitzschke (geb. 1944) konnte keine wirkliche „Erotisierung des gesamten Körpers“ in der Sexfront finden. Stattdessen sei Amendt auf „den überdimensionalen Phallus“ fixiert, womit die von „ihm geforderte Zärtlichkeit […] vollends auf der Strecke“ bliebe.138 Dass es mehr Darstellungen männlicher als weiblicher Genitalien gab, sah auch der Sexualwissenschaftler Gunter Schmidt (geb. 1938) in seiner Amendt verteidigenden Replik. Er meinte jedoch, Amendt würde „ständig das Unterdrückungsverhältnis zwischen Mann und Frau reflektieren“ und die Phalli hätten die Funktion, „den ‚Männlichkeitswahn dieser Gesellschaft‘ (Amendt) bloßzustellen und zu karikieren“.139 Dennoch warfen Leser*innen Amendt vor, in der Sexfront die Frau wieder als „nur passives Lustobjekt des Mannes“ dargestellt zu haben, die „aber selbst keine Lust empfinden durfte“.140

Ein zweites Beispiel für diese neue Art der Aufklärungsliteratur ist ein Buch des Kult- Fotografen der 1960er Jahre, Will McBride (1931–2015), das dieser zusammen mit der Kinderpsychologin Helga Fleischhauer-Hardt (geb. 1936) unter dem Titel Zeig mal! 1974 im evangelischen Jugenddienstverlag veröffentlichte.141 Sich ausdrücklich neben Freud

136 Ebd., S. 33. 137 FZH, 11/A10, B11, Mappe 3: Horst Kirchmeier, Berlin, an Günter Amendt, offener Brief, 10.02.1980. 138 Bernd Nitzschke: Erhellung und Verdunkelung, in: Die Zeit, 27.11.1970, Nr. 48, Literaturbeilage S. 6–7, S. 6. 139 FZH, 11/A10, B11, Mappe 1: Manuskript eines Leserbriefs von Gunter Schmidt an Die Zeit, als Reaktion auf Bernd Nitzschkes Kritik, 05.12.1970. 140 FZH, 11/A10, B11, Mappe 2: Angela und Winfried Heidrich, Farmsen, an Günter Amendt, März Verlag, 11.10.1970. 141 Will McBride, Helga Fleischhauer-Hardt: Zeig mal! Ein Bilderbuch für Kinder und Erwachsene, Wuppertal 1974, 6. Aufl. 1983; vgl. Sauerteig: Representations (Anm. 100), S. 150– 153; Oliver Gehrs: Die Geschichte von „Zeig mal!“ zeigt, wie sich die Gesellschaft auf den Weg zurück in die Verklemmung machte – Biographie eines Aufklärungs-Buchs, in: Dummy, 2005/06, Nr. 9, S. 40f.; Christin Sager: „Zeig Mal!“ – Aber wie viel?! Sexualaufklärungsbücher und ihre Fotografien um 1968, in: Bänzinger u. a.: Revolution (Anm. 128), S. 63–85. Zu McBride siehe Michael Koetzle: Lust auf Leben. Anmerkungen zur Fotografie von Will McBride, in: Will auf Herbert Marcuse, Wilhelm Reich, Erich Fromm und Alexander Mitscherlich beziehend, glaubte McBride, „daß die Unterdrückung von Sexualität bei Kindern, und insbesondere bei Jungs zur Bildung einer überaus aggressiven Gesellschaft führt“.142 Um das Ideal des „Neuen Menschen“ zu verwirklichen müsse man, so McBride, „zuerst bei einer neuen Erziehung des Neuen Kindes anfangen“. Dazu gehörte für ihn, Kindern zu einer Sexualität zu verhelfen, die „frei von Angst und Schamgefühlen“ war. „Wenn man den Kindern beibringt, stolz auf ihren Körper und dessen Funktionen zu sein, und ihnen Selbstsicherheit gibt, dann hat man ein selbstbewußtes Kind, das fähig ist, mit seiner Sexualität und der anderer fertig zu werden.“143

Dies war McBrides Programm, als er Zeig mal! in seinem Münchner Studio fotografierte. Seine großformatigen schwarz-weiß-Fotos erzählen aus der Perspektive von zwei kleinen Kindern, einem Mädchen und Jungen, wie sie ihre Körper und Sexualität entdeckten. Er sah seine Fotos überwiegend nackter Körper als „Abbilder von Erfahrungen“, die den verwundbaren „Neuen Menschen“ und das „Neue Kind“ in ihren Emotionen darstellten.144 Die Fotos sollten den lustvollen und erotischen Körper repräsentieren. McBride und Fleischhauer-Hardt hatten das Bilderbuch Zeig mal! als Ausgangspunkt für das Gespräch zwischen Eltern und Kind mit der Intension verfasst, dem Kind zu helfen, „seine Fragen und Probleme zur Sexualität zu äußern und zu verarbeiten“ und den „Weg zu einer glücklichen, von Liebe, Zärtlichkeit und Verantwortungsgefühl geprägten Sexualität“ zu finden.145 Im Gegensatz zu Amendts Sexfront blieb das Narrative der Sexualität in Zeig mal! im Wesentlichen jedoch den traditionellen Geschlechterrollen verhaftet. So war, trotz einiger Verweise auf gleichgeschlechtliches Begehren, Sexualität bei McBride heteronormativ angelegt und das Buch endete mit den emphatischen Aussagen des Jungen und des Mädchen, dass sie, wenn erwachsen, Vater bzw. Mutter werden wollten.146

McBride: Adenauer und seine Kinder: Fotografien 1956–1968, hg. von Monika Flacke, [Berlin] 1994, S. 7–17; Peter Weiermair (Hg.): Will McBride: 40 Jahre Fotografie, Schaffhausen [u. a.] 1992, S. 156–178. 142 Will McBride: I, Will McBride, Köln 1997, S. 369. 143 Ebd., S. 371. 144 Will McBride: Boys, München 1986, S. 111, zitiert nach Koetzle: Lust (Anm. 141), S. 8. 145 McBride, Fleischhauer-Hardt: Bilderbuch (Anm. 141), S. 2f. 146 Ebd. (Anm. 141), S. 152–155. Vgl. Sauerteig: Representations (Anm. 100), S. 153. Wie schon Amendts Sexfront so war auch Zeig mal! höchst umstritten. Versuche, es auf den Index jugendgefährdender Schriften zu bringen, scheiterten jedoch ebenfalls.147 Was das Bilderbuch als problematisch erscheinen ließ, war das Vorwort des Sexualpädagogen Helmut Kentler (1928–2008), in dem dieser sexuelle Kontakte zwischen Erwachsenen und Kindern als positiv darstellte. Kentler befürwortete eine vorbehaltslose Bejahung kindlicher Sexualität als „Vorbedingung dafür, daß eine sexualfreundliche Kultur entstehen kann, in die auch die Kinder integriert sind“, und forderte, dass Kinder „soweit das entsprechend ihrem Alter nur immer möglich ist, von den Erwachsenen als gleichberechtigte Partner ernstgenommen werden“.148 In einem späteren Beitrag wiederholte er die typische Legitimationspropaganda der sogenannten Pädophilenbewegung, dass der Pädosexuelle „dem Kind etwas geben“ wolle, nämlich Liebe, und damit dem Kind „etwas Gutes“ täte; dass es in pädosexuellen Beziehungen keine Gewalt gebe und „Kinder Spaß an Sexualität haben und darum von sich aus sexuell aktiv werden“ würden.149

In der Einleitung zu Zeig mal! zitierte Kentler ausführlich aus Protokollen der Kommune 2, die diese 1969 in Auszügen im Kursbuch, der von Hans Magnus Enzensberger herausgegebenen intellektuellen Leitzeitschrift der Protestbewegung, veröffentlicht hatte. Darin berichtete Eberhard Schultz (geb. 1943) über ein sexuelles Erlebnis im April 1968 mit einem dreieinhalbjährigen Mädchen aus der Kommune.150 Die Mitglieder der Kommune 2 kommentierten, dass das „sexuelle Interesse der Kinder, wenn es nicht durch Einschüchterung und Verbote gehemmt wird, […] bis zu koitusähnlichen Nachahmungen der Erwachsenensexualität“ gehen würde. Die Kinder würden selbst die „Unmöglichkeit“ erkennen, „ihre genitalen Wünsche mit Erwachsenen zu befriedigen“.

147 Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften: Zur Kinder- und Jugendgefährdung durch Propagierung von Kindersexualität. Entscheidung der Bundesprüfstelle v. 13.12.[19]74 nebst Gutachten der Prof. Dr. Horst Scarbath und Gunther Otto zum Buch Zeig Mal, in: Medien- und Sexual-Pädagogik, 1975, Jg. 3, Nr. 4, S. 29–39. Vgl. McBride: I (Anm. 142), S. 372f.; Susanne Mayer: Der Schatten von 1968: Das Jugendamt Frankfurt will die über zwanzig Jahre alte Aufklärungsbroschüre Zeig mal! indizieren, in: Die Zeit, 11.10.1996, Nr. 42. 148 Helmut Kentler: Kindersexualität, in: McBride, Fleischhauer-Hardt: Bilderbuch (Anm. 141), S. 4–11, S. 10f. 149 Helmut Kentler: Pädophilie. Tabus und Vortabus. Ein Widerspruch, in: Konkret – Sexualität, 1980, Jg. 2, S. 31–32, S. 31. 150 Christel Bookhagen u. a.: Kommune 2. Versuch der Revolutionierung des bürgerlichen Individuums. Kollektives Leben mit politischer Arbeit verbinden!, Berlin 1969, S. 91f.; Christel Bookhagen u. a.: Kindererziehung in der Kommune, in: Kursbuch, 1969, Jg. 17, S. 147–178; vgl. Elberfeld: Sünde (Anm. 128). Wesentlich war für die Kommunarden jedoch, „daß die Kinder diese Erfahrungen wirklich ausleben konnten“, was zur Voraussetzung hätte, „daß die Erwachsenen nicht nur keine Verbote aussprachen, sondern ihre eigenen Hemmungen überwinden konnten“.151

Auch im Kontext der Diskussionen über antiautoritäre Erziehung rangierten Fragen, wie mit kindlicher Sexualität umzugehen sei, wie man Kindern helfen müsse, ihre Sexualität frei auszuleben, und welche Herausforderungen und Konsequenzen sich hieraus für das Verhalten der Erwachsenen ergaben, ganz oben auf der Tagesordnung.152 Daniel Cohn- Bendit (geb. 1945) berichtete über seine Erfahrungen 1972 als Erzieher im Kindergarten der Universität Frankfurt, dass sein „ständiger Flirt mit allen Kindern […] bald erotische Züge“ angenommen habe und er „richtig fühlen“ konnte, „wie die kleinen Mädchen von fünf Jahren schon gelernt hatten, mich anzumachen“.153 Später bestritt er zwar, dass es tatsächlich zu sexuellen Kontakten mit Kindern gekommen sei, aber er schilderte in seinem Erfahrungsbericht, dass es ihm „mehrmals passiert“ sei, „daß einige Kinder meinen Hosenlatz geöffnet und angefangen haben, mich zu streicheln“ und wenn die Kinder darauf bestanden hatten, habe er sie trotz Bedenken „dennoch gestreichelt“.154

Sich auf die Arbeiten von Reich, Marcuse und Kentler beziehend155 betonten die Mitglieder eines Berliner Kinderladens 1968, dass sich Eltern und Erzieher kindlicher Sexualität gegenüber „grundsätzl[ich] positiv, bejahend“ verhalten sollten: „Wir müssen von bloss duldender zu bejahender Haltung kommen“. Nur dann könnten Kinder „ihre

151 Bookhagen u. a.: Kommune (Anm. 150), S. 93. 152 Massimo Perinelli: Longing, lust, violence, liberation: discourses on sexuality on the radical left in West Germany, 1969–1972, in: Scott Spector, Helmut Puff, Dagmar Herzog (Hg.): After „The History of Sexuality“: German Genealogies With and Beyond Foucault, New York u. a. 2012, S. 248–281, S. 268f.; Reichardt: Authentizität (Anm. 123), S.721–743; Anthony D. Kauders: Auf dem Weg zum neuen Menschen: Die Rezeption der Psychoanalyse in der frühen Kinderladenbewegung, in: Luzifer-Amor, 2014, Jg. 27, Nr. 54, S. 7–24; Meike Sophia Baader: „An den großen Schaufensterscheiben sollen sich die Kinder von innen und die Passanten von außen die Nase platt drücken“. Kinderläden, Kinderkulturen und Kinder als Akteure im öffentlich- städtischen Raum seit 1968, in: Meike Sophia Baader, Ulrich Herrmann (Hg.): 68 – engagierte Jugend und kritische Pädagogik. Impulse und Folgen eines kulturellen Umbruchs in der Geschichte der Bundesrepublik, Weinheim, München 2011, S. 232–251; Herzog: Sex (Anm. 118), S. 162–174. 153 Daniel Cohn-Bendit: Der grosse Basar. Gespräche mit Michel Lévy, Jean-Marc Salmon, Maren Sell, München 1975, S. 140. 154 Ebd., S. 143; Jacqueline Hénard: Danys dumme Streicheleien, in: Die Zeit, 08.03.2001, Nr. 11. 155 Institut für Zeitgeschichte (IfZ), Bestand Helke Sander, ED 914/37: Literaturliste für alle, die an sozialistischen Kindergärten arbeiten wollen, [ohne Datum]. sexuellen Bedürfnisse artikulieren u[nd] befriedigen“.156 Die Kinderladengruppe verfolgte damit ein Erziehungskonzept, das aktiv kindliches Sexualverhalten fördern wollte und von Eltern verlangte, dass sich die „bejahende Einstellung zur Sexualität der Kinder […] auf alle Verhaltensweisen und Äusserungen der Erwachsenen erstrecken“ müsse.157 Anders als die Kommune 2 war die Kinderladengruppe in Bezug auf sexuelle Interaktionen zwischen Kindern und Erwachsenen jedoch zurückhaltend: „Bei den onanistischen Bestrebungen werden nur dann Probleme auftauchen, wenn die Kinder ihre Eltern dazu anhalten[,] sie zu befriedigen. Die Erwachsenen sollten sich dabei grundsätzlich passiv verhalten, und die Kinder darauf hinweisen, daß sie diese Bedürfnisse viel besser mit anderen Kindern befriedigen können […].“158

Berichte aus der Kommune 2 und den Kinderläden über sexuelle Kontakte zwischen Erwachsenen und Kindern wurden in der westdeutschen Presse kritisch kommentiert und lösten Proteste aus, u. a. seitens des Deutschen Ärztinnenbundes und der Frauenbewegung.159 Die Literaturjournalistin Petra Kipphoff (geb. 1937) sprach von „Kinderausbeutung“ und dem Schaden, die „die ach so verständnisvollen Sex-Spielchen eines frustrierten Kommunarden mit einem vierjährigen Mädchen“ anrichteten.160 Gleichzeitig es gab auch immer wieder Stimmen, die sich wie Kentler öffentlich positiv über sexuelle Kontakte zwischen Kindern und Erwachsenen äußerten, die die strafrechtlichen Bestimmungen über Kindesmissbrauch und Inzest kritisierten und debattierten, ob Kinder Zeugen des elterlichen Geschlechtsverkehrs werden sollten.161 Mit Verweis auf die Schwulenbewegung und die Frauenbewegung bemühte sich die Pädophilenbewegung, sich ebenfalls als eine Emanzipationsbewegung zu darzustellen. Sie suchte dabei nicht nur in der Schwulenbewegung, sondern auch bei der alternativen Linken nach Verbündeten für ihre Forderungen nach Aufhebung des strafrechtlichen Verbots sexueller Kontakte mit unter 14-Jährigen (§ 176 StGB). Gleichzeitig versuchte sie

156 IfZ, ED 914/37: Kindergartenprogramm. [Arbeitspapier des Kinderladens Charlottenburg I, Jebenstrasse], Zusammenfassung der Diskussionen vom Donnerstagabend, o. D. [August 1968]. 157 Ebd. 158 Ebd. Mit einem anderen Beispiel einer Diskussion über den Umgang mit kindlicher Sexualität in einem Berliner Kinderladen 1973, Baader: Politisierung (Anm. 128), S. 75f. 159 Z. B. Kindererziehung. Aufrechter Gang, in: Der Spiegel, 26.10.1970, Nr. 44, S. 62–90, S. 63. 160 Petra Kipphoff: Frauenkursbuch, in: Die Zeit, 01.08.1969, Nr. 31. 161 Z. B. Otto Felicitas Gmelin: Zärtlichkeit, Inzest und die „denaturierte Naturalisierung“ der Familienbeziehung. Ein Beitrag zur vorschulischen Sexualerziehung, in: Vorgänge, 1973, Jg. 12, Nr. 5, S. 59–76. sich als Verteidiger des Anspruchs von Kindern und Jugendlichen auf Sexualität darzustellen. So behauptete die Deutsche Studien- und Arbeitsgemeinschaft Paedophilie, „Pädophilie ist das Talent, Signale von Kindern zu verstehen und aufzunehmen und für die Kinder verstehbar und annehmbar an diese zurückzugeben“, was dann zu einer „freiwillige[n] zärtliche[n] Beziehung zu dem Erwachsenen“ führen könne, die von Kindern als „schön und wertvoll erlebt“ würden und die „den Bedürfnissen des Kindes“ entsprächen sowie für ihr „Leben dienlich und wertvoll“ seien.162

Viele linke Kommentatoren sahen sich in eine schwierige Position gedrängt, denn einerseits kämpften sie für sexuelle Emanzipation und gegen die Unterdrückung sexueller Triebe, andererseits argumentierten sie gegen sexuelle Ausbeutung und Unterdrückung. Auch in der Frauenbewegung waren die Reaktionen ambivalent.163 Die Herausgeberin des Frauenmagazins Emma, Alice Schwarzer (geb. 1942), bezog 1980 deutlich Position gegen Versuche der Vereinnahmung durch die Pädophilenbewegung und deren Slogan, Pädosexualität sei ein „Verbrechen ohne Opfer“. Sie hielt „Pädophile nicht für eine zu befreiende verkannte Minderheit, sondern für das willkommene Sprachrohr einer Männergesellschaft, die es schon immer gut verstanden hat, ungleiche Beziehungen als ‚gleich‘ zu propagieren – um dann so unbehelligter herrschen zu können“. Es gehe der Pädophilenbewegung „nicht um das Recht der Kinder auf ihre Sexualität“, sondern es gehe „um das Recht der Erwachsenen auf die Sexualität der anderen, der Kinder“.164 Zwar wies Schwarzer auf das Machtgefälle zwischen Kind und Erwachsenen in pädosexuellen Beziehungen hin, sprach sich aber dennoch gleichzeitig für eine „Straffreiheit von freiwilligen sexuellen Beziehungen Heranwachsender, egal mit wem“, aus.165

162 FZH, 11/A10, B11, Mappe 3: Deutsche Studien- und Arbeitsgemeinschaft Paedophilie e.V. (DSAP) Rhein-Main, Frankfurt, an Günter Amendt, 17.04.1980; ebd.: Freundschaft mit Kindern- Förderkreis e. V. Münster, Krefeld, an Günter Amendt, 30.05.1980, mit sehr ähnlichen Argumenten. Vgl. Sven Reichardt: Pädosexualität im linksalternativen Milieu und bei den Grünen in den 1970er bis 1990er Jahren, in: Baader u. a.: Tabubruch (Anm. 124), S. 137–160; Claudia Bundschuh: Die sogenannte Pädophilenbewegung in Deutschland, in: ebd., S. 85–100; Detlef Siegfried: Grenzen der Freiheit. Ernest Borneman und die Sexualität von Kindern, in: ebd., S. 200– 217, S. 206–214; Häberlen: Child (Anm. 125); Reiß: Päderastie (Anm. 16); Elberfeld: Sünde (Anm. 128); Franz Walter, Stephan Klecha, Alexander Hensel (Hg.): Die Grünen und die Pädosexualität. Eine bundesdeutsche Geschichte, Göttingen 2015; Christian Füller: Die Revolution missbraucht ihre Kinder. Sexuelle Gewalt in deutschen Protestbewegungen, München 2015. 163 Baader: Politisierung (Anm. 128), S. 60; Reichardt: Pädosexualität (Anm. 162), S. 145f. 164 Alice Schwarzer: Emanzipierte Pädophilie?, in: Emma, April 1980, Nr. 4, S. 5. 165 Alice Schwarzer, Günther Amendt: Wie frei macht Pädophilie?, in: ebd., S. 26–31, S. 28. Die ambivalente Position der Linken wird am Beispiel Günter Amendts deutlich, der sich einerseits für die sexuelle Selbstbestimmung von geschlechtsreifen Jugendlichen einsetzte, andererseits aber aufgrund des Machtgefälles eine einvernehmliche Sexualität zwischen Kindern und Erwachsenen ausschloss: „So haben wir vor zehn Jahren die Befreiung der Sexualität nicht gemeint“, schrieb er und wies damit Versuche zurück, die Pädophilenbewegung als Teil der „Emanzipationsdiskussion“ zu verstehen.166 Zum einen sah er den Jugendschutz als „Schutz vor Ausbeutung und Unterdrückung“ für die Jugend, zum anderen forderte er, dass „über die sexuellen Rechte der Jugend […] erneut diskutiert werden“ müsse, denn „die Schutzalterbestimmungen sind willkürlich und zudem diskriminierend“, weil sie homosexuellen Jugendlichen erst mit 18 Jahren, heterosexuellen aber bereits mit 16 das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung zugestanden.167 Gleichzeitig zerpflückte Amendt die Argumente der „Pädo-Aktivisten“ im linksalternativen und Sponti-Milieu sowie die Propagandastrategien der Pädophilenbewegung mit ihren Gleichsetzungen von Kindern und Jugendlichen, den rhetorischen Verweisen auf die Päderastie in der Antike und ihrem Argument, dass es um den Schutz emotional vernachlässigter Jugendlicher ginge.168

Auch wenn Jens Elberfeld der Auffassung ist, „dass es den Protagonisten der Kommune Zwei gerade nicht darum ging, Sex mit Kindern zu propagieren“, sondern „sie in derartigen Handlungen einen notwendigen Zwischenschritt in der psychischen Entwicklung der Kinder und der freien Entfaltung ihrer Sexualität“ sahen,169 wurde ihr Beitrag als Legitimation von Pädosexualität gelesen, wie beispielsweise Kentlers Vorwort zu Zeig mal! verdeutlicht. Ähnliche Pädosexualität rechtfertigende Äußerungen finden sich beispielsweise auch in der pädagogischen Zeitschrift betrifft: erziehung, die sich 1973 unter der Überschrift „Pädophilie: Verbrechen ohne Opfer“ des Themas annahm. Das Themenheft wurde eröffnet mit einem Beitrag des niederländischen Psychologen und

166 Ebd., S. 27; Günter Amendt: Nur die Sau rauslassen? Bei der Pädophilie-Diskussion sind viele Interessen im Spiel. Aber kaum die Kinder, in: Konkret – Sexualität, 1980, Jg. 2, S. 23–30, S. 24; Günter Amendt: Sexueller Missbrauch von Kindern. Zur Pädophiliediskussion von 1980 bis heute, in: Merkur, 2010, Jg. 64, Nr. 739, S. 1161–1172, S. 1164. Vgl. Perinelli: Amendt (Anm. 133), S. 139. 167 Amendt: Sau (Anm. 166), S. 24. 168 Ebd.; vgl. Amendt: Missbrauch (Anm. 166). 169 Elberfeld: Sünde (Anm. 128), S. 265. Aktivisten der dortigen Pädophilenbewegung, Frits Bernard (1920–2006).170 Auch der Beitrag des Psychiaters und Sexualwissenschaftlers Eberhard Schorsch (1935–1991) sah in pädosexuellen Beziehungen nicht grundsätzlich eine Gefahr für das Kind und nahm positiv zu Bernards Artikel Stellung.171 Es könnten weitere Autoren genannt werden, die sich in den 1960er und 1970er Jahren positiv über Pädosexualität geäußert haben, wie beispielsweise der einflussreiche Jazzkritiker, Filmemacher und Sexforscher Ernest Borneman (1915–1995), ein Reichianer, der sich mehrfach zum Thema kindlicher Sexualität äußerte. Borneman stellte das Inzestverbot in Frage und wollte in gewaltfreien pädosexuellen Kontakten keinen Missbrauch erkennen, sondern glaubte, dass es die Verbote und strafrechtlichen Verfolgungen waren, die Kinder Schaden zufügten.172

Derartige Beiträge trugen zum „allgemein verbreiteten Laissez-fair in Sachen kindlicher Sexualität“ bei.173 Zum einen verwischten sie im öffentlichen Diskurs der 1960er und 1970er Jahre den Unterschied zwischen kindlicher und erwachsener Sexualität. Zum anderen ignorierten die erwähnten Berichte über intergenerationelle sexuelle Erlebnisse sowie die Artikel zur Pädosexualität und die Äußerungen von Wissenschaftlern wie Kentler, Schorsch, Borneman oder dem Bremer Soziologen Rüdiger Lautmann das Macht- und Autoritätsgefälle zwischen Erwachsenen und Kindern sowie das sexuelle Selbstbestimmungsrecht von Kindern und Jugendlichen. Im öffentlichen Diskurs wird dies anhand von Beiträgen in alternativen Stadtzeitungen wie der Berliner Zitty und Zeitungen wie der taz oder linksalternativen Magazinen wie dem Frankfurter Pflasterstrand oder der um 1970 wichtigsten Publikation der radikalen Linken in Berlin, Agit 883, deutlich.174

170 Frits Bernard: Pädophilie – eine Krankheit? Folgen für die Entwicklung der kindlichen Psyche, in: Betrifft: Erziehung, 1973, Jg. 6, Nr. 4, S. 21–23. 171 Eberhard Schorsch: Liberalität reicht nicht, in: ebd., S. 23–26. 172 Nach heftigen Angriffen beteuerte Borneman Anfang der 1990er Jahre, dass er im sexuellen Missbrauch von Kindern ein Verbrechen sah. Siegfried: Grenzen (Anm. 162); Detlef Siegfried: Moderne Lüste. Ernest Borneman – Jazzkritiker, Filmemacher, Sexforscher, Göttingen 2015, S. 272–281; Danny Michelsen: Pädosexualität im Spiegel der Ideengeschichte, in: Walter u .a. (Hg.): Grünen (Anm. 162), S. 23–59; Baader: Politisierung (Anm. 128); Bundschuh: Pädophilenbewegung (Anm. 162), S. 86–91. 173 Reichardt: Authentizität (Anm. 123), S. 766. 174 Perinelli: Longing (Anm. 152); Massimo Perinelli: Lust, Gewalt, Befreiung. Sexualitätsdiskurse, in: rotaprint 25 (Hg.): agit 883. Bewegung, Revolte, Underground in Westberlin 1969–1972, Hamburg, Berlin 2006, S. 85–99; Amendt: Missbrauch (Anm. 166); Reichardt: Pädosexualität (Anm. 162); Daniel Boese: Pädophilie in der zitty. Als Sprachrohr der alternativen Szene debattierte zitty 1979 über die Straffreiheit von Sex mit Kindern, in: Zitty, 2010, Jg. 34 , Nr. 13, S. 34–36. Auch der Spiegel berichtete über die Diskussion: Sexualität – Mächtiges Tabu. Eine „Pädophilie-Debatte“ ist entbrannt, in: Der Spiegel, 21.07.1980, Nr. 30, S. 148–155. Auf der politischen Ebene war die Pädophilienbewegung in den 1980er, zum Teil jedenfalls, bei den Grünen bzw. der Alternativen Liste erfolgreich und konnte dort ihre Forderungen nach Entschärfung oder Streichung der relevanten strafrechtlichen Bestimmungen einbringen.175 Zudem bediente sich die Pädophilen-Lobby in ihren Kampagnen in 1990er Jahre der den sexuellen Kindesmissbrauch verharmlosenden wissenschaftlichen Aussagen zur Pädosexualität.176

Es ist auch kein Zufall, dass im Zuge der „Sexwelle“ der 1960er Jahre einzelne Verlage pornografische Literatur verlegten,177 in der es auch um den sexuellen Missbrauch von Kindern ging. Zu den bekanntesten Beispielen zählen die deutsche Übersetzung des Romans von John Cleland aus der Mitte des 18. Jahrhunderts, Die Memoiren der Fanny Hill, die zuerst 1963 im Kurt-Desch-Verlag erschienen und, nachdem der Bundesgerichtshof in einer aufsehenerregenden Entscheidung das Verbot des Romans 1969 aufgehoben hatte, von Rogner und Bernhard in München verlegt wurden,178 sowie der Felix Salten (1869–1945) zugeschriebene, kurz nach der Jahrhundertwende verfasste Roman Josefine Mutzenbacher, der in den 1960er Jahren zunächst von skandinavischen Verlagen verbreitet wurde und 1969 ebenfalls bei Rogner und Bernhard erschien sowie 1971 von der auf Pornografie spezialisierten Venus-Press in Hamburg vertrieben wurde. Seit 1978 wird die Mutzenbacher als preiswertes Taschenbuch von Rowohlt in hohen Auflagezahlen verlegt (und seit 1980 auch Clelands Fanny Hill).179 Gerichte hatten die

175 Stephan Klecha: Die Grünen zwischen Empathie und Distanz in der Pädosexualitätsfrage: Anatomie eines Lernprozesses, Wiesbaden 2017; Stephan Klecha: Die Grünen als Avantgardepartei und Vertreterin eines bereits vergangenen Zeitgeistes, in: Baader u. a.: Tabubruch (Anm. 124), S. 161–188; Walter u. a.: Grünen (Anm. 162); Reichardt: Pädosexualität (Anm. 162), S. 143–147. 176 Siegfried: Grenzen (Anm. 162), S. 209. 177 Vgl. Pascal Eitler: Die „Porno-Welle“. Sexualität, Seduktivität und die Kulturgeschichte der Bundesrepublik, in: Bänzinger u. a.: Revolution (Anm. 128), S. 87–111. 178 John Cleland: Die Memoiren der Fanny Hill, Wien u. a. 1963 [übers. v. Lilo Rasch-Nägele], München 1969 [übers. v. Erika Nosbüsch], Reinbek b. Hamburg 1980; vgl.: Fanny Hill ist freigesprochen. Das Urteil des Bundesgerichtshofes vom 22. Juli 1969, in: Vorgänge, 1969, Jg. 8, S. 371–373. Vgl. Steinbacher: Sex (Anm. 118), S. 295–299, 311–315, 324–326. 179 Josefine Mutzenbacher [d. i. Felix Salten]: Die Lebensgeschichte einer wienerischen Dirne, von ihr selbst erzählt, München 1969, Reinbek b. Hamburg 1978. Vgl. Sauerteig: Loss (Anm. 16), S. 173f.; Horst Albert Glaser: Die Unterdrückung der Pornographie in der Bundesrepublik: Der sogenannte Mutzenbacher-Prozeß, in: Peter Brockmeier, Gerhard R. Kaiser (Hg.): Zensur und Selbstzensur in der Literatur, Würzburg 1996, S. 289–306; Michael Farin: Die letzten Illusionen. Josefine Mutzenbacher vor Gericht, in: ders. (Hg.): Josefine Mutzenbacher oder die Geschichte einer wienerischen Dirne: von ihr selbst erzählt, München 1990, S. 503–544; Liste der verschiedenen Ausgaben in: ebd., S. 545–548. Mutzenbacher bereits in den späten 1960er Jahren für „unzüchtig“ erklärt. Nachdem die Bundesprüfstelle den Roman 1968 auf den Index jugendgefährdender Schriften gestellt hatte, ordnete das Amtsgericht München 1971 die Beschlagnahmung der Exemplare beim Verlag Rogner und Bernhard an.180 Nachdem eine Verwaltungsklage Rowohlts gegen die Indizierung Anfang der 1980er Jahre erfolglos geblieben war, legte der Verlag Verfassungsbeschwerde ein. Im November 1990 entschied das Bundesverfassungsgericht, dass der pornografische Roman unter die Freiheit der Kunst falle und deshalb von der Bundesprüfstelle nicht mehr als jugendgefährdend indiziert werden durfte. Zwar wurde vor dem Verfassungsgericht über die im Roman dargestellte Kinderprostitution, Inzest und Promiskuität gestritten, aber dass er auch Akte sexualisierter Gewalt und sexuellen Missbrauchs von Kindern thematisierte, blieb unberücksichtigt. Im Mittelpunkt stand lediglich die Frage, inwieweit der Roman Kinder und Jugendliche „sittlich“ gefährdete und welchen Rang die verfassungsrechtlich garantierte Freiheit der Kunst im Verhältnis zum Kinder- und Jugendschutz besaß.181

Das Revival der Mutzenbacher Ende der 1960er Jahre kann auch aus dem Kontext des zeitgenössischen sexuellen Befreiungsdiskurses erklärt werden.182 So meinte die Verlegerin Marianne Bernhard auf einer Pressekonferenz 1970, dass sich ihr Verlag nach der Wiederveröffentlichung der Mutzenbacher verpflichtet fühlte, „die Leute auch in Zukunft nicht im Stich zu lassen und ihnen dabei zu helfen, in jedem Lebensalter das beste aus ihren natürlichen Gaben zu machen“.183

Sexualisierte Gewalt blieb, so stellte Meike Sophia Baader zu Recht fest, in den 1970er und 1980er Jahren weitgehend ein blinder Fleck.184 Die Sexualisierung des Kindes, die bereits ein gutes halbes Jahrhundert zuvor begonnen hatte, erreichte in der

180 „Josephine Mutzenbacher“ in München beschlagnahmt, in: Concepte, 1971, Jg. 7, Nr. 2, S. 40; Sieghart Ott: Josefine Mutzenbacher – eine Gefahr für die Belange der Gemeinschaft?, in: Vorgänge, 1971, Jg. 10, S. 110–111. 181 Bundesverfassungsgericht: BVerfGE 83, 130 – Josephine Mutzenbacher, Beschluss des Ersten Senats vom 27. November 1990, [Aktenzeichen] 1 BvR 402/87, in: Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, 27.11.1990, Jg. 83, S. 130ff. Dort auch zu den verschiedenen Urteilen der unteren Instanzen. 182 Clemens Ruthner: The back side of Fin-de-Siècle Vienna. The infamously infantile sexuality of Josefine Mutzenbacher, in: Clemens Ruthner, Raleigh Whitinger (Hg.): Contested Passions. Sexuality, Eroticism, and Gender in Modern Austrian Literature and Culture, New York u. a. 2012, S. 91–104, S. 94. 183 Ki. [d. i. Petra Kipphoff]: Der Münchner Jung-Verlag, in: Die Zeit, 27.03.1970, Nr. 17, S. 23. 184 Baader: Politisierung (Anm. 128), S. 69. Bundesrepublik der späten 1960er und der 1970er Jahren einen Höhepunkt. Sie bildete den Kontext für die mindestens ebenso lange Geschichte von Pädosexualität und des sexuellen Missbrauchs von Kindern. Auch in der Jugendbewegung kann man dabei eine direkte Verbindung sehen, von Wilhelm Jansens „Päderastenclub“ zur „Pädo- Burg“ Balduinstein.185 Wie Sven Reiß zeigt, kam es nach 1969 zu Überschneidungen zwischen Pädophilen- und Jugendbewegung, u. a. unter dem Deckmantel des Einsatzes für eine freie Kinder- und Jugendsexualität.186

Während sich Schüler- und Studentenbewegung Ende der 1960er und in den 1970er Jahren gegen den Widerstand von Schulbürokratie, staatlichen Autoritäten, konservativen Kreisen der Gesellschaft, insbesondere der Kirchen, und zum Teil auch der Eltern für eine umfassende sexuelle Aufklärung von Kindern und Jugendlichen einsetzten, für den freien Zugang zu Verhütungsmitteln kämpften und das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung für sich einforderten, während einige politisch linksstehende Sexualaufklärer wie Günter Amendt Jugendliche mit ihren Aufklärungsbüchern entsprechende Informationsquellen zur Verfügung stellten, blieb das politische Projekt der Sexualität ein Minenfeld. Achtundsechziger-Eltern, die mit ihrer eigenen sexuellen Befreiung kämpften, hatten einen Drahtseilakt zu meistern zwischen Respekt gegenüber der Sexualität ihrer Kinder und der Gefahr, die Grenzen zum sexuellen Missbrauch zu überschreiten. Während Sexualpädagogen wie Martin Goldstein schon Ende der 1960er Jahre mit dem Konzept der Verhandlungsethik eine auf Konsens basierende neue Sexualmoral formulierten und populäre Jugendzeitschriften wie Bravo die Verhandlungsmoral in ihren Aufklärungsnarrativen immer wieder einübten, blieben Sexualpädagogen wie Kentler gefangen in einer Sexualideologie, die alle Sexualität aktiv befreien wollte, um autoritäre Charaktere zu verhindern und den Faschismus zu bekämpfen. Wissentlich oder nicht, bahnten sie damit den Weg, den sexuellen Missbrauch von Kindern und Jugendlichen zu legitimeren und halfen, entsprechende Berichte von Betroffenen zu ignorieren.

185 Sauerteig: Loss (Anm. 16); Reichardt: Pädosexualität (Anm. 162), S. 137; Sven Reiß: Schatten der Jugendbewegung. Sexualisierte Gewalt und Pädosexualität in jugendbewegten Gruppen, in: Historische Jugendforschung, 2010, NF 7, S. 319–336; Franz Walter: Im Schatten des Liberalismus. Die Pädophiliedebatte begann nicht mit den Grünen, in: Indes, 2014, Jg. 3, Nr. 4, S. 121–133. 186 Reiß: Renaissance (Anm. 10), S. 71–74.

Fazit: Kontinuitäten und Brüche

Die Frage nach Kontinuitäten und Brüchen zu beantworten, ist nicht einfach. In seinem Versuch einer sexualwissenschaftlichen Zeitdiagnose bezeichnete es Reimut Reiche (geb. 1941), Cheftheoretiker des Sexuellen der Achtundsechziger, als sinnlos, „eine historische Epoche mit einer anderen Epoche oder einen Zustand der kulturellen Evolution mit einem anderen Zustand daraufhin zu vergleichen, ob sexuelle Befriedigung zu- oder abnimmt. Jede Epoche hat ihren Code, der das grundsätzliche Verfehlen des Begehrens repräsentiert.“187 Dennoch zeigen sich einige Gemeinsamkeiten im Verlangen der Jugendlichen um 1900 und um 1968, die sexualmoralischen Vorstellungen ihrer jeweiligen Zeit zu überwinden und ungehindert Zugang zu Informationen über das Sexuelle zu bekommen sowie ihre erotischen Empfindungen und ihr sexuelles Verlangen auszuleben. Die Jugendbewegung zu Beginn des 20. Jahrhunderts und die Schüler- und Studentenbewegung der späten 1960er Jahren, die allerdings eine sehr viel breitere Basis besaß, waren gleichermaßen, so Lee Utley, romantische Bewegungen, die von ihrer moralischen Überlegenheit überzeugt waren.188 Während es der Jugend zu Beginn des 20. Jahrhunderts darum ging, ein neues Verhältnis zwischen den Geschlechtern auszuhandeln und sie zunächst mit Neudefinitionen von Geschlechterrollen und dem Geschlechterverhältnis beschäftigt war, traten in den 1920er Jahren zusätzliche politisch- ideologische Aspekte der Sexualität hinzu. Diese Politisierung des Sexes verschärfte sich für die Achtundsechzigerjugend, die nicht nur ihre Sexualität uneingeschränkt ausleben und ausprobieren wollte, sondern Sexualität in einer Bipolarität von „Unterdrückung“ und „Befreiung“ diskutierte.

Das, was als „Liberalisierung“ der Sexualität, als ihre „Befreiung“ beschrieben wird, führte zwar zu neuen und größeren Freiräumen, schuf aber gleichzeitig wieder neue Normen und Konventionen. Anfang des 20. Jahrhunderts betrafen diese beispielsweise den kameradschaftlichen und ent-erotisierten Umgang mit dem anderen Geschlecht und die Verhandlung der eigenen erotischen und sexuellen Wünsche, auch zum eigenen

187 Reimut Reiche: „... versage uns die volle Befriedigung“ (Sigmund Freud). Eine sexualwissenschaftliche Zeitdiagnose der gegenwärtigen Kultur, in: Zeitschrift für psychoanalytische Theorie und Praxis, 2000, Jg. 15, S. 10–36, S. 26. 188 Utley: Schism (Anm. 5), S. 122. Geschlecht, in oftmals geschlechtergetrennten reinen Jungen- oder Mädchengruppen. Um 1968 mussten Jugendliche lernen, den Sex mit dem jeweiligen Partner oder der Partnerin auszuhandeln. Für Jugendliche in den 1970er Jahren war es sehr viel einfacher geworden, sich über Sexualität, über sexuelle Praktiken und über Empfängnisverhütung zu informieren, als es noch für ihre Altersgenossen zu Beginn des Jahrhunderts war. Zudem hob der Gesetzgeber in den 1970er Jahren zahlreiche rechtliche Vorschriften zur Reglementierung der Sexualität auf (Entkriminalisierung von Kuppelei und Ehebruch) bzw. reformierte diese (z. B. Homosexualität, Senkung des Alters der Volljährigkeit und des Schutzalters). Jugendliche gewannen damit ein gehöriges Maß an Autonomie. Dies ist ein wesentlicher Unterschied. Labels wie „pervers“ und „abnormal“ wurden durch die empirische Sexualforschung zu Beginn der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts aufgelöst. Was noch und was nicht mehr „normal“ war, wurde nunmehr empirisch definiert als das, was viele bzw. nur wenige taten. Solange alle Involvierten gleichberechtigt, ohne Machtgefälle und aus freien Stücken zustimmten, war keine sexuelle Praktik mehr moralisch verboten.

Man kann dies als „liberal“ bezeichnen. Aber der Druck, unter den Jugendliche in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gerieten, alles verhandeln zu müssen, sich über den Sex ständig informieren und die Techniken der Liebe und des Sexes beherrschen zu müssen, darf nicht unterschätzt werden. Wer nunmehr versagte, keinen Erfolg in der Liebe hatte, ungewollt schwanger wurde oder sich mit einer Geschlechtskrankheit ansteckte, der war selbst verantwortlich, denn er beherrschte nicht die Technologien des Selbst, um zum individuellen sexuellen Glück zu finden. Sexualität war, spätestens seit Ende der 1960er Jahre, eingebunden in eine neoliberale Governmentalitätsstrategie, welche die Verantwortung zurück auf das Individuum verlagert hatte.189

Der Sex hatte sich gewandelt. Er war aber 1968 nicht einfacher geworden als für Jugendliche zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Was sich verändert hatte, war das Koordinatensystem, in dem Jugendliche den Sex aushandeln konnten und mussten. Das Mehr an Autonomie kam zum Preis einer erheblich gewachsenen Verantwortung für sich selbst und den Partner bzw. die Partnerin. Meiner Ansicht nach sind daher die

189 Vgl. Sauerteig: Fear (wie Anm. 118), S. 217f. Befreiungsmetapher und die Liberalisierungsrhetorik für das historische Verständnis ungeeignete oder zumindest nur sehr eingeschränkt brauchbare analytische Konzepte.