Von Hodann Zu Amendt: Vorstellungen Von Sexueller „Liberalisierung“, Kindlicher Sexualität Und Geschlechterverhältnissen in Der Sexualerziehung Um 1900 Und Um 1968
Total Page:16
File Type:pdf, Size:1020Kb
Von Hodann zu Amendt: Vorstellungen von sexueller „Liberalisierung“, kindlicher Sexualität und Geschlechterverhältnissen in der Sexualerziehung um 1900 und um 1968 Dieser Beitrag untersucht Kontinuitäten und Brüche in den Vorstellungen von Geschlechterverhältnissen und kindlicher Sexualität sowie in den gesellschaftlichen Haltungen zu Sexualmoral und Sexualverhalten von Jugendlichen am Beispiel der Diskurse üBer Sexualität und Sexualaufklärung von Jugendlichen um 1900 und um 1968. Dabei geht es mir insBesondere darum, den Begriff der „sexuellen LiBeralisierung“ einer Kritik zu unterziehen, die zeigen soll, dass er, wenn üBerhaupt, nur einen äußerst Begrenzten Erklärungswert Besitzt und mehr verschleiert als zur Analyse Beiträgt. Ich werde mich zunächst mit dem im Verständnis der Zeitgenossen „progressiven“ Aufklärungsdiskurs um 1900 (hier verstanden im weiteren Sinne als die Periode von der Jahrhundertwende Bis 1933) Beschäftigen und dann den Blick auf die späten 1960er und die 1970er Jahre lenken, die oft unter dem Schlagwort der „sexuellen Revolution“ verhandelt werden. Auch wenn ich Behauptungen historischer Kontinuitäten skeptisch gegenüBer stehe – die sozialen und kulturellen Verhältnisse sind meist zu unterschiedlich –, giBt es Themenfelder und Fragen, die Jugendliche und Sexualaufklärer in Beiden Zeitabschnitten Bewegt haben. Zudem griffen die sogenannten Achtundsechziger auf Texte aus den späten 1920er und frühen 1930er Jahren zurück, insBesondere von Wilhelm Reich und Siegfried Bernfeld, die sie für ihre ideologischen Diskurse relevant hielten. Der „progressive“ Aufklärungsdiskurs der Jahre um 1900 Siegfried Bernfeld (1892–1953) war Bereits während seines Studiums üBer die Grenzen Wiens hinaus Bekannt geworden als „der führende Repräsentant und intellektuelle Kopf“ der JugendkulturBewegung.1 Peter Dudek sieht in der JugendkulturBewegung den 1 Peter Dudek: „Er war halt genialer als die anderen“. Biografische Annäherungen an Siegfried Bernfeld, Gießen 2012, S. 51; vgl. Ulrich Herrmann: Die Jugendkulturbewegung. Der Kampf um die höhere Schule, in: Thomas Koebner, Rolf-Peter Janz, Frank Trommler (Hg.): „Mit uns zieht die neue Zeit“. Der Mythos Jugend, Frankfurt a. M. 1985, S. 224–244; Fritz Jungmann [d. i. Franz Borkenau]: Autorität und Sexualmoral in der freien bürgerlichen Jugendbewegung, in: Max wohl „entschiedenste[n] Ausdruck für die Versuche, im Kaiserreich und in der österreichisch-ungarischen Monarchie eine Gegenöffentlichkeit zu Elternhaus, Schule und Universität herzustellen“.2 Man kann die JugendkulturBewegung als einen ersten Versuch von Jugendlichen Beiderlei Geschlechts sehen, sich gegen die geltenden sexualmoralischen Normen des ausgehenden Kaiserreichs aufzulehnen. Sie war, in den Worten Ulrich Herrmanns, eine „wirkliche EmanzipationsBewegung“ gegen die Kontrolle und ÜBerwachung durch Elternhaus und Schule und für „die Förderung und Intensivierung jugendlicher Intellektualität“ und, so Philip Lee Utley, „the twentieth century’s first left-wing political youth movement“.3 Trotz einer Begrenzten Anhängerschaft von ca. 3.000 Personen gelang es der JugendkulturBewegung, ihre kontroversen Themen in eine Breitere Öffentlichkeit zu tragen. John Williams spricht von einer „moral panic“, die ihre Forderungen nach Unabhängigkeit sowie ihre Proteste gegen autoritäre Strukturen des Bildungssystems und gegen die strikten sexualmoralischen Normen 1913/14 auslösten.4 Ihr wesentliches Medium dazu war die von Bernfeld und Georges BarBizon (d. i. Georg Gretor, 1892–1943) redigierte Zeitschrift Der Anfang, die, da Beide rechtlich noch minderjährig waren, als verantwortlichen HerausgeBer den Spiritus Rector der JugendkulturBewegung, Gustav Wyneken (1875–1964), angab. Rasch wurden die zwischen Mai 1913 und Juli 1914 in Franz Pfemferts (1879–1954) linkem Verlag „Die Aktion“ erschienenen grünen Hefte des Anfang zum reichsweit Beachteten „Forum jugendlicher Gegenöffentlichkeit“, das von der Presse und in den Bayerischen, preußischen und Badischen Landtagen kontrovers diskutiert sowie von Kultusministerien mit größtem Argwohn BeoBachtet und scharf Horkheimer u. a. (Hg.): Studien über Autorität und Familie. Forschungsberichte aus dem Institut für Sozialforschung [1936], reprint Lüneburg 1987, S. 669–705, S. 686–896. 2 Dudek: Annäherungen (Anm. 1), S. 52; ähnlich Herrmann: Jugendkulturbewegung (Anm. 1), S. 232. 3 Herrmann: Jugendkulturbewegung (Anm. 1), S. 224, 227f.; Philip Lee Utley: Radical youth. Generational conflict in the Anfang movement, 1912–January 1914, in: History of Education Quarterly, 1979, Jg. 19, S. 207–228, S. 207. 4 John Alexander Williams: Ecstasies of the young: sexuality, the youth movement, and moral panic in Germany on the eve of the First World War, in: Central European History, 2001, Jg. 34 , S. 163–189. kritisiert wurde, auch wenn die Auflage mit maximal 2.000 Exemplaren üBerschauBar blieB.5 Was Zeitgenossen am meisten üBerrascht und schockiert haben dürfte, war, dass sich im Anfang Jungen und Mädchen mit Sexualität und Sexualmoral auseinander setzten.6 Aber nicht nur hier, sondern auch in dem von Bernfeld Anfang 1913 in Wien begründeten „Sprechsaal“ konnten Jugendliche öffentlich u. a. üBer Fragen von Sexualität und Sexualmoral und das Verhältnis der Geschlechter diskutieren. Bernfeld hatte den Sprechsaal als ein unregelmäßig tagendes Diskussionsforum für Leser*innen des Anfang konzipiert, das in der Folgezeit rasch wuchs und in anderen Städten kopiert wurde. Allerdings stießen die Sprechsäle Bald auf behördlichen Widerstand. In Wien üBerwachte die Polizei den Sprechsaal und verbot ihn schließlich im März 1914, während in München das Bayerische Kultusministerium im Januar 1914 Schülern nicht nur dessen Besuch untersagte, sondern auch das Lesen des Anfang verbot.7 Mitglieder des im HerBst 1912 eBenfalls von Bernfeld gegründeten „Akademischen Comité für Schulreform“ richteten daraufhin 1914 in Wien eine kostenlose SchülerBeratungsstelle ein, den „Grünen Anker“, in dem diese sich von Ärzten*innen, Juristen, Pädagogen*innen und anderen Ansprechpartner*innen unter anderem zu sexuellen Fragen Beraten lassen konnten.8 Im Frühjahr 1914 kam es zum zeitweisen Bruch mit Wyneken, der wegen seiner Unterstützung des Anfang und der JugendkulturBewegung in den Fokus der Kritik seitens Politik und Polizei geraten war. Es hatte zudem interne Spannungen zwischen Wyneken 5 Dudek: Annäherungen (Anm. 1), S. 54; Williams: Ecstasies (Anm. 4), S. 178–184; Utley: Youth (Anm. 3); Philip Lee Utley: Schism, romanticism and organization: Anfang, January–August 1914, in: Journal of Contemporary History, 1999, Jg. 34, S. 109–124; Klaus Laermann: Der Skandal um den Anfang. Ein Versuch jugendlicher Gegenöffentlichkeit im Kaiserreich, in: Koebner u. a.: Zeit (Anm. 1), S. 360–381; Vanessa Tirzah Hautmann: Kultiviertes Triebleben. Sexualität und Geschlechtermoral in der Jugendzeitschrift Der Anfang, in: Karl Braun, Felix Linzner, John Khairi-Taraki (Hg.): Avantgarden der Biopolitik. Jugendbewegung, Lebensreform und Strategien biologischer „Aufrüstung“ (Jugendbewegung und Jugendkulturen. Jahrbuch 2017, Nr. 13), Göttingen 2017, S. 19–32, S. 22. 6 Williams: Ecstasies (Anm. 4); Laermann: Skandal (Anm. 5); Hautmann: Triebleben (Anm. 5). 7 Dudek: Annäherungen (Anm. 1), S. 64f., 68f.; Sabine Richebächer: Psychoanalyse im Exil. Otto Fenichel und die geheimen Rundbriefe der linken Freudianer, in: Jahrbuch der Psychoanalyse, 2000, Jg. 42, S. 125–164, S. 126; Herrmann: Jugendkulturbewegung (Anm. 1), S. 237f.; Laermann: Skandal (Anm. 5), S. 371ff.; Ulrich Linse: Die Entschiedene Jugend 1919–1921. Deutschlands erste revolutionäre Schüler- und Studentenbewegung, Frankfurt a. M. 1981, S. 35f.; Utley: Youth (Anm. 3), S. 213, 216. 8 Dudek: Annäherungen (Anm. 1), S. 63f, 71f.; Richebächer: Psychoanalyse (Anm. 7), S. 126; Herrmann: Jugendkulturbewegung (Anm. 1), S. 232–239. und Bernfeld, BarBizon und Walter Benjamin (1892–1940) gegeben, Bei denen es um Wynekens Einfluss als offizieller HerausgeBer der Zeitschrift sowie um dessen asketische Position gegenüBer Sexualität, Alkohol und Rauchen ging.9 Sexuelle Identität, Sexualmoral und jugendliches Sexualverhalten sowie Freikörperkultur und Nacktheit waren in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg innerhalB der deutschen JugendBewegung zu zentralen Themen geworden. InsBesondere Auseinandersetzungen üBer Homoerotik und Homosexualität sowie die Funktion des „pädagogischen Eros“ hatten die Gemüter der Jugendlichen, deren Eltern und einer Breiteren Öffentlichkeit Bewegt.10 Der der Frankfurter Schule nahestehende Soziologe Franz Borkenau (1900–1957) wies allerdings darauf hin, dass es sich eher um theoretische Diskussionen gehandelt und „eine wirkliche Befreiung des Sexus“ in der JugendkulturBewegung nicht stattgefunden habe.11 EBenfalls zentral war die Frage der Stellung von Mädchen innerhalB der Jugendbewegung, was vor und nach dem Krieg für erhitzte Auseinandersetzungen üBer das Verhältnis der Geschlechter zueinander sorgte.12 Mitglieder der JugendBewegung äußerten sich verstärkt zu diesen Themen in der Öffentlichkeit. Im OktoBer 1913 veröffentlichte der damals 20-jährige HerBert Blumenthal (1893–1978), ein Freund Bernfelds und Benjamins, einen Beitrag im Anfang mit dem programmatischen und gleichzeitig provozierenden Titel „Jugendliche Erotik“. 9 Williams: Ecstasies (Anm. 4), S. 179–183; Utley: Schism (Anm. 5), S. 118f. 10 Vgl. Sven Reiß: „Renaissance des Eros paidikos“. Erotisch-sexuelle Leitbilder und Alltagspraxen in der deutschen Jugendbewegung, in: Braun u. a: Avantgarden (Anm. 5), S. 61–75; Claudia Bruns: