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29. Oktober 2020 DIE ZEIT No 45 STREIT 11 »Ein Verbot des Kinderkopftuchs wäre zum Wohl aller Kinder« Der islamistische Mord an Samuel Paty zeigt einmal mehr, in welchem politisch-religiösen Spannungsfeld Lehrer in Frankreich arbeiten. Das ist in Deutschland nicht anders. Die Politik muss sich einmischen, auch mit Verboten VON NECLA KELEK una (Name geändert) ist zehn keit – ist so etwas wie das besitzanzeigende Symbol Jahre alt und geht in die drit- dieser Apartheid, der Trennung nach Geschlechtern. te Klasse einer Grundschule Ein Symbol wohlgemerkt, das im Koran weder aus- in Berlin-Wedding. Sie trägt drücklich benannt noch vorgeschrieben wird. ein Kopftuch, an dem sie im- Die Gegner eines generellen Verbots bringen eine mer wieder herumzupft. Ihre Reihe von Gründen für das Kinderkopftuch vor. Es Lehrerin sagt ihr, dass sie zu tragen falle unter den Schutz der Religionsfreiheit, sicher schöne Haare habe, und fragt, ob sie manch- sagen sie. Ebenso grundgesetzlich garantiert sei das Mmal auch ohne Kopftuch nach draußen gehe. Muna Recht der Eltern, die religiöse Orientierung und Er- schüttelt den Kopf: »Meine Eltern wollen das nicht.« – ziehung der Kinder zu bestimmen. Das Kopftuch sei »Aber deine Eltern können das nicht bestimmen«, dabei ein »Teil der religiösen Praxis«. sagt die Lehrerin. Einmal abgesehen davon, dass diese Praxis in musli- Auf dem Nachhauseweg nimmt Muna das Tuch ab misch geprägten Ländern, selbst in der Türkei vor Er- und erzählt ihrer Mutter, die Lehrerin habe gesagt, sie doğan, unüblich war und erst mit dem Aufkommen müsse das gar nicht tragen. In den nächsten drei Tagen und Erstarken islamistischer Kräfte wie den Mullahs fehlt Muna. Als das arabische Mädchen wieder in die im Iran oder den Muslimbrüdern auch in Europa um Schule kommt, ist ihr Kopftuch deutlich strenger ge- sich gegriffen hat: Würde ein Verbot am Grundrechts- bunden als zuvor. Die Lehrerin fragt, ob sie krank ge- argument scheitern? Nein, haben in jüngster Zeit zwei wesen sei. Muna schüttelt den Kopf und hebt das Tuch eigenständige juristische Gutachten festgestellt: Die an der Schläfe an. Ihr Kopf ist kahl geschoren und ver- Rechtsprofessoren Martin Nettesheim, Universität schorft. Ihr Vater sei böse geworden, sagt sie. Tübingen, und Kyrill-Alexander Schwarz, Universität Diesen Vorfall schilderte mir vor zwei Jahren eine Würzburg, kommen beide zu dem Schluss, dass ein noch immer schockierte Lehrerin auf einer Fortbildung Verbot nicht nur verfassungsgemäß, sondern sogar im im Berliner Pädagogischen Innovationszentrum als ihre Sinne des Grundgesetzes wäre. schlimmste berufliche Erfahrung. Sie machte sich Vor- Denn eine offene, demokratische Gesellschaft, wie würfe, dem Kind die Idee mit den offenen Haaren in sie unsere Verfassung ermöglichen will, braucht eman- den Kopf gesetzt zu haben. Ich fragte die Lehrerin, wie zipierte und selbstbewusste Bürgerinnen und Bürger. sie reagiert habe. Gar nicht, sagte sie, es wäre doch nur Die zugehörigen Werte soll die Familie, aber auch die noch schlimmer geworden. Bis heute plagten sie Schuld- Schule vermitteln. Nicht zuletzt wegen dieses »Freiheits- gefühle. Vor dieser Überforderung, sich positionieren auftrages« steht das Schulwesen unter der Aufsicht des zu müssen, stehen viele Lehrerinnen und Lehrer täglich. Staates. Kindern sollen nicht nur Wissen und Bildung Viele sind dem nicht immer gewachsen. vermittelt werden, sondern auch freiheitliche und de- Wie sehr die Schule im Spannungsfeld von Frei- mokratische Haltungen. Mit Blick auf das Elternrecht heit und religiösem Achtungsanspruch steht, ist gerade hat das Bundesverfassungsgericht betont, das Erlernen auf furchtbare Weise in Frankreich deutlich ge- des Prinzips der Freiheit sei »wesentlich ein Recht im worden. Dort wurde der Lehrer Samuel Paty Mitte Interesse des Kindes«. Freiheitsauftrag und Kindeswohl Oktober von einem 18-jährigen Islamisten enthaup- beginnen also an der Schultür. tet, weil er in seinem Unterricht Mohammed-Karika- Dürfen Mädchen aber »freiwillig« das Kopftuch turen gezeigt hatte. Paty hatte an deren Beispiel das tragen? Ja, allerdings nicht in der Schule; denn die Wesen der Meinungsfreiheit verdeutlichen wollen. Religionsfreiheit gilt für Kinder unter 14 Jahren nur Präsident Emmanuel Macron würdigte den Lehrer als eingeschränkt. Erst im Alter von 14 Jahren hält der »stillen Helden«. Schlimm genug, dass Paty die Ver- Gesetzgeber »die kognitiven und intellektuellen Fähig- mittlung von Freiheitsrechten mit seinem Leben be- keiten (für) ausgereift«, die für einen »Freiheitsge- zahlen musste. Umso wichtiger, dass dieses Thema im brauch« nötig seien, darauf weist Nettesheim hin. Der Schulalltag in den Blickpunkt rückt; und ein beson- Staat schützt so das Kind vor unbedachten Handlun- ders dringlicher Fall ist das Kinderkopftuch. gen und den Folgen möglicher Indoktrination. Denn Auch wenn bis heute Daten fehlen, wie viele Mäd- auch Freiheitswahrnehmung muss erst gelernt werden. chen betroffen sind: Wir müssen handeln! Schon al- Inzwischen haben einige Verantwortliche in der lein wegen der Belastungen, die dieses Kleidungsstück Politik das Kinderkopftuch als Problem erkannt. den Mädchen auferlegt. Es braucht ein Verbot des Nordrhein-Westfalens schwarz-gelbe Regierung hat Kinderkopftuchs in öffentlichen Einrichtungen. Da- unlängst ein Verbot in Schulen und Kitas erwogen, für hat Terre des Femmes, in deren Vorstand ich bin, sich letztlich aber nicht dazu durchringen können. schon im Jahr 2018 eine Petition gestartet. Die Un- In meiner Heimatstadt Hamburg ist man noch terstützer unserer Forderung reichen vom Deutschen nicht einmal so weit gekommen. Dort habe ich die- Lehrerverband bis zur Bundesarbeitsgemeinschaft der sen Sommer mit anderen im Verein Säkularer Islam Immigrantenverbände. Auch eine Mehrheit der den Senat um Unterstützung für ein Verbot des Deutschen (57 Prozent) wäre für ein Kopftuchverbot Kinderkopftuches an Schulen und Kitas gebeten. In an Grundschulen, so 2019 eine Umfrage des Mei- dem Schreiben, das wir daraufhin vor wenigen Ta- nungsforschungsinstituts YouGov. (Zu einer noch gen erhielten, wurde uns zwar für unser Engage- höheren Zustimmung kommt eine aktuelle Umfrage ment gedankt, ansonsten aber im Auftrag der ZEIT, siehe unten auf dieser Seite.) auf Zurückhaltung und Neutra- Sicherlich gibt es junge muslimische Mädchen, die lität des Staates gepocht. Und das Kopftuch tragen, ohne diesen Brauch infrage zu anders als im »Gesetz über die stellen, schlicht weil sie sich der Familie und ihrer mus- religiöse Kindererziehung« vor- limischen Umgebung anpassen. Aber: »Manche Mäd- gesehen, hält der Senat auch den chen empfinden sich als besonders rein und islamkon- Willen des Kindes für eher uner- form und denken, dass sie deshalb berechtigt sind, das heblich. Kurzum, er sieht keinen Necla Kelek Verhalten anderer zu bewerten«, berichtet eine Lehrerin Grund, ein Kopftuchverbot zu 1957 in Istanbul in einer Umfrage der Frauenrechtsorganisation Terre des unterstützen. geboren, ist Femmes unter 250 Lehrerinnen. »Die Mädchen grenzen Diese Untätigkeit hat die AfD Soziologin und sich durch das Kopftuch von anderen Mädchen ab.« Wer ausgenutzt: Ende Mai setzte sie Publizistin. Von so denkt, teilt die Welt in Gläubige und Ungläubige, in das Thema auf die Tagesordnung ihr erschien zu- Reine und Unreine ein. Das Kopftuch bei Mädchen vor des Bundestages. In der Debatte letzt »Die unhei- der Pubertät stigmatisiert zudem schon das Kind als se- wurde klar, dass es der Partei lige Familie: Wie xuelles Wesen und gewöhnt es früh an seine spätere wohl kaum um den Schutz von die islamische Rolle als Frau. Damit raubt es ihm die Kindheit. Mädchen ging, sondern eher um Tradition Frauen Im Mai dieses Jahres gab es zu dem Thema Kopftuch- antiislamische Reflexe. Zitat: und Kinder verbot zwar eine Debatte im Bundestag – die allerdings Ausdruck von Religionsfreiheit oder frühe Stigmatisierung als sexuelles Wesen? Eine junge Schülerin mit Kopftuch »Das Kinderkopftuch ist ein entrechtet« unbefriedigend ablief, dazu gleich mehr. Symbol des politischen Kindes- Österreich ist da schon weiter. Das Parlament dort missbrauchs.« Die Abgeordneten der anderen Parteien hat bereits 2019 die Verhüllung von Mädchen mit nahmen diese hetzerische Vorlage dankbar an. Anstatt einem Kopftuch in der Grundschule per Gesetz ver- Soll es Ihrer Meinung nach Mädchen über das Kindeswohl zu diskutieren, konnten sie sich boten. Aus gutem Grund: Das Kopftuch hindert die an der AfD und deren Islamverständnis abarbeiten. Mädchen daran, den eigenen Körper zu erfahren, unbe- unter 14 Jahren verboten werden, an öffentlichen Das Bittere daran: Der Alltag der vielen muslimischen fangen Kontakte zu Mitschülern aufzunehmen, es för- Mädchen interessierte, bis auf Christoph de Vries von dert Ausgrenzung und Mobbing, es kann den Schul- Schulen ein Kopftuch zu tragen? der CDU, niemanden. Eine Kostprobe aus der Rede frieden gefährden. Zur Stigmatisierung hinzu kommt von Helge Lindh (SPD), der über muslimische Frauen eine Rollenzuschreibung, die sich nicht mit dem Grund- ZEIT!UMFRAGE sagte: »Sie sind aber nicht Opfer des Kopftuches; viel- gesetz und den Grundsätzen einer offenen und freiheit- mehr sind sie Opfer solcher dämlichen Anträge und lichen Gesellschaft verträgt: Konservative Muslime le- solcher dämlichen Kopftuchdebatten.« ben in der Vorstellung, dass Mann und Frau gleich- Nach 30 Minuten folgte eine Beerdigung erster wertig, aber nicht gleichberechtigt seien. Dem Koran Klasse durch die Überweisung des Antrags in den nach ist der Mann das überlegene Wesen. »Männer Ausschuss für Inneres