Das Deutsche Schriftsystem (Compu-Skript)
Total Page:16
File Type:pdf, Size:1020Kb
PD Dr. Wolfgang Schindler. LMU München. Compu-Skript „Das deutsche Schriftsystem“. Version 27.09.2021. Seite 1 E-Mail: Wolfgang.Schindler[ätt]germanistik.uni-muenchen.de Web: http://wolfgang-schindler.userweb.mwn.de/index.html Das deutsche Schriftsystem 1 (Literaturverzeichnis am Ende!) 1 Zur Evolution von Schreibgrammatik Wenn wir in die römische Antike zurückblicken, fällt uns auf, dass es viele Schriftdokumente, bei- spielsweise Inschriften, gibt, die in CAPITALIS und in der sog. SCRIPTIO CONTINUA verfasst sind: Inschrift2 Trajan-Säule in Rom 112/113 n. Chr. Wenn wir das in einer großbuchstabigen durchgängigen Schreibung im Deutschen nachahmen, dann sieht das ungefähr so aus: 3 DIROMERHABENTATSEHLIHOFTERSONEWORTZWISENRAUMEGESRIBEN Die Römer haben tatsächlich öfters ohne Wortzwischenräume geschrieben 1 Dieses Typoskript ist aus einer Vorlesungsgrundlage entstanden. Es ist inspiriert von Beatrice Primus’ Arbeiten, ins- besondere ihrer Vorlesung "Das Schriftsystem des Deutschen“ (Köln, 2009)! Der Interpunktionsteil ist inspiriert von Ursula Bredels Arbeiten. Zu nennen sind auch die Einflüsse des Wortschreibungsteils in der Grammatik von Peter Eisenberg (Grundriss, Bd. 1., Kap. 8). Den Keim legte vor langer Zeit eine Vorlesung von Hartmut Günther, die er während meines Studiums in München hielt. Und natürlich sind meine Gedanken von den vielen Arbeiten inspiriert, die im Literaturverzeichnis am Ende aufgeführt sind. 2 Für die Interessierten hier eine Version mit einer Gliederung und mit einer ungefähren Übersetzung: SENATVS·POPVLVSQVE·ROMANVS / IMP·CAESARI·DIVI·NERVAE·F·NERVAE / TRAIANO·AVG·GERM·DACICO·PONTIF / MAXIMO·TRIB·POT·XVII·IMP·VI·COS·VI·P·P / AD·DECLARANDVM·QVANTAE·ALTITVDINIS / MONS·ET·LOCVS·TANT<IS·OPER>IBVS·SIT·EGESTVS Die Inschrift enthält zwar keine Spatien, aber MITTELPUNKTE, die meist worttrennend eingesetzt werden. Das ist schon eine Stufe weiter als die ursprüngliche scriptio continua ohne solche Gliederungszeichen. Zudem (mit Dank an mein Masterseminar WS 19/20 für diesen Hinweis) werden die Zahlen mit einem Oberstrich markiert, weil z. B. <V> und <I> als Buchstaben oder als Ziffern verstanden werden können. Übersetzung: Der Senat und das Volk von Rom dem Imp[erator] Caesar Nerva Traianus Aug[ustus], [F[ilius]] Sohn des göttlichen Nerva, Bezwinger der Germ[anen] und der Daker, Pontifex Maximus, Inhaber der Amtsgewalt eines Tri[buns], zum 17. Mal, siegreicher Feldherr, zum 6. Mal, Consul zum 6. Mal, P[ater] P[atriae], um zu zeigen, wie hoch der Hügel und das Gelände war, das für diese umfangreichen Baumaßnahmen entfernt wurde. 3 Vernachlässigt sind z. B. Umlautschreibungen, <ie> und das Dehnungs-<h> (ohne). /ç,x/ → <h>. PD Dr. Wolfgang Schindler. LMU München. Compu-Skript „Das deutsche Schriftsystem“. Version 27.09.2021. Seite 2 Die nur aus Großbuchstaben bestehende römische Schrift nennt man CAPITALIS. Vergleicht man eine römische oder altgriechische Scriptio-Continua-Version mit einer im heutigen Schriftdeutsch verfass- ten,4 dann fällt Folgendes auf: Ein alphabetisches Schreibsystem kommt auch ohne eine komplexere Schreibgrammatik aus, die über die Deklaration der Graphem-Phonem-Beziehungen hinausgeht. Wir machen jedoch im heutigen Schriftdeutsch Sprachstrukturelles, vor allem Grammatisches, deutlicher sichtbar und kodieren in unserer Alphabetschrift (deutlich) mehr grammatische Informationen als eine Capitalis-Version. So markieren wir etwa die Wortgrenzen durch Spatien, den Satzanfang oder den Kopf der Nominalphrase durch Großschreibung oder das Satzende durch ein Satzschlusszeichen. Wir haben heute auch eine Interpunktionskomponente in der Schreibung.5 Unsere Schreibung ist deutlich stärker auf den Leser eingestellt als eine römische Capitalis-Schreibung. Das Lesen bzw. De- kodieren von scriptio continua mit Capitalis erweist sich übrigens auch als anstrengender. Lese-Expe- rimente mit Eye-Trackern6 zeigen, dass die Augenbewegungen deutlich unruhiger sind und die visu- elle Speicherung der erkannten Einheiten wesentlich schwerer fällt als bei unserer heutigen Schreibweise.7 Offenbar gibt es, motiviert durch ein Bedürfnis nach deutlicherer Strukturierung, eine Evolution im Schreiben.8 SchreiberInnen und LeserInnen probieren immer wieder schreibgrammatische Neuerun- gen aus, die sie dann gegenseitig gut finden (Evolutions- bzw. Selektionstest bestanden) oder eben nicht. Zu „eben nicht“: Ende des 18. Jahrhunderts und im 19. Jahrhundert werden im Deutschen Plu- ralapostrophe geschrieben, die im späteren 19. Jhrh./Anfang des 20. Jhrh. dann erst einmal wieder verschwinden. So schreiben gebildete Zeitgenossen damals etwa: Comma’s oder Motto’s.9 Schließ- lich nehmen bestimmte Schreibungen wieder ab oder verschwinden sogar (zumindest vorüberge- hend), siehe z. B. das Auf und Ab der Apostrophierungen im Deutschen und vergleiche unten das Kapitel zum Apostroph. Mit der Zeit hat sich eine differenzierte Schreibgrammatik herausgebildet! Diese Schreibgrammatik, die Markierungen wie Spatien, Groß-/Kleinschreibung, Interpunktion etc. verwendet, wollen wir im Folgenden näher kennenlernen. 4 Wobei Schriftanfänger (Kinder vor/bei Schulbeginn) nicht selten erst einmal „Scriptio Continua“ schreiben. 5 Eine frühe interpunktorische „Erfindung“ (auch im Latein der Capitalis-Zeit) war der worttrennende halbhohe MIT- TEPUNKT, nachgeahmt: DIE·RÖMER·HABEN ... 6 Wer sich über Grundsätzliches bezüglich Eye-Tracking informieren möchte, der kann dies beispielsweise hier tun: http://eyetracking.ch/wissen/was-ist-eye-tracking/. 7 Vgl. Raible 1991, online: http://www.romanistik.uni-freiburg.de/raible/Publikationen/Files/1991_Entwicklung_Al- phabetschriften.pdf; 28.09.2018 8 Ich spreche von Evolution, weil all dies durch Ausprobieren und wechselseitiges (Nicht-)Akzeptieren sozial „ausge- handelt“ wurde. 9 Belege von hier: http://www.iaas.uni-bremen.de/sprachblog/2007/04/26/apostrophenschutz/. Aufruf: 5.4.18. Ich habe auch in Büchern aus der damaligen Zeit etliche Pluralapostrophe gesehen (nur nicht im Einzelnen mit der Quelle festgehalten). Die Motivation, Pluralapostrophe zu schreiben, könnten fremde Eigennamen ausgelöst haben, weil wir nicht genau wissen, ob ein wortschließendes <s> zum Namen gehört oder ob es ein Flexiv ist. Im (Nord-)Deut- schen gibt es z. B. die Nachnamen (Wiebke) Engelbart und (Wiebke) Engelbarts, im Plural dann differenziert als die Engelbart’s und die Engelbarts (alternativ: die Engelbarts’) PD Dr. Wolfgang Schindler. LMU München. Compu-Skript „Das deutsche Schriftsystem“. Version 27.09.2021. Seite 3 2 Schreibgrammatik und Schriftlinguistik Diese Vorlesung stellt die im weiteren Sinn grammatischen Aspekte unseres Schreibens, also die Schreibgrammatik bzw. Graphematik,10 in den Vordergrund. Ich folge einem weiten Begriff von Gra- phematik. In einer weit gefassten Graphematikkonzeption werden sowohl die segmentalen Eigen- schaften des Schriftsystems bzw. der Schreibprodukte als auch suprasegmentale Eigenschaften un- tersucht. Eine enge Konzeption (vgl. etwa Neef 2005) beschränkt sich darauf, segmentale Phonologie und Schrift- bzw. Schreibeigenschaften im Verhältnis zueinander anzusehen. Eine Schreibgrammatik oder Graphematik (ob sich beide Extensionen decken oder überlappen, muss ich noch klären) ist Teil einer umfassenderen Schriftlinguistik. Deren Interessen und Komponenten werden in diesem Kapitel nur angedeutet und erst im folgenden Kapitel vertieft. Unsere Schreibung weist mit der phonographischen Komponente (Graphem-Phonem-Korresponden- zen, kurz: GPK (lies GPK: Welches Graphem ist welchem Phonem zugeordnet? Es geht also vom Pho- nem aus) einen Bezug zur Lautebene bzw. Phonologie auf.11 Doch der Output der phonographischen Komponente wird gegebenenfalls durch eine Reihe weiterer Markierungen mit Bezug zu morpholo- gischen oder syntaktischen Aspekten angereichert. Das sind nicht die einzigen Aspekte, es gibt wei- tere, z. B. der Applikationsvorbehalt bei die „Luft“ (‚Atmosphäre‘) auf dem Mars. Ich schließe mich der Perspektive an, dass die geschriebene Sprache einerseits über das phonographische Schreiben einen Bezug zur Lautebene hat und dass sie andererseits eine deutliche bzw. eine völlige Autonomie gegenüber dem Lautlichen besitzt12 Wie sich in unserem Schreiben Morphologisches bzw. Syntakti- sches niederschlagen kann, macht Eisenberg (2013, Bd. 1, 286) an folgendem Beispiel (Beispiel von W.S. ausgebaut) deutlich: (1) / ʀ ɛ ç ə n/ (Standardaussprache: [ˈʀɛç̇n̩]) GPK/PGK morphologisch syntaktisch Schreibung < r e ch e n> <rächen> <Rechen> Markierung (Vgl. Capitalis: <RECHEN>) <a>-Basis (Rache) NP-Kopf, N Information Somit folge ich nicht der Ansicht, dass die Schrift nur ein Festhalten, ein visuelles Fixieren der Rede sei, so dass die Rede den alleinigen relevanten Forschungsgegenstand der Linguistik darstelle.13 Schriftsysteme stehen durchaus in Wechselwirkungen zu phonologischen, morphologischen und syn- taktischen Strukturen bzw. deren Grammatik. Auch die Tatsache, dass syllabische und alphabetische 10 Ob man Graphematik und Schriftgrammatik in eins setzen sollte, bleibt hier ungeklärt. In jedem Fall ist ein weiterer Begriff von Grammatik anzusetzen, der auch pragmatische Aspekte einbezieht wie etwa bei der Großschreibung von sie als Anredepronomen <Sie> oder bei der Setzung von Anführungszeichen, vgl. den Unterschied von Kuno behaup- tet, ich [‚Autor‘] sei ein Außerirdischer und Kuno behauptet: „Ich [‚Kuno‘] bin ein Außerirdischer!“. 11 Hier sei auf die Arbeit von Schmidt (2018) verwiesen, der anders ansetzt und der Morphographie im Deutschen gegenüber der Phonographie einen höheren Stellenwert