Mainzer Stadtschreiber 2013: Peter Stamm

Stadtschreiber-Literaturpreis von ZDF, 3sat und der Landeshauptstadt Preisverleihung und Amtseinführung am Freitag, 22. Februar 2013, 15.30 Uhr

2 Der Mainzer Stadtschreiber 2013: Peter Stamm Biografie und Bibliografie

4 Rede des ZDF-Programmdirektors Dr. Norbert Himmler

8 Rede des Oberbürgermeisters der Landeshauptstadt Mainz, Michael Ebling

12 Laudatio von Judith Kuckart

20 Die Mainzer Stadtschreiber und ihre TV-Dokumentationen

23 Die Jury

24 Richtlinien für die Verleihung des Stadtschreiber-Literaturpreises

27 Kontakt, Bildhinweis, Impressum

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Der Mainzer Stadtschreiber 2013: Peter Stamm Biografie und Bibliografie

Peter Stamm wurde 1963 in Scherzingen/Kanton Thurgau in der Schweiz geboren. Er studierte nach einer kaufmännischen Lehre ei- nige Semester Anglistik, Psychologie und Psychopathologie, längere Aufenthalte in Paris, New York, und London schlossen sich an. Seit 1990 arbeitet er als freier Autor und Journalist.

Wie kaum ein anderer Autor seiner Generation findet Stamm präzise und suggestive Bilder für die unendlichen Möglichkeiten und Unmög- lichkeiten von Liebesbeziehungen, von Kälte und Anziehung, von Dis- tanz und Nähe. Stamms Markenzeichen ist sein kunstvoll knapp und schmucklos gehaltener Stil. Stil, das sei doch nur ein Kleid, sagte Stamm einmal, aber Literatur müsse Haut zeigen.

Bereits mit seinem Debutroman "Agnes", einer verwickelten Liebesge- schichte zwischen einem Autor und einer Physikstudentin, konnte Stamm 1998 einen großen Erfolg bei der Kritik und den Lesern glei- chermaßen feiern. Die Feuilletons feierten das Buch als Parabel über die Macht der Literatur, der Fantasie. 1999 setzt Stamm mit dem hochgelobten Erzählungsband "Blitzeis" seine literarischen Erfor- schungen über die Unmöglichkeit von Beziehungen fort und findet bei Marcel Reich-Ranicki und seinen Mitstreitern im "Literarischen Quartett" des ZDF dafür hohe Anerkennung. Es folgt der nördlich des Polarkreises spielende Roman "Ungefähre Landschaft" (2001), der Roman "An einem Tag wie diesem" (2006) über eine tödliche Krank- heit, die Dreiecksgeschichte "Sieben Jahre" (2009) sowie die ein- drücklichen Erzählungssammlungen "Wir fliegen" (2008) und "Seerücken" (2011).

Peter Stamm, der auch als Dramatiker und Hörspielautor arbeitete und jahrelang als Journalist für die "Neue Zürcher Zeitung", die "Weltwoche" oder für die satirische Zeitschrift "Nebelspalter" wirkte, ist mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet worden, unter anderem mit dem Rauriser Literaturpreis (1999), dem Rheingau Literaturpreis (2000), dem Preis der Stadt Zürich (2003), dem Kulturpreis der Stadt Winterthur (2003) sowie dem Bodensee-Literaturpreis (2012). 2013 erhält er nun den Mainzer Stadtschreiber-Literaturpreis und wurde für den Man Booker International Prize nominiert. Stamm lebt im schwei- zerischen Winterthur.

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Bibliografie (Auswahl)

Buchveröffentlichungen:

1998 "Agnes". Roman. Arche Verlag 1999 "Blitzeis". Erzählungen. Arche Verlag 2001 "Ungefähre Landschaft". Roman. Arche Verlag 2003 "In fremden Gärten". Arche Verlag 2006 "An einem Tag wie diesem". Roman. S. Fischer Verlag 2008 "Wir fliegen". Erzählungen. S. Fischer Verlag 2009 "Sieben Jahre". Roman. S. Fischer Verlag 2011 "Seerücken". Erzählungen. S. Fischer Verlag

Theaterstücke:

"Fremd gehen" (1995) "Après Soleil" (2003) "Der Kuss des Kohaku" (2004) "Die Töchter von Taubenhain" (2004).

Hörspiele:

"Ich und die anderen" (1991) "In Vitro" (1994) "Agnes" (1998) "Passion"; "Was wir können" (2000) "Blitzeis" (2001) "Das Schweigen der Blumen" (2004) "Treibgut" (2005).

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Rede des ZDF-Programmdirektors Dr. Norbert Himmler zur Verleihung des Mainzer Stadtschreiber- Literaturpreises 2013 an Peter Stamm

– Es gilt das gesprochene Wort –

Sehr geehrter Herr Oberbürgermeister Ebling, verehrte Frau Grosse, sehr geehrte Frau Kuckart, lieber Herr Stamm, meine Damen und Herren,

auf Ihnen, lieber Herr Stamm, wird ab heute eine große Verantwortung lasten. Welche Auswirkungen das Amt des Mainzer Stadtschreibers haben kann, möchte ich kurz aufgrund eigener Betroffenheit schildern. Als ich 1990 hier in Mainz mein Abitur ablegte, Deutsch als eines der Prüfungsfächer, hatte ich die Themenwahl zwischen Lenz’schen Kurz- geschichten und einer Gedichtinterpretation. Mein Deutschlehrer raunte mir damals zu: Herr Himmler, Sie nehmen das Gedicht, ist doch Ehrensache im Abitur. Und so wählte ich das Gedicht. Es stammte vom damaligen Stadtschreiber Günther Kuhnert; ich verstand den Kontext nicht und die Arbeit fiel ziemlich mittelmäßig aus. Es hat mich Gott sei Dank nicht daran gehindert, anschließend Germanistik zu stu- dieren, aber Sie sehen, lieber Herr Stamm, welche Folgen dieses Amt haben kann.

Aus meiner Sicht hat die Stadtschreiber-Jury bei ihrer Wahl alles rich- tig gemacht:

Ich bin tief überzeugt, dass wir es hier mit einem großen Talent der deutschsprachigen Literatur zu tun haben (…) In Deutschland glaubt man immer, poetisch muss immer ganz dunkel und unverständlich sein (…) Er schreibt eine ganz klare, gar nicht dunkle, hochpoetische Prosa, meist kurze Sätze, und er kann zwei Dinge glänzend zeigen: Nicht die Figuren, um die bemüht er sich gar nicht, über die schreibt er ja nur ganz wenig. Er kann Situationen zeigen, und er kann fabelhaft Stimmungen zeigen (…) Ein fabelhafter Autor.

So. Drei Dinge muss ich jetzt nachtragen. Erstens: Ich liefere hiermit die Anführungszeichen nach. Zweitens: Die Sätze sind nicht von mir, aber jedem Satz kann ich aus vollem Herzen zustimmen. Drittens: Dies ist ein Zitat und es ist zwölf Jahre alt und stammt von Marcel Reich-Ranicki. Ausgesprochen im Literarischen Quartett am 17. August 2001 über Ihren Roman "Ungefähre Landschaft".

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Sie sehen also, lieber Herr Stamm, zwischen Ihnen und dem ZDF gibt es schon eine lange Geschichte. Das Quartett hatte ja auch schon 1999 Ihren Erzählungsband "Blitzeis" etwas chaotisch, aber doch sehr positiv diskutiert. Wenn man den Kritiken der letzten Jahre glauben kann, dann lag Herr Reich-Ranicki vor zwölf Jahren mit seiner hell- sichtigen Analyse "nicht so ganz daneben", wie er es mit leichter Untertreibung selbstironisch formulieren würde.

Heute gehören Sie zu den ganz wenigen deutschsprachigen Autoren, die nicht nur hohe Auflagenzahlen erreichen, sondern auch noch die Kritiker zum Schwärmen bringen. Erfolg und Anerkennung zugleich, das gibt es nicht so oft. Sie sprechen darüber hinaus auch noch ein globales Publikum an, was der deutschen Literatur noch seltener pas- siert. Ihre Bücher sind in 25 Sprachen übersetzt worden und in den USA werden Sie von berühmten Schriftstellerkollegen wie Tim Parks oder Zadie Smith geradezu euphorisch besprochen, was ein deutsch- sprachiger Autor noch viel, viel seltener erlebt. Da tickt etwas in Ihren Texten, das die Seelen beiderseits des Atlantiks erreicht, egal ob in Boston oder Berlin, in Maine oder in Mainz, in Washington oder Winterthur. Kürzlich sind Sie für den "Man Booker International Prize" nominiert worden. Sie sind der erste Schweizer, der das geschafft hat. Ich gratuliere Ihnen zu dieser großen Ehre! Wenn man dann noch be- denkt, dass ein Philip Roth vor zwei Jahren den Preis gewonnen hat, dann ist diese Nominierung allein schon ein echtes Ereignis.

Ja, was ist es denn, was Ihre Arbeit weltweit so attraktiv macht? Der eben erwähnte Tim Parks meint, Stamm sei deshalb ein so eminent internationaler Autor, weil seine Charaktere so gut in unsere globali- sierte Welt passen, so orientierungslos wie sie oftmals sind. Sie ver- heddern sich im täglichen Einerlei ihrer Beziehungen. Und das soge- nannte Normale gerät schnell aus dem Tritt.

Meine Damen und Herren, hören Sie sich das an: "Du bist allein, egal mit wem Du zusammen bist"! Welch ein Satz, den eine wütende Ge- liebte ihrem Typen an den Kopf wirft, ein Zitat aus dem Roman "An einem Tag wie diesem". Er trifft auf viele von Stamms Helden zu. So richtig glücklich ist keine seiner Figuren.

Im Zürcher Tagesanzeiger hieß es dazu, ich zitiere: "Einigen ist das bewusst, andere haben wenigstens eine Ahnung davon, dass das Leben, das sie führen, nicht das ist, was sie führen wollen". Ziemlich traurig – oder? Und warum macht es dennoch Spaß, Stamm zu fol- gen? Weil es schlicht und einfach ein großes Vergnügen macht, Stamm zu lesen. Stamms Texte, so stellt es die Mehrheit seiner Kriti-

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ker fest, zeichnen sich durch ebenso einfache, wie melodiöse und prä- zise Sätze aus. Eine große Kunst: Kein Wort zu viel, aber auch kein Wort zu wenig. Stamm ist ein Meister der Ökonomie – ja, lieber Herr Stamm, haben Sie nicht auch einmal eine Weile als Buchhalter gear- beitet?

Viel mehr über den Preisträger werden wir gleich von der Schriftstelle- rin Judith Kuckart erfahren. Es ist in den letzten Jahren eine wirklich schöne Tradition bei der Verleihung des Mainzer Stadtschreiberprei- ses geworden, dass auf die Preisträger häufig Kolleginnen und Kolle- gen gesprochen haben. So wie Josef Haslinger auf Ilija Trojanow und dann ein paar Jahre später umgekehrt Ilija Trojanow auf den Preisträ- ger Josef Haslinger oder Judith Hermann auf Monika Maron oder Ulrich Peltzer auf Kathrin Röggla im letzten Jahr. Wer weiß, liebe Frau Kuckart, möglicherweise droht auch Ihnen irgendwann einmal der An- ruf der Jury? Ich bin Ihnen sehr dankbar, dass Sie uns heute etwas zu Peter Stamm erzählen werden! Vielen Dank! Und sehr gerne möchte ich an dieser Stelle die Gelegenheit nutzen, Kathrin Röggla für Ihre Stadtschreiberarbeit im letzten Jahr herzlich zu danken.

Lieber Peter Stamm, der Mainzer Stadtschreiberpreis ist ja wirklich einmalig auf der Welt. Weil ein Teil des Preises ein besonderes Ange- bot an den Preisträger macht. Nämlich mit dem ZDF zusammen eine Dokumentation nach freier Themenwahl zu gestalten. Eine spannende Herausforderung, auf die wir uns jedes Jahr freuen. Ja, lieber Herr Stamm, wir freuen uns auf Sie! Seien Sie herzlich begrüßt, hier in der Stadt Mainz und bei uns oben auf dem Lerchenberg!

Ihre unmittelbaren Vorgängerinnen und Vorgänger haben immer wie- der bewiesen: Sie haben etwas zu sagen. In einer ganz eigenen Film- sprache und Herangehensweise. Filme sind entstanden, die unsere Zuschauer aufgerüttelt und erschüttert haben. Und aufgeklärt. Wir brauchen diesen Preis und wir brauchen diese Dokumentationen, meine Damen und Herren.

Und: Wir brauchen die Literatur! Das ist kein Allgemeinplatz, der heute so schön in die Feierstunde passt. Die Literatur ist für unser Fernseh- medium geradezu unerlässlich. Wo sollen denn die großen Stoffe für unsere fiktionalen Programme herkommen? Wer regt uns an zu küh- nen Erzählungen? Die Literatur. Von Anfang an hat uns die Literatur begleitet. Vor Jahrzehnten startete unser Fernsehen seine ersten Sendungen nämlich erst einmal mit Theaterstücken, die immer live ausgestrahlt wurden. Damals hatte man a) noch keine Möglichkeiten zur Konservierung von Aufnahmen zur Verfügung und b) auch noch

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keine spezifischen Fernseh-Genres entwickelt. Das ist lange her. Jetzt gibt es Dschungel- und Castingformate aller Art, gescriptete Dokus, die angeblich das echte Leben abbilden sollen, es tatsächlich aber nicht tun – und Ähnliches. Kann man da nicht die Literatur im Fernse- hen eigentlich abhaken? Ich bin als Programmdirektor eines öffentlich- rechtlichen Fernsehhauses, völlig anderer Meinung. Übrigens, nur um das klarzustellen: Mit mir sind Dschungel- und sonstige Trash-Formate im ZDF definitiv nicht zu machen.

Für mich gilt immer noch und immer wieder: Nirgendwo schärfer als in unserer Literatur zeigt sich an, wie es um unsere Gesellschaft bestellt ist, wie es den Beziehungen der Menschen untereinander geht, was in Grenzsituationen passiert – und im ganz normalen Wahnsinn des All- tags. Es ist reiner Zufall, aber seit letztem Jahr hat das ZDF sich auf eine Zusammenarbeit mit Ihrem Kollegen und Landsmann Martin Suter verständigt – und mittlerweile sind zwei Literaturadaptionen erfolgreich zur besten Sendezeit bei uns gelaufen. Wer weiß: vielleicht kommen wir ja auch irgendwann mal ins Gespräch?

Ich bin gespannt, lieber Peter Stamm, welches Thema Sie sich für Ihre Stadtschreiber-Dokumentation vornehmen. Überraschen Sie uns! So ganz ohne Medienerfahrung treten Sie ja Ihren neuen Job als Filme- macher nicht an. Nicht nur, dass Sie jahrelang Journalist und Kolum- nist waren, zahlreiche Hörspiele geschrieben haben, Sie sind auch als Dramatiker aktiv.

Mir ist es jedenfalls ein ausgesprochenes Vergnügen, Sie heute in Ihr Amt einführen zu helfen. Bitte schreiben Sie so, dass alle Mainzer Abiturienten es verstehen und interpretieren können, lieber Herr Stamm, Ihnen alles Gute!

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Rede des Oberbürgermeisters der Landeshauptstadt Mainz, Michael Ebling, zur Verleihung des Mainzer Stadtschreiber-Literaturpreises 2013 an Peter Stamm

– Es gilt das gesprochene Wort –

Sehr geehrter Herr Dr. Himmler, sehr geehrte Frau Kulturdezernentin Grosse, sehr geehrte Frau Kuckart, meine sehr verehrten Damen und Herren, vor allem aber: ein herzliches Willkommen Peter Stamm!

"Meine frühesten Berufswünsche", so schreiben Sie auf Ihrer Internet- Seite über sich selbst, "hatten nichts mit Literatur zu tun. Erst wollte ich Schiffsbauer werden, später Professor. Pilot wollte ich nie werden, dafür Koch und Fotograf (…) und wohl noch einiges mehr, woran ich mich nicht erinnere."

Lieber Peter Stamm, meinen Glückwunsch – Sie haben Ihre Profes- sion gefunden: Ich gratuliere Ihnen herzlich zu Ihrem neuen Amt als Mainzer Stadtschreiber!

Gratulieren möchte ich zu dieser Wahl aber auch uns selbst, meine Damen und Herren. Denn wer könnte für dieses Amt besser geeignet sein, als ein Autor, dessen Werk bereits mehrfach ausgezeichnet und von der Literaturkritik einhellig hoch gelobt wurde.

Ein Autor, dessen Debüt-Roman "Agnes" neuerdings an einer ganzen Reihe deutscher Gymnasien gelesen wird. Und das aus gutem Grund: Die Identitätssuche der Protagonisten spricht nämlich auch und ge- rade eine jüngere Leserschaft an. Und letztlich ein Autor, der lapidar "Texte aller Art" anbietet. Auch dieses "Understatement" kann man Ihrer Homepage entnehmen, verehrter Herr Stamm.

Diese "Texte aller Art" klingen ganz selbstverständlich. Sie klingen, als könnten sie nur so und nicht anders geschrieben sein: Da ist kein Wort zu viel, keines zu wenig.

Nun wissen wir allerdings – ebenfalls von Ihnen selbst – dass man sich den Entstehungsprozess Ihrer Texte beileibe nicht so leicht und locker vorstellen darf, wie das Ergebnis schließlich klingt.

"Oft habe ich eine Ausgangssituation im Kopf und dann gilt es, das richtige Bild, den richtigen Satz zu finden. Das kann manchmal Monate oder Jahre dauern. Ich kann das nicht steuern, ich kann nur immer

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wieder an den Geschichten herumstudieren, und plötzlich ist der Satz da. Und dann fügt sich ein Bild an das andere, ein Satz an den nächsten, bis zum Schluss."

Halten wir also an dieser Stelle fest: Aus dem Schweizer Autor Peter Stamm wird heute unser 29. Mainzer Stadtschreiber.

Im Gepäck hat er dabei: ein beachtliches Gesamtwerk an Romanen, Erzählungen, Dramen und Hörspielen. Ein Werk, das sich kurzweilig liest und dessen große Kunst die Reduktion auf das Wesentliche ist. So wundert es nicht, dass die Fan-Gemeinde von Peter Stamm stetig wächst und "unser" Autor beileibe kein Geheimtipp mehr ist. Im Ge- genteil: Sein Ruf ist über Rhein und Atlantik bis nach Amerika ge- schwappt. Wie stark Peter Stamms Gewicht gerade im englischspra- chigen Raum ist, hat mein Vorredner – Herr Dr. Himmler – bereits erwähnt. Und auch wir drücken natürlich für die Verleihung des "Man Booker International"-Preises in drei Monaten ganz fest die Daumen!

Meine Damen und Herren, über das "Wie" von Peter Stamms Schrei- ben habe ich schon gesprochen: Es ist – um es in den zwei Worten eines Nicht-Germanisten zu sagen – klar strukturiert und schnörkellos. Doch "worüber" schreibt er nun so klarsichtig und schonungslos offen?

Seine Themen lassen sich – zumindest von mir – auf einen zentralen Blickwinkel konzentrieren: Die Menschen und ihre Beziehungen zuein- ander. Will heißen: die Abgründe zwischen ihnen, die Selbstzweifel, die Ängste, die Einsamkeit.

Aus dem Roman "Agnes": "Wir denken, wir leben in einer einzigen Welt. Dabei bewegt sich jeder in seinem eigenen Stollensystem, sieht nicht rechts und links und baut nur sein Leben ab und versperrt sich mit dem Schutt den Rückweg."

Ein düsterer Grundtenor bestimmt praktisch alle Texte von Peter Stamm. Und wie ein roter Faden durchzieht seine Texte auch die passive, im wahrsten Sinne des Wortes lebensmüde Haltung der Protagonisten.

Sie alle ähneln sich in der Art und Weise, wie sie das Leben "gesche- hen lassen". Und sie ähneln sich in ihrer Undurchschaubarkeit. Darauf angesprochen, haben Sie, Peter Stamm, in einem Interview einmal gesagt: "Man kann Menschen nicht erklären. Damit nähme man ihnen ihren Reichtum und ihre Tiefe. Man kann ein Auto erklären, einen Menschen nicht. Aber man kann ihm näherkommen."

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Sie, verehrter Herr Stamm, nähern sich Ihren Figuren äußerst behut- sam. Sie bewerten sie nicht. Sie zeigen sie in ihrer Schwäche und Un- entschiedenheit, ohne sie bloßzustellen. Im Gegenteil: Sie begegnen ihnen mit Wärme und Respekt.

Peter Stamm: "Das Grandiose am Mensch ist doch, dass er ein Mensch ist. Dass wir überhaupt leben. Und denken."

Meine sehr verehrten Damen und Herren, mit Peter Stamm erwartet uns ein neues und spannendes literarisches Jahr in Mainz! Insofern reiht sich unser Autor hervorragend in die Riege der namhaften Stadt- schreiberinnen und Stadtschreiber ein, die wir bislang in Mainz will- kommen heißen durften. Ich nenne hier nur die Amtsinhaber der ver- gangenen Jahre: Ingo Schulze, Josef Haslinger, Monika Maron, Michael Kleeberg und Ilja Trojanow. Oder unsere bisherigen Stadt- schreiber aus der Schweiz Peter Bichsel und Urs Widmer.

Nicht vergessen werden darf natürlich unsere bisherige Stadtschreibe- rin Kathrin Röggla! Ihre Amtszeit endet mit der heutigen Einführung von Peter Stamm, und ich nutze die Gelegenheit daher gerne, ihr im Namen der Landeshauptstadt Mainz ein herzliches Dankeschön zu sagen.

Meine Damen und Herren, mit der Vergabe des Mainzer Stadtschrei- berpreises erinnern wir – das ZDF, 3sat und die Landeshauptstadt Mainz – alljährlich an das Erbe Gutenbergs. Dieses Erbe ist nach wie vor lebendig.

Zwar sind dem Buch seit den Tagen Gutenbergs mächtige Konkurren- ten erwachsen. Doch von einem Ende des Schreibens kann auch im digitalen Zeitalter keine Rede sein.

Auch heute noch – wir haben es von Peter Stamm selbst gehört – bleibt dem Schriftsteller das Ringen um jedes Wort und jeden Satz nicht erspart. Zum Glück, möchte man sagen! Denn der großen künstlerischen Leistung, aus wenigen Worten eine ganze Welt zu erschaffen, verdanken wir Leser viele kostbare Lektüre-Stunden.

Ob dieses Ringen des Autors allerdings mit Papier und Bleistift im stillen Kämmerlein erfolgt, zum Beispiel in unserer Stadtschreiber- Wohnung über dem Gutenberg-Museum, oder am PC an anderen Orten oder in der Auseinandersetzung mit anderen Medien – davon lassen wir uns gerne überraschen!

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Und dennoch – ganz sachte möchte ich eine Lanze brechen für mög- lichst viele Besuche bei uns in Mainz. Einer Ihrer Amtsvorgänger, Hanns-Josef Ortheil, hat das einmal sehr hübsch ausgedrückt: "Sie stellen einem eine Dachwohnung neben dem Dom zur Verfügung und warten ab, was geschieht. Wenn man nicht da ist, ziehen sie sich zu- rück. Wenn man sich ab und zu zeigt, stellen sie einem heimlich Wein vor die Tür, um ihre Zuneigung anzudeuten."

Lieber Peter Stamm, natürlich hoffen wir, dass möglichst viele Fla- schen Wein auf diese Weise den Weg zu Ihnen finden werden. Denn – das hat sich bei der gestrigen Lesung gezeigt – das Interesse der Mainzerinnen und Mainzer an Ihrem Wirken ist groß.

Fühlen Sie sich daher von uns mit offenen Armen empfangen. Fühlen Sie sich aber bitte nicht von uns erdrückt, denn Sie werden – da bin ich mir ganz sicher – das Amt des Mainzer Stadtschreibers auf Ihre ganz eigene Art ausfüllen und prägen.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, jetzt habe ich viel über Peter Stamm und ein wenig auch über den heute zu verleihenden Preis, über Johannes Gutenberg und das Naturell der Mainzerinnen und Mainzer gesprochen.

Eines aber habe ich erst ganz am Rande erwähnt: das unser neuer Stadtschreiber Schweizer ist!

Daher frage ich Sie, meine Damen und Herren: Woran denken Sie beim Wort "Schweiz"? Genau – an "Heidi"!

Und so darf ich mit einem Zitat aus dem berühmten Schweizer Kinder- buch schließen: "Aber sieh, Heidi, man muss nicht alles nur so hin- nehmen, was einem ein Peter (oder in diesem Fall ein Michael Ebling) sagt, man muss selbst probieren."

Ich kann Ihnen, meine Damen und Herren, daher viel erzählen! Weit wichtiger ist doch: Peter Stamms Werke – seine Figuren und Ge- schichten – wollen von Ihnen selbst entdeckt werden. Und ich freue mich sehr, dass wir dazu in den nächsten zwölf Monaten beste Gele- genheit haben werden!

Vielen Dank, Peter Stamm, dass Sie heute bei uns sind, und noch einmal herzlich Willkommen in Mainz!

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Laudatio von Judith Kuckart auf den Mainzer Stadtschreiber 2013, Peter Stamm

– Es gilt das gesprochene Wort –

Liebe Anwesende, und lieber Peter,

es fiele mir leichter, eine Rede auf einem runden oder vielleicht auch nicht ganz so runden Geburtstage von dir zu halten. Dann könnte ich den Gästen erzählen, wie wir uns kennen gelernt haben, was dann geschah, und warum wir uns noch immer kennen.

Dies hier ist nicht dein erster Preis, aber meine erste Laudatio, die ich halte. Damit ich hier nicht allein stehe, habe ich für den Prolog einen Chor von Stimmen, von Menschen zusammengestellt, die zum Teil dir früher begegnet sind als ich. Einig sind wir uns alle, meine sechs Chorstimmen und ich: Auch wenn wir dich nicht kennen würden, wir würden dich mit großer Freude lesen und mit großer Vorfreude auf ein nächstes Buch von dir warten.

Stimme 1: Bei Peter Stamm gefällt mir seine knappe Sprache, die alle Wucht der Welt in sich trägt, sagt Vera Kaiser, Hotelmanagerin im Laudinella in St. Moritz.

Stimme 2: Ich liebe an Peter Stamm seinen Stil. Diese Mischung aus Wahrheits- fanatismus und Takt, sagt Martin Schneider, Pfarrer an der Stadtkirche .

Stimme 3: Peter Stamm ist ein Meister darin, das Alltägliche in einer Reduktion zu zeigen, dass das Banale verstörend wird und das Kleine groß wird, sagt Tim Krohn, selber Schriftsteller.

Stimme 4: Ich erinnere mich an eine Geschichte aus "Blitzeis", wo der Protago- nist in New York City so eine seltsame Frau kennen lernt, die immer wieder verschwindet. Nichts Spektakuläres, einfach ein Ausschnitt aus dem Leben heraus geschnitten, und das Leben gelassen, so wie es ist, … sagt Bernd Gutmann, den du nicht kennst, lieber Peter. Aber ich. Er ist Analytiker, in Berlin-Charlottenburg. (Nein, nicht meiner.)

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Stimmen 5 und 6: EIN Satz zu Stamm? fragte Ruth Brändli, Deutschlehrerin in Wetzikon. Der erste Text, den ich von ihm gelesen hatte, sagt sie, war "Am Eisweiher", die erste Geschichte in "Blitzeis". Der Text hat mich um- gehauen. Dann habe ich ihn den SchülerInnen vorgelegt. Nadine fing Feuer und hat später eine Peter-Stamm-Matur gemacht. In einer Buchvorstellung meinte sie zum Thema, was sie an den Büchern fasziniert, Stamm be- schreibe die Gefühle so total gut. Dieser Meinung bin ich nicht, sagt Ruth Brändli, die Lehrerin von Nadine aus Wetzikon. Ich auch nicht, sage ich. Warum? Es ist etwas ganz anderes, was da bei Peter Stamm passiert. Gefühlsbeschreibung? Nein. Was dann? Wie kommt das Mädchen Nadine aus Wetzikon in ihrer Matura Arbeit darauf? Ich denke, dass die Gefühle, die sie glaubt beschrieben zu lesen, in ihr entstanden sind. Handeln reiht sich in den Geschichten von Peter Stamm an Handeln oder Nichthandeln, auch Sprachhandeln, filigran und schnörkellos wie Minimalmusik. Und dieses Handlungsnetz lässt die darunter liegenden Beweggründe greifen, ohne sie zu nennen. Denn Handeln beziehungsweise Nichthandeln wird von unseren Ge- fühlen diktiert, auch wenn, oder gerade wenn sie uns nicht bewusst sind. Die Stimmen des Gefühls, die beim Lesen in Nadine aus Wetzikon laut geworden sind, waren ihre eigenen inneren Stimmen. Sie hat sich sel- ber ein Stück weit kennen gelernt, als sie Figuren von Peter Stamm kennen lernte.

Da ist Agnes zum Beispiel. Das Mädchen aus deinem ersten Roman, lieber Peter. Und so steht es auf den ersten Seiten: "Ich schaue mir – ich weiß nicht zum wievielten Mal – das Video an, das Agnes aufge- nommen hat, als wir am Columbus Day eine Wanderung machten. (…) Plötzlich Wald, ein lockerer Baumbestand. Ich liege am Boden, scheine zu schlafen oder habe zumindest die Augen geschlossen. Die Kamera nähert sich mir von oben, kommt immer näher, bis das Bild unscharf wird, weicht zurück. Dann wandert sie über meinen Körper bis zu den Füßen und wieder zum Kopf. Lange bleibt sie auf dem Ge- sicht stehen, versucht noch einmal näher zu kommen, aber das Bild wird wieder unscharf, und sie weicht von neuem zurück."

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Das ist ein im Text eingefangener langer Blick der Liebe, der nicht auf die Augen des anderen trifft, sondern verschreckt zwischen zuviel Nähe, die die Unschärfe mit sich bringt, und jener Distanz wechselt, aus der man sich gern ein Bild von der Liebe macht. Ja, es ist so, dass wir sprechend und schreibend nur unsere schwächeren Emotionen benennen können. Die starken aber, die uns blenden wie Licht, diese Emotionen überlässt Peter Stamm dem Blick von Agnes. Besser, dem Objektiv ihrer Videokamera. Alle Momente mit Kamera in Peter Stamms erstem Roman "Agnes" sind für mich wie Arien in einer Oper, einer Oper, die sich der Kunststimme entzieht. Sind Monologe, aus denen viel mehr spricht als gesagt wird, wenn man dem Atem des Texts folgt.

"Agnes ist tot." So beginnt der Roman "Agnes". Der zweite Satz: "Eine Geschichte hat sie getötet." Der dritte: "Nichts ist von ihr geblieben als diese Geschichte." Ich erzähle sie, kurz, die Geschichte: Ein junger Mann lernt in einer Bibliothek eine junge Frau kennen, die keine besondere Schönheit ist, aber ein Geheimnis hat, ein Geheimnis, das wie eine Selbstverständ- lichkeit in ihre Augen gehört. Sie spricht über den Tod. Sie gehen Kaffeetrinken. Sie sprechen über das Leben. Sie sitzen auf einer Treppe vor der Bibliothek und verlieben sich ineinander – vielleicht nur, weil sie beide rauchen. Die Frau bittet den Mann, ihre gemein- same Geschichte zu schreiben. Er geniert sich. Er tut es. Die Frau zieht mit einem Bein zu dem Mann und wird schwanger. Der Mann will das Kind nicht. Da verliert er die Frau zum ersten Mal, und als sie sich wiedersehen, hat sie das Kind verloren. Sie bittet ihn, die Geschichte des Kindes zu schreiben. Er geniert sich. Er tut es. Wenn man sich beim Schreiben schämt, dann werden die Sätze oft einen Kopf größer als man selber ist. Jenseits der Schamgrenze findet man genau diese Sätze, wegen derer man ein Buch schreibt.

Welche das in Agnes sind? "Das Leben hat keine Schlusspointen." Oder "Freiheit war mir immer wichtiger gewesen als Glück?" Oder, wenn Agnes, als sie noch lebt, sagt: "Ich frage mich manchmal, ob die Schriftsteller wissen, was sie tun, was sie mit uns anstellen."

Peter Stamms Roman "Agnes" erzählt innerhalb des Erzählens von einem fiktiven Leben, das so auch möglich, so auch gewünscht gewe- sen wäre. Der Wunsch fängt an, dem Mann diesen fiktiven Text in die Tasten zu diktieren.

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In der Schule habe ich gelernt: Minus mal Minus ergibt Plus. Was ergibt dann fiktiv mal fiktiv? Wirklichkeit? Wahrheit? Auf jeden Fall ergibt es einen Text, der stimmt.

In "Agnes" – oder sollte ich sagen FÜR AGNES – beginnt der Text, den der Mann für die Frau verfasst, Satz um Satz Gegenwart und Wirklichkeit zu überholen und vorauszueilen in eine mögliche, gar nicht unwahrscheinliche Zukunft.

Der Mann, der da erfindet, während er sich schämt, wünscht sich – oder ihr, der Frau – etwas, und schreibt es hin. Das ist gefährlich: Wünsche sind potentielle Handlungen, und einmal auf Papier werden sie zum Katalysator für die Wirklichkeit. Es ist bei Peter Stamm nicht so kompliziert wie es bei mir hier klingt. Sein Roman "Agnes" hat eine stille, ruhige Kraft, und die Gefahr, von der er berichtet, meistert Peter Stamm wie ein großer Maler. Soviel Licht, soviel Licht im Dunkeln, muss ich da van Gogh aus den Briefen an seinen Bruder Theo zitie- ren. Aber es sind nicht die schönen sentenzhaften Sätze, die man sich beim Lesen von Peter Stamms Büchern anstreicht. Nein, es sind nicht die Perlen der Formulierung, die man markiert, damit man sie nicht verliere beim Weiterlesen. Peter Stamm zu lesen ist eher wie das Schauen eines Films. Wenn der Film gut war, erinnert man sich an das Gefühl, das man beim Schauen gehabt hat.

Christoph Meckel hat einmal über das Gedicht gesagt, es – das Ge- dicht – sei "nicht der Ort, wo die Schönheit gepflegt wird, nicht der Ort, wo die Wahrheit verziert wird, nicht der Ort, wo der Schmerz verheilt wird, nicht der Ort, wo das Sterben begütigt, wo der Hunger gestillt, wo die Hoffnung verklärt wird …".

Ich habe Christoph Meckel zitiert, weil ich weiß, dass dir, lieber Peter, dieses Zitat etwas bedeutet. Für mich könnte an die Stelle des Worts Gedicht auch die Liste deiner Bücher treten.

Wo eigentlich beginnt ein Text? Die Antwort fällt einem wie dir leicht: Oben links, eben! Aber ich frage nach. Beginnt ein Text mit einem ersten Bild, das notiert wird, ohne dass man es gleich in den Dienst einer Geschichte stellt? Oder beginnt ein, dein Text lange bevor er Schrift wird?

Fängt er an in jenen Landschaften der Erinnerung, in jenen "Ungefähren Landschaften", wie ein Roman von dir betitelt ist, der vor über zehn Jahren erschien? Kommt ein Text aus eben jener Gegend,

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die man beim Schreiben als die Kulisse einer schönen oder schlimmen Kindheit erinnert? Ist das ein See, vielleicht? Die Freude an einem Ausflug? Nicht unbedingt in der Schweiz.

Ist das Heimat eben? Heimat ist da, wo man sagen kann, schau mal, die Frau da drüben, die trug mal als Mädchen eine Zahnspange. Hei- mat ist da, wo man zu lange auf eine vage Zukunft hin vertröstet wurde, wo die Großen den Kleinen sagten: Das erzähl´ ich dir später, wenn du auch mal groß bist. So entsteht ein Schriftsteller? Was einem damals nicht erzählt wurde, das denkt man sich später aus? Ja, oder? Und: Heimat ist das eigentlich da, wo man herkommt, oder wo man hin will? In deinen Büchern, lieber Peter, sind beide Bewegungen.

Ordentliche Autoren, sagt Peter Stamm, mögen in ihren Notizbüchern erste Hinweise finden, Gedanken, kurze Zusammenfassungen von Er- lebnissen, Figurenskizzen, Ortsbeschreibungen. Meine ersten Notizen finde ich selten, erst wenn sich aus einigen vagen Ideen langsam eine Geschichte herauskristallisiert, fange ich an, die Gedanken systema- tisch zu sammeln.

Peter Stamm sagt: Ich habe in meinem Leben viel gehört, viel gelesen, viel gesehen und einiges erlebt. Das meiste habe ich vergessen, eini- ges ist mir im Gedächtnis geblieben, der kleinste Teil wurde zu Lite- ratur. Ein Gedanke, der mich immer neu erschrecken kann: wie viel verloren geht, wenn ein Mensch stirbt, wie viele Erinnerungen. In je- dem unserer Köpfe stecken mehr Daten als in der größten Bibliothek, Daten die es nirgends sonst gibt. Wenn wir sterben, erlöschen sie für immer.

Die größten Bibliotheken stecken in den Köpfen und gehen mit dem Tod verloren? "Agnes ist tot", so beginnt der Roman "Agnes". Der Text fängt oben links an. Die nächsten beiden Sätze kennen Sie bereits. Jetzt kommt der vierte: "Sie (die Geschichte) beginnt an jenem Tag vor neun Monaten, als wir uns in der Chicago Public Library zum ers- ten Mal trafen."

Ich sage, ich bin keine Literaturwissenschaftlerin. Trotzdem höre ich in den ersten Sätzen von "Agnes" die Stimmen der Toten, der gegenwär- tigen und der zukünftigen. Das gibt dieser Geschichte ihr Gewicht. Nichts ist verloren. "Willst du nicht filmen", fragt viele Seiten später der Mann, der schreibt und sich schnell schämt, die junge Frau, die die Videokamera dabei hat, während sie auf einem kleinen Friedhof in einem Nationalpark die Grabsteine einander vorlesen. Agnes sagt:

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"Nein, man filmt nicht auf einem Friedhof." Vielleicht ist dies der Satz, wegen dem das Buch geschrieben wurde?

Wenn ich mir Agnes vorstelle, sehe ich sie aufgrund einer, vermute ich, ästhetischen Entscheidung des Autors beim Schreiben durch einen Stummfilm laufen, nicht durch einen Tonfilm. Tonfilm hat ein- undzwanzig Bilder in der Sekunde, Stummfilm achtzehn. Die Sequen- zen mit Agnes in Peter Stamms Buch, und davon gibt es viele, sind für mich in Stummfilmformat gedreht. Die Sequenzen ohne Agnes in Ton- filmformat. Vielleicht lässt sich so am besten die Merkwürdigkeit von Agnes, ihre Magie, ihre Nahtodahnung beschreiben, obwohl sie auf den ersten Blick ein ganz normales Mädchen zu sein scheint. Es ist ein Mädchen mit einem anderen Tempo, das für unser Empfinden gar kein Tempo mehr ist.

Wenn ich an "Agnes" und auch andere Bücher von Peter Stamm denke, denke ich an Montage, an Filmmontage. Filmmontage heißt: eine strenge Auswahl treffen, Unnötiges weglassen und Wesentliches folgerichtig kombinieren. Bei den Abfolgen von Einstellungen, von Er- zähleinheiten in seinen Büchern gibt es nichts Überflüssiges. So bleibt das Interesse des Lesers erhalten wie das eines Zuschauers in einem gelungenen Film. Der russische Filmemacher Pudowkin war der Über- zeugung, dass die filmische Wirklichkeit erst im Schnitt entsteht, und die gedrehten Einstellungen lediglich das Rohmaterial hierfür dar- stellten. Er stand damit für die konstruktive Montage.

Nochmals: Wo beginnt ein Text? fragt Peter Stamm. Mit dem ersten Satz? Einem Satz, sagt Peter Stamm, der nicht immer am Anfang steht, weder im gedruckten Buch noch in der Entwicklung der Ge- schichte. Es ist der Satz, um den die Geschichte wachsen wird. Dieser Satz ist der Funke, der das tote Material zum Leben erweckt. Die Kunst des Schreibens besteht also zu einem nicht unbeträchtlichen Teil darin, eine Form zu finden oder zu empfinden, sie herauszuar- beiten aus der Fülle des Materials. Jedes Wort eines Textes hängt mit jedem anderen zusammen. Jede Änderung verändert die Form, das Gleichgewicht des Ganzen.

Das ist wie beim Filmschnitt, oder? Schnitt ist die Kunst, Augenblicke zu verbessern. Etwas Schwaches, in der Montage an die richtige Stelle gesetzt, kann zu etwas Starkem werden. Agnes sitzt. Genau an der richtigen Stelle.

Lieber Peter, ich habe einmal über Georges Simenon geschrieben, er sei ein Schriftsteller, der sich in Bahnhofsbuchhandlungen sowie in

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den Bücherregalen von Psychoanalytikern und anderen Intellektuellen finden lässt. Er liegt als Taschenbuch auf den Nachttischen von Fil- memachern, Schmuckverkäuferinnen und Mathematikstudentinnen, von Eskimos, Chinesen und Afrikanern, kurz, Simenon ist ein Schrift- steller, der überall gebraucht wird.

Ich glaube, so ist es auch mit dir, der du genau 60 Jahre nach Sime- non geboren wurdest. Das ist meine Stimme, im Chor der lobenden Stimmen. Du weißt, wie gern ich Simenon lese.

Angefangen habe ich mit diesem Chor, Aufhören möchte ich mit dem vorsichtigen Versuch, etwas von deiner Gestimmtheit im Leben ein- zufangen. Ich habe dir vor einigen Wochen einige Fragen geschickt. Du hast sie beantwortet. So:

Du musst einem Außerirdischen erklären, was die Schweiz ist. Was sagst du?

Ein kleines Land mit einer sehr abwechslungsreichen Topographie und hervorragendem öffentlichem Verkehr, das von fleißigen, aber etwas selbstzufriedenen Menschen bewohnt wird.

Welche Orte würdest du ihm für eine Wochenendreise auf jeden Fall empfehlen?

Als alter Touristiker das Alpsteingebiet (bei Schwindelfreiheit inklusive Säntis), den oberen Zürichsee (mit einer Ruderbootfahrt auf die Lützelau) und vielleicht noch Basel und den Genfer See.

Welche soll er lieber meiden?

Wenn er im Zug unterwegs ist, sollte er zwischen Zürich und Bern die Augen zu machen. Wenn er überhaupt Augen hat.

Als Dank für deinen Rat sagt er: Herr Stamm, Sie haben drei Wünsche frei. Welche wären das?

Eine anständige Altersvorsorge, immer währende Inspiration und eine gute Gesundheit. Oder darf man nur Dinge wünschen, die man sich mit Geld kaufen kann? Dann ein Haus am See, ein Segelboot und ei- nen Flug mit der fliegenden Untertasse.

Mit welchem Menschen aus Weinfelden, wo du aufgewachsen bist, würdest du gern einmal zu Abend essen?

18 z.presse 22. Februar 2013

Ich hätte gerne mal eine Klassenzusammenkunft der Sekundarschule. Aber das müsste natürlich jemand organisieren.

Was ist dein Lieblingsgericht?

Schwer zu sagen. Choucroute de Mer mit Kartoffelpüree mag ich sehr. Oder Schmorgerichte. Und eigentlich immer Spaghetti mit einer guten Tomatensauce und geriebenem Parmesan.

Welches Buch hast du besonders gern gelesen?

So viele. Sehr beeindruckt hat mich "Ein Mann der Schläft" von Georges Perec, aber auch vor langer Zeit "Der Fremde" von Camus. Jetzt fallen mir gleich Dutzende anderer ein, die ich erwähnen müsste, aber ich höre auf.

Welche Lieblingsmusik?

Vielleicht das vierte der vier letzten Lieder von Richard Strauss.

Lieblingsfilm?

Mindestens drei musst du mir gewähren: "Amarcord" von Fellini, "L’Avventura" von Antonioni, "Weh mir" von Godard. Und dann kommt gleich Rohmer.

Du machst eine lange Reise. Was packst du auf alle Fälle in den Koffer?

Mein Laptop. (sorry)

Was lässt du lieber zurück?

Den schwarzen Anzug.

Dein Lebensmotto, falls es eins gibt?

Alles verstehen und alles verzeihen vielleicht.

Traumziele, gibt es die?

Japan.

Danke!

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Die Mainzer Stadtschreiber und ihre TV-Dokumentationen

1985 Gabriele Wohmann "Schreiben müssen" (Sendung: 18. Februar 1985)

1986 H. C. Artmann "Den Horizont überschreiten" (Sendung: 7. Dezember 1986)

1987 Ludwig Harig "Zu ergründen die eigene Heimkehr" (Sendung: 6. Dezember 1987)

1988 Sarah Kirsch "Briefe an eine Freundin" (Sendung: 4. Dezember 1988)

1989 Horst Bienek "Die verrinnende Zeit" (Sendung: 31. Dezember 1989)

1990 Günter Kunert "Artus – ein König wird gesucht" (Sendung: 9. Dezember 1990)

1991 Helga Schütz "Hinterm Vorhang sieht man einen Schatten" (Sendung: 26. April 1992)

1992 Katja Behrens "Jerusalem – Berlin. Eine Begegnung" Mit Asher Reich und Hans Joachim Schädlich (Sendung: 7. März 1993)

1993 Dieter Kühn "Eine Reise nach Surinam" (Sendung: 19. Dezember 1993)

1994 Libuse Monîková "Grönland-Tagebuch: Wer nicht liest, kennt die Welt nicht" (Sendung: 13. Dezember 1994)

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1995 Peter Härtling "Schumann in Finnland" (Sendung: 21. Dezember 1995)

1996 Peter Bichsel "Wir hätten in Spiez umsteigen sollen" (Sendung: 12. Dezember 1996)

1997 F.C. Delius "Wie weit ist es von einem Mann zu einer Frau! 24 Stunden mit Tucholsky in Gripsholm" (Sendung: 23. November 1997)

1998 Erich Loest "Karl May reist zu den lieben Haddedihn" (Sendung: 6. September 1998)

1999 Tilman Spengler "Bitterer Balkan. Der Krieg ist eine Zerrüttung der Seelen" (Sendung: 5. Dezember 1999)

2000 Hanns-Josef Ortheil "Schauplätze meiner Fantasien – Rom, Venedig und Prag" (Sendung: 22. Oktober 2000)

2001 Es wurde keine Dokumentation produziert

2002 Katja Lange-Müller "Mein erster Amerikaner. Der Maler Kedron Barrett" (Sendung: 17. November 2002)

2003 Urs Widmer "Die Forschungsreise" (Sendung: 14. Dezember 2003)

2004 Raoul Schrott "Deutschland – Himmel und Hölle" (Sendung: 3. August 2005)

2005 Sten Nadolny Es wurde keine Dokumentation produziert

2006 Patrick Roth "In My Life. 12 Places I Remember." (Sendung: 26. November 2006)

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2007 Ilija Trojanow "Vorwärts und nie vergessen! Ballade über bulgarische Helden" (Sendung: 16. Dezember 2007)

2008 Michael Kleeberg "Europas Heimkehr. Eine Reise nach Libanon" (Sendung: 4. Januar 2009)

2009 Monika Maron "Rückkehr nach Bitterfeld" (Sendung: 30. Oktober 2009)

2010 Josef Haslinger "Nachtasyl – Die Heimat der Heimatlosen" (Sendung: 16. Dezember 2010)

2011 Ingo Schulze "Rettung aus dem Regenwald? Die Wiederentdeckung der Terra Preta" (Sendung: 11. November 2011)

2012 Kathrin Röggla "Die bewegliche Zukunft - Eine Reise ins Risikomanagement" (Sendung: 18. November 2012)

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Die Jury

Der Jury des Mainzer Stadtschreiber-Literaturpreises 2013 gehörten an:

Die Schriftstellerinnen und Schriftsteller: Katja Behrens Dr. Friedrich Christian Delius Prof. Dr. Hanns-Josef Ortheil Dr. Tilman Spengler und als amtierende Stadtschreiberin Kathrin Röggla

Für die Landeshauptstadt Mainz: Kulturdezernentin Marianne Grosse

Für das ZDF: Programmdirektor Dr. Norbert Himmler Hauptredaktionsleiter Kultur und Wissenschaft, Peter Arens Jury-Vorsitzender Werner von Bergen Koordinator 3sat (bis Dezember 2013), Daniel Fiedler Literaturredakteur Dr. Thomas Hocke

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Richtlinien für die Verleihung des Stadtschreiber- Literaturpreises des ZDF, 3sat und der Landeshauptstadt Mainz

Wir möchten den Reichtum unserer Sprache bewahren und fördern. Durch Bildungsdefizite und mangelnde Kommunikation droht unsere Gesellschaft sprachloser zu werden. Darum wollen wir auch mit den Mitteln des Fernsehens zur Bereicherung und Weiterentwicklung unse- rer bedrohten Sprache beitragen. In einer sich ständig verändernden Medienwelt muss es zu den vornehmsten Aufgaben des öffentlich- rechtlichen Fernsehens gehören, auf die Einmaligkeit unserer Sprache als unverzichtbares Medium hinzuweisen.

Wir wollen daher unseren Teil dazu beitragen, das höchste Kulturgut, das wir besitzen, lebendig zu halten und zugleich einen Beitrag zur Leseförderung leisten – auch im Gedenken an Johannes Gutenberg, an seine epochale Erfindung und den dadurch in Mainz ausgelösten medialen Umbruch.

§1

Das ZDF verleiht gemeinsam mit der Landeshauptstadt Mainz nachfol- gend benannten Preis: "Stadtschreiber-Literaturpreis des ZDF, 3sat und der Landeshauptstadt Mainz".

§2

Mit diesem Preis sollen Schriftstellerinnen und Schriftsteller deutscher Sprache geehrt werden, die unsere Literatur mit ihren Werken beein- flussen oder prägen und die sich darüber hinaus um das Zusammen- wirken von Literatur und Fernsehen bemühen.

Dieser Literaturpreis gilt dem Gesamtwerk des Schriftstellers.

§3

Der Titel "Mainzer Stadtschreiber" wird jeweils für die Dauer eines Jahres verliehen.

§4

Die Wahl trifft eine vom ZDF, 3sat und der Landeshauptstadt Mainz benannte Jury, die sich wie folgt zusammensetzt:

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der amtierende Stadtschreiber, der Kulturdezernent der Landeshauptstadt Mainz, der Programmdirektor des ZDF, der Direktor Europäische Satellitenprogramme bzw. der Koordinator 3sat, der Leiter der ZDF-Hauptredaktion Kultur und Wissenschaft, der verantwortliche Redakteur des Bereichs "Literatur und Kunst", der den Stadtschreiber betreuende Redakteur für 3sat, sowie vier Schriftstellerinnen und Schriftsteller deutscher Sprache, die vom ZDF im Einvernehmen mit der Stadt Mainz benannt werden.

§5

Jedes Jurymitglied kann bis zu drei Kandidaten zur Wahl vorschlagen. Diese Wahlvorschläge allein bilden die Basis für die Abstimmung zur Wahl des Stadtschreibers. Die Wahl erfolgt nach dem Mehrheitsprin- zip.

§6

Mit der Verleihung des Titels ist ein Preis in Höhe von 12 500 Euro verbunden.

§7

Die Stadt Mainz stellt für die Dauer eines Jahres dem gewählten Stadtschreiber kostenlos eine Wohnung zur Verfügung, inklusive Ne- benkosten.

§8

Von dem gewählten Stadtschreiber wird erwartet, dass er für ZDF und 3sat eine Dokumentation herstellt: das "Elektronische Tagebuch". Das Thema wird in Abstimmung und mit redaktioneller Unterstützung der ZDF-Hauptredaktion Kultur und Wissenschaft erarbeitet und mit einem Kamerateam und einer Cutterin bzw. Cutter des ZDF umgesetzt. Die Dokumentation wird gemäß den im ZDF gültigen Honorarbedingungen gesondert honoriert.

§9

Der gewählte Stadtschreiber verpflichtet sich, für eine weitere Sen- dung von 3sat zur Verfügung zu stehen. Diese Sendung begleitet den Stadtschreiber durch sein Amtsjahr und stellt zudem sein Werk vor.

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§10

Der gewählte Stadtschreiber steht in seinem Amtsjahr auch anderen Redaktionen des ZDF und 3sat zur Beratung und zu Gesprächen zur Verfügung.

Der Stadtschreiber steht zu öffentlichen Lesungen für die Bürgerinnen und Bürger der Landeshauptstadt Mainz zur Verfügung, sowie zu ge- sonderten literarischen Gesprächen mit Studierenden, Schülern, Seni- orengruppen, auch im Rahmen des Volkshochschulprogramms.

Die städtischen Aktivitäten des Stadtschreibers werden mit dem Kul- turdezernenten der Landeshauptstadt Mainz abgesprochen.

Es wird erwartet, dass der Stadtschreiber für einige Zeit die Stadt- schreiberwohnung im Gutenbergmuseum in Mainz bezieht.

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Kontakt ZDF-Pressestelle:

Magda Huthmann Telefon: 06131-701-2149 E-Mail: huthmann.m@.de

Thomas Stange Telefon: 06131-70-15715 E-Mail: [email protected]

Bildhinweis:

Fotos sind erhältlich über den ZDF-Bilderdienst Telefon 06131 – 70-16100 und über http://bilderdienst.zdf.de/presse/mainzerstadtschreiber

ZDF Hauptabteilung Kommunikation / Pressestelle Verantwortlich: Alexander Stock [email protected] © 2013 by ZDF

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