2111 Bd.52_US 16.06.2003 10:50 Uhr Seite 1

Zivilschutz- Forschung Schriftenreihe der Schutzkommission beim Bundesminister des Innern Herausgegeben vom Bundesverwaltungsamt – Zentralstelle für Zivilschutz – im Auftrag des Bundesministerium des Innern Neue Folge Band 52

49. und 50. Jahrestagung der Schutzkommission beim Bundesminister des Innern

-Vorträge- Zivilschutz-Forschung NF Zivilschutz-Forschung

52 ISSN 0343-5164 2111 Bd.52 IH neu 16.06.2003 9:45 Uhr Seite 1

ZIVILSCHUTZFORSCHUNG Neue Folge Band 52 2111 Bd.52 IH neu 16.06.2003 9:45 Uhr Seite 2 2111 Bd.52 IH neu 16.06.2003 9:45 Uhr Seite 3

Zivilschutz- Forschung Schriftenreihe der Schutzkommission beim Bundesminister des Innern Herausgegeben vom Bundesverwaltungsamt – Zentralstelle für Zivilschutz – im Auftrag des Bundesministerium des Innern Neue Folge Band 52

49. und 50. Jahrestagung der Schutzkommission beim Bundesminister des Innern

-Vorträge- Bingen 01. – 03. Juni 2000 Freiburg 24. – 25. Mai 2001

ISSN 0343-5164 2111 Bd.52 IH neu 16.06.2003 9:45 Uhr Seite 4

Herausgeber: Bundesverwaltungsamt – Zentralstelle für Zivilschutz – Deutschherrenstr. 93–95, 53177 Bonn Telefon: (0 18 88) 3 58-0 Telefax: (0 18 88) 3 58-58 03 Internet: www.bundesverwaltungsamt.de Die Arbeit gibt die Meinung der Autoren wieder. Sie stellt keine Äußerung des Herausgebers dar und ist auch nicht als solche auszulegen.

© 2003 Bundesverwaltungsamt – Zentralstelle für Zivilschutz – Bonn Satz und Druck: Druckhaus Dresden GmbH

4 2111 Bd.52 IH neu 16.06.2003 9:45 Uhr Seite 5

Inhaltsverzeichnis

Eröffnung der 49. Jahrestagung Arthur Scharmann...... 9

Jahrestagung 2000 der Schutzkomission beim Bundestminister des Inneren Klaus-Henning Rosen ...... 15

„Leitfaden Katastrophenmedizin“ Johann Wilhelm Weidringer ...... 23

Technologische Möglichkeiten einer möglichst frühzeitigen Warnung der Bevölkerung – Schlussfolgerungen – Volkmar Held ...... 27

Proliferation von Massenvernichtungswaffen: Herausforderungen für Entscheidungsträger Torsten Sohns ...... 33

Seuchenhygiene und -bekämpfung Jürgen Knobloch, E.-J. Finke, Bernd Domres ...... 57

Neue Ansätze in der Therapie der Organophosphatvergiftung G. Petroianu, Roderich Rüfer†...... 95

Energie- und Äquivalentdosisleistungsprofile in Abhängigkeit von Flughöhe und geomagnetischer Breite, gemessen mittels mikrodosimetischer Verfahren an Bord von Alitalia-Flugzeugen auf den Routen Mailand – Los Angeles, Rom – Rio de Janeiro und Mailand – Tokio Rudolf E. Grillmaier, St. Gerdung, T.Lim...... 101

Vor träge 2001

Eröffnung der 50. Jahrestagung Arthur Scharmann ...... 111

50 Jahre Schutzkommission – Wissenschaft im Dienst der nationalen Vorsorge Klaus-Henning Rosen ...... 117

5 2111 Bd.52 IH neu 16.06.2003 9:45 Uhr Seite 6

ZÜRS – Zonierungssystem Überschwemmung Rückstau Starkregen Horst H. Kriebisch ...... 129

Entwicklung des Gesundheitsdienstes – Von den Anfängen bis zu den Entwicklungen der letzten Jahre Harald Michels...... 137

Informationssicherheit im Wandel –vom klassischen Geheimschutz zur gesamtgesellschaftlichen Aufgabe ...... 143 Ansgar Heuser

Hochleistungsbetone Duktilität – Fasern – Feuerwiderstand Horst Falkner ...... 151

Baulicher Schutz und Schutz von Infrastruktur Klaus Thoma ...... 173

Die Autoren ...... 205

6 2111 Bd.52 IH neu 16.06.2003 9:45 Uhr Seite 7

– Vorträge 2000 – 2111 Bd.52 IH neu 16.06.2003 9:45 Uhr Seite 8 2111 Bd.52 IH neu 16.06.2003 9:45 Uhr Seite 9

Eröffnung der 49. Jahrestagung

Arthur Scharmann

Liebe Mitglieder und Gäste der Schutzkommission,

ich begrüße Sie recht herzlich zur Jahrestagung im 49. Jahr des Bestehens der Schutzkommission und danke Ihnen, dass Sie unserer Einladung nach Bingen ge- folgt sind.

Lassen Sie mich zunächst ganz herzlich Herrn Ministerialdirektor Rosen und seine Mitarbeiter vom Bundesinnenministerium in unserem Kreise begrüßen. Herr Rosen ist der für Fragen des Zivilschutzes zuständige Abteilungsleiter. Wir hatten im Ver- laufe des letzten Jahres wiederholt Gelegenheit zu einem Gedankenaustausch. Ich habe Sie, lieber Herr Rosen, bei unseren Gesprächen als kompetenten und fairen Gesprächspartner kennen und schätzen gelernt. Für die offene und kons- truktive Art der Zusammenarbeit bin ich Ihnen als Vorsitzender und persönlich sehr dankbar.

Neu in der Runde begrüße ich Herrn Ministerialdirigent Gudat aus dem Innenminis- terium in Kiel. Herr Gudat ist zu Beginn dieses Jahres vom Arbeitskreis V der Arbeitsgemeinschaft der Innenminister der Länder als der ständige Ansprechpartner der Schutzkommission benannt worden. Er ist in dieser Funktion der Nachfolger von Herrn Ministerialdirigent Dr. Klingshirn, der im vergangenen Jahr in den Ruhe- stand getreten ist. Zu Ihren Aufgaben gehört es, die Zusammenarbeit der Länder mit der Schutzkommission und dem BMI/BZS im Bereich der Beratung und der Forschung im Zivil- und Katastrophenschutz zu intensivieren. Wir freuen uns, dass Sie die Gelegenheit wahrnehmen, sich heute persönlich über die Schutzkommission zu informieren. Da es der erklärte Wille aller Beteiligten im Bund und bei den Ländern ist, in allen Fragen des Zivilschutzes in Zukunft noch enger zusammen- zuarbeiten als bisher, ist Ihre Funktion von großer Bedeutung für unser Land. Ich freue mich auf die Zusammenarbeit mit Ihnen und biete Ihnen gerne für die Schutz- kommission den offenen Dialog in allen Fragen an, zu deren Klärung Wissen- schaftler einen Beitrag leisten können.

Aus dem Bundesministerium für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen begrüße ich den langjährigen Betreuer des früheren Ausschusses I der Schutzkommission, Herrn Bong und vom Bundesamt für Zivilschutz Herrn Präsidenten Schuch und seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Herrn Dr. Sohns vom Verteidigungsminis- terium begrüße ich in Abwesenheit. Er befindet sich noch auf der Anreise, um uns heute Nachmittag über die Proliferation von Massenvernichtungswaffen und die Herausforderung für den Sanitätsdienst der Bundeswehr zu informieren.

Es ist mir eine besondere Freude, heute zwei der drei neuen Mitglieder der Schutz- kommission hier in Bingen begrüßen zu können. Es sind dies Herr Dr. Miska vom

9 2111 Bd.52 IH neu 16.06.2003 9:45 Uhr Seite 10

Innenministerium in Mainz und Herr Dr. Weidringer von der Bayerischen Landes- ärztekammer. Der dritte im Bunde, Herr Prof. Sefrin von der Klinik für Anäes- thesiologie der Universität in Würzburg, ist heute leider beruflich verhindert.

Ich möchte die Neuberufenen kurz vorstellen. Herr Dr. Miska ist Physiker und ein national und international ausgewiesener Fachmann auf dem Gebiet des Katas- trophenschutzes. Er hat sich und sein berufliches Tätigkeitsfeld in der Vergangenheit mehrmals während unserer Jahrestagungen vorgestellt und sich als „externer“ Experte wiederholt für Aufgaben der Schutzkommission eingesetzt, zuletzt bei der Begleitung des Projekts „Warnung der Bevölkerung“, über das wir gleich noch mehr erfahren werden. Ein besonderes Zeichen für sein Engagement für die Schutz- kommission ist die Organisation dieser Jahrestagung. Vielen Dank auch hierfür.

Dr. Weidringer und Prof. Sefrin sind Ärzte. Sie haben trotz unterschiedlichem beruf- lichem Werdegang und institutioneller Einbindung vieles gemeinsam: sie beschäf- tigen sich seit vielen Jahren engagiert mit Fragen der ärztlichen Versorgung unter eingeschränkten Bedingungen wie in Großschadensereignissen, Katastrophen und im Zivilschutz. Beide haben sich sehr engagiert bei der Erstellung des Berichts der Schutzkommission über „Untersuchungen der gesetzlichen Regelungen zum Schutz und zur Rettung von Menschenleben sowie zur Wahrung und Wiederher- stellung der Gesundheit bei Großschadensereignissen“. Die Schutzkommission war nach Abschluss der Analysen des Gefahrenberichts im Jahr 1996 zur Überzeu- gung gekommen, dass beim zunehmenden Abbau von Spezialeinheiten des Zivilschutzes und der entsprechenden materiellen Vorhaltungen des Bundes im Bereich der medizinischen Versorgung eine Bestandsaufnahme nötig ist, die darauf abzielt, die vorhandenen Möglichkeiten für den koordinierten Einsatz der Einrich- tungen des Gesundheitswesens bei Großschadensereignissen zu prüfen. Die Er- stellung dieses in Eigeninitiative der Schutzkommission unter Leitung von Prof. Rebentisch erstellten Berichts konnte nach nur einjährigen Beratungen abge- schlossen und im September letzten Jahres Herrn Staatssekretär Scharper übergeben werden. Ich möchte Herrn Prof. Rebentisch, Dir lieber Ernst, und allen, die an der Erstellung des Berichts beteiligt waren, herzlich für ihr staatsbürgerliches Engage- ment danken. Ich bin überzeugt, dass der Bericht wichtige Denkanstöße zur Ver- besserung der gegenwärtigen Situation gegeben hat und noch geben wird.

Der Bericht bezieht zu allen einschlägigen fachlichen Fragen umfassend Position. Er enthält darüber hinaus eine große Zahl gezielter Empfehlungen zur Verbesserung der gegenwärtigen Situation. Wohlgemerkt: es geht nicht darum, neue kostenträch- tige Sonderkonstruktionen zu etablieren. Der Bericht versucht vielmehr, durch Emp- fehlungen für einfache Verbesserungen, die in den meisten Fällen organisatorischer Natur sind und damit bei entsprechendem Gestaltungswillen überwiegend kosten- neutral umgesetzt werden könnten, den Ressourceneinsatz für die medizinische Hilfe bei Katastrophen und im Zivilschutz zu optimieren. Natürlich können wir bei den unterschiedlichen Interessenslagen und der Kompliziertheit der Materie nicht erwarten, dass alle Empfehlungen von allen beteiligten Organisationen und Funk- tionsträgern in den Ländern, von den Fachgesellschaften des Gesundheitswesens und von den Hilfsorganisationen in gleichem Maße akzeptiert werden. Die Empfeh- lungen sollen ja bewusst nur den Rahmen abstecken, der aus fachlicher Sicht und

10 2111 Bd.52 IH neu 16.06.2003 9:45 Uhr Seite 11

bei nüchterner Betrachtung der Fakten geboten erscheint. Die konkrete Umsetzung ist Sache der zuständigen Stellen. Allerdings muss ich auch deutlich sagen, dass es sich bei den hier einschlägigen Fragen doch in einem hohen Maße um sehr kom- plexe Zusammenhänge handelt, deren Lösung Problembewusstsein über den Rand des jeweiligen Zuständigkeitsbereichs hinaus erfordert. Der Bericht will dazu beitragen, die vielfältigen Vernetzungen transparent zu machen und das Problem- bewusstsein zu fördern. Er fordert mit seinen Empfehlungen geradezu auf, quer- zudenken. Die bisher eher zögerliche Reaktion aus den Ländern zum Bericht kann mich nicht von der Überzeugung abbringen, dass sich die fachlich fundier- ten Argumente des Berichts langfristig durchsetzen werden. Das Interesse der Fachgremien wie z.B. der Bundesärztekammer an dem Bericht ist für mich ein untrügliches Indiz für die Richtigkeit meiner Überzeugung. Der Bericht hat auch eine Reihe von Fragestellungen aufgezeigt, in denen eine vertiefte Untersuchung erforderlich ist. Die Schutzkommission hat dem BMI entsprechende Vorschläge für Forschungsvorhaben unterbreitet, die dort positiv aufgenommen wurden und wei- ter verfolgt werden.

In logischer Konsequenz dieser Aktivitäten steht die Neuauflage des Leitfadens für die ärztliche Versorgung im Katastrophenfall. Dieses Anfang der 80er Jahre von unserem Altmitglied Prof. Koslowski in der Schutzkommission initiierte und mehrmals fortgeschriebene Handbuch erfreut sich mit einer Auflage von inzwischen etwa 150.000 Exemplaren großer Beliebtheit. Es hat sich aber in den letzten Jahren immer mehr herausgestellt, dass es mit einer weiteren Fortschreibung des inzwi- schen fachlich in die Jahre gekommenen Leitfadens nicht mehr getan ist. Wir mussten an eine Neuauflage denken. Sie, Herr Dr. Weidringer, haben dankens- werterweise die fachliche Redaktion des Leitfadens übernommen. Ihr Mentor, Herr Prof. Rebentisch, hat mir ja nach seinem 80. Geburtstag im Januar erklärt, dass er sich etwas aus dem aktiven Dienst zurückziehen möchte und solche Aufgaben in Zukunft jüngeren Mitgliedern überlässt. Ich bin Ihnen, lieber Herr Weidringer, dankbar, dass Sie diesen Hinweis positiv aufgenommen und umgesetzt haben. Sie werden uns ja gleich anschließend über die inhaltliche Neugestaltung des Leitfadens und den Bearbeitungsstand unterrichten. Alle diejenigen, die es einmal übernommen haben, die Redaktion eines Buchs mit über 200 Seiten Umfang zu übernehmen, können ermessen, was Sie, Herr Weidringer, neben Ihrem erfüllten Berufsleben auf sich genommen haben. Über die Zeitdauer von weniger als einem Jahr, die Sie bis zur Erstellung des neuen Leitfadens vorgesehen haben, möchte ich hier nur am Rande sprechen.

Sie haben es in kurzer Zeit geschafft, für die Fachbereiche des Leitfadens, für die in der Schutzkommission keine Expertise mehr zur Verfügung steht (und dies ist inzwischen leider die Mehrzahl) externe Fachkollegen zu gewinnen, die bereit sind, sich ebenfalls für diese Aufgabe unentgeltlich zu engagieren. Einer dieser Kollegen, Herr Prof. Knobloch aus Tübingen, wird heute morgen über seinen Beitrag zur „Seuchenhygiene und -bekämpfung“ vortragen. Ich freue mich, lieber Herr Knobloch, dass Sie das über viele Jahre durch Herrn Prof. Koslowski ver- körperte Engagement der Universität Tübingen in Fragen der Notfallmedizin in der Schutzkommission fortsetzen.

11 2111 Bd.52 IH neu 16.06.2003 9:45 Uhr Seite 12

Bevor ich in meiner Begrüßung fortfahre, möchte ich einige Anmerkungen zur sicherheitspolitischen Lage im vergangenen Jahr machen. Auch im letzten Jahr hat es Ereignisse gegeben, die zwar nicht Krieg genannt wurden – man spricht jetzt von regionalen oder ethnischen Konflikten – aber dennoch unverkennbar alle Merkmale von Kriegen aufweisen mit den bekannten Konsequenzen für die Zivil- bevölkerung. Diese militärischen Konflikte gab es nicht nur im fernen Afrika und Asien, sondern auch mitten in Europa. Europa war auch von großen Unglücksfällen und Katastrophen betroffen. Die jüngsten Ereignisse in Enschede waren sicherlich kein Unglück, wie man es häufig erlebt. Es hat sich gezeigt, dass es im dicht besie- delten Europa mit all seinen hohen Sicherheitsstandards auch noch unbeherrschbare Risiken gibt und geben wird, die Vorkehrungen zum Schutz der Bevölkerung not- wendig machen. Und seien wir doch ehrlich: die Bilder von Enschede haben uns doch alle an schlimmste Kriegszeiten erinnert.

Nach den Angaben der einschlägigen Versicherungen sind im vergangenen Jahr allein bei Naturkatastrophen weltweit etwa 65.000 Menschen ums Leben gekom- men, darunter etwa 2000 in Europa. Der materielle Schaden geht in die Milliarden. Die Tendenz ist eher steigend. Dies alles lehrt mich als Naturwissenschaftler, dass auch in Zukunft die Notwendigkeit zur Vorsorge besteht.

Ich freue mich in diesem Zusammenhang zwei unserer Vortragenden begrüßen zu können, die wichtige Aspekte der Risikoermittlung und der Warnung der Bevöl- kerung vor oder bei Eintritt eines Schadens beleuchten werden: Herr Dr. Held wird uns über den Abschluss und die Schlussfolgerungen aus seinem Vorhaben zur Er- mittlung der zukünftigen Möglichkeiten der Warnung der Bevölkerung berichten. Sie werden sehen, dass es unter Ausnutzung neuer technischer Möglichkeiten ge- lingen kann, eine teuere, bundesweite Infrastruktur wie die Sirenen kostengünstig abzulösen. Herr Dr. Dombrowsky wird uns über den Zwischenstand des Vorhabens „Schutzdatenatlas“ berichten, das die Ermittlung von Risikopotenzialen in unserer Umwelt und die benutzerfreundliche Aufbereitung dieser Informationen für Pla- nungszwecke zum Gegenstand hat. Ich danke beiden Rednern, dass sie uns über diese wichtigen Themen informieren werden.

Ich möchte ganz herzlich meinen Vertreter im Vorsitz der Schutzkommission, Herrn Prof. Rüfer, unter uns begrüßen. Ich freue mich, lieber Roderich, dass Du nach den Jahren, in denen Du krankheitsbedingt nicht mehr aktiv an der Arbeit der Schutz- kommission teilnehmen konntest, jetzt wieder bei uns bist. Ich bin gespannt, Herr Dr. Petroianu, auf Ihren gemeinsamen Beitrag zur Therapie von Organophosphat- vergiftungen. Die Thematik ist nach wie vor von großer Bedeutung und ich bin froh, dass es trotz der Tierversuchsproblematik gelingt, in der Erkenntnisgewinnung weiter zu kommen und die Therapiemöglichkeit zu verbessern. Unser Mitglied Prof. Grillmaier wird über ein Thema berichten, das wie ein touristisches Unter- nehmen klingt – ein Thema für die Schutzkommission oder eine Frage des Strah- lenschutzes für Berufsflieger und touristische transkontinentale Vielflieger? Die Ant- wort ist: sowohl als auch. Der Vielflieger und der Polizist, der Kastortransporte sichert, haben eines gemeinsam: Sie werden einer externen Strahlenbelastung aus- gesetzt, die eine Neutronenkomponente besitzt. Sie alle wissen, dass die Frage des „richtigen“ Qualitätsfaktors für Neutronenstrahlung immer wieder kontrovers

12 2111 Bd.52 IH neu 16.06.2003 9:45 Uhr Seite 13

diskutiert wird. Untersuchungen, wie sie Herr Grillmaier vorstellt, können daher zuverlässige Hinweise auf die Beantwortung der Frage der Gefährlichkeit der Neutronenstrahlung auch für den Fall des Kastortransports geben.

Lassen Sie mich noch einmal zu meiner kurzen Analyse der sicherheitspolitischen Lage zurückkommen und diese mit einer grundsätzlichen Bemerkung abschließen: Wenn jetzt überall in Europa – wie zuletzt in der für Zivilschutz für uns stets vor- bildlichen Schweiz – die Anstrengungen für Vorsorgemaßnahmen zum Schutze der Bevölkerung immer weiter und drastisch reduziert werden, dann kann eine Situation eintreten, die nicht mehr ohne erheblichen Aufwand umkehrbar ist. Hier ist bei allen politischen Entscheidungen großes Fingerspitzengefühl erforderlich, um das Rich- tige zur richtigen Zeit zu tun. Ich möchte nicht in das Klagen derer einstimmen, die für ein starres Beharren auf bisher gültigen Grundsätzen plädieren. Zeiten des Wandels erfordern zweifellos einen Wandel im Denken und im Handeln. Aller- dings muss man sich gerade in solchen Zeiten davor hüten, Grundsatzpositionen ohne Not ersatzlos aufzugeben.

Ich möchte nun zu der Arbeit der Schutzkommission im zurückliegenden Jahr kommen. Der Schwerpunkt der Beratungsaktivitäten lag wie im Vorjahr im Bereich Medizin. Darüber habe ich schon einiges gesagt und wir werden heute auch noch darüber Berichte erhalten. Daneben war die Schutzkommission bei der Definition neuer Forschungsvorhaben, der Begleitung laufender Forschungsvorhaben sowie bei der Beurteilung von Forschungsergebnissen aktiv. Hierzu gehören Fragen neuer Bedrohungsarten und Möglichkeiten zu deren Diagnose und zum Schutz gegen solche Bedrohungen, des Einsatzes der Informationstechnik für die Zwecke des Zivilschutzes sowie Fragen des menschlichen Verhaltens in Belastungssituationen. Ich danke allen, die sich für diese Tätigkeiten im Verborgenen zur Verfügung gestellt haben, denn ohne eine fachliche Begleitung in allen Phasen solcher Vorhaben lässt sich der Forschungsbetrieb nicht bewerkstelligen. Hier möchte ich allerdings an- merken, dass es zunehmend schwieriger wird, mit dem vorhandenen Mitglieder- stamm die Anfragen des Ministeriums zu bearbeiten. Die Schutzkommission muss deshalb zunehmend externe Hilfe in Anspruch nehmen, um ihren Aufgaben gerecht werden zu können. Die Gewinnung neuer, engagierten Mitglieder ist dringend er- forderlich. Ich werde mich zusammen mit den aktiven Mitgliedern der Schutz- kommission im Verlauf dieses Jahres intensiv damit beschäftigen.

Die Frage der Forschungsplanung wurde im Verlaufe der Erarbeitung der neuen Geschäftsordnung zusammen mit dem Innenministerium erörtert. Die Beratung des Innenministeriums bei der Forschungsplanung soll ja ein wesentlicher Bestandteil der zukünftigen Arbeit der Schutzkommission sein. Es bedarf allerdings einer Neuordnung der Forschungsplanung. Das bisherige Verfahren beruhte in einigen Fällen eher auf ad-hoc-Anfragen und -Entscheidungen. Das soll in Zukunft mehr langfristig angelegt werden. Damit sie mich nicht missverstehen: Flexibilität im Handeln ist erforderlich gerade bei der Forschungsplanung und -förderung. Diese wird auch in Zukunft praktiziert werden. Sie kann aber kein Ersatz für planerisches Handeln sein. Deshalb soll es im Herbst eines jeden Jahres eine Beratung der Schutzkommission der Vorschläge des Innenministeriums und des BZS, der Länder und der Schutzkommission geben, die zu einer Prioritätensetzung der vorliegenden

13 2111 Bd.52 IH neu 16.06.2003 9:45 Uhr Seite 14

Themen führt. Da bei den Fragen des Zivilschutzes zunehmend Interessen der Länder und dort speziell der Kommunen betroffen sind, sollen diese Beratungen in enger Abstimmung mit diesen erfolgen. Wie dieses Ziel mit möglichst gerin- gem Aufwand erreicht werden kann, muss noch im Detail festgelegt werden.

Über die Einzelheiten der neuen Geschäftsordnung werden wir in der Mitglieder- versammlung heute Nachmittag sprechen. Lassen Sie mich hier nur eines festhalten: Die neue Geschäftsordnung bietet nach meiner festen Überzeugung einen guten Rahmen für die inhaltliche Gestaltung der zukünftigen Arbeit. Hauptaufgabe in den kommenden Monaten wird es sein, die Kommission personell zu erneuern, um ihre Existenz auch nach ihrem 50. Geburtstag im kommenden Jahr langfristig zu sichern. Die Schutzkommission hat im Verlauf ihres Bestehens dreimal eine neue Geschäftsordnung erhalten. Dies ist bemerkenswert, wenn man sich vor Augen hält, dass sich in den letzten 50 Jahren die Strukturen und Zuständigkeiten in der Bundesregierung und die Aufgabenteilung zwischen dem Bund und den Ländern doch erheblich verändert haben. Allerdings ist nicht zu verkennen, dass sich die Welt in den letzten Jahren deutlich schneller und gründlicher verändert hat als dies in den Jahrzehnten zuvor der Fall war. Auch aus diesem Grunde musste die Geschäftsordnung neu gefasst werden.

Unsere Gesellschaft ist in den letzten Jahren viel leichter verletzbar geworden als dies in den Jahrzehnten davor der Fall war. Wir erkennen dies nicht nur an Ereig- nissen, in denen aus Jux oder jugendlichem Übermut „Liebesviren“ über den Globus verstreut ganze Kommunikations-Netzwerke zerstören und unserer hoch technisierten Gesellschaft zumindest großen wirtschaftlichen Schaden zufügen können. Ich möchte es dem phantasievollen Zuhörer überlassen, sich auszudenken, was einem gezielt vorgehenden Terroristen alles einfallen könnte, um unser Gesell- schaftssystem zu schwächen und um die Bevölkerung zu bedrohen. Mit diesen Hin- weisen möchte ich keine Panik erzeugen. Ich möchte lediglich darauf aufmerksam machen, dass wir unsere alten Denkweisen überprüfen und uns gegebenenfalls von Ihnen verabschieden müssen. Dies mag oftmals schmerzhaft sein, insbesondere für meine Generation. Ein Generationenwechsel kann hier hilfreich sein. Besser noch ist ein gleitender Übergang mit einem geordneten Transfer der Erfahrungen von einer Generation auf die andere. Diesen Weg strebe ich für die Neuordnung der Schutzkommission an. Ich bitte Sie alle um Unterstützung bei diesem Vorhaben.

Am Ende meiner Begrüßung möchte ich unserer Mini-Geschäftstelle mit Frau Seifert und Herrn Weiss herzlich für die vielfältige Unterstützung im vergangenen Jahr danken. Die Geschäftstelle ist auch ein wichtiger Bestandteil bei der Neu- ordnung der Schutzkommission und dem Transfer von Erfahrungen auf die nächste Generation. Ich hoffe, dass die Kommission noch lange auf die Erfahrung unserer Geschäftstelle zurückgreifen kann.

14 2111 Bd.52 IH neu 16.06.2003 9:45 Uhr Seite 15

Jahrestagung 2000 der Schutzkommission beim Bundesminister des Innern

Klaus-Henning Rosen

Lieber Herr Professor Scharmann, sehr geehrte Mitglieder der Schutzkommission!

Wie ich Ihnen im vergangenen Jahr sagte, als ich erstmals an einer Ihrer Jahres- tagungen teilnehmen durfte, freue ich mich, dass Sie dem Bundesminister des Innern unbeschadet der in Vierjahresrhythmen denkenden Politik Ihr Wissen zur Verfügung stellen. Und dies geschieht nicht, wie ich weiß, weil Sie sich davon materielle Werte versprechen, sondern weil Sie sich dem Gemeinwesen verant- wortlich fühlen. Das ist eine Tugend, auf die diese Regierung ganz besonders setzt, von der wir aber wissen, sie ist längst nicht mehr Allgemeingut und deshalb wieder- hole ich meinen Dank dafür, dass Sie diese Tugend vorleben. Die Bundesregierung, die solcher Bürgertugend mehr Verbreitung verschaffen will, braucht solche Bei- spiele. Auch im Auftrag von Herrn Minister Schily darf ich Ihnen Dank übermitteln für Ihre Bereitschaft zur Mitarbeit. Minister Schily wünscht dieser Jahrestagung einen guten Verlauf.

Ihm ist bewusst, dass angesichts unausweichlicher Sparvorgaben, auf die ich noch eingehen werde, die Sicherheitsarchitektur brüchig werden kann. Ich freue mich, dass auf dieser Jahresversammlung auch über die Intensivierung der Zusammen- arbeit mit den Länden gesprochen werden wird. Leider hat die Zusammenarbeit im Zivil- und Katastrophenschutz in der Vergangenheit unter mir schwer nach- vollziehbaren Kompetenzproblemen gelitten, die Sie als Nichtjuristen glücklicher- weise nicht nachvollziehen müssen.

Eingangs hatte ich auf die Verletzbarkeit dieser Gesellschaft hingewiesen. Zum Wochenbeginn waren es die Sturmkatastrophen; vor wenigen Tagen erlebten die Niederlande eine von Menschenhand ausgelöste Katastrophe, die auch hierzulande die Menschen nicht gleichgültig zurückgelassen hat, was unser Sensorium für Gefährdung anlangt. Der Schiffskatastrophe in der Nordsee – Stichwort: Pallas – folgte die Beinahekatastrophe vor Rostock in der Ostsee.

Diese Schutzkommission steht in einer Tradition, die der Dauer dieser zweiten deutschen Republik entspricht. Umso mehr begrüße ich es, wie sie sich in diesen Jahren kontinuierlich weiterentwickelt. Ihnen, Herr Professor Scharmann, danke ich für Ihr Bemühen um diese stetige Erneuerung. Das Bundesministerium des Innern hat deshalb Ihre Vorschläge für die Berufung dreier neuer Mitglieder gerne aufgegriffen. Ich freue mich, diese heute in dieser Kommission begrüßen zu dürfen: Herrn Professor Dr. Sefrin, Herrn Dr. Weidringer und Herrn Dr. Miska. Zunächst aber möchte ich auf die neue Geschäftsordnung eingehen, die Basis für unsere Zusammenarbeit.

15 2111 Bd.52 IH neu 16.06.2003 9:45 Uhr Seite 16

Ergebnis einer gemeinsamen Anstrengung von Schutzkommission und Bundes- ministerium des Innern ist die neue Geschäftsordnung der Kommission zum Schutz der Zivilbevölkerung beim Bundesminister des Innern.

Ich möchte die aus meiner Sicht wichtigen Punkte der neuen Geschäftsordnung kurz vorstellen:

Die Mitglieder der Schutzkommission arbeiten – wie in der Vergangenheit – ehren- amtlich. Dies soll gewährleisten, dass in der Sache und für den Staat engagierte unabhängige Persönlichkeiten den Mitgliederstamm bilden. Die Mitglieder der Schutzkommission sollen, was sich von selbst versteht, qualifizierte Fachleute sein. Die Schutzkommission berät die Bundesregierung in wissenschaftlichen bzw. wissenschaftlich-technischen Fragen des Schutzes der Zivilbevölkerung. Daraus folgt, dass sie ein weites Spektrum von Fragestellungen abdecken können muss. Das reicht vom baulichen Schutz, für den das Bundesministerium für Verkehr, Bau und Wohnungswesen BMVBW fachlich verantwortlich zeichnet, bis zu Fragen der Ernährungssicherstellung, in der Verantwortung des Bundesministeriums für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten.

Die Beratung ist die Hauptaufgabe der Schutzkommission. Dies ist vor dem Hinter- grund zu sehen, dass die Schutzkommission in ihrer Geschichte sehr unterschied- liche und wechselnde Aufgaben wahrgenommen hat. Die Kernbereiche Natur- wissenschaft und Technik, Medizin und Sozialwissenschaften müssen in jedem Fall personell abgedeckt sein, da hier die Kernbereiche für einen effektiven Schutz der Zivilbevölkerung liegen.

Die Geschäftsordnung muss eine interdisziplinäre Bearbeitung nicht nur ermög- lichen, sondern fördern. Das folgt aus der komplexen Natur heutiger Problem- stellungen.

Die Schutzkommission sollte in der Lage sein, sich in kurzer Zeit neuer Probleme fachkompetent annehmen zu können. Dies gelingt nur, wenn externe Fachleute in die Arbeit der Schutzkommission einbezogen werden können. Ein gewisses Maß an Fluktuation der Mitglieder muss gewährleistet sein, um neues Wissen zu integrieren und sich auf veränderte Arbeitsschwerpunkte einstellen zu können.

Ich habe den Eindruck, mit der neuen Geschäftsordnung ist eine solide Grundlage für die künftige Arbeit der Kommission geschaffen worden, die eine effiziente und zeitgemäße Wahrnehmung der Aufgaben erlaubt. Was die Vergütung anbelangt, so darf ich an den Vorschlag auf der letzten Jahrestagung in Freiburg erinnern, die Regelung für die Strahlenschutzkommission zu übernehmen. Dieser Vorschlag wurde geprüft und ist auf Zustimmung gestoßen. Die Vergütungsregelung soll in Verbindung mit der neuen Geschäftsordnung die Schutzkommission für neue Mitglieder wieder attraktiver machen. Die Gewinnung neuer Mitglieder ist aus meiner Sicht eine vordringliche Aufgabe der nächsten Zeit. Sie ist erforderlich, um die hohe fachliche Qualität der wissenschaftlichen und wissenschaftlich-technischen Beratung auch weiterhin sicherzustellen.

16 2111 Bd.52 IH neu 16.06.2003 9:45 Uhr Seite 17

Lassen Sie mich, Herr Vorsitzender, meine Damen und Herren, ehe ich auf die Kommission eingehe, einige Bemerkungen zu den Rahmenbedingungen sagen, die auch für Ihre Arbeit gelten.

Unsicherheit hat auch bei Ihnen – darüber hatten wir auch im vergangenen Jahr gesprochen – die Frage ausgelöst, welchen Stellenwert die Bundesregierung dem Zivilschutz – und in seiner Folge auch dem Katastrophenschutz beimisst. Wir kommen leider an der Tatsache nicht vorbei, dass es die Finanzlage des Bundes mit 1,5 Billionen Mark Schulden unausweichlich gemacht hat, alle Staatsaufga- ben kritisch zu prüfen. Der Zivilschutz blieb davon nicht ausgenommen, zumal sich die internationale Sicherheitslage nicht unwesentlich verändert hatte. Das hatte zwei einschneidende Veränderungen zur Folge für – die Existenz des Bundesamtes für Zivilschutz, – die Ausstattung des Zivilschutzes und in seiner Konsequenz des ergänzenden Katastrophenschutzes.

Ich will hier nicht nachkarten und die Diskussion um die Neuordnung des Zivil- schutzes nachholen. Soviel will ich sagen: Ich habe von Anfang an, d.h. von meiner Berührung mit der für mich neuen Aufgabe ZS/KS Zweifel an der Sinnhaftigkeit des neuen Konzepts gehabt. Das wurde spätestens offenkundig, als wenig später nach seiner Abfassung der Bunker Marienthal geschlossen wurde. Auch der ZS konnte sich nicht der internationalen Entwicklung nach dem Zusammenbruch des Sowjetimperiums verschließen. Inzwischen ist deutlich geworden: die ZS-Auf- gabe rechtfertigt nicht mehr den Fortbestand eines eigenen Amtes. Deshalb sollen im Zivil- und Katastrophenschutz Verwaltungsstrukturen gestrafft und neuorgani- siert werden.

Zu diesen Maßnahmen gehört die im Gesetz zur Sanierung des Bundeshaushaltes vom 22.12.1999 festgelegte Auflösung des Bundesamtes für Zivilschutz. Wir haben uns durch eine Organisationsprüfung überzeugen lassen, dass die Wahrnehmung der dem BZS obliegenden Zivilschutzaufgaben eine eigenständige Bundesbehörde nicht mehr trägt. Das BZS wird zum 1. Januar 2001 aufgelöst, die Verwaltungsaufgaben werden auf das Bundesverwaltungsamt übertragen. Sie werden dort nach derzei- tigem Planungsstand in einer neuen Abteilung IX mit der Bezeichnung „Zentral- stelle für Zivilschutz“ mit zwei Referatsgruppen bearbeitet werden.

Die künftigen Aufgaben des BVA decken sich mit den aktuellen des BZS. Es kann also nicht die Rede davon sein, der Bund ziehe sich aus dem Zivilschutz zurück.

Durch die Integration der Verwaltungsaufgaben des BZS in das Bundesverwaltungs- amt in Köln sollen Synergieeffekte bei Querschnittsaufgaben wie Haushalt, Perso- nal, IT und Organisation genutzt und durch eine deutliche Straffung die Wirtschaft- lichkeit erhöht werden.

Die Akademie für Notfallvorsorge und Zivilschutz in Bad Neuenahr-Ahrweiler wird als zentrale Ausbildungseinrichtung – ebenfalls nach einer Neuorganisation – Bestandteil der Abteilung IX des Bundesverwaltungsamtes werden. Die Ausbildung für den Zivil- und Katastrophenschutz wird den aktuellen Erfordernissen,

17 2111 Bd.52 IH neu 16.06.2003 9:45 Uhr Seite 18

insbesondere in der internationalen Zusammenarbeit angepasst. Die Zentralstelle für Zivilschutz wird Sie, die Schutzkommission, ab dem nächsten Jahr anstelle des BZS in gewohnter Weise betreuen. Dies reicht, wie gehabt, von der Bereit- stellung von Finanzmitteln für die Geschäftsführung der Schutzkommission bis hin zur Unterstützung der Vorbereitung und Durchführung des Damenprogramms der Jahrestagung, dessen Gelingen einen nicht unerheblichen Beitrag zur Vermeidung „atmosphärischer Störungen“ leisten kann.

Neben der im Zivilschutzgesetz genannten technisch-wissenschaftlichen Forschung werden die Vergabe und das Projektmanagement der einzelnen Forschungsvorhaben künftig ebenfalls vom BZS auf die Zentralstelle für Zivilschutz übergehen. Aller- dings wird sich künftig auch das Bundesministerium des Innern deutlicher um die Forschung kümmern. Das Personal für die Zivilforschung im zuständigen Referat O 4 wurde erhöht, um Konzeptionelles, die Forschungsplanung und -strukturierung, die Lenkung und die Umsetzung der Ergebnisse der Forschungsvorhaben ebenso wie die der Beratung durch die Schutzkommission in stärkerem Umfang voran- bringen zu können.

Herr Dr. Weiss hat gebeten, Ihnen die Umsetzung der Inhalte der Geschäftsordnung der Schutzkommission zu erläutern, insbesondere im Hinblick auf die Zivilschutz- forschung. Dieser Bitte komme ich gerne nach. Zu den in der Geschäftsordnung ge- nannten Aufgaben gehören die Ermittlung des Forschungsbedarfs, die Aufstellung eines Forschungsprogramms und die Umsetzung von Forschungsergebnissen. Dies sind wichtige Aufgaben des Forschungsmanagements, aber es gibt weitere Auf- gabenblöcke, die damit verknüpft sein wollen, und es gibt neben der Schutzkommis- sion weitere wichtige Mitspieler in der Forschung, die eingebunden werden sollen.

Ich möchte Ihnen dies an der Entwicklung eines Fahrzeuges für die Dekonta- mination von Geräten für den Aufgabenbereich ABC-Schutz im Katastrophen- schutz verdeutlichen.

Die politische Verantwortung für dieses Vorhaben liegt beim Bundesministerium des Innern, für die technisch-wissenschaftliche Aufgabenstellung und die Umsetzung des Ergebnisses zeichnet das BZS verantwortlich. Das Fahrzeug ist Bestandteil des integrierten Hilfeleistungssystems von Bund und Ländern, für dessen Konzeption die Länder im Rahmen des friedensmäßigen Katastrophenschutzes zuständig sind. Die Integration des Fahrzeugs erfolgt in den kommunalen Katastrophenschutz, der teilweise von Regierungspräsidien für überörtliche Einsätze koordiniert wird.

Letztendlich übernimmt das Fahrzeug eine kommunale Berufs- oder freiwillige Feuerwehr, um es bei der Gefahrgutbekämpfung einzusetzen, die nach den Rege- lungen der einschlägigen Feuerwehr-Dienstvorschriften erfolgt. Einschlägige Fach- firmen verfügen über umfangreiches Fachwissen, ebenso das Institut der Feuerwehr Sachsen-Anhalt, das im Auftrag des Bundes ein Vorhaben zur Gerätedekonta- mination durchgeführt hat. Die wissenschaftliche Beratung erfolgt schließlich durch die Schutzkommission und letztlich kann die Bundeswehr ihr Wissen über die Dekontamination beisteuern. Alle genannten Stellen und Institutionen müssen sich im Forschungsmanagement an geeigneter Stelle wiederfinden.

18 2111 Bd.52 IH neu 16.06.2003 9:45 Uhr Seite 19

Ausgangspunkt ist, einen Beitrag zur Verbesserung des Schutzes der Bevölkerung vor den aktuell drohenden und den sich in der Zukunft abzeichnenden Gefahren zu leisten. Die Zivilschutzforschung umfasst nicht nur den gesetzlich in seinem Umfang klar definierten Zivilschutz, sie beschäftigt sich darüber hinaus mit dem gesamten Bereich der zivilen Verteidigung. Dabei werden in erheblichem Umfang die Belange des Katastrophenschutzes im Frieden und der örtlichen Gefahren- abwehr mit berücksichtigt. Das ist politisch gewollt und angesichts des integrierten Hilfeleistungssystems von Bund und Ländern sachlich zwingend geboten.

Die Bedarfsträger der Zivilschutzforschung sind: Als erstes ist das Bundesministerium des Innern mit seiner Zuständigkeit für den Zivilschutz, Teile der zivilen Verteidigung und die fachlichen Aspekte der humani- tären Hilfe der Bundesrepublik Deutschland zu nennen. Das Ministerium bedient sich zur Wahrnehmung dieser Aufgaben teilweise nachgeordneter Behörden; das Bundesamt für Zivilschutz und die Bundesanstalt Technisches Hilfswerk sind Ihnen wohl bekannt.

Weitere Bedarfsträger auf Bundesebene sind die Bundesressorts, soweit sie im Rah- men der Zivilverteidigung Aufgaben wahrnehmen. Ich nenne hier beispielhaft er- neut das Bundesministerium für Verkehr, Bauwesen und Städtebau mit der Zu- ständigkeit für die fachlichen Aspekte des baulichen Schutzes der Zivilbevölke- rung als originärer Zivilschutzaufgabe.

Der überwiegende Teil der Aufgaben der zivilen Verteidigung und dessen Bestand- teil Zivilschutz wird von den Ländern in Bundesauftragsverwaltung erledigt. Die Länder sind zudem – wie bereits erwähnt – für den Katastrophenschutz im Frieden zuständig. Aus dieser Aufgabenerledigung ergeben sich Erkenntnisse über Problem- felder, in denen Forschungsbedarf besteht. Die Länder nehmen bei der Ermittlung des Forschungsbedarfs die kommunalen Belange mit wahr.

Der Forschungsbedarf kann – wie Sie alle wissen – darüber hinaus auch von anderer Seite stammen: Die Schutzkommission artikuliert aus ihrer Beratungstätigkeit heraus Forschungsbedarf; Forschungseinrichtungen, Hilfsorganisationen, Firmen und Verbände bringen Vorschläge für Forschungsfelder oder konkrete Forschungs- vorhaben ein.

Der Forschungsbedarf soll wie in der Vergangenheit vom Bundesamt für Zivil- schutz gesammelt und aufbereitet werden. Ich denke, diese Vorgehensweise bietet die Gewähr dafür, dass der aktuelle Forschungsbedarf korrekt erfasst wird und in die Forschungsplanung einfließen kann.

In diesem Zusammenhang ist erwähnenswert, dass das Deutsche Komitee für Katastrophenvorsorge (DKKV), die Nachfolgeorganisation des IDNDR-Komitees Deutschland, im Herbst dieses Jahres an der Akademie für Notfallvorsorge und Zi- vilschutz ein Seminar zur Ermittlung des Forschungsbedarfs im Katastrophenschutz bei KatS-Behörden und Organisationen plant, dessen Ergebnisse für die Zivilschutz- forschungsplanung durchaus von Interesse sein dürften. Wir werden die Entwick- lung beobachten und nach Wegen suchen, die DKKV-Aktivitäten einzubinden.

19 2111 Bd.52 IH neu 16.06.2003 9:45 Uhr Seite 20

Wie und durch wen soll nun der Forschungsbedarf strukturiert und in ein For- schungsprogramm gegossen werden?

Der Gefahrenbericht der Schutzkommission bietet eine Grundlage für den For- schungsbedarf und für ein Forschungsprogramm. Im Gefahrenbericht sind die Schwerpunkte für ein Forschungsprogramm ausgeführt worden, ohne dass es zur Ausformulierung eines solchen Programms gekommen wäre. Zahlreiche The- menbereiche sind mittlerweile abgearbeitet, werden bearbeitet und sollen aufge- griffen werden.

Meine Vorstellung geht dahin, dass die Schutzkommission gemeinsam mit dem BMI, dem BZS und den Ländern gegebenenfalls unter Hinzuziehung weiterer Bundesressorts auf der Grundlage des Gefahrenberichts den gesammelten For- schungsbedarf evaluiert und strukturiert, Forschungsschwerpunkte benennt und daraus ein Forschungsprogramm entwickelt.

Durch den Gefahrenbericht dürfen Sie sich dabei allerdings nicht ohne Not Schranken setzen, manche drängende Fragestellung, die der Bearbeitung bedarf, findet sich nicht im Gefahrenbericht, ohne dass dies ein Ausschlusskriterium für entsprechende Vorhaben sein kann. An die Meilensteine Bedarfsermittlung und Forschungsprogramm schließen sich die Projektbeschreibungen, das Vergabever- fahren, die Durchführung mit Projektbegleitung und die Umsetzung der Ergebnisse an. Hier werden stufenweise Fachleute aus Verwaltung, Institutionen, Verbänden und Industrie mit einbezogen.

Diese Verfahrensweise bietet nach meiner Überzeugung die Gewähr dafür, dass der vorhandene Sachverstand adäquat einbezogen wird, dass alle zuständigen Stellen mit integriert sind, und dass das Verfahren überschaubar und nachvollziehbar bleibt.

Lassen Sie mich abschließend aus der Sicht des Bundesministeriums des Innern einen Blick auf mögliche künftige Aktivitäten werfen.

Ich habe aufgrund einer Anfrage aus dem Geschäftsbereich des BMVBW die Schutzkommission gebeten, sich erneut mit der Fragestellung „Chemische Kampf- stoffe in der Ostsee“ zu befassen. Eine Arbeitsgruppe der Schutzkommission hatte dieses Thema bereits 1995/96 bearbeitet und einen Katalog von Empfehlungen vorgelegt, der offenbar nicht vollständig umgesetzt worden ist. Nunmehr soll die Thematik seitens der zuständigen Behörden abschließend behandelt werden, die Schutzkommission soll dabei hinsichtlich noch vorhandener Unsicherheiten bei der praktischen Vorsorge beratend tätig werden. Eine Verbindung mit der Nacharbeit zu „Pallas“ ist wohl zu Recht ausgeschlossen worden. Die Deutsche Gesellschaft für Katastrophenmedizin ist mit einem Vorschlag an den Bundesminister des Innern herangetreten, die Problematik der Reaktionsfähigkeit der Bundesrepublik Deutsch- land bei möglichen Terroranschlägen unter Einsatz von Massenvernichtungswaffen aufzugreifen und Bewältigungsstrategien abzuleiten. Die Schutzkommission scheint mir in besonderer Weise geeignet zu sein, sich dieser Aufgabe zu widmen. An- gesichts nicht unerheblicher Vorarbeiten und vielfältiger Aktivitäten des Bundes wäre eine Bestandsaufnahme sicherlich ein zwingend erforderlicher erster Schritt.

20 2111 Bd.52 IH neu 16.06.2003 9:45 Uhr Seite 21

Der Gefahrenbericht von 1996 enthält viele detaillierte Empfehlungen, um die Bevölkerung vor einschlägigen Gefahren zu schützen. Er stellt den damaligen Stand der Überlegungen der Kommission dar. Bereits zum Zeitpunkt seiner Ent- stehung hatte die Kommission es als wünschenswert bezeichnet, den Gefahren- bericht regelmäßig fortzuschreiben. In der Zwischenzeit hat eine rasante technische Entwicklung stattgefunden, die mit den neuen Bedrohungen verbunden ist. Ich denke hierbei etwa an die zunehmende Abhängigkeit moderner Industriegesell- schaften von der Informationstechnologie; Y2K-Problematik und Loveletter-Virus lassen Gefahrenpotenziale erahnen. Ich würde es daher begrüßen, wenn die Schutz- kommission mittelfristig den Gefahrenbericht fortschreibt, um den neuen Entwick- lungen Rechnung zu tragen.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, Fragen des Bevölkerungsschutzes und des Krisenmanagements werden national wie international deutlicher wahrgenommen. Ausgelöst wurde dies unter anderem sicherlich auch durch die intensive Berichterstattung über die zahlreichen Katastro- phen der letzten Jahre, seien es Erdbeben, Überschwemmungen, Vulkanausbrüche, Sturmschäden oder die Auswirkungen von Bürgerkriegen oder transnationalen mili- tärischen Auseinandersetzungen.

Hier ist in zunehmendem Maße die internationale Staatengemeinschaft gefordert, schnell humanitäre Hilfe leisten zu können. Dies bezieht sich nicht nur auf die Aktivitäten der Vereinten Nationen oder die nachbarliche Hilfe auf der Grundlage bilateraler Hilfeleistungsabkommen. Auch NATO und Europäische Union wollen Präsenz zeigen und ihre Möglichkeiten und Fähigkeiten einbringen.

Ich berichtete Ihnen schon im letzten Jahr von der WMD-lnitiative der NATO (WMD steht für Weapons of Mass Destruction also Massenvernichtungswaffen und hier insbesondere ABC-Waffen). Die Initiative befasst sich mit den Möglichkeiten der Linderung der Folgen des Einsatzes von Massenvernichtungswaffen, sei es durch Terroristen oder infolge von kriegerischen Auseinandersetzungen. Das geplante WMD-Centre ist im Aufbau begriffen; die Überlegungen zu einer umfassenden Datenbank zum Thema ABC-Gefahren fangen an, sich zu konkretisieren.

Die Europäische Union hat mit dem European Community Humanitarian Office (ECHO), das 1992 eingerichtet wurde, seine Rolle in der internationalen humani- tären Hilfe ausgebaut. ECHO soll effektive humanitäre Hilfe bei Naturkatastrophen und bewaffneten Auseinandersetzungen in Ländern außerhalb der Gemeinschaft leisten. Die Europäische Kommission hat aufgrund eines Ratsbeschlusses mit dem Aufbau einer „Rapid Reaction Facility“ begonnen, die die Gemeinschaft in die Lage versetzen soll, schneller als bisher auf Krisen mit nichtmilitärischen Maßnahmen zu reagieren.

21 2111 Bd.52 IH neu 16.06.2003 9:45 Uhr Seite 22

Die Beispiele zeigen, dass Bevölkerungsschutz zunehmend eine internationale Dimension bekommen hat. Dieser Entwicklung sollte auch seitens der Schutz- kommission verstärkt Aufmerksamkeit gewidmet werden, da sich hieraus eventuell interessante Perspektiven für eine Effizienzsteigerung durch internationale Zu- sammenarbeit eröffnen. Sowohl die NATO als auch die Europäische Union haben Forschungsprogramme aufgelegt, die Aspekte des Bevölkerungsschutzes umfassen. Es wäre sicherlich reizvoll und für beide Seiten nutzbringend, wenn sich die Schutz- kommission mit ihrem umfangreichen Erfahrungsschatz international einbringen könnte und würde.

Mit dieser Perspektive möchte ich schließen. Ich wünsche der Jahrestagung der Schutzkommission einen erfolgreichen Verlauf.

22 2111 Bd.52 IH neu 16.06.2003 9:45 Uhr Seite 23

„Leitfaden Katastrophenmedizin“

Johann Wilhelm Weidringer

Mit der Präsentation bei der Jahrestagung der Schutzkommission beim Bundes- minister des Innern am 02. Juni 2000 zum Thema „Leitfaden Katastrophenmedizin 2000“ sollen die im Anhang aufgeführten Themenbereiche der einzelnen Kapitel visualisiert werden mit dem Ziel einer nachhaltigen, intensiven Diskussion hin- sichtlich der bestmöglichen Versorgung der Bevölkerung in „Ausnahmesituationen“, bei Großschadensereignissen, Katastrophen, Zivilschutzbedingungen.

In einem ersten Abschnitt werden hierbei typische Situationen von 1. Notfallmedizin bei Einzelunfällen 2. Notfallmedizin bei Großschadensereignissen 3. Notfallmedizin bei Katastrophen (zerstörte Infrastruktur) bildhaft dargestellt und kommentiert. Zur Darstellung kommen dabei nicht nur unterschiedlich ausgeprägte Schadens- ereignisse traumatologischer Genese, sondern auch – nicht minder dramatische – Ereignisse mit „stillen“ schädigenden Agenzien, wie infektiologische Geschehen, auch Strahlenunfälle. Die Art der Darstellungen der unterschiedlich ausgeprägten Schadensereignisse orientiert sich auch an der Zielgruppe des Leitfadens Katastro- phenmedizin, nämlich vom interessierten Laienhelfer bis zum rettungsdienstlichen oder notärztlichen Experten sowie Einsatzkräften aller Professionen, die bei Groß- schadensereignissen und Katastrophen tätig werden.

Was ist nun unter einer Katastrophe zu verstehen, welches Ziel hat die Hilfeleistung?

Eine Katastrophe ist ein Schadensereignis mit der Konsequenz, – dass eine Region selbst wegen des Umfanges eines Schadensereignisses dieses nicht bewältigen kann – die betroffene Region für mindestens mehrere Stunden bis Tage, auch Wochen, personell und materiell nicht in der Lage ist, das Schadensereignis zu beherrschen – unterschiedliche, definierte Hilfeleistungen von außerhalb der betroffenen Region erforderlich werden – üblicherweise besondere behördliche Verfahrensregelungen in Kraft treten (müssen).

Sofern ein Katastrophenereignis bereits primär Leib und Leben von Menschen gefährdet hat, ist für eine Katastrophe im medizinischen Sinne das typische Cha- rakteristikum die Disproportion von Therapienotwendigkeit gegenüber Therapie- möglichkeiten.

Ziel für die Hilfeleistenden ist in einer Katastrophe immer, einerseits möglichst vielen der sozialen Gemeinschaft das Überleben zu ermöglichen, andererseits für die Überlebenden individualmedizinische Versorgungsmöglichkeiten – wenn schon nicht aufrecht zu erhalten – so doch möglichst zügig wieder herzustellen.

23 2111 Bd.52 IH neu 16.06.2003 9:45 Uhr Seite 24

Häufig kann ein Schadensereignis zum Beispiel wegen unzureichender Informa- tionen nicht primär als Katastrophe klassifiziert werden oder es liegt eine Dynamik zugrunde, die ein zunächst räumlich, organisatorisch, funktionell letztlich über- schaubares Großschadensereignis zur Katastrophe werden lässt. Typischerweise kann in der letztgenannten Situation die Gefährdung der Gesundheit von Betrof- fenen, besser: Überlebenden, mit den Möglichkeiten der Einsatzkräfte einer Region, eines Großraumes, zumindest in einer Anfangsphase beherrscht werden.

Lediglich im Sinne einer Orientierungshilfe sollen hier die Definitionen der DIN 13050 „Begriffe Rettungswesen“ dienen:

„Großschadensfall“: Ein Notfall im Rettungsdienst mit einer größeren Anzahl von Verletzten, Erkrankten oder anderen Geschädigten und Betroffenen mit Versorgungserfordernissen ober- halb der regulären Vorhaltung durch den Rettungsdienst“. (zit. nach DIN 13050, 1997, Beuth-Verlag, Berlin)

„Katastrophe“: Ein Schadensereignis mit einer Zerstörung der örtlichen Infrastruktur. Es kann mit den Mitteln und Einsatzstrukturen des Rettungsdienstes alleine nicht bewältigt werden“. (zit. nach DIN 13050, 3.2, Entwurf der Neufassung der Richtlinie aus 04/2000, Beuth-Verlag, Berlin)

Exkurs: In Expertenkreisen schon länger diskutiert, von der Öffentlichkeit noch wenig beachtet, gilt es, das Augenmerk auch zu richten auf eine, nicht ganz neue, in der Konsequenz ggf. weit reichende Gefahren-Art: Mögliche Dimensionen einer Gefährdung der Gesundheitsversorgung der Bevöl- kerung durch Eingriffe in elektronische Kommunikationssysteme können Katas- trophenereignisse in Ausprägungen provozieren, die bisher nicht absehbar sind.

In einem zweiten Abschnitt wird ein eventuell durch unterschiedliche Interessen ent- standenes Kernproblem hinsichtlich der Einteilung von Verletzten und Erkrankten in Sichtungsgruppen zur bestmöglichen Behandlungszuordnung thematisiert.

Zum Zeitpunkt der Drucklegung dieses Leitfadens werden die für den „rettungs- dienstlichen“ wie auch den „katastrophenmedizinischen“ Einsatz möglichen Sich- tungskategorien besonders in der Bundesrepublik Deutschland kontrovers diskutiert. Die nachfolgende Synopse soll dies verdeutlichen:

24 2111 Bd.52 IH neu 16.06.2003 9:45 Uhr Seite 25

Sichtungskategorien

Rettungsdiensteinsatz Kategorie Katastropheneinsatz

vital Bedrohte Behandlungspriorität dringliche Soforttherapie T 1

Schwerverletzte Transportpriorität nicht vital bedroht T 2

Leichtverletzte; verzögerte Behandlung Sammelüberwachung T 3

Verstorbene T 4 abwartende Behandlung

Aus Sicht des Referenten ist besonders zu betonen, dass

– entsprechend dem Konsens europäischer Experten in den Staaten der Europäi- schen Union präklinisch üblicherweise die vier Sichtungskategorien aus katas- trophenmedizinischer Sicht im präklinischen Einsatz zur Anwendung kommen

– bei multinationalen Einsätzen in der internationalen Gemeinschaft eine hinsicht- lich der Patientenversorgung zielführende Kommunikation ausschließlich bei Verwendung des sog. „Ampelschemas“ der vier katastrophenmedizinischen Sich- tungsgruppen sichergestellt ist:

Rot = Triagegruppe 1 Gelb = Triagegruppe 2 Grün = Triagegruppe 3 je nach verwendeter Grundfarbe des Dokumentationssystems: Grau oder Blau oder Schwarz = Triagegruppe 4.

Eine uneinheitliche Vorgehensweise bei der Einteilung von Patienten in Sichtungs- gruppen ist – vorsichtig formuliert – geeignet, die Gefährdung von Leib und Leben von Patienten bei Katastrophen und Zivilschutzereignissen massiv zu ver- schlimmern.

Die entsprechend o.g. Synopse in Deutschland derzeit uneinheitlich gehandhabte Systematik der Einteilung in Sichtungsgruppen wird kritisch dargestellt und heraus- gearbeitet, dass hier Beratungsbedarf, beispielsweise durch die Schutzkommission beim Bundesminister des Innern, besteht.

In einem dritten Abschnitt wird die auch in Deutschland extrem heterogene Struktur verfügbarer Verletzten-/Erkrankten-/Sichtungs-Anhänger sehr kritisch hinterfragt. Dies geschieht anhand der bildhaften Darstellung von mehr als 10 unterschiedlichen Sichtungs-/Dokumentations-„Anhängern“.

25 2111 Bd.52 IH neu 16.06.2003 9:45 Uhr Seite 26

Es wird das Postulat aufgestellt, dass es notwendig ist, Bundes-Rahmenbedingun- gen zu schaffen, die auch von den Ländern ausfüllbar sind hinsichtlich eines ein- satzbezogen praktikablen, einheitlichen Sichtungs-/Dokumentationssystems. Die- ses Sichtungs-/Dokumentationssystem muss sowohl „robust“, „händisch“ mit temperatur-/witterungs-stabiler z.B. Plastik-Folie und permanent-haftender Filzstift verwendbar sein, sowie prospektiv auch – wo vorhanden – elektronischen, z.B. Mikro-Chip- Erfassungsmöglichkeiten dienen können. Mit einem einheitlichen, durchgängig verwendeten Sichtungs-Dokumentationssystem könnten Weg und knapp formulierter Befundverlauf von Patienten bei Großschadensereignissen und Katastrophen nicht nur von medizinischen Einsatzkräften z.B. besser nachvollzogen werden. Analoges gilt natürlich auch für weitere Verbände, Institutionen sowie die Sicherheitsbehörden. Auch hier besteht nach Auffassung des Referenten Berat- ungsbedarf seitens der Schutzkommission beim Bundesminister des Innern.

Wenn auch das Eintreten einer Kriegssituation im Sinne des Zivilschutzgesetzes entsprechend den derzeitigen politischen Rahmenbedingungen als extrem unwahr- scheinlich angenommen bzw. so gut wie ausgeschlossen werden kann, gilt es im Interesse der Bevölkerung zu bedenken, dass im Eventualfall die im Rahmen des Leitfadens näher ausgeführten Handlungsempfehlungen für Katastrophenfälle ana- log Gültigkeit haben können. Für die Herausgeber und Autoren dieses Leitfadens ist es ein tiefes Anliegen, all denen, die bei Katastrophenereignissen Mitbürgern zu Hilfe kommen – seien es interessierte Laienhelfer oder Einsatzkräfte gleich wel- cher Profession und Arbeitsebene – einige Informationen an die Hand zu geben zum Nutzen (potentieller) Patienten.

26 2111 Bd.52 IH neu 16.06.2003 9:45 Uhr Seite 27

Technologische Möglichkeiten einer möglichst frühzeitigen Warnung der Bevölkerung Ð Schlussfolgerungen Ð

Volkmar Held

1Vorwort Das Forschungsvorhaben des BMI mit dem Thema „Technologische Möglich- keiten einer möglichst frühzeitigen Warnung der Bevölkerung“ wurde Ihnen im vergangenen Jahr, zusammen mit ersten Ergebnissen vorgestellt. Es ist inzwischen abgeschlossen. Die Ergebnisse sind in einem Abschlussbericht (3 Bände) sowie einer Kurzfassung ausführlich festgehalten. Sie werden demnächst durch das Bundesamt für Zivilschutz veröffentlicht. Das Folgende beschränkt sich daher nach einer kurzen Übersicht auf die Zusammenfassung der Ergebnisse, die europäischen Aspekte der Studie sowie Empfehlungen für die Weiterführung des Projekts.

2 Einführung Das gegenwärtige System zur Warnung der Bevölkerung in Deutschland im Ver teidigungsfall sowie bei Katastrophen und größeren Schadensereignissen besteht aus Warnmeldungen und Informationen durch den Rundfunk sowie aus örtlichen Alarmierungen mit Sirenen. Seine Struktur und sein Ausbau ist für eine rasche, gleichzeitige und umfassende Warnung bei großflächigen Gefahren nicht ausgelegt.

Die wesentlichen Defizite des vorhandenen Systems: fehlende Alarmierung und keine zeitgleiche, einheitliche Warnmeldung und Information durch den Rundfunk sind auch die Ansatzpunkte für den Aufbau eines zukünftigen Warnsystems.

Die traditionelle Lösung für die Alarmierung in Form des Aufbaus eines bundes- weiten Sirenennetzes durch Nachrüstung der vorhandenen Feuerwehrsirenen und Neuaufbau von elektronischen Sirenen ist aus verschiedenen Gründen, insbesondere auch wegen der hohen Kosten wohl kaum realisierbar. 1 Als Alternative kommt ein integriertes Warnsystem in Frage, das verschiedene Technologien des täglichen Lebens mit Potential zur Bevölkerungswarnung mit- benutzt. Damit dieses, von der Bevölkerung auch finanziell mitgetragene Konzept, akzeptiert wird, müssen Alarme, Warnmeldungen und Informationen als quasi kos- tenlose Nebenfunktionen durch Massenprodukte der Informations- und Kommuni- kationstechnik bereitgestellt werden. Dabei sollte eingeführten oder in Einführung befindlichen Systemen der Vorzug gegeben werden.

27 2111 Bd.52 IH neu 16.06.2003 9:45 Uhr Seite 28

Wichtigste Funktion des zukünftigen Warnsystems ist dabei eine die Aufmerk- samkeit der Bevölkerung erzwingende, rasche und gezielte Alarmierung. Sie ist die Voraussetzung dafür, dass die nachfolgende Warnmeldung einen möglichst großen Teil der Bevölkerung erreicht.

3 Geeignete Technologien und Systeme Die Untersuchung von hierfür geeigneten Technologien und Systemen hat ge- zeigt, dass unter den genannten Gesichtspunkten im wesentlichen drei Systeme mit Alarmfunktion für die Mitbenutzung in einem zukünftigen Warnsystem in Frage kommen:

– Mobilfunk nach GSM- oder UMTS-Standard mit Zellen-Rundfunk (Cell Broadcast) Funktion, – Langwellen-Zeitfunk DCF 77 mit zusätzlicher Alarmfunktion und – Radio-Daten-System (RDS) des terrestrischen UKW-Hörfunks und terrestrischer digitaler Hörfunk DAB.

Die Alarmierung durch den Mobilfunk ist in allen Aufenthaltsbereichen, insbeson- dere auch im Freien möglich und sollte daher in jedem Fall genutzt werden. Hier ist die Einbindung ins Warnsystem nur eine Frage des Zugangs zu den Cell Broadcast Zentren der Mobilfunk-Betreiber. Die meisten der vorhandenen und alle zukünftigen Handys sind ohne Änderung direkt für Warnungen einsetzbar. Einige, gegenwärtig bei GSM vorhandenen betriebliche Nachteile (z.B. keine Priorität für Warnungen oder kein besonderer Warnton) könnten ggf. bei UMTS abgestellt werden.

Beim Zeitsender DCF 77 könnten jeweils 15 Sekunden jeder Minute für die Aus- sendung von Alarmen und Warnmeldungen verwendet werden. Die zur Mitbe- nutzung für Warnungen notwendigen Änderungen am Sender sind relativ gering und durch den staatlichen Betreiber ist der Zugang einfach. Bei den Empfängern ist im Wesentlichen eine Softwareänderung durchzuführen. Auch bei diesem Teilsystem ist das Risiko für den Warnsystem-Betreiber sehr gering, da die Empfängerseite durch eine sehr interessierte Industrie bearbeitet wird, die stets nach neuen, ver- marktbaren Funktionen für das DCF 77-System sucht.

Unter den verschiedensten DCF 77 Zeit + Alarmempfängern wie Wand- und Stand- uhren, Wecker, Wetterstationen und auch Armbanduhren erscheint für Wohnungen und Organisationen ein fest eingebautes UKW-„Küchenradio“ mit DCF 77 Emp- fänger besonders interessant. Durch eine Batteriepufferung könnte es auch bei Stromausfall sowohl die Alarmierung durch DCF 77 ausführen, als auch Warn- meldungen und Informationen des Hörfunks empfangen. Ein solches Gerät würde auch dem Wunsch des Zivil- und Katastrophenschutzes nach einem stromver- sorgungs-unabhängigen Radio in jedem Haushalt entsprechen. Der ortsfeste Einbau macht auch eine optimale Ausrichtung der DCF 77 Antenne möglich.

28 2111 Bd.52 IH neu 16.06.2003 9:45 Uhr Seite 29

Die DCF 77 Funk-Armbanduhr ist grundsätzlich möglich, allerdings mit gewissen Einschränkungen bezüglich der Laufzeit mit einer Batterie. Bei digitalen Uhren würde mit den gegenwärtig verwendeten Batterien die Laufzeit 1 bis 2 Jahre sein, bei Zeigeruhren ca. ein Jahr. Hierbei sind verlängernde Möglichkeiten wie Solar- speisung oder verbesserte Batterien nicht eingerechnet.

Eine Nutzung des terrestrischen UKW-Hörfunks zur Alarmierung wird davon ab- hängen, dass regionale Sender im Gefahrenfall das Alarmsignal PTY 31 in den RDS-Datenstrom einfügen und dass preisgünstige Heimempfänger dieses Signal decodieren können. Die Entwicklung bei DAB steht gegenwärtig noch am Anfang und es ist noch nicht abzusehen, ob und ggf. wann preisgünstige DAB-Heimemp- fänger verfügbar sein werden.

Die nach einer Alarmierung notwendigen Warnmeldungen und Informationen können nur zum Teil über die genannten Alarmierungssysteme selbst empfangen werden. Im Wesentlichen ist für diese Aufgabe wie bisher der Rundfunk zuständig. Um Rundfunkmeldungen über möglichst viele Programme möglichst rasch und zeitgleich verbreiten zu können, ist ein geeignetes internes Kommunikationssystem für das Warnsystem einzuführen.

Die Überlegungen zur Gestaltung dieses Kommunikationssystems zeigen, dass der vom BMI bereits für die Verbindung zum Rundfunk vorgesehene Satelliten- Kommunikationsdienst MECOM durch seine Punkt-zu-Multipunkt-Kommunika- tionsfähigkeit auch für die Einbindung der Alarmierungssysteme in das Warnsystem besonders geeignet ist.

4Konzept des Warnsystems Im Hinblick auf die erreichte Bevölkerung, die Kosten und die Realisierung könnte ein optimal ausgelegtes, zukünftiges Warnsystem aus den Teilsystemen:

– Satelliten-Kommunikation MECOM (primäre Kommunikation) – Festnetz (sekundäre oder redundante Kommunikation) – Polizeinetz CNP ON (primäre Kommunikation obere Landes- und Bundesbehörden) – Mobilfunk Cell Broadcast – DCF 77 (Alarmierung, Warnmeldung) – Rundfunk (Warnmeldung, Information) – Spezialempfänger UKW/RDS und DAB (Option)

bestehen. Bis 2010 könnten mit einem solchen System im Mittel 65 % der Bevölke- rung bei Gesamtkosten für den Warnsystembetreiber von ca. 7–12 Millionen DM je nach Ausgestaltung der Kommunikation erreicht werden.

Besonders wichtig ist die flexible Systemstruktur dieses Konzepts, die eine problemlose Integration weiterer Systeme in das Warnsystem zu einem späteren Zeitpunkt erlaubt. Die hierdurch erreichte funktionelle Redundanz könnte auch

29 2111 Bd.52 IH neu 16.06.2003 9:45 Uhr Seite 30

im Verteidigungsfall mit den derzeit gültigen Bedrohungsannahmen die Betriebs- sicherheit des Warnsystems gewährleisten, obwohl seine Teilsysteme hierfür nicht ausgelegt sind.

Die Einbeziehung der vorhandenen Feuerwehrsirenen in das Warnsystem ist zwar technisch möglich, aus verschiedenen Gründen jedoch weniger interessant. Sie eignen sich eher als lokale Alarmierungsmittel in der Umgebung von Objekten mit besonderem Gefahrenpotential.

5 Europäische Aspekte Die Untersuchung der Warnsysteme in den europäischen Nachbarländern ergab, dass in diesen Ländern Warnsysteme mit unterschiedlicher Konzeption und unter- schiedlichem Ausbau verfügbar sind. In den meisten Ländern ist allerdings ein Ergänzungsbedarf vorhanden; so ist z.B. die Alarmierung in Gebäuden und meist auch die Warnung im Bereich von Organisationen nicht implementiert.

Die Ergebnisse der Untersuchung zeigen, dass diese Lücken bei den europäischen Nachbarländern durch die vorgeschlagenen Warnsystem-Konzepte ganz oder teil- weise geschlossen werden könnten.

Zumindest die Kommunikation über MECOM oder ein gleichwertiges System und die individuelle Warnung durch GSM Cell Broadcast ist in allen europäischen Ländern möglich. Insbesondere in den nord- und südeuropäischen Ländern ist die Versorgung mit Handys besonders hoch.

Für die Nutzung von DCF 77 zur Alarmierung muss ein sicherer Empfang gewähr- leistet sein. Dies ist zumindest im Bereich Dänemark bis Norditalien und Frankreich bis Polen der Fall. In dieser Untersuchung wurde allerdings nicht geprüft, wie die DCF 77-Codierung für diesen erweiterten Warnbereich aussehen müsste und welche Verlängerung der Reaktionszeit sich ggf. durch die Einbeziehung weiterer Länder ergeben würde. In Großbritannien gibt es ebenfalls einen Zeitsender, der nach dem- selben Prinzip, jedoch mit anderer Trägerfrequenz, funktioniert.

In Ländern, in denen kein DCF 77 Empfang möglich ist, könnten Spezialempfänger UKW mit RDS oder DAB zur Warnung verwendet werden. In Schweden gibt es bereits spezielle RDS-Warnempfänger für den stationären Betrieb.

Der Vorteil des vorgeschlagenen Konzepts ist, dass der Aufbau des deutschen Warn- systems zunächst auch ohne europäische Lösung begonnen werden kann. Für die Auslegung der DCF 77-Codierung ist allerdings wichtig, ob noch andere Länder versorgt werden sollen. Sollten dann andere Länder das Warnsystem ganz oder teilweise übernehmen, so ist dies jederzeit möglich.

30 2111 Bd.52 IH neu 16.06.2003 9:45 Uhr Seite 31

6 Empfehlungen Als Konsequenz der positiven Ergebnisse dieser Studie wird der Aufbau eines neuartigen, integrierten Bevölkerungs-Warnsystems aus mitbenutzten Teilsystemen empfohlen. Dabei sollten die vorgeschlagene, einheitliche, hierarchische System- struktur und das oben genannte Warnsystem-Konzept als Zielvorgabe dienen.

Die guten Leistungen, die relativ geringen Kosten, die risikoarme Realisierung und der mögliche schrittweise Aufbau lassen dieses Konzept besonders geeignet erscheinen.

Die weitere Planung dieses Projekts war nicht Aufgabe dieser Studie, es wurden jedoch im Verlauf der Untersuchungen einige Bereiche festgestellt, die im Rahmen der Studie nicht voll abgeklärt werden konnten, aber vor der Inangriffnahme des Projekts abgeklärt werden müssen. Einige davon sind auch zeitkritisch, so dass ihre Bearbeitung baldmöglichst erfolgen sollte.

Die Durchführung folgender Vorarbeiten wird daher empfohlen:

MECOM: Die vorgesehene Software-Anpassung zur Übertragung von Warnmel- dungen an den Rundfunk sollte bereits die Nutzung von MECOM als primäres Kommunikationssystem berücksichtigen. Insbesondere sollte bereits beim ersten Schritt die Einbeziehung von GSM Cell Broadcast (vier GSM-Netze) und DCF 77 in der Software vorgesehen werden. Dies würde eine weitere Software-Änderung beim späteren Aufbau des Warnsystems erleichtern oder überflüssig machen.

Hörfunk, UKW mit RDS: Es ist festzustellen, welche Sender in der Lage sind, ein dynamisches RDS-Signal PTY 31 für Warnzwecke zu erzeugen, zu senden und welche Investitionen ggf. notwendig sind, um dies zukünftig realisieren zu können.

DCF 77: Hier sind im wesentlichen Voruntersuchungen zur Empfangssicherheit, zur Codierung der Alarme und Warnmeldungen und zur Auslegung der Empfänger im Rahmen eines Feldversuchs notwendig: Besondere Aufmerksamkeit ist dabei auf mobile Empfänger (DCF 77 Funk-Armbanduhren) zu legen.

GSM/UMTS Cell Broadcast: Vordringlich ist die Spezifizierung und Einbringung der Verbesserungswünsche in die GSM- und UMTS- Spezifikation bei der euro- päischen Standardisierungsbehörde ETSI durch die Regulierungsbehörde für Post und Telekommunikation zu betreiben.

Zusammenfassend wird empfohlen, die gegenwärtige, wirtschaftlich günstige und technologiefreundliche Situation für den Aufbau des vorgeschlagenen Bevöl- kerungs-Warnsystems zu nutzen. Durch die zunehmende Anwendung moderner Kommunikationsmittel in der Bevölkerung sind die Realisierungs-Chancen gut und das Risiko ist bei sorgfältiger Vorbereitung kalkulierbar. Durch die Mitbenutzung vorhandener Systeme sind die zu investierenden Mittel im Vergleich zum Aufbau eines konventionellen Warnsystems gering.

31 2111 Bd.52 IH neu 16.06.2003 9:45 Uhr Seite 32 2111 Bd.52 IH neu 16.06.2003 9:45 Uhr Seite 33

Proliferation von Massenvernichtungswaffen1: Herausforderungen für Entscheidungsträger2

Torsten Sohns3

„Die Weiterverbreitung atomarer, biologischer und chemischer Waffen (ABC- Waffen) und ihrer Trägersysteme kann eine unmittelbare militärische Bedrohung für die Bevölkerung, das Territorium und die Streitkräfte von Bündnispartnern darstellen und bleibt daher für die Allianz Grund zu ernster Sorge. ... Die Initiative zu den Massenvernichtungswaffen wird ... die Entwicklung einer Strategie zur Unterrichtung der Öffentlichkeit durch Bündnispartner unterstützen, um das Be- wusstsein der Öffentlichkeit für die Proliferationsthematik ... zu steigern; ...“ (aus der Erklärung der Staats- und Regierungschefs auf dem NATO-Gipfeltreffen in Washington 1999)

1. Proliferation und Risikoanalyse

1.1 Risikoabschätzung

Bei der Risikoabschätzung sind zwei Dimensionen zu betrachten: die qualitative, bei der es um die Merkmale möglicher Risiken geht, und die quantitative, die die Wahrscheinlichkeit eines solchen Ereignisses betrachtet.

ABC-Risiken ergeben sich aus der Existenz von Staaten, Gruppen oder Einzel- tätern, die ABC-Waffen anstreben, und der Wahrscheinlichkeit, dass sie in Besitz dieser Waffen sind. So ist bereits ein Risiko gegeben, wenn sie Zugang zu ABC- Waffen oder -Kampfstoffen haben. Weitere Risikofaktoren sind die Verfügbarkeit von Einsatzmitteln, insbesondere Raketen mit mittlerer oder längerer Reichweite, verwundbare Ziele und der erzielbare Schaden.

1 Waffe oder Einrichtung, die dazu bestimmt oder in der Lage ist, durch Freisetzung, Verbreitung oder Einwirkung von ionisierender Strahlung, Radionukliden, Krankheitserregern, Giften biologischen Ursprungs, giftigen Chemikalien oder ihrer Vorläufer viele Menschen zu töten oder gesundheitlich schwer zu schädigen. (modifiziert nach Nunn-Lugar-Domenici Act, USA, 1996) 2 Die in diesem Artikel dargelegten Analysen und Bewertungen geben die Meinung des Autors wieder und stellen nicht die amtliche Auffassung des Bundesministeriums der Verteidigung oder der Bundes- regierung dar. 3 Zum Autor: Oberstarzt Dr. Torsten Sohns ist Sanitätsoffizier der Bundeswehr. In den letzten Jahren arbeitete er in den Bereichen sanitätsdienstlicher Planung und Grundsätze sowie im Medizinischen ABC-Schutz. Seit 1998 ist er stellvertretender Kommandeur der Sanitätsakademie der Bundeswehr und Leiter des Bereichs Studien und Wissenschaft. Davor war er in Stabsverwendungen im Bundes- ministerium der Verteidigung, im Sanitätsamt der Bundeswehr und Supreme Headquarters Allied Powers Europe (SHAPE) der NATO tätig.

33 2111 Bd.52 IH neu 16.06.2003 9:45 Uhr Seite 34

Aus dem Risiko wird eine Bedrohung, sobald bei einer Nation, einer Gruppe oder einem Einzeltäter konkrete Absichten bestehen, ABC-Waffen einzusetzen. Diese Absichten können Folge globaler politischer Konstellationen oder der persönlichen Situation eines einzelnen Fanatikers sein – Faktoren, auf die im Rahmen dieses Artikels nicht eingegangen werden kann.

Vor allem bei Auslandseinsätzen sind neben den „klassischen“ oder „militärischen“ ABC-Risiken, die aus der Existenz von nuklearen, biologischen und chemischen Waffen resultieren, auch Gefahren zu berücksichtigen, die ähnliche gesundheitliche Wirkungen wie ABC-Waffen haben können: Infolge der weltweiten Verbreitung der Kerntechnik und der chemischen Industrie können Streitkräfte z.B. im Rahmen friedensunterstützender Missionen mit entsprechenden Risikopotentialen im zivilen Bereich konfrontiert werden. Hierzu gehören insbesondere Kernkraftwerke, tech- nische und medizinische Strahlenquellen, abgereichertes Uran sowie Produktions- stätten und Lager für giftige Chemikalien wie Phosgen, Blausäure, Chlorgas oder Insektizide. Die Sicherheitsstandards für derartige Einrichtungen im Einsatzgebiet können weniger hoch sein als in den Entsendestaaten, und aufgrund von Um- ständen wie etwa einem Bürgerkrieg kann das qualifizierte einheimische Kontroll- personal reduziert sein oder gar nicht mehr zur Verfügung stehen. Von solchen Einrichtungen ausgehende gesundheitliche Risiken müssen nicht einmal von einem einzelnen gefährlichen Stoff ausgehen, sondern können auch aus Explosionen, Bränden und zugehörigen Nebenprodukten resultieren.

Beispiele für mögliche Konsequenzen niedrigerer Sicherheitsstandards sind die Unfälle im ukrainischen Kernkraftwerk Tschernobyl (1986) und in einer chemi- schen Fabrik im indischen Bhopal (1984). In Bhopal wurde Methylisocyanat frei- gesetzt, wodurch mehr als 3.300 Menschen starben.

Ferner kann es durch Vernachlässigung von Hygienemaßnahmen im Einsatzgebiet zur Reaktivierung natürlicher Reservoire und infolgedessen zu Epidemien kommen. Mitglieder ausländischer Streitkräfte können für die endemischen Krankheiten anfälliger sein als die einheimische Bevölkerung.

1.2 Proliferation

Die Angaben in der nachstehenden Tabelle unter der Überschrift „Der Griff nach der Bombe“ wurden in dem deutschen Nachrichtenmagazin Der Spiegel unter Bezug- nahme auf ein vertrauliches Dokument des Bundesnachrichtendienstes vom Mai 1997 veröffentlicht.

34 2111 Bd.52 IH neu 16.06.2003 9:45 Uhr Seite 35

Der Griff nach der Bombe

Land Nuklearwaffen Biologische Chemische Trägertechnologie Waffen Waffen

Irak – bis zum in Entwicklung Produktion, ja weiterreichende Scud- Golfkrieg erhebliche Raketen 1991 Bestände

– danach nein, z.T. Verbleib der evtl. weitere insgeheim Fortführung ungeklärt Bestände versteckte der Programme ungeklärt Bestände

Iran Entwicklung vermutlich ja Scud-C von Nordkorea, wahrscheinlich evtl. eigene Produktion, Entwicklung einer 2000 km Rakete (Shahab-3)

Syrien nein vermutlich ja Scud-C aus Nordkorea, Produktionsanlagen im Aufbau

Libyen seit 1980 kein versuchter ja vermutlich Scud-Programm Fortschritt Kauf von mit nordkoreanischer Hilfe Produktions- anlagen

Ägypten nein vermutlich eingestellt Scud-Technologie aus eingestellt Nordkorea, Produktion im Aufbau

Saudi-Arabien nein nein nein CSS-2-Rakete aus China

Indien ja ungeklärt möglicherweise Prithvi-Raketen, Produktions- Agni-Raketen anlagen im Aufbau

Pakistan ja möglicherweise vermutlich M-11-Technologie Produktions- anlagen im Aufbau

Nordkorea in Entwicklung vermutlich ja baut Scud-Modifikationen (NO DONG, TAEPO DONG)

Quelle: Der Spiegel (modifiziert)

Anfang des Jahres 2000 berichtete das Magazin Focus4, dass die Reichweite iraki- scher Raketen in den kommenden Jahren so weit gesteigert werden könnte, dass sie nach 2005 in der Lage seien, auch Teile Deutschlands zu erreichen. Wenige Jahre später könnten auch iranische Raketen eine solche Reichweite erlangen.

4 Focus, Heft 9/2002 35 2111 Bd.52 IH neu 16.06.2003 9:45 Uhr Seite 36

1.3 Risikowahrnehmung

Über ABC-Waffen und ihre Verbreitung dringen – von Atomwaffentests abgese- hen – nur wenige Informationen an die Öffentlichkeit. Aus diesem Grund sind sich die breite Öffentlichkeit und eine Reihe von Entscheidungsträgern in vielen Ländern der Risiken nicht bewusst, die mit der Proliferation von Massenvernichtungswaffen verbunden sind.

Eine andere Gruppe von Entscheidungsträgern jedoch hat Zugang zu nachrichten- dienstlichen Unterlagen. Diese enthielten in den letzten Jahren zunehmend Berichte über die Gefahren, die sich aus der Proliferation von Massenvernichtungswaffen ergeben. Von diesem Personenkreis sollte man eine ausgeprägte Risikowahrneh- mung erwarten. Es ist daher verwunderlich, wie wenige Ressourcen (Personal, Ausbildung, Forschung/Entwicklung und Beschaffung) bisher in vielen Ländern zugunsten entsprechender Vorsorgemaßnahmen gegen die drohenden Gefahren bereitgestellt wurden.

Der Golfkrieg von 1991 hat die Folgen einer unzureichenden Risikowahrnehmung deutlich gemacht. Das geheime ABC-Programm eines Risikostaates wurde unerwartet zur realen Gefahr. Zur Erkennung der wirklichen Dimension der Gefahr im Irak bedurfte es jahrelanger intensiver Nachforschungen durch die United Nations Special Commission (UNSCOM) und der Aussagen hochrangiger Über- läufer.

36 2111 Bd.52 IH neu 16.06.2003 9:45 Uhr Seite 37

Eine weitere wesentliche Lehre aus dem Golfkrieg ist die, dass ungenügende Vor- bereitung auch im medizinischen Bereich zu Improvisation und Eilmaßnahmen zwingt, die erhebliche Konsequenzen haben können. So klagten nach dem Einsatz Tausende von Soldaten über verschiedene unspezifische gesundheitliche Störungen, die sie zum Teil als Folge dieser Improvisations- und Eilmaßnahmen ansahen. In- folge unzureichender medizinischer Dokumentation und fehlender wissenschaft- licher Belege konnten weder die Veteranen ihre Thesen beweisen, noch konnten Gutachter schlüssige Gegenbeweise vorlegen. Dies ist das Dilemma des „Golf- kriegssyndroms“. Abgesehen von dem Leid des Einzelnen bedeutete es für die be- troffenen Streitkräfte mehr als ein halbes Jahrzehnt lang „bad news“ in den Medien. Ein Ende der öffentlichen Kritik und Verunsicherung ist nicht abzusehen.

Die USA geben ein positives Beispiel für eine ausgeprägte Risikowahrnehmung und die Bereitschaft, die nötigen Konsequenzen zu ziehen. Sie beziehen die Gefahren aus der Proliferation von Massenvernichtungswaffen sehr viel stärker als in der Vergangenheit in ihre Aktivitäten ein. Ein Beispiel hierfür ist die Haushalts- planung für die US-Streitkräfte, die eine wesentliche Erhöhung der Mittel für den Schutz gegen Massenvernichtungswaffen vorsieht.

US Chemical and Biological Defense Program Appropriations

Basic Research R & D Procurement

Quelle: Chemical & Biological Arms Control Institute, Alexandria, USA, Juni 1999 FY= Fiscal Year

37 2111 Bd.52 IH neu 16.06.2003 9:45 Uhr Seite 38

2. Nukleare Risiken

2.1 Nuklearwaffen In dem neuen Sicherheitsumfeld, in dem aus einstigen Gegnern mittlerweile Partner- länder geworden sind, stützt sich die NATO in einem wesentlich geringeren Umfang auf ihre Nuklearstreitkräfte, und sie ist auch nicht im Besitz von biologischen oder chemischen Waffen. Die NATO-Strategie zur Kriegsverhütung wird nicht mehr von der Vorstellung einer nuklearen Eskalation dominiert, sondern verlässt sich stärker auf die Entwicklung einer gemeinsamen europäischen Sicherheitsarchitektur und auf die Fähigkeit der NATO zur Krisenbewältigung mit diplomatischen und anderen Mitteln bzw. gegebenenfalls zur erfolgreichen konventionellen Verteidigung. Die Nuklearstreitkräfte der NATO spielen weiterhin eine wichtige Rolle für die Kriegs- verhinderung, aber diese Rolle ist eher politischer Art und nicht mehr auf eine kon- krete Bedrohung ausgelegt.

Die Fähigkeit zur Erhaltung und Wiederherstellung der Gesundheit A-Exponierter 5 ist Bestandteil eines glaubwürdigen Abschreckungskonzepts des Bündnisses. Da- rüber hinaus ist diese Fähigkeit unverzichtbar, um für die Soldaten in jeder denk- baren Lage eine medizinische Versorgung nach dem Stand von Wissenschaft und Technik leisten zu können.

Im Rahmen dieser Analyse ist auch das nukleare Potential der Atommächte zu be- rücksichtigen. Nach wie vor sind mehrere tausend Atomwaffen in Europa stationiert, wobei ein überproportional großer Anteil auf Russland entfällt. Zwar liegt für einen Einsatz von Atomwaffen derzeit die Schwelle sehr hoch – im Westen spricht man von „weapons of last resort“ 6, jedoch gibt es weder eine Garantie, dass weltweit alle Atomwaffenbesitzer diese sehr zurückhaltende Ansicht teilen, noch dass sie „ihre“ Schwelle in Zukunft auf dem heutigen hohen Niveau halten werden. Veränderungen sind lagebezogen in einem Konflikt oder durch Abwandlung militär- und sicher- heitspolitischer Konzeptionen denkbar. So könnte eine Atommacht für den Fall einer Unterlegenheit ihrer konventionellen Streitkräfte eine Senkung der nuklearen Schwelle erwägen, insbesondere wenn sie einem Gegner mit B- oder C-Waffen gegenübersteht.7 Ein anderes Beispiel ist die Senkung der Nuklearschwelle in der neuen Konzeption Nationale Sicherheit der Russischen Föderation.

5 Personen, die den Wirkungen von Atomwaffen (im wesentlichen ionisierende Strahlen, Druckstoß- welle, Hitzestrahlung) bzw. radioaktiver Kontamination ausgesetzt waren. 6 Waffen des letzten Auswegs 7 Vor Beginn der Operation Desert Storm im Golfkrieg schrieb der US Präsident George Bush am 5. Januar 1991 in einem Brief an den irakischen Diktator Saddam Hussein: „... that the US will not tolerate the use of chemical and biological weapons ... Further, you will be held directly responsible for terrorist actions against any member of the coalition. The American people would demand the strongest possible response. You and your country will pay a terrible price ...“ Quelle: Public Papers of George Bush, Book 1: January 1 to June 30, 1991

38 2111 Bd.52 IH neu 16.06.2003 9:45 Uhr Seite 39

Sah die Fassung von 1997 noch einen Einsatz von Nuklearwaffen bei einer „Bedrohung für die Existenz Russlands als souveräner Staat“ vor, so ist bei der aktuellen Version vom 10. Januar 2000 ein Einsatz bereits möglich, wenn „im Falle der Notwendigkeit der Abwehr einer bewaffneten Aggression alle anderen Maß- nahmen zur Lösung einer Krisenreaktion erschöpft sind oder sich als ineffektiv er- wiesen haben.“

Des Weiteren müssen wir berücksichtigen, dass sich infolge der Proliferation der Nukleartechnologie die Zahl der im Besitz von Atomwaffen befindlichen Länder weiter erhöhen wird und dass andere Atomwaffenbesitzer sich nicht notwendiger- weise an die westliche Politik eines Einsatzes dieser Waffen als letztes Mittel halten müssen. Neben den fünf vom UN-Sicherheitsrat und im Nichtverbreitungsvertrag (NVV) anerkannten Kernwaffenstaaten („P5“) traten im Mai 1998 zwei selbster- nannte Atommächte auf: Indien und Pakistan. Diese beiden Staaten kamen aus den Reihen der Schwellenländer, und möglicherweise werden weitere folgen.

Besondere Beachtung gebührt auch dem Risiko, dass terroristische Vereinigungen und Gruppierungen des organisierten Verbrechens sich Zugriff auf Atomwaffen verschaffen. In diesem Zusammenhang müssen bestehende Nuklearpotentiale nicht nur unter dem Aspekt der Proliferation von Fachwissen, sondern auch im Hinblick auf die Möglichkeit der Weitergabe von Atomwaffen und waffenfähigem Kern- brennstoff betrachtet werden. Der Alptraum der Weitergabe kann uns eines Tages heimsuchen, wenn sich in einem Kernwaffenstaat Instabilität, Korruption oder Ex- tremismus entwickeln. Unter solchen Verhältnissen können Atomwaffen oder ihre Bauteile in die Hände von Bürgerkriegsparteien gelangen oder an Risikostaaten oder extremistische Länder, Terroristen oder andere Kriminelle weitergegeben werden. Aus diesem Grund ist die Stabilität der Atommächte, insbesondere ein stabiles Russland mit seinen enormen Arsenalen, von ausschlaggebender Bedeutung für die internationale Sicherheit.

Das Risiko des Einsatzes von Nuklearwaffen umfasst damit ein breites Spektrum, wobei die ehemals bedrohlichste Form – der Masseneinsatz – eher unwahrscheinlich geworden ist. Allein schon aus der Tatsache, dass es noch immer große nukleare Potentiale in der Welt gibt und das Risiko ihres weiteren Anwachsens besteht, sind medizinische A-Schutzfähigkeiten weiterhin erforderlich.

2.2 Radiologische Waffen

Neuerdings müssen wir nicht nur Nuklearwaffen im herkömmlichen Sinn, sondern auch sogenannte „radiologische Waffen“ in die Risikoanalyse mit einbeziehen. Hierbei handelt es sich um Waffen, Verfahren bzw. Einsatzformen, die radioaktive Substanzen verbreiten, zum Beispiel durch konventionelle Sprengung eines Be- hälters mit radioaktivem Inhalt. Die Folge ist eine Dispersion strahlender Teilchen. Solche Waffen gelten im multilateralen Rüstungskontrolldialog als schwer defi- nierbar bzw. kaum konsensfähig. Ihr militärischer Wert ist außerdem unklar. Den- noch gibt es seit kurzem Hinweise, dass solche Waffen zu einer realen Bedrohung werden könnten:

39 2111 Bd.52 IH neu 16.06.2003 9:45 Uhr Seite 40

– UNSCOM stieß auf Hinweise, wonach der Irak sich um die Entwicklung radiolo- gischer Waffen bemüht hat. Auch andere Staaten könnten solche Entwicklungen betrieben haben oder betreiben.

– Am 24. November 1995 wurde in den Nachrichten berichtet, dass tschetscheni- sche Terroristen die russische Regierung mit der nuklearen Kontamination Moskaus erpressten. Zum Beweis ihrer Fähigkeiten teilten sie den russischen Behörden das Versteck einer Cäsium-137-Strahlenquelle mit, die auch tatsäch- lich gefunden wurde, und drohten mit der Sprengung von sieben weiteren.

Besonders besorgt machen muss der Moskauer Vorfall in Verbindung mit dem ille- galen Handel mit Nuklearmaterial. Seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion haben die deutschen Sicherheitsbehörden ca. 100 solcher Fälle pro Jahr registriert.

2.3 Weitere Gefahren in Einsatzgebieten

Ein weiteres Risiko sowohl im Rahmen internationaler Kriseneinsätze als auch humanitärer Missionen besteht darin, dass Strahlenquellen im Einsatzgebiet außer Kontrolle geraten, beschädigt oder zerstört werden. Auch dies ist leider nicht nur eine Hypothese. Im Bürgerkrieg im ehemaligen Jugoslawien beschos- sen die einheimischen Kriegsparteien mit schweren Waffen z.B. auch Kranken- häuser ohne Rücksicht auf dort ggf. vorhandene Strahlenquellen.

In möglichen Einsatzgebieten können weniger strenge Sicherheitsbestimmungen für nukleartechnische Anlagen sowie für Handhabung und Entsorgung von radio- aktivem Material als in den Entsendestaaten gelten. Auch dies ist keine Hypothe- se, sondern vielmehr Realität im ehemaligen Jugoslawien.

Und schließlich ist bei der Betrachtung gesundheitlicher Risiken auch zu berück- sichtigen, dass abgereichertes Uran – ein Abfallprodukt der friedlichen und mi- litärischen Nutzung der Kernenergie – für Panzerungen und panzerbrechende Munition verwendet wird. In der deutschen Wehrtechnik wird zwar kein abgereicher- tes Uran verwendet, jedoch ist eine Uranexposition von Angehörigen der Bundes- wehr nicht auszuschließen.

3. Biologische Risiken B-Kampfmittel bestehen aus B-Kampfstoff und Einsatzmittel. B-Kampfstoffe sind zu nicht-friedlichen Zwecken produzierte vermehrungsfähige Mikroorga- nismen und Gifte biologischen Ursprungs, die durch ihre Wirkung auf Lebens- vorgänge den Tod, eine vorübergehende Handlungsunfähigkeit oder eine Dauer- schädigung herbeiführen können. Die Epidemiologie unterteilt biologische Kampf- stoffe in Erreger von übertragbaren und nichtübertragbaren Krankheiten und Toxine.

40 2111 Bd.52 IH neu 16.06.2003 9:45 Uhr Seite 41

3.1 Besonderheiten biologischer Waffen

Die Wirkungen von B-Kampfstoffen können sehr unterschiedlich sein. Die in Frage kommenden Erreger und Toxine können tödliche Krankheiten verursachen – wie im Falle von Lungenmilzbrand und Botulismus – müssen aber nicht unbedingt eine hohe Kontagiosität aufweisen. Andere Erreger können übertragbare Krankheiten verursachen, so dass die Gefahr von Epidemien besteht. Diese Gefahr besteht bei der Pest und bei Pocken. Im Fall der Pocken wären aufgrund der mittlerweile ge- ringen Durchimpfungsrate der Bevölkerung durchaus größere Seuchenzüge mit hoher Letalität zu befürchten, sofern nicht sofortige Riegelungsimpfungen erfolgen. Andere Erreger wie z.B. der Q-Fiebererreger würden ihre Opfer nur kampfun- fähig machen, aber – von Personen mit geschwächtem Immunsystem abgesehen – nicht töten.

Eine Expertenkommission der WHO veröffentlichte 1970 Modellrechnungen8, die ergaben, dass im Fall eines Aerosolangriffs mit 50 kg Milzbrandsporen von einem Flugzeug aus in einer Großstadt mit 500.000 Einwohnern 95.000 Tote und 125.000 Erkrankte zu erwarten wären. Für Milzbrandsporen bedeutet dies: 50 kg töten ein Fünftel von 500.000. Diese Verluste sind in ihrer Größenordnung mit denen eines Atomwaffeneinsatzes vergleichbar.

Ein besonderes Problem besteht darin, zwischen künstlichen und natürlichen Ur- sachen von Erkrankungen und Todesfällen zu unterscheiden. Zu schaffen macht uns hier, dass Krankheiten auch unter natürlichen Umständen auftreten bzw. wie- der auftreten können. Die beiden nachfolgenden Schilderungen von Krankheits- ausbrüchen in Indien und Afrika mögen verdeutlichen, wie schwierig die Unter- scheidung zwischen künstlich ausgebrachten und aus einem natürlichen Reser- voir hervorgegangenen Krankheiten sein kann.

– Im September 1994, 100 Jahre nach der Entdeckung des Pesterregers, brach im indischen Surat eine sehr infektiöse tödliche Lungenkrankheit aus, die vom kli- nischen Bild her der Lungenpest ähnelte. Diese Epidemie forderte offiziell über 54 Tote, die meisten davon junge Männer. Es bestand jedoch längere Zeit Un- einigkeit darüber, ob es sich tatsächlich um die Pest handelte und wenn ja, ob der Erregerstamm gentechnisch verändert worden war oder nicht. Diese Fragen blieben jahrelang umstritten. Die lokalen Medien verbreiteten Verdächtigungen, dass die Epidemie durch die Freisetzung eines biologischen Kampfstoffs aus- gelöst worden sei. Erst Ende 1996 gelang einer WHO-Expertengruppe in Zu- sammenarbeit mit Fachleuten des CDC (Centers for Disease Control) in Atlanta, des Pasteur-Instituts in Paris, des Gamaleya-Instituts in Moskau und ihren indi- schen Kollegen in Neu Delhi die Bestätigung der ursprünglichen Verdachts- diagnose auf Lungenpest. Da die Isolate mit keinem der bekannten Yersinia pe- stis-Stämme identisch waren, bestand bis 1997 Uneinigkeit unter den Wissen- schaftlern, ob die Surat-Peststämme genetisch manipuliert oder eine natürliche Mutation des Erregers waren. Schließlich kamen sie zu dem Schluss, dass nur die für Westindien charakteristischen Ribotypen von beteiligt waren.

8 Health Aspects of Chemical and Biological Weapons, WHO, 1970

41 2111 Bd.52 IH neu 16.06.2003 9:45 Uhr Seite 42

– Das Ebola-Fieber ist ein weiteres Beispiel für Krankheiten, die in den letzten Jahren aufgetreten bzw. wieder aufgetreten sind. An diesem hämorrhagischen Fieber erkrankten erstmalig 1976 318 Menschen in Nordzaire und 284 im Südsudan, von denen 88 % bzw. 53 % verstarben. Seitdem trat diese rätselhafte tödliche Infektionskrankheit in unregelmäßigen Abständen mehrmals wieder auf. Obwohl die Wissenschaftler davon überzeugt sind, dass es ein natürliches Reservoir für diesen Erreger gibt, konnte es bis heute nicht gefunden werden.

Sollte eine vergleichbare Situation nicht im Frieden, sondern im Spannungsfeld einer internationalen politischen und ggf. militärischen Konfliktsituation entstehen, wäre es notwendig, unter Zeitdruck Klarheit über die Ursachen zu schaffen. Die politischen und militärischen Entscheidungsträger würden nachdrücklich eine klare und solide medizinische Aussage fordern. Diese Ergebnisse sind von allergrößter Bedeutung für die Lagebeurteilung und Entscheidungen über das weitere Vorgehen, das militärische Vergeltungsschläge und Eskalationsmaßnahmen umfassen kann. Angesichts dieser Tragweite der medizinischen Diagnose ist es unerlässlich, dass von Seiten der Entscheidungsträger die notwendigen Ressourcen zugewiesen werden.

Noch ein weiterer Aspekt ist im Zusammenhang mit biologischer Kriegsführung von Bedeutung: Internationale Kriseneinsätze sind in der Regel durch das Fehlen umfassender Kampfhandlungen gekennzeichnet. Während der Einsatz konventio- neller Waffen normalerweise nicht im verborgenen möglich ist, bieten sich einige biologische Kampfstoffe in idealer Weise für einen verdeckten Einsatz an. Zur Zeit ist der Nachweis eines B-Angriffs noch sehr zeitaufwendig und schwierig. Ein verdeckter Einsatz kann daher besonders attraktiv für Bürgerkriegsparteien und staatlich gesteuerte Terroristen sein. Wegen der Möglichkeit des verdeckten Ein- satzes ist das Prinzip der Abschreckung weitgehend unwirksam. B-Kampfstoffe können innerhalb und außerhalb von Krisengebieten eingesetzt werden. Bundes- wehrangehörige können exponiert werden, unabhängig davon, ob ein verdeckter Einsatz gegen Bewohner des Einsatzgebiets, Truppenteile verbündeter Streit- kräfte oder direkt gegen ein Bundeswehrkontingent gerichtet ist.

3.2 Begrenzte Wirksamkeit politischer Maßnahmen

Das Übereinkommen über das Verbot biologischer Waffen (BWÜ) ist der erste multi- laterale Vertrag, der eine ganze Kategorie von Massenvernichtungswaffen verbietet. Leider fehlen jedoch präzise Definitionen und Verifikationsregeln, um die nun in langwierigen Verhandlungen gerungen werden muss. Ob allerdings ein umfas- sendes Verifikationsregime ausreicht, muss bezweifelt werden. Die Erfahrung hat gezeigt, dass B-Waffenprogramme trotz völkerrechtlich verbindlicher Übereinkommen weiter betrieben werden.

Das erste Übereinkommen dieser Art, das Genfer Protokoll von 1925, verbot le- diglich den Ersteinsatz von biologischen Waffen. Der Einsatz biologischer Waf- fen bei Vergeltungsschlägen war danach nicht verboten. Demzufolge war das Genfer Protokoll nicht in der Lage, B-Waffenprogramme zu verhindern.

42 2111 Bd.52 IH neu 16.06.2003 9:45 Uhr Seite 43

So wurden beispielsweise in Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg durchge- führte mikrobiologische wissenschaftliche Arbeiten in anderen Ländern fehlinter- pretiert und überbewertet. Obwohl historisch belegt ist, dass Deutschland kein B-Waffenprogramm hatte9, fürchteten andere Regierungen, dass Deutschland B-Waffen entwickelte. Daher initiierten sie selbst B-Waffenprogramme, um ggf. Vergeltung üben zu können. Entsprechende Verdächtigungen gegen Deutschland gab es bereits lange vor dem Zweiten Weltkrieg. Daher entwickelten zunächst Frankreich (Anfang der 20er Jahre), dann England und Kanada (Mitte/Ende der 30er Jahre), und schließlich während des Zweiten Weltkriegs auch die USA B-Kampfmittel, um eine Gegenschlagsfähigkeit zu besitzen. Während die franzö- sischen B-Waffen (Milzbrandsporen, Botulinustoxin, Rizin u.a.) zum Zeitpunkt der deutschen Invasion noch im Entwicklungsstadium waren, besaßen Kanada, England und die USA im Zweiten Weltkrieg einsatzfähige B-Kampfmittel (Milz- brandsporen und Botulinustoxin)10.

Die Sowjetunion begann nach Angaben von Alibek (siehe unten) aufgrund eines geheimen Dekrets des Revolutionären Militärrats von 1928 mit der Entwicklung eines Fleckfieber-Kampfstoffs. In den 30er Jahren verfügte die Sowjetunion über aerosolfähig pulverisierte und flüssige Formen des Fleckfieber-Kampfstoffs. Auf der Insel Solowezki im Weißen Meer experimentierte sie auch mit Q-Fieber, Rotz und Melioidose. Alibek berichtet ferner, dass die Sowjetunion im Kampf um Stalingrad 1941 Tularämie und auf der Krim 1943 Q-Fieber gegen die deutschen Truppen einsetzte. Anderen Quellen zufolge sollen gegen Ende des 2. Weltkriegs auch die Erreger von Pest, Milzbrand und Cholera einsatzfähig vorhanden gewe- sen sein.

Japan, das das Genfer Protokoll nicht ratifiziert hatte, betrieb ab Anfang der 30er Jahre ein umfangreiches B-Programm und setzte im Zweiten Weltkrieg in China Ruhr-, Cholera-, - und Pesterreger ein.

Auch das BWÜ von 1972, das ein umfassendes Verbot aller biologischen Aktivi- täten enthält, die nicht durch Vorbeugungs-, Schutz- oder sonstige friedliche Zwecke gerechtfertigt sind 11, konnte die Fortsetzung von B-Waffenprogrammen nicht ver- hindern, wie die folgenden Beispiele zeigen:

9 Erhard Geißler, Biologische Waffen – Nicht in Hitlers Arsenalen. Biologische und Toxin- Kampfmittel in Deutschland von 1915 bis 1945, LIT Verlag, Münster 1998 10 Biological and Toxin Weapons: Research, Development and Use form the Middle Ages to 1945; herausgegeben von Erhard Geißler und John Ellis van Courtland Moon; SIPRI Chemical and Studies, No. 18, Oxford University Press, Oxford, UK, 1999 11 Artikel 1 des BWÜ: Jeder Vertragsstaat dieses Übereinkommens verpflichtet sich, 1 ) mikrobiologische oder andere biologische Agenzien oder – ungeachtet ihres Ursprungs und ihrer Herstellungsmethode – Toxine von Arten und in Mengen, die nicht durch Vorbeugungs-, Schutz- oder sonstige friedliche Zwecke gerechtgertigt sind, sowie 2) Waffen, Ausrüstungen oder Einsatzmittel, die für die Verwendung solcher Agenzien oder Toxine für feindselige Zwecke oder in einem bewaffneten Konflikt bestimmt sind, niemals und unter keinen Umständen zu entwickeln, herzustellen, zu lagern oder in anderer Weise zu erwerben oder zurückzubehalten.

43 2111 Bd.52 IH neu 16.06.2003 9:45 Uhr Seite 44

– Obwohl der Irak seit 1972 Signatarstaat des BWÜ war, betrieb er ein umfang- reiches B-Programm, das erst ab 1991 infolge des Golfkriegs nach und nach aufgedeckt wurde. Unter dem Druck der Sieger des Golfkriegs trat der Irak am 19. Juni 1991 dem BWÜ auch formell durch Hinterlegen der Ratifikations- urkunde bei, ließ jedoch auch danach durch sein Verhalten immer wieder Zweifel an seiner Vertragstreue aufkommen.

– 1992, zwanzig Jahre nach dem B-Waffenübereinkommen, erließ Präsident Jelzin ein Dekret, das widerrechtliche Arbeiten an B-Waffen bis dato einräumte und wei- tere Aktivitäten auf diesem Gebiet unter Strafe stellte. Dennoch gab es auch da- nach immer wieder Anschuldigungen gegen Russland, insbesondere aus den USA. Diese beziehen sich vor allem auf Aussagen von Vladimir Pasechnik und Ken Alibekl2, die 1989 bzw. 1992 überliefen. Sie waren als führende Wissenschaftler bei einer geheimen Organisation mit der Bezeichnung „“ tätig gewe- sen, der über 30.000 wissenschaftliche und sonstige Mitarbeiter angehörten. Hier fanden Forschung und Produktion für das sowjetische B-Waffenprogramm statt. Nach Alibek setzten die Sowjets biologischen Kampfstoff (Rotz) sogar – zumin- dest einmal zwischen 1982 und 1984 – im Afghanistankrieg ein. Im Übrigen pro- duzierten sie genügend biologische Kampfstoffe, um „ ... die gesamte Weltbe- völkerung mehrmals...“ zu vernichten. In der nach-sowjetischen Zeit hat die russi- sche Regierung wiederholt nachdrücklich Berichte zurückgewiesen, wonach Russland immer noch über ein B-Waffenpotential verfügt. Aber viele Fragen blei- ben nach wie vor unbeantwortet. So ist beispielsweise der Verbleib der ehemals sowjetischen B-Kampfstoffmunition weiterhin unklar.

Die Wirksamkeit von Verträgen wie das BWÜ oder CWÜ hängt sehr stark von Faktoren ab wie der Bereitschaft einer Regierung zur Einhaltung des Vertrags und ihr Vertrauen in die Aufrichtigkeit der Partnerstaaten. Außerdem spielen die Stabilität eines Landes und die Kontrolle der Regierung über die militärische Führung, die Wissenschaft und die Exportindustrie eine große Rolle.

Ein weiterer Faktor, der die Wirksamkeit des BWÜ beeinträchtigt, ist der auf dem Gebiet der Biotechnologie erzielte Fortschritt. Stetige Verbesserungen in der Bio- technologie ermöglichen die Produktion biologischer Kampfstoffe in kleineren Anlagen mit Dual-use-Technologie. Dadurch erhöht sich auch das Risiko der ge- heimen Produktion und Proliferation.

Darüber hinaus müssen wir uns der Tatsache stellen, dass die rasante Entwick- lung der Gen- und Biotechnologie in den letzten Jahren nicht nur von Vorteil war, sondern auch neue Möglichkeiten zur Entwicklung biologischer Kampfstoffe auf der Grundlage gentechnisch veränderter Organismen eröffnet hat. Das Spektrum potentieller B-Risiken wird zunehmend erweitert und stellt immer höhere An- forderungen an unsere medizinischen B-Schutzfähigkeiten.

12 In der offenen Literatur teilweise nachlesbar in: mit Stephen Handelman „Direktorium 15 – Russlands Geheimpläne für den biologischen Krieg“, Econ Verlag München-Düsseldorf GmbH 1999 (engl. Originaltitel: „Biohazard: The Chilling True Story of the Largest Covert Biological Weapons Program in the World – Told From Inside by the Man Who Ran It“, Random House Inc., New York, May 1999) 44 2111 Bd.52 IH neu 16.06.2003 9:45 Uhr Seite 45

3.3 B-Risiken in der jüngeren Vergangenheit und in der Gegenwart

Am 25. August 1995 erklärte der UNSCOM-Beauftragte, der schwedische Bot- schafter Ekeus, vor dem UN-Sicherheitsrat, dass der Irak nun zugegeben habe, 1990/91 biologische Kampfstoffe in Waffen abgefüllt zu haben. 6.000 bzw. 8.000 Liter Milzbrandsporen und 19.000 Liter Botulinustoxinl3 seien in Bomben, Raketen und Artilleriegranaten einsatzbereit gewesen. Der Irak habe zwar erklärt, dass er im Juli/August 1991 seine B-Waffen vernichtet habe, aber dies sei nie verifiziert wor- den, und die B-Bedrohung bestehe weiter, insbesondere angesichts der extremen Stabilität der Milzbrandsporen. Daneben soll der Irak ein breites B-Programm unter- halten haben, das Arbeiten u.a. mit Pest- und Gasbrandbakterien, Kamelpocken-, Rota- und Enteroviren sowie Rizin und Mykotoxinen, insbesondere Aflatoxine, um- fasste. Weiterhin erklärte der Irak, 10 kg Rizin14 hergestellt und den Kampfstoff ein- mal – erfolglos – in einem 155-mm-Artilleriegeschoss getestet zu haben.

Trotz jahrelanger Untersuchungen haben die UN-Experten den Verbleib dieser biologischen Waffen bis heute nicht aufklären können.

Die Aufdeckung der Fähigkeit des Iraks zum B-Waffeneinsatz im Golfkrieg un- terstreicht nachträglich die Richtigkeit und Notwendigkeit der intensiven ABC- Abwehrmaßnahmen und der medizinischen Präventivmaßnahmen der Koalitions- streitkräfte.

Und wie steht es heute um das Risiko einer B-Exposition für Bundeswehr-Kon- tingente? Bei der Risikoanalyse müssen wir z.B. Hinweise beachten, wonach die Kriegsparteien sich gegenseitig beschuldigten, dass Tularämieausbrüche im Norden Bosniens Anfang 1995 auf den Einsatz biologischer Waffen zurückzuführen seien. Unsere Überlegungen müssen berücksichtigen, dass Tularämieerreger für die Ver- wendung als B-Kampfstoff geeignet sind und auch munitioniert wurden, andererseits die Tularämie in Bosnien aber auch als natürliche Krankheit vorkommt. Der Tula- rämieausbruch l999/2000 im Kosovo wurde durch Vertreter der WHO und der NATO untersucht; Hinweise auf einen Einsatz biologischer Waffen wurden nicht gefunden.

3.4 B-Terrorismus

Auch Terroristen sehen B-Agenzien offensichtlich als für ihre Zwecke geeignete Mittel an, wie die folgenden Beispiele zeigen:

– In den 80er-Jahren wurde in Paris in einer von der RAF (Rote-Armee-Fraktion) benutzten Wohnung ein „Heimlabor“ entdeckt, in dem Clostridium botulinum kultiviert wurde. Das aus solchen Kulturen gewinnbare Botulinustoxin ist die giftigste bekannte Substanz überhaupt. Es ist 15.000-mal giftiger als der giftigste chemische Kampfstoff, VX, und 100.000-mal giftiger als Sarin, das – aller- dings in geringen Mengen – bei den Terroranschlägen in Matsumoto 1994 und Tokio 1995 eingesetzt wurde.

13 1 g Botulinustoxin reicht theoretisch aus, um über 10 Millionen Menschen zu töten 14 1 g Rizin reicht theoretisch aus, um über 1.000 Menschen zu töten 45 2111 Bd.52 IH neu 16.06.2003 9:45 Uhr Seite 46

– Im September 1984 benutzte eine Sekte – die Rajneeshi – Salmonellen, um in The Dalles, einer Kleinstadt im Nordwesten Oregons, heimlich Lebensmittel in Restaurants zu kontaminieren. Insgesamt erkrankten 751 Personen – nahezu ein Zehntel der Einwohner. Trotz umfangreicher mikrobiologischer und epidemio- logischer Untersuchungen konnte die Ursache dieses Ausbruchs über ein Jahr lang nicht ermittelt werden. Sie wurde erst entdeckt, als ein Informant verriet, dass die Rajneeshi mit dieser Aktion getestet hatten, ob sie genügend Ein- wohner erkranken lassen konnten, um so zu verhindern, dass in einer bevorste- henden Wahl gegen die Interessen der Sekte abgestimmt würde.

– 1993 wurde ein US-Extremist bei dem Versuch gefasst, 130 g Rizin über die Grenze von Alaska nach Kanada zu schmuggeln. Das Toxin sollte als Waffe be- nutzt werden. Rizin ist hochgiftig und als B-Kampfstoff geeignet. Rizin ist ein- fach herstellbar, und Materialien sowie Know-how zu seiner Produktion lassen sich problemlos beschaffen. In den 18 Monaten bis April 1997 wurde in den USA vom Naval Medical Research Institute in Bethesda, MD, sechsmal Rizin in von der Polizei beschlagnahmtem Material nachgewiesen.

– weiterer Vorfall in den USA. Dort hat 1995 ein wegen rechtsextremistischer Aktivitäten von der US Environmental Protection Agency entlassener Ange- stellter unter Nutzung seiner ehemaligen Identifikationsnummer bei der American Type Culture Collection lyophilisierte Pestbakterien bestellt und auch erhalten. In seiner Wohnung wurden neben drei Röhrchen mit gefriergetrockneten Yersinia pestis-Stämmen auch Handgranatenzünder und diverse Sprengsatzteile be- schlagnahmt.

– Die Aum-Shinrikyo-Sekte hat nicht nur bei den Terroranschlägen in Matsumoto 1994 und Tokio 1995 den C-Kampfstoff Sarin eingesetzt, sondern auch zwi- schen 1990 und 1995 mehrere Einsätze von Milzbrandsporen und Botulinus- toxin an verschiedenen Orten in Japan durchgeführt, allerdings ohne dass ent- sprechende Erkrankungsfälle bekannt geworden (erkannt worden?) sind.

Eine erschöpfende Übersicht hat Caruss15 publiziert.

In den Vereinigten Staaten führt das FBI ständig etwa 50 bis 60 Untersuchungen in Verbindung mit B-Terrorismus durch.16 Bei der weit überwiegenden Zahl der Vorfälle handelt es sich um Nachahmungs- und Irreführungsdelikte. Bei einem Vorfall mussten in einem Nachtclub 800 Menschen stundenlang unter Quaran- täne gestellt werden. In einem anderen Fall, der sich am 24. Dezember 1998 er- eignete, mussten 200 Menschen in einem Einkaufszentrum ihre Kleidung able- gen und sich mit einem Desinfektionsmittel abspülen lassen.

15 W. Seth Carus, „Bioterrorism and Biocrimes – The lllicit Use of Biological Agents in the 20th Century“, Center for Counterproliferation Research, National Defense University, August 1998 (March 1999 revision) 16 Nach Angaben von R. Blitzer, Leiter des FBI Domestic Terrorism and Counterterrorism Planning Section, in ABCNews PrimeTime Live Show, USA, 25 Februar 1998; für eine schriftliche Auf- zeichnung siehe: http://www. infowar. com/WMD/ wmd_030298a_s. html-ssi

46 2111 Bd.52 IH neu 16.06.2003 9:45 Uhr Seite 47

Für die zuständigen Behörden ist dies eine gewaltige Herausforderung, denn sie müssen ihre Fähigkeit unter Beweis stellen, einen echten Anschlag rasch auszu- schließen und zu entwarnen bzw. gezielte Gegenmaßnahmen zu ergreifen. Die Ver unsicherung der Bevölkerung nimmt rapide zu, wenn sie bemerkt, dass die staatlichen Organe nicht urteilssicher und handlungsfähig sind.

In den Vereinigten Staaten besteht ein höheres Risikobewusstsein als in Deutsch- land und ein entsprechendes Programm zum Schutz der Zivilbevölkerung vor Terroranschlägen mit biologischen Kampfstoffen. Die US-Regierung hat Spezial- einheiten der Army und des Marine Corps zur Hilfeleistung bei ABC-Terrorismus aufgestellt (Gesamtstärke etwa 500 Mann). Bei den Olympischen Spielen 1996 wurden einige hundert Angehörige dieser Spezialeinheiten für den Fall eines Terror- anschlags um Atlanta zusammengezogen. Es wurde ein systematisches Trainings- programm der US-Streitkräfte für zivile Entscheidungsträger und Einsatzkräfte (Polizei, Feuerwehr usw.) von 120 US-Großstädten eingerichtet. Das Verteidi- gungsministerium und der öffentliche Gesundheitsdienst wenden derzeit 262 Mio. Dollar für ein nationales Fünfjahresvorsorgeprogramm auf. Die Marine Corps Chemical/Biological Incident Response Force (CBIRF) wurde der Öffent- lichkeit am 30. April 1997 mit einer Übung auf dem Capitol Hill in Washington vor- gestellt.

4. Chemische Risiken C-Kampfmittel bestehen aus C-Kampfstoff und Einsatzmittel. C-Kampfstoffe sind zu nicht-friedlichen Zwecken produzierte toxische Chemikalien, die durch ihre Wirkung auf Lebensvorgänge den Tod, eine vorübergehende Handlungsun- fähigkeit oder eine Dauerschädigung herbeiführen können.

4.1 Begrenzte Wirksamkeit politischer Maßnahmen

Das Übereinkommen über das Verbot chemischer Waffen (CWÜ) von 1993 trat am 29. April 1997 in Kraft. Im September 2000 waren 136 Staaten dem CWÜ beigetreten. Weitere 37 Staaten hatten es signiert, jedoch noch nicht ratifiziert. Die USA, Russland und eine kleine Zahl weiterer Staaten sind nach eigenen Angaben im Besitz von Chemiewaffen. Es wird jedoch vermutet, dass noch eine Reihe weiterer Länder ebenfalls C-Waffen besitzt oder entwickelt, ohne diese Aktivitäten angegeben zu haben.

Nach Beitritt zum CWÜ haben alle Vertragsstaaten zunächst zehn Jahre Zeit zur Ver nichtung ihrer C-Waffen. Wenn ein Vertragsstaat allerdings im neunten Jahr feststellt, dass er dieser Pflicht nicht fristgerecht nachkommen kann, kann er eine entsprechende Erklärung abgeben und um eine Fristverlängerung von fünf Jahren nachsuchen. Das bedeutet, dass die Frist für die Vernichtung der C-Waffen insge- samt 15 Jahre betragen kann.

47 2111 Bd.52 IH neu 16.06.2003 9:45 Uhr Seite 48

Leider kann man

– nicht erwarten, dass alle C-Waffenbesitzer dem CWÜ beitreten und

– nicht ausschließen, dass selbst Unterzeichnerstaaten das Übereinkommen ver- letzen, wie die Erfahrung mit dem BWÜ gezeigt hat.

4.2 C-Risiken in der jüngeren Vergangenheit und in der Gegenwart

Belege für die Realität von C-Risiken sind folgende Ereignisse aus der jüngeren Vergangenheit:

In den 60er-Jahren setzte Ägypten C-Kampfstoffe gegen Jemen ein, im Jahr 1986 Libyen gegen Tschad.17 Der Irak setzte ab 1983 bis 1988 C-Kampfstoffe im Krieg gegen den Iran und 1988 gegen die eigene kurdische Bevölkerung in Brijini (von britischen ABC-Abwehrexperten nachgewiesen) und Halabdja (deutliche Hin- weise) ein.

Im Golfkrieg von 1991 konnte zwar ein irakischer C-Kampfstoffeinsatz nicht ein- deutig nachgewiesen werden, doch die Koalitionsstreitkräfte mussten umfangreiche Präventivmaßnahmen zur ABC-Abwehr treffen. Dazu zählte auf dem Gebiet des medizinischen ABC-Schutzes auch die Vorbehandlung mit Pyridostigmin. Sie wird neben vielen anderen Faktoren immer wieder für das angeblich existierende Golfkriegssyndrom verantwortlich gemacht, auch wenn wissenschaftliche Beweise hierfür bislang fehlen.

Auch für die im ehemaligen Jugoslawien eingesetzten UN-Truppenteile ist das Risiko einer C-Exposition nicht auszuschließen. Die NATO-Kontingente wurden vorsorglich mit Overgarment und Antidoten ausgestattet.

Die ehemalige jugoslawische Volksarmee hat chemische Kampfstoffe produziert. Es gab eine größere Produktionsanlage in der bosnischen Stadt Mostar. Im Frühjahr 1992 wurden Produktionsanlagen für chemische Kampfstoffe sowie Munition mit Lost und Sarin von Mostar nach Serbien, wahrscheinlich nach Lucani, verlegt.l8

DPA-Meldungen im Juli 1995 und Januar 1996 enthielten Mutmaßungen über den Einsatz des Psychokampfstoffs BZ seitens der bosnischen Serben im Sommer 1995 bei der Einnahme der Moslem-Enklaven Zepa und Sebrenica.

Zum gegenwärtigen Zeitpunkt gibt es keine Garantie dafür, dass alle chemischen Kampfstoffe sicher verwahrt sind. Wir können nicht ausschließen, dass diese Bestände – wie andere Waffen auch – in den Besitz einer der kriegführenden Parteien gelangen oder Terroristen bzw. anderen Kriminellen in die Hände fallen.

17 Richard A. Falkenrath, Robert D. Newman, Bradley A. Thayer, America’s Achilles’ Heel – Nuclear, Biological, and Chemical Terrorism and Covert Attack, The MIT Press, Cambridge, Massachusetts, London, England, second printing 1999 18 The ASA Newsletter 99-2

48 2111 Bd.52 IH neu 16.06.2003 9:45 Uhr Seite 49

Auch Substanzen, die in der zivilen chemischen Industrie verwendet werden, können eine Gefährdung für Militärpersonal darstellen, das im Rahmen von UN- Missionen in Krisengebieten eingesetzt wird. Genannt seien hier nur einige hoch- toxische Substanzen wie Phosgen, Blausäure, Chlorgas oder Insektizide. Auch hierzu ein Beispiel aus dem ehemaligen Jugoslawien: 1992 wurde über die kroa- tischen Medien die Drohung verbreitet, Tankwagen mit Chlorgas zu sprengen, um weitere Angriffe der Serben auf Gradacac zu verhindern.

4.3 C-Terrorismus

Seit kurzem müssen wir uns noch mit einem weiteren, hochaktuellen Aspekt von C-Risiken auseinandersetzen. Mitglieder der Aum-Shinrikyo-Sekte setzten bei den Terroranschlägen in Matsumoto im Juni 1994 und in Tokio im März 1995 den chemischen Kampfstoff Sarin ein. In Matsumoto starben 7 Menschen, in Tokio wurden 12 Menschen getötet und 5.500 verletzt. Bei einem weiteren versuchten Anschlag in der Tokioter U-Bahnstation Shinkaju konnte eine Freisetzung von Blausäure in letzter Minute verhindert werden.

Wenig bekannt ist, dass die islamisch-fundamentalistischen Attentäter bei dem Bombenanschlag im Februar 1993 auf das World Trade Center in New York auch Blausäure einsetzen wollten. Sie hatten das in der Tiefgarage des Hochhauses ge- parkte Fahrzeug nicht nur mit Sprengstoff beladen, sondern diesem auch Natrium- zyanid beigemischt, aus dem Blausäure freigesetzt werden sollte. Sie hatten ge- plant, dass Überlebende der Explosion sowie Hilfs- und Ordnungskräfte beim Betreten des Tatorts durch die Blausäuredämpfe getötet würden. Glücklicher- weise misslang dies, weil die Attentäter die ablaufenden chemischen Reaktionen nicht richtig eingeschätzt hatten.

5. Schlussfolgerungen Das Risiko einer Exposition gegenüber den Wirkungen von Massenvernichtungs- waffen ist real. Waffen aller drei Kategorien wurden hergestellt und getestet, be- finden sich irgendwo in jemandes Verfügungsgewalt und sind in den vergangenen hundert Jahren eingesetzt worden. Infolge der Proliferation wird sich die Zahl der Besitzer solcher Waffen erhöhen und damit auch das Risiko ihres Einsatzes.

Die Frage ist nicht ob, sondern wann und wo der nächste Einsatz stattfinden wird.

Zuallererst müssen wir alle Möglichkeiten ausschöpfen, um zu verhindern, dass Massenvernichtungswaffen eingesetzt werden. Zugleich müssen wir aber auch für den Fall vorbereitet sein, dass es doch dazu kommen sollte. Daher müssen die ABC-Abwehrfähigkeiten gestärkt werden:

– in Deutschland zum Schutz der Zivilbevölkerung und der Bundeswehr sowie zur Unterstützung hier stationierter verbündeter Truppenteile und

49 2111 Bd.52 IH neu 16.06.2003 9:45 Uhr Seite 50

– außerhalb Deutschlands zum Schutz dort eingesetzter Bundeswehrkontingente und von Zivilpersonal (z.B. deutsche Polizisten und Angehörige von Hilfs- organisationen).

Diese Sachverhalte sind der deutschen Öffentlichkeit jedoch kaum bekannt und noch weniger bewusst, und auch die Risikowahrnehmung vieler Entscheidungsträger ist noch nicht ausreichend entwickelt, um sie zu den notwendigen Schritten zu veranlassen.

Mit Priorität müssen die offenkundigen Mängel im Bereich der Schutzmöglichkei- ten gegen B-Waffen abgestellt werden, aber auch die Schutzfähigkeiten gegen die anderen Kategorien von Massenvernichtungswaffen bedürfen dringender Verbesse- rung. Insbesondere fehlen ressortübergreifende Konzepte auf Bundesebene, die auch den Schutz der Zivilbevölkerung mit einbeziehen, und im Bereich ziviler wie militärischer Einsatzkräfte – einschließlich Gesundheitswesen und militärischer Sa- nitätsdienst – bestehen schwere Ausbildungs- und Ausrüstungsdefizite.

Für Auslandseinsätze der Bundeswehr gilt darüber hinaus, dass der Sanitätsdienst fähig sein muss, neben den mit feindseligen Handlungen verbundenen ABC- Risiken auch andere Gefahren zu bewältigen, die ähnliche Gesundheitsschäden bewirken können wie ABC-Waffen. Streitkräfte können in ihrem jeweiligen Einsatzgebiet auf Risikopotentiale im zivilen Bereich stoßen, die aus der welt- weiten Verbreitung der Nukleartechnik (Kernenergie, technische und medizini- sche Strahlenquellen, abgereichertes Uran) und der chemischen Industrie (Pro- duktionsanlagen und Bestände an Phosgen, Blausäure, Chlorgas, Insektiziden u.ä.) resultieren. Es wird, selbst wenn keine ABC-Waffen eingesetzt werden, immer weniger „saubere, konventionelle“ Szenarien geben.

In vielen Ländern gibt es Fachleute für die ABC-Abwehr. Außerdem haben viele Länder ihre Streitkräfte mit einer persönlichen Schutzausrüstung wie z.B. ABC- Schutzmasken ausgestattet. Allerdings ist dies allein nicht ausreichend, und so sind die wenigsten Streitkräfte in der Lage, Einsätze unter ABC-Bedingungen länger als ein paar Stunden durchzustehen und ihre Kampfkraft aufrechtzuerhalten. Eben diese ABC-Abwehrfähigkeit ist jedoch erforderlich, und zwar nicht erst morgen, sondern auch schon heute. Sie ist innerhalb des gesamten Aufgaben- spektrums durch ein ausgewogenes ABC-Abwehrsysteml9 sicherzustellen.

Kampftruppen verfügen in der Regel über die besten ABC-Abwehrfähigkeiten. Aber sie sind in der Regel auf einen Sanitätsdienst angewiesen, bei dem schwer- wiegende Defizite in der ABC-Abwehrfähigkeit bestehen. Die meisten Sanitäts- dienste sind weder in der Lage, ihr eigenes Personal noch die in Behandlung oder auf dem Transport befindlichen Patienten und ebenso wenig die moderne medizi- nische Ausstattung vor einer ABC-Exposition zu schützen. Diese Mängel werden sich als ernstes Hindernis für militärische Operationen unter ABC-Bedingungen erweisen und die Handlungsfreiheit der politischen und militärischen Entschei- dungsträger in einschneidender Weise einschränken.

19 Das System umfasst sieben Komponenten: Einzelschutz, Sammelschutz, Medizinischer ABC- Schutz, Härtung von Wehrmaterial, ABC-Aufklärung, Dekontamination sowie ABC-Auswertung und -Gefährdungsvorhersage 50 2111 Bd.52 IH neu 16.06.2003 9:45 Uhr Seite 51

Erschwerend kommt hinzu, dass nur einige wenige Länder über eine – zumeist nur kleine – Gruppe von Medizinischen ABC-Schutzexperten verfügen. Die Folge ist, dass selbst diese wenigen Länder nur sehr begrenzte medizinische ABC- Schutzfähigkeiten besitzen, d. h. die Fähigkeit zur Erhaltung und Wiederherstellung der Gesundheit der Soldaten, wenn andere ABC-Abwehrmaßnahmen fehlschla- gen. Eine so kleine Gruppe kann selten mehr tun, als die politischen und militäri- schen Entscheidungsträger zu beraten. Einige dieser Gruppen sind vielleicht auch in der Lage, anspruchsvolle Labortests durchzuführen, z.B. zum Nachweis be- stimmter biologischer Agenzien. Normalerweise sind diese Gruppen und ihr Budget aber zu klein, um die dringendsten ABC-relevanten Probleme abzudecken.

6. Empfehlungen

6.1 Die Schutztriade: Politische, ABC-Abwehr- und Medizinische ABC- Schutzmaßnahmen

Umfassende Sicherheit in Bezug auf die Risiken, die von Massenvernichtungs- waffen ausgehen, kann derzeit keine Strategie garantieren. Es gibt kein Wunder- mittel und keinen unüberwindbaren Schutz. Den bestmöglichen Schutz bietet da- her ein Gesamtansatz, in dem sich politische, ABC-Abwehr- und medizinische Maßnahmen gegenseitig ergänzen und verstärken:

(1) Das Risiko eines ABC-Angriffs sollte durch politische Maßnahmen, insbeson- dere durch Abrüstungs- und Rüstungskontrollmaßnahmen so weit wie möglich ausgeschlossen werden. Diese Maßnahmen sind im Nichtverbreitungsvertrag, im B-Waffenübereinkommen und C-Waffenübereinkommen sowie in den Folgevereinbarungen festgelegt. Diese Verträge sollten durch Export- kontrollmaßnahmen für Dual-use-Güter ergänzt werden. Solche Güter sollten nur in Länder ausgeführt werden, die die jeweiligen Verträge einhalten und Inspektionen zulassen. Diese Maßnahmen sind fester Bestandteil der deut- schen Außen- und Wirtschaftspolitik.

(1) Im Zusammenwirken mit befreundeten Nationen sollte ferner die russische Regierung bei der Konversion der ehemaligen sowjetischen militärischen ABC-Forschungs- und Produktionsanlagen unterstützt werden, deren Mitarbeiter nach Ausbleiben der Mittel aus dem russischen Verteidigungsetat zum Teil in eine schwierige Lage geraten sind. Aus der Notlage von Wissenschaftlern können erhebliche Proliferationsrisiken mit unabsehbaren Konsequenzen er- wachsen.

(2) Politische Maßnahmen bieten jedoch keinen vollkommenen Schutz. Aus die- sem Grund müssen die im militärischen und zivilen Bereich laufenden tech- nologischen Aktivitäten (Dual-use-Problematik) von „Risikostaaten“ und auch die Aktivitäten verdächtiger Einzelpersonen und Organisationen einer ständigen Beobachtung, Analyse und Auswertung unterzogen werden, um fest-

51 2111 Bd.52 IH neu 16.06.2003 9:45 Uhr Seite 52

zustellen, ob sie nicht-friedlichen Zwecken dienen. Damit erhöhen sich die Aussichten auf eine erfolgreiche Verhinderung des Einsatzes von Massen- vernichtungswaffen und die Entwicklung wirksamer Gegenmaßnahmen.

(2) Sollten die Präventivmaßnahmen fehlschlagen, müssen die Streitkräfte fähig sein, feindliche Massenvernichtungswaffen einschließlich angreifender Flug- körper zu erfassen und zerstören. Die Streitkräfte müssen innerhalb des gesamten Aufgabenspektrums über ein ausgewogenes ABC-Abwehrsystem20 verfügen. Dies muss sich in entsprechender Personalstärke, Ausbildung und Ausstattung widerspiegeln.

ABC-Abwehrfähigkeit schützt Personal und Material vor ABC-Exposition. ABC- Abwehr hat zum Ziel,

– Ausfälle an Personal sowie Schäden an Material und Einrichtungen zu verhin- dern und die Auswirkungen von ABC-Kampfmitteln zu mindern,

– die Einsatzfähigkeit von Truppenteilen, die den Wirkungen von ABC-Kampf- mitteln ausgesetzt sind, zu erhalten bzw. wiederherzustellen.

Für Sanitätsdienste bedeutet ABC-Abwehr Schutz von Sanitätspersonal, Patienten, Sanitätseinrichtungen und Verwundetentransportmitteln gegen ABC-Exposition. In diesem Bereich besteht erheblicher Nachholbedarf.

Fähigkeit zum Schutz vor den Wirkungen von Massenvernichtungswaffen bedeutet für potentielle Gegner, dass solche Waffenprogramme an Attraktivität einbüßen. Darüber hinaus sichert ABC-Abwehrfähigkeit den politischen und militärischen Entscheidungsträgern den notwendigen Handlungsspielraum im Fall der Andro- hung eines Einsatzes von Massenvernichtungswaffen bzw. im tatsächlichen Ein- satzfall. Dies trägt dazu bei, die Schwelle der atomaren Vergeltung und Eska- lation auf einem hohen Stand zu halten.

(3) Da jedoch auch ABC-Abwehrfähigkeit keinen vollkommenen Schutz gewähr- leisten kann, müssen medizinische ABC-Schutzfähigkeiten verfügbar sein zur:

– Erhaltung und Wiederherstellung der Gesundheit ABC-Exponierter,

– Klärung der Ursachen ungewöhnlicherer Erkrankungen und Todesfälle, z.B. zur Unterscheidung von Ausbrüchen natürlich vorkommender und nicht natürlicher Krankheiten,

– Beratung der politischen und militärischen Entscheidungsträger.

20 s. Fußnote 19

52 2111 Bd.52 IH neu 16.06.2003 9:45 Uhr Seite 53

Neben den akuten, oftmals tödlichen Wirkungen von ABC-Kampfmitteln sind bei der sanitätsdienstlichen Versorgung heutzutage auch die Langzeiteffekte einer ABC-Exposition mit niedrigen Dosen und die in vielen Ländern erheblich ver- schärften Zulassungsbestimmungen für neue Arzneimittel zu berücksichtigen. Hierdurch werden die Anforderungen an (und Kosten für) die Sanitätsdienste er- heblich gesteigert.

6.2 Schutz der Zivilbevölkerung

Über die militärischen Aspekte hinaus ist zu berücksichtigen, dass seit Ende des Kalten Krieges in vielen Ländern – vor allem auch in Deutschland – erhebliche Kürzungen der Kräfte und Mittel für den Zivilschutz durchgeführt wurden. Für die Bewältigung von ABC-Gefahrenlagen im zivilen Bereich wie z.B. ein ange- drohter oder ausgeübter Terroranschlag mit Massenvernichtungswaffen21 stellt daher die Expertise der Bundeswehr, insbesondere auch auf medizinischem Gebiet, heute zumeist die einzig verbliebene staatliche Ressource für eine fach- lich fundierte Beratung der Entscheidungsträger dar. Eine spezielle „Noteinsatz- truppe“ der Bundeswehr zur Unterstützung lokaler und regionaler ziviler Kräfte bei ABC-Gefahrenlagen gibt es derzeit nicht.

6.3 Kontinuität und Planungssicherheit: der einzig gangbare Weg

So normal Schwankungen in der Wahrnehmung eines bestimmten Risikos sind, so wichtig ist es zu erkennen und zu beherzigen, dass die künftige Verfügbarkeit medizinischer und anderer wissenschaftlicher Fähigkeiten nur durch Kontinuität und langfristige Planung sichergestellt werden kann. Für die alltägliche medizini- sche Versorgung sind diese Voraussetzungen weitgehend gegeben, denn außer bei einer Katastrophe, z.B. einer schweren Epidemie, sind Art und Häufigkeit der Krankheiten und Verletzungen im Frieden generell konstant, und auch die Finanzierung des zivilen Gesundheitssystems stand in den letzten Jahrzehnten nicht ernsthaft in Frage. Außerdem gibt es Tausende kompetenter Ärzte mit den nötigen Kenntnissen und Erfahrungen. Völlig anders ist die Lage jedoch für die Erhaltung und Wiederherstellung der Gesundheit ABC-Exponierter. Klinische Bilder mit Relevanz für den Medizi- nischen ABC-Schutz sind ungewöhnlich. Bisher traten sie nur in wenigen bewaff- neten Konflikten, bei Unfällen in ABC-Rüstungsprogrammen und terroristischen Aktivitäten auf – Ereignissen, bei denen die Rahmenbedingungen nur eine einge- schränkte wissenschaftliche Auswertung ermöglichen.

21 Die USA haben ihre Ausgaben für Counterterrorism Programs dramatisch gesteigert (1996: 5,7 Mrd. $; 2000: 10 Mrd. $); [diese Summe entspricht fast der Hälfte des deutschen Verteidigungsetats 2000 (45,3 Mrd. DM)]; Quelle: US Advisory Panel to Assess Domestic Response Capabilities for Terrorism Involving Weapons of Mass Destruction: First Annual Report to The President and The Congress, vom 15. Dezember1999, Seite 2

53 2111 Bd.52 IH neu 16.06.2003 9:45 Uhr Seite 54

Daher ist normalerweise lediglich eine theoretisch-wissenschaftliche Beschäf- tigung mit den einschlägigen Krankheitsbildern möglich. Nur eine geringe Anzahl wissenschaftlich tätiger Mediziner beschäftigt sich mit ihnen, denn nur wenige Länder leisten sich überhaupt eine Einrichtung, die auf diesem Gebiet tätig ist („wissenschaftliche Inseln“). Solche Einrichtungen sind in der Regel ge- rade groß genug, um die Personalregeneration für ihre eigene reguläre (kleine) Expertengruppe sicherzustellen. Es gibt also hier nicht – wie in der alltäglichen medizinischen Versorgung – Tausende erfahrener Fachleute. Auch wurden auf- grund von Schwankungen in der Risikoperzeption in den vergangenen Jahrzehn- ten immer wieder Aktivitäten im Medizinischen ABC-Schutz reduziert bzw. auf einzelnen Teilgebieten in einigen Ländern sogar eingestellt. Die wiederholten Diskussionen über „Nutz und Frommen“ der Aktivitäten im Medizinischen ABC- Schutz, vor allem aber die von Haushaltsjahr zu Haushaltsjahr immer wieder auf- tretende Ungewissheit der Finanzierung haben erhebliche Verunsicherung mit teilweise verheerenden Konsequenzen für die Gewinnung wissenschaftlichen Nachwuchses bewirkt. Im Deutschen Bundeshaushalt zum Beispiel gibt es keine ei- genen Haushaltstitel für die Finanzierung der Aktivitäten in der ABC-Abwehr und im Medizinischen ABC-Schutz. Die verfügbaren Finanzmittel sind derzeit über eine Vielzahl unterschiedlicher Kapitel/Titel verteilt22. Dies erschwert den Überblick für Planung, Lenkung und Kontrolle innerhalb der Bundeswehrplanung und verhindert die wünschenswerte Transparenz für Entscheidungsträger in der Legislative. Kosten- lose Abhilfe schaffen könnte hier die Einrichtung je eines eigenen Titels für ABC- Abwehr- und Med ABC-Schutzaktivitäten.

Anpassungen an schwankende Risikowahrnehmungen kann der Medizinische ABC-Schutz eines Landes nicht verkraften, denn er steht zumeist kurz vor dem „point of no return“. Ist dieser Punkt erst überschritten, lassen sich die Fähig- keiten selbst mit hohem finanziellen Aufwand nicht innerhalb von fünf oder zehn Jahren reaktivieren. Für den Fall, dass eine Anpassung an eine verminderte Risi- kowahrnehmung ernstlich erwogen wird, sei allen Entscheidungsträgern gesagt, dass man in einer Einbahnstraße nicht wenden kann.

6.4 Künftige Herausforderungen

Zukunftsfähige Streitkräfte müssen in der Lage sein, sich gegen Massenvernich- tungswaffen und Gefahren, die einer ABC-Waffenexposition ähneln, zu schützen. Insbesondere bei Auslandseinsätzen können diese Fähigkeiten gefordert sein. Da Vorsorgemaßnahmen keinen vollständigen Schutz gewährleisten können, müssen die Streitkräfte ergänzend in der Lage sein, die Gesundheit des exponierten Per- sonals mit medizinischen Maßnahmen zu erhalten (z.B. antiepidemische Maß- nahmen, Impfungen) und wiederherzustellen. Nach dem Stand von Wissenschaft und Technik ausgebildetes Personal und entsprechendes Material müssen verfüg- bar sein. Streitkräfte, die hierüber nicht verfügen, sind nicht bündnisfähig.

22 z.B. unter „Feldzeugmaterial“ und „Entwicklung und Erprobung auf den Gebieten des Sanitäts-, Ver pflegungs- und Bekleidungswesens sowie der Unterkunft und des Bauwesens“

54 2111 Bd.52 IH neu 16.06.2003 9:45 Uhr Seite 55

Ebensowenig werden sie in der Lage sein, den zivilen Bereich wirksam beim Schutz der Bevölkerung zu unterstützen, wenn das eigene Land einer ABC- Bedrohung ausgesetzt ist.

In Deutschland ist es an der Zeit, dass die Entscheidungsträger die notwendigen Res- sourcen bereitstellen: Personal, Ausbildung, Material, Forschung und Entwicklung.23

23 vgl. Gemeinsame Sicherheit und Zukunft der Bundeswehr – Bericht der Weizsäcker-Kommission an die Bundesregierung vom 23. Mai 2000, Ziff. 198

55 2111 Bd.52 IH neu 16.06.2003 9:45 Uhr Seite 56 2111 Bd.52 IH neu 16.06.2003 9:45 Uhr Seite 57

Seuchenhygiene und -bekämpfung

Jürgen Knobloch, E.-J. Finke, Bernd Domres

Infektionskrankheiten können infolge von Katastrophen gehäuft auftreten oder durch epidemische Ausbreitung selbst zur Katastrophe werden. Gegenwärtig müssen aus katastrophenmedizinischer Sicht etwa 50 Infektionserreger berück- sichtigt werden, die im Rahmen von natürlichen Übertragungen oder durch gezielte bioterroristische, kriminelle oder militärische Kontamination Seuchen (Epidemien) verursachen können.

Gemeinsame Leitsymptome im Seuchenfall Das gehäufte Auftreten von bestimmten gleichartigen Symptomen weist auf eine Epidemie hin. Solche bedeutsamen Leitsymptome sind Fieber, Durchfall, Nerven- schäden und Blutungsneigung. Unter Berücksichtigung von epidemiologischen Gemeinsamkeiten in der betroffenen Population kann so die Differenzialdiagnose meistens rasch eingeengt werden. Üblicherweise kann bei systemischen Infektions- krankheiten mit Inkubationszeiten von 1 bis 21 Tagen gerechnet werden. Einige Infektionen können auch erst nach Jahren symptomatisch werden wie Melioidose, Histoplasmose, Malaria tertiana und Malaria quartana.

Fieber

Fieber ist ein vieldeutiges Symptom. Hilfreich für die Differenzialdiagnose von fieberhaften Infektionen sind zusätzliche klinische Befunde wie Hautausschläge (Exantheme), Rachenrötung, Milzvergrößerung (Splenomegalie) und Lymphknoten- schwellung, orientierende Laborbefunde wie Blutbild, BSG, CRP und leberspezi- fische Enzyme sowie Hinweise auf Läsionen in inneren Organen mit Hilfe der bildgebenden Diagnostik. Virustypische Blutbildverändenungen sind Thrombo- zytopenie (Verminderung der Blutplättchenkonzentration) und vermehrt aktivierte Lymphozyten. Eine Leukozytose mit Linksverschiebung (Vermehrung der weißen Blutkörperchen, insbesondere auch von jugendlichen Zellformen) weist auf eine bakterielle Allgemeininfektion hin. Hohe CRP-Werte sprechen eher für eine bak- terielle, nur mäßig erhöhte eher für eine Virusinfektion. Die leberspezifischen Enzymwerte im Serum (z.B. GOT und GPT) sind bei den meisten systemischen viralen, bakteriellen, parasitären und pilzbedingten Infektionen mäßig erhöht. Sehr hohe Werte (GPT > GOT) findet man typischerweise z.B. bei der Hepatitis A und der Hepatitis E sowie (GOT > GPT) beim viralen hämorrhagischen Fieber. Schwere Krankheiten ohne labortechnische Entzündungszeichen und ohne Splenomegalie sprechen eher für eine Vergiftung (Intoxikation), wobei die Gifte (Toxine) allerdings auch von Mikroorganismen, insbesondere Bakterien wie Clostridium sp., stammen können. Zu Beginn ähneln sich alle fieberhaften Erkrankungen, so dass insbesondere

57 2111 Bd.52 IH neu 16.06.2003 9:45 Uhr Seite 58

keine Prognose hinsichtlich der Sterberate der Erkrankten (Letalität) gestellt werden kann. Im Einzel- wie im Seuchenfall ist daher eine Frühdiagnose anzustreben, um insbesondere gezielt behandlungsbedürftige oder absonderungspflichtige Infek- tionen schnellstmöglich zu identifizieren. Im Einzelnen kommen folgende fieber- hafte Infektionskrankheiten als seuchenfähig infrage (alphabetisch):

a) Affenpocken (Erreger: Affenpockenvirus, monkeypox virus, möglicher biologi- scher Kampfstoff) kommen im tropischen Regenwald Zentral- und Westafrikas vor. Eine direkte Übertragung von Mensch zu Mensch auf dem Luftweg ist möglich. Typisch ist eine pockenartige Hautbläschenbildung. Der Erregernachweis gelingt mit Bläscheninhalt. Die Prophylaxe mit Pockenimpfstoffen ist effektiv.

b) Brucellose (Erreger: Brucella melitensis, möglicher biologischer Kampfstoff) ist weltweit verbreitet. Man infiziert sich über Schleimhaut- oder Wundkontakt mit infizierten Nutztieren und deren Produkte wie Urin, Kot, Milch und Käse. Typisch sind grippeartige Symptome und ein wellenförmiger Fieberverlauf. Der Bakteriennachweis gelingt mit Blut oder Knochenmark und indirekt durch spezi- fische Serumantikörper. Die Therapie ist antibiotisch: Doxycyclin + Rifampicin, Doxycyclin + Streptomycin oder Azithromycin. Nach Kontakt mit nachgewiesener- maßen infizierten Tieren kann eine postexpositionelle Chemoprophylaxe mit Doxy- cyclin + Rifampicin durchgeführt werden. Impfstoffe für Menschen und Tiere sind regional verfügbar und in der Weiterentwicklung.

c) (Erreger: Chikungunya-Virus, Chikungunya virus, möglicher biologischer Kampfstoff) ist verbreitet in Afrika und Asien und wird durch ver- schiedene Stechmückenarten übertragen. Es entwickelt sich eine akute, grippeartige Erkrankung mit heftigen Gliederschmerzen und rötlichem, fleckförmigem, jucken- dem Exanthem. Der Erregernachweis gelingt mit Blut oder durch Nachweis spezi- fischer Serumantikörper. Die Therapie ist symptomatisch.

d) Dengue, Dengue-Fieber (Erreger: Dengue-Virus 1-4, dengue virus 1-4, mög- licher biologischer Kampfstoff) ist weltweit in den Tropen und Subtropen verbreitet und wird durch Stechmücken (Aedes spp.) übertragen. Die Krankheit verläuft akut grippeartig mit Gliederschmerzen und rötlichem Exanthem. Komplizierte Verläufe mit Kreislaufschock, Blutungsneigung und Enzephalitis sind möglich. Der Erreger- nachweis gelingt mit Blut oder durch Nachweis spezifischer IgM- und IgG-Serum- antikörper. Die Therapie ist symptomatisch. Impfstoffe sind in der Erprobung.

e) Diphtherie (Erreger: Corynebacterium diphtheriae) ist weltweit verbreitet, hauptsächlich in Ländern mit mangelhafter Durchimpfungsrate. Die Bakterien werden durch Tröpfcheninfektion übertragen. Die Erkrankung verläuft akut mit schmerzhafter Rachenentzündung und nachfolgender Ausbildung von gräulichen, nicht wegwischbaren Belägen (Pseudomembranen), beginnend meist auf den Tonsillen, danach Ausbreitung auf den gesamten Nasen-Rachenraum, bei kompli- ziertem Verlauf Erstickungstod in der akuten Phase oder toxische Herz-, Nieren- und Nervenschäden auch noch Wochen nach Beginn der Symptomatik. Auch Hautdiphtherie mit schmerzhaften, gräulich belegten Geschwüren ist möglich. Der Bakteriennachweis gelingt mit Rachen- oder Wundabstrichen, der zusätzliche

58 2111 Bd.52 IH neu 16.06.2003 9:45 Uhr Seite 59

Toxinnachweis ist erforderlich. Die spezielle Therapie wird mit Diphtherie-Anti- toxin + Penicillin oder + Erythromycin durchgeführt. Die Impfung ist gut wirksam. Zudem kann eine postexpositionelle Chemoprophylaxe mit Penicillin oder Ery- thromycin bei ungeimpften Kontaktpersonen durchgeführt werden.

f) Fleckfieber (Erreger: Rickettsia prowazekii, möglicher biologischer Kampfstoff) ist weltweit verbreitet, hauptsächlich in gemäßigten Klimazonen von Entwicklungs- ländern. Es handelt sich um eine typische Kriegs-, Lager- und Gefängnisseuche. Sie wird durch Läuse übertragen. Es entwickelt sich ein akutes Krankheitsbild mit starken Kopf- und Gliederschmerzen, Schüttelfrost und sich zentrifugal ausbrei- tendem Exanthem. Komplizierte Verläufe mit Eintrübung, Blutungsneigung sowie Finger- und Zehenbrand (Gangrän) sind möglich. Spätrückfälle können noch nach Jahren auftreten: Brill-Zinsser-Krankheit. Der Nachweis wird vorzugsweise durch spezifische IgM- und IgG-Serumantikörper geführt. Die antibiotische Therapie wird mit Doxycyclin, Tetracyclin, Chloramphenicol oder Ciprofloxacin durchgeführt. Ein inaktivierter Impfstoff ist regional verfügbar. Die postexpositionelle Chemopro- phylaxe mit Doxycyclin oder Ciprofloxacin ist wahrscheinlich wirksam.

g) Hepatitis A (Erreger: Hepatitis A-Virus, HAV, hepatitis A virus) ist weltweit verbreitet und wird fäkal-oral übertragen über kontaminierte Nahrungsmittel, selten direkt von Mensch zu Mensch. Die Krankheit verläuft im Kindesalter meist asymp- tomatisch, beim Erwachsenen besteht üblicherweise ein biphasisches Krankheitsbild mit Fieber und Allgemeinbeschwerden in der 1. Woche, Gelbsucht (Ikterus) ab der 2. Woche. Die leberspezifischen Enzymwerte im Serum sind stark erhöht (GPT- Wert höher als der GOT-Wert). Der Nachweis wird üblicherweise durch spezifische IgM- und IgG-Serumantikörper geführt. Die Therapie ist symptomatisch. Aktive und passive Impfungen sind gut wirksam.

h) Hepatitis E (Erreger: Hepatitis E-Virus, HEV, hepatitis E virus) ist weltweit, überwiegend in tropischen Entwicklungsländern, verbreitet und wird fäkal-oral, überwiegend durch Lebensmittel und Trinkwasser, selten direkt von Mensch zu Mensch, übertragen. Es entwickelt sich eine akute Erkrankung mit Ikterus (Gelb- sucht), die leberspezifischen Enzymwerte im Serum sind stark erhöht (GPT-Wert höher als der GOT-Wert). Gegen Ende der Schwangerschaft verläuft die Krankheit be- sonders schwer. Die Therapie ist symptomatisch. Impfstoffe sind in der Entwicklung.

i) Histoplasmose (Erreger: Histoplasma capsulatum, möglicher biologischer Kampf- stoff) ist herdförmig verbreitet in Amerika, Afrika, Indonesien, Australien, Europa und in der Karibik und wird fast ausschließlich durch Einatmen von Pilzsporen aus dem Erdreich übertragen. Der Verlauf ist schleichend chronisch oder auch akut mit wechselnden Allgemeinsymptomen, Brustschmerzen und Husten, gelegentlich auch mit einem rötlichen Hautausschlag (Erythema nodosum oder Erythema multi- forme). Typisch ist eine Tbc-ähnliche Lungenentzündung. Schwere Verläufe sowie Erst- und Reaktivierungen früherer Infektionen nach Jahren sind typisch für er- worbene Immundefekte (Aidsdefinierende Erkrankung). Bei der afrikanischen Form ist weniger die Lunge als Haut und Knochen mit Geschwülsten, Geschwüren und eitrigen Einschmelzungen beteiligt. Der Nachweis wird bevorzugt durch molekular- biologische Methoden (PCR) mit Sputum, Blut, Knochenmark oder Organpunk-

59 2111 Bd.52 IH neu 16.06.2003 9:45 Uhr Seite 60

taten geführt. Antimykotisch sind Itraconazol und Ketoconazol wirksam. Bei Immun- defekt wird die postexpositionelle und Rezidiv-Chemoprophylaxe nach Erkrankung mit Itraconazol empfohlen.

j) Influenza, Grippe, Virusgrippe (Erreger: Influenza A-, B-, C-Virus, influenza A, B, C virus, mögliche biologische Kampfstoffe) ist weltweit verbreitet. Influenza A- und B-Viren verändern häufig ihre für die Empfänglichkeit und Immunität des Wirtes wesentlichen Moleküle (Hämagglutinin-Glykoprotein, H, und Neuramini- dase-Glykoprotein, N), was bei der Impfstoffherstellung berücksichtigt werden muss. Die Viren werden durch Tröpfcheninfektion übertragen und sind hoch infek- tiös. Influenza-Pandemien (weltweite Epidemien) mit hoher Erkrankungs- und Sterberate, wie die sog. Spanische Grippe von 1918 mit 30 bis 50 Mio. Toten, traten bisher in Abständen von 11-40 Jahren auf. Die Erkrankung verläuft akut mit Hals-, Kopf- und Gliederschmerzen sowie trockenem Reizhusten. Komplizierte Verläufe mit Kreislaufschock, Blutungsneigung, Lungen- und Herzmuskelentzündung (Pneu- monie und Myokarditis) sowie ZNS-Schäden (Enzephalitis) sind möglich. Der Erreger wird kulturell, immundiagnostisch oder molekularbiologisch im Rachenab- strich, Sputum oder Blut nachgewiesen. Die Therapie ist symptomatisch, Antibiotika werden nur bei Immundefekt gegeben. Bei Influenza A-Epidemien ist zu Beginn der Erkrankung Amantadin (auch postexpositionell für Kontaktpersonen geeignet), bei Influenza A- und B-Epidemien Zanamivir als spezifisches Virustatikum hilfreich. Die Impfung ist gut, aber nicht sehr gut wirksam. Optimierte Impfstoffe sind in der Zulassung. Bei Einsätzen in der südlichen Hemisphäre ist möglicherweise eine modifizierte Impfstoffzusammensetzung notwendig (lokale Impfstoffbeschaffung).

k) Kokzidioidomykose (Erreger: Coccidoides immitis, möglicher biologischer Kampfstoff) ist überwiegend in Trockengebieten Amerikas verbreitet und wird ganz überwiegend durch Inhalation von sporenhaltigem Staub übertragen. Es entwickelt sich eine eher schleichend verlaufende Lungenentzündung mit radiologisch darstell- baren Infiltraten, nachfolgend auch mit Aussaat auf andere Organe einschließlich der Haut mit Abszessen, Geschwüren und Fisteln, Tod häufig durch Hirnhautent- zündung (Meningitis). Der Pilz wird in Abstrichen, Aspiraten und Biopsien durch Kultur und PCR nachgewiesen. Die antimykotische Therapie wird mit Itraconazol, Ketoconazol, Amphotericin B oder Fluconazol durchgeführt.

l) Kryptokokkose (Erreger: Cryptococcus neoformans, möglicher biologischer Kampfstoff) kommt weltweit vor und wird durch Einatmen von kontaminiertem Staub übertragen. Der Verlauf ist eher schleichend und chronisch mit verschiedenen Symptomen je nach Organbefall: bevorzugt Lungen-, Gehirn- und Hirnhautent- zündung (Pneumonie, Enzephalitis, Meningitis). Der Erregernachweis ist möglich durch PCR oder Pilzkultur mit Hirnwasser (Liquor), Urin und Gewebeproben so- wie durch spezifischen Antigennachweis mit Serum. Therapeutisch kann Ampho- tericin B + Flucytosin + Fluconazol gegeben werden. Als Rückfallprophylaxe werden Fluconazol oder Itraconazol über Monate, bei Immundefekt auch lebens- lang gegeben.

m) Läuse-Rückfallfieber (Erreger: Borrelia recurrentis) ist dem Fleckfleber epide- miologisch und klinisch sehr ähnlich. Es handelt sich um eine typische Lager- und

60 2111 Bd.52 IH neu 16.06.2003 9:45 Uhr Seite 61

Gefängniskrankheit der gemäßigten Zonen von Entwicklungsländern. Die Erreger können einfach mikroskopisch im Blutausstrich nachgewiesen werden. Therapeu- tisch sind Doxycyclin, Tetracyclin, Penicillin und Erythromycin wirksam.

n) Legionellose (Erreger: Legionella pneumophila, möglicher biologischer Kampf- stoff) ist weltweit verbreitet. Primäres Reservoir ist das Süßwasser mit Idealtempera- turen zwischen 25 und 55°C, insbesondere mit Wasser benetzten Oberflächen, z.B. in Rohren, Armaturen und Klimaanlagen. Ein erhöhtes Infektionsrisiko besteht besonders bei älteren und schlecht gewarteten oder auch nur zeitweilig genutzten Warmwasserleitungen und -behältern. Die Bakterien werden überwiegend durch Einatmen von Spritzwasser, z.B. beim Duschen, in klimatisierten Räumen oder in Whirlpools übertragen. Die Krankheit beginnt akut oder schleichend mit grippe- artigen Symptomen, schwerem Krankheitsgefühl, Brustschmerzen und Husten, gelegentlich folgt Eintrübung oder Verwirrtheit. Typisch ist eine radiologisch nach- weisbare Lungenentzündung. Der leichte Verlauf ohne Lungenentzündung wird als Pontiac-Fieber bezeichnet. Kulturelle, immundiagnostische und molekularbiolo- gische Testsysteme für Urin-, Sputum- und Blutproben stehen zur Verfügung. Antibiotisch wird mit Erythromycin, Azithromycin, Clarithromycin oder Cipro- floxacin, bei schweren Fällen zusätzlich mit Rifampicin behandelt. Bei neu zu planenden Trinkwassererwärmungs- und Leitungsanlagen gilt zur Vermeidung von Legionellenkontaminationen die technische Regel DVGW W 551.

o) Malaria (Erreger: Plasmodium falciparum, Plasmodium vivax, Plasmodium ovale und Plasmodium malariae) ist weltweit in den Tropen und Subtropen ver- breitet und wird durch Stechmücken (Anopheles sp.) übertragen. Vier klinische Formen werden unterschieden: unkomplizierte Malaria tropica und komplizierte Malaria tropica durch Plasmodium falciparum, Malaria tertiana durch Plasmodium vivax oder Plasmodium ovale, Malaria quartana durch Plasmodium malariae. Die Malaria tropica verläuft am schwersten, Malaria tertiana und quartana verursachen gelegentlich rhythmische Fieberschübe (jeden 2. oder 3. Tag). Es besteht eine akute Erkrankung mit grippeartigen Symptomen, bei Teilimmunität (nur Bewohner ende- mischer Gebiete) ist auch ein schleichender Verlauf möglich. Bei Komplikationen entwickeln sich Kreislaufschock, Blutungsneigung, Eintrübung und Tod durch Multiorganversagen. Der Erregernachweis gelingt mikroskopisch mit Blutproben (Dicker Tropfen, Fluoreszenz-Mikrohämatokrit-Anreicherung, Erregerdifferen- zierung im fixierten Blutausstrich). Zur Therapie stehen Mefloquin, Atovaquon-Pro- guanil, Chinin, Doxycyclin, Clindamycin, Chloroquin sowie zusätzlich international erhältliche Präparate zur Verfügung, die kombiniert oder als Monotherapie einge- setzt werden. Chloroquin, Mefloquin, Atovaquon-Proguanil und Doxycyclin können auch prophylaktisch eingesetzt werden. Zur Rückfallprophylaxe der Malaria tertiana ist Primaquin geeignet. Impfstoffe sind in Erprobung.

p) Malleus, Rotz, (Erreger: Burkholderia mallei, möglicher biologischer Kampfstoff) ist weltweit in Einzelherden (gelegentlich im Zoo) verbreitet und wird über Schleimhäute und Hautläsionen nach engem Kontakt mit infizierten Pferden, Maultieren, Eseln und Mauleseln Tieren oder auch mit infizierten Menschen über- tragen. Es entwickelt sich eine akute Erkrankung mit Hautpusteln, schmerzhaften Lymphknotenschwellungen und Abszessbildungen in inneren Organen. Chroni-

61 2111 Bd.52 IH neu 16.06.2003 9:45 Uhr Seite 62

sche Verlaufsformen mit Rückfällen sind möglich. Der Bakteriennachweis wird kul- turell mit Blut, Wundabstrichen und Abszesspunktaten geführt. Therapeutisch wer- den Ceftazidim, Imipenem, Doxycyclin, Ciprofloxacin oder Gentamicin, auch als Kombination entsprechend Sensibilitätsprüfung, eingesetzt.

q) Melioidose (Erreger: Burkholderia pseudomallei, möglicher biologischer Kampf- stoff) ist innerhalb des 20. nördlichen und südlichen Breitengrades heimisch, haupt- sächlich in SO-Asien, und wird durch Kontakt (Wunden, Schleimhäute, Einatmen, Verschlucken) mit kontaminiertem Wasser oder Erdreich übertragen. In Einzel- fällen geht eine jahrelange Inkubationszeit voraus („Zeitbombenkrankheit“), ins- besondere bei erworbenen Immundefekten und Diabetes mellitus. Akute oder chronische Verläufe mit Lymphknotenschwellung, eitrigen Hautwunden, multiplen Abszessen und Lungenentzündung sind typisch. Der Erregernachweis gelingt durch Kultur aus Abszess-Aspirat, Wundabstrich, Sputum, Rachenabstrich und Blut. Therapeutisch werden Ceftazidim, Imipenem, Doxycyclin oder Ciprofloxacin, auch kombiniert entsprechend Sensibilitätsprüfung, eingesetzt.

r) Pocken (Erreger: Pockenvirus, variola virus, möglicher biologischer Kampfstoff) gelten als ausgerottet, es werden jedoch noch Laborstämme des Virus vorgehalten. Nach Übertragung von Mensch zu Mensch durch Tröpfcheninfektion entwickeln sich schwere Allgemeinsymptome mit bläschenförmigem Hautausschlag; die Haut- läsionen sind, im Gegensatz zu Windpocken, weitgehend im gleichen Entwicklungs- stadium: Papel, Bläschen, Pustel oder verschorftes Geschwür. Der Nachweis gelingt durch Virusanzucht mit Bläscheninhalt. Eine Differenzierung gegenüber Wind- pocken-Viren (Varizella-Zoster-Virus 1 = humanes Herpesvirus 3) durch EM ist möglich. Die Therapie ist symptomatisch. Die wirksamen Impfstoffe sind nicht mehr allgemein verfügbar. Die Krankheit ist quarantäne- und hospitalisationspflichtig.

s) Psittakose, Ornithose, Papageienkrankheit (Erreger: Chlamydophila psitta- ci, möglicher biologischer Kampfstoff) ist weltweit verbreitet und wird durch Einatmen erregerhaltigen Staubs übertragen, selten ist die direkte Übertragung von Mensch zu Mensch. Es entwickelt sich eine akute Erkrankung mit schwerem Krankheitsgefühl, Husten, Kopf- und Gliederschmerzen. Eine radiologisch nach- weisbare Lungenentzündung (atypische Pneumonie) ist üblich. Der Erregernachweis wird meistens indirekt über spezifische Serumantikörper geführt. Therapeutisch werden Doxycyclin, Tetracyclin, Erythromycin oder Ciprofloxacin gegeben.

t) Q-Fieber (Erreger: Coxiella burnetii, möglicher biologischer Kampfstoff) ist weltweit verbreitet und wird durch Einatmen von kontaminiertem Staub oder direkt durch Kontakt mit infizierten Nutztieren und deren Urin, Fruchtwasser, Milch oder Fleisch übertragen. Es entwickelt sich eine akute Erkrankung mit Husten, Kopf- und Muskelschmerzen. Typisch ist eine radiologisch nachweisbare Lungenent- zündung (atypische Pneumonie). Komplikationen bestehen in ZNS-Schäden (Enze- phalitis), Nierenschäden (Immunkomplexnephritis) und chronischen Verläufen mit Leber- (granulomatöse Hepatitis) oder Herzklappenentzündung (Endokarditis). Der Erregernachweis wird üblicherweise indirekt über spezifische Serumantikörper geführt. Therapeutisch wird Doxycyclin verabreicht, bei Endokarditis eine Lang- zeittherapie mit Doxycyclin + Rifampicin. Eine Impfung für besonders Ex-

62 2111 Bd.52 IH neu 16.06.2003 9:45 Uhr Seite 63

ponierte ist regional verfügbar. Eine postexpositionelle Chemoprophylaxe kann mit Doxycyclin oder Tetracyclin für 5 Tage ab dem 8. Tag nach der Exposition durchgeführt werden.

u) Rift Valley-Fieber (Erreger: Rift Valley-Fieber-Virus, virus, möglicher biologischer Kampfstoff) ist in Afrika heimisch. Menschliche Erkran- kungen entstehen meistens im Rahmen von Seuchen unter den Reservoirtieren (Wiederkäuer). Das Virus wird durch verschiedene Stechmückenarten oder konta- minierte Aerosole von infizierten Schlachttieren und Tierkadavern auf den Men- schen übertragen. Es entsteht eine akute grippeartige Erkrankung mit Kopf- und Muskelschmerzen, gelegentlich auch mit einer starken Leberentzündung (fulmi- nante Hepatitis). Mögliche Komplikationen ab der 2. Krankheitswoche sind ZNS- Schäden (Enzephalitis), Augenschäden (Retinitis) und Blutungsneigung. Der Er- reger kann aus Serum oder Gewebe kulturell oder molekularbiologisch (PCR) nachgewiesen werden, zudem gibt es spezifische Serumantikörper-Tests. Die Thera- pie ist symptomatisch. Die Effektivität von Ribavirin und Immunplasma sind in Erprobung. Nutztiere in Endemiegebieten können geimpft werden. Ein Human- impfstoff ist lokal für Epidemien verfügbar.

v) Rocky Mountain-Fleckfieber, Rocky Mountain spotted fever, RMSF, Zecken- typhus, Sao Paulo-Fieber (Erreger: Rickettsia rickettsii, möglicher biologischer Kampfstoff) ist nur in Amerika verbreitet und wird durch Zeckenstiche übertragen. Es entwickelt sich eine akute, schwere Krankheit mit grippeartigen Symptomen, Nervenschäden, Magen-Darmbeschwerden, kleinfleckigem Hautausschlag mit zentripetaler Ausbreitung, Schock- und Blutungsneigung. Gelegentlich sieht man eine persistierende Papel mit zentraler Nekrose (Eschar) an der Zeckenstichstelle. Der übliche Erregernachweis wird indirekt über spezifische Serumantikörper ge- führt. Therapeutisch werden Tetracyclin, Doxycyclin oder Chloramphenicol und zusätzlich Cortison bei Schwerstkranken gegeben.

w) Typhus abdominalis (Erreger: Salmonella typhi, möglicher biologischer Kampf- stoff) ist weltweit verbreitet, hauptsächlich in Entwicklungsländern, und wird fäkal- oral übertragen, meistens über Trinkwasser oder Nahrungsmittel, selten von Mensch zu Mensch. Es entwickelt sich eine schleichend beginnende, grippeartige und nach- folgend eine schwere Krankheit mit anhaltend hohem Fieber (Kontinua), verschie- dene Organkomplikationen einschließlich ZNS-Schäden, gelegentlich kleinen, wegdrückbaren, rötlichen Flecken auf der Bauchhaut (Roseolen). Ab der 4. Krank- heitswoche ist ein Darmdurchbruch möglich (Typhusperforation). In Einzelfällen werden Bakterien mit dem Stuhl für 10 Wochen oder länger nach überstandener Er- krankung ausgeschieden (Dauerausscheider). In der Fieberphase fehlen regelmäßig die eosinophilen Granulozyten im Blutbild (Aneosinophilie). Der Erregernachweis wird kulturell geführt, zunächst mit Blut, ab der 3. Krankheitswoche auch mit Stuhl oder Urin. Therapeutisch wird Ciprofloxacin gegeben. Reservemittel sind Co-tri- moxazol, Amoxicillin und Chloramphenicol. In jedem Fall soll die antibiotische Therapie entsprechend der Sensibilitätsprüfung optimiert werden. Impfstoffe sind weltweit verfügbar (oral und parenteral), jedoch noch nicht optimal wirksam.

63 2111 Bd.52 IH neu 16.06.2003 9:45 Uhr Seite 64

Durchfall

Diarrhö als Leitsymptom weist auf Darminfektionen hin, obwohl er auch Begleit- symptom zahlreicher anderer Erkrankungen sein kann. Die Erreger werden dabei überwiegend mit dem Stuhl ausgeschieden und verunreinigen bei mangelhafter Hygiene Nahrungsmittel und Trinkwasser, wo sie sich halten oder sogar noch ver- mehren können, um so weitere Personen zu infizieren (fäkal-orale Übertragung). Durchfallerreger entfalten ihre krankmachende Wirkung durch Giftstoffe (Toxine), die auf die Darmwand wirken, oder durch Eindringen in die Darmwand (lokale In- vasion), wodurch Entzündungen hervorgerufen werden. Zum Teil können sie auch Anschluss an die Blutbahn gewinnen und so komplizierende systemische Infek- tionen hervorrufen (systemische Invasion). Während sich bei der lokalen Darmin- toxikation keine labortechnischen Entzündungszeichen finden, ist die Invasion ne- ben Fieber durch entzündliche Veränderungen im Blutbild (z.B. Leukozytose) und im Serum (z.B. BSG- und CRP-Werte erhöht) gekennzeichnet. Die wesentliche the- rapeutische Maßnahme besteht im oralen, ggf. parenteralen Flüssigkeits-, Elektrolyt- und Azidoseausgleich (vgl. Anhang 4.). Eine zusätzliche antibiotische Behandlung ist bei bakteriellen Darminfektionen nur notwendig, wenn Komplikationszeichen beste- hen und für Patienten mit Immundefekt oder Sichelzellerkrankung. Parasitäre Darminfektionen sollen immer auch mit dem entsprechenden antiparasitär wirksa- men Medikament behandelt werden.

a) Campylobacter-Enteritis (Erreger: Campylobacter jejuni, Campylobacter coli, Campylobacter fetus) ist weltweit verbreitet und wird über Trinkwasser und Nah- rungsmittel, Kontakt mit infizierten Tieren und selten auch direkt von Mensch zu Mensch übertragen. Es entwickelt sich ein akuter, fieberhafter, wässriger, gelegentlich auch blutiger Durchfall mit grippeartigen Allgemeinsymptomen und Bauch- schmerzen. Monozytose und Splenomegalie sind häufige Befunde. Die seltenen Komplikationen bestehen in Lähmungen (Guillain-Barré-Syndrom), Herzklappen- (Endocarditis lenta), Gelenks- (infektiöse Arthritis), Venen- (Phlebitis) oder Hirnhaut- entzündung (Meningitis). Der Erregernachweis wird durch Stuhlkultur geführt, die Feintypisierung zur Sicherung von Infektketten durch PFGE, Flagellin-RFLP und AFLP. Die Therapie ist symptomatisch (vgl. Anhang 4.). Bei blutigem Durchfall und anhaltendem Fieber soll antibiotisch mit Erythromycin, Doxycyclin, Tetracyclin oder Ciprofloxacin behandelt werden, ggf. auch Umstellung nach Sensibilitätsprüfung.

b) Cholera (Erreger: Vibrio cholerae, möglicher biologischer Kampfstoff) ist ver- breitet in Entwicklungsländern Osteuropas, Asiens sowie Amerikas und wird fäkal- oral über Trinkwasser oder Nahrungsmittel, selten auch direkt von Mensch zu Mensch übertragen. Es entwickelt sich ein akuter, wässriger, typischerweise massiver Durchfall, nur selten mit Fieber oder anderen Invasionszeichen, hervorgerufen durch Bakterientoxine; nur der bekapselte Serotyp 0139 kann invasiv werden. Rasch entsteht eine insbesondere für Kinder lebensgefährliche Austrocknung (Exsikkose). Der Erregernachweis wird in der Stuhlkultur geführt. Die Therapie ist symptomatisch (vgl. Anhang 4.), bei schwerem Durchfall zusätzlich mit Doxycyclin (Erwachsene) oder Co-trimoxazol (Kinder). Die Cholera ist eine quarantäne- und hospitalisations- pflichtige Erkrankung. Die verfügbaren Impfstoffe sind nur eingeschränkt wirksam. Zu Beginn einer Epidemie in Lagern wird aber die Massenimpfung empfohlen.

64 2111 Bd.52 IH neu 16.06.2003 9:45 Uhr Seite 65

c) Giardiasis, Lambliasis (Erreger: Giardia lamblia) ist weltweit verbreitet, gehäuft in Regionen mit mangelhafter Hygiene, und wird fäkal-oral, meistens nahrungsver- mittelt, selten direkt von Mensch zu Mensch, übertragen. Epidemien kommen u.a. in Lagern, Kindergärten und Altenheimen vor. Es entsteht eine akute, chronische oder wiederkehrende wässrige Diarrhö mit Blähungen ohne Allgemeinsymptomatik. Der Nachweis gelingt mikroskopisch im Stuhl nach Anreicherung und durch spezifischen Antigen-Nachweis mit Stuhlüberstand. Die Therapie wird mit Tinidazol durchgeführt.

d) Rotavirus-Enteritis (Erreger: Rotavirus, rotavirus) ist weltweit verbreitet und wird fäkal-oral über Trinkwasser und Nahrungsmittel, seltener direkt von Mensch zu Mensch, übertragen. Es entwickelt sich ein akuter, wässriger Durchfall, über- wiegend bei Kindern. Komplikationen wie eine ZNS-Schädigung (Enzephalitis) sind selten. Die Diagnose wird durch Nachweis spezifischer Antigene im Stuhl- überstand geführt. Die Therapie ist symptomatisch (vgl. Anhang 4.). Die Impf- stoffentwicklung war noch nicht sehr erfolgreich.

e) Salmonellen-Enteritis (Erreger: Salmonella enteritidis und Salmonella typhi- murium) ist weltweit verbreitet und wird durch Verzehr von kontaminierten Speisen, z.B. rohen oder unzureichend gekochten Eiern, Rohmilch, Fleisch- und Geflügel- produkte, übertragen. Die fäkal-orale Übertragung von Mensch zu Mensch ist selten. Es entwickelt sich eine akute, meist fieberhafte Erkrankung mit wässrigem, selten blutigem Durchfall, Bauch- und Kopfschmerzen, Übelkeit und Erbrechen. Bei Invasion in die Blutbahn sind Komplikationen möglich: Abszesse in inneren Organen, Meningitis, Endokarditis, Pneumonie, Pyelonephritis, Cholezystitis und Osteomyelitis, der Erregernachweis wird durch Stuhlkultur geführt. Die Therapie ist symptomatisch (vgl. Anhang 4.). Bei Invasionszeichen, Immundefekt oder Sichel- zellerkrankung wird zusätzlich mit Ciprofloxacin, Ofloxacin, Co-trimoxazol oder Amoxicillin behandelt, ggf. Umsetzung nach Sensibilitätsprüfung. Die antibioti- sche Therapie verlängert die Erregerausscheidung.

f) Shigellose, Bakterienruhr (Erreger: Shigella boydii, Shigella dysenteriae, Shigella flexneri und Shigella sonnei, mögliche biologische Kampfstoffe, insbe- sondere auch die Bakterien-Toxine) ist weltweit verbreitet und wird durch fäkal- orale Schmierinfektion, meist über Lebensmittel, seltener direkt von Mensch zu Mensch, schon in einer niedrigen Infektionsdosis übertragen. Es entwickelt sich eine akute Erkrankung mit Durchfall (typischerweise blutig-schleimiger Stuhl) und Bauchkrämpfen, bei Kindem auch Krampfanfälle und Septikämie (Bakterien im Blut). Komplikationen durch ein hämolytisch-urämisches Syndrom (Blutauflösung und Nierenversagen) sind möglich. Die Erreger werden in der Stuhlkultur nachge- wiesen. Die Therapie ist symptomatisch (vgl. Anhang 4.), bei schwerer Krankheit auch antibiotisch, z.B. mit Ciprofloxacin.

g) Staphylokokken-Enteritis (Erreger: Staphylococcus aureus, die Bakterien- Toxine werden als mögliche biologische Kampfstoffe angesehen) ist weltweit verbreitet und wird durch Nahrungsmittel übertragen. Es entwickeln sich akuter wässriger Durchfall und gelegentliche Komplikationen mit Kreislaufschock und Blutungsneigung. Erreger und Toxine werden in den zuvor aufgenommenen Nah- rungsmitteln nachgewiesen. Die Therapie ist symptomatisch (vgl. Anhang 4.).

65 2111 Bd.52 IH neu 16.06.2003 9:45 Uhr Seite 66

h) Yersinien-Enteritis (Erreger: Yersinia enterocolitica) ist weltweit in gemäßigten Klimazonen verbreitet und wird durch Nahrungsmittel, besonders unzureichend erhitztes Schweinefleisch, Trinkwasser oder selten auch direkt von Mensch zu Mensch übertragen. Es entwickeln sich akuter wässriger Durchfall und Bauch- schmerzen. Typische, aber seltene Begleit- und Nachkrankheiten: rötliche, erhabene, großfleckige Hautausschläge (Erythema nodosum), Gelenksentzündung (reaktive Arthritis), Harnröhrenreizung (Urethritis), Augenentzündung (Iritis). Der Erreger- nachweis gelingt in der Stuhlkultur. Die Therapie ist symptomatisch (vgl. Anhang 4), bei schwerer Krankheit oder bekanntem Immundefekt auch antibiotisch mit Co- trimoxazol, Doxycyclin, Tetracyclin oder Ciprofloxacin.

Nervenschäden

Nervenschäden mit Fieber treten bei zahlreichen systemischen Infektionen auf. Ohne Fieber und andere Invasionszeichen sind sie häufig Ausdruck von Intoxika- tionen (Vergiftungen), wobei die Giftstoffe (Toxine) auch aus Infektionserregern stammen können. Bei Zeichen einer ZNS-Schädigung ist die diagnostische Punktion der Rückenmarkflüssigkeit (Liquor cerebrospinalis) bedeutsam. Ist der Liquor trübe und zellreich, so kann eine bakterielle Infektion unter Beteiligung der Hirnhäute (bakterielle Meningitis, z.B. durch Neisseria meningitidis) angenommen werden. Ist der Liquor eher klar und zellarm, so spricht der Befund bei Meningitis-Zeichen (z.B. Nackensteifigkeit) eher für eine Virusmeningitis. Bei ausschließlicher Schädigung des Gehirns (z.B. bei Enzephalitis) ist der Liquor immer klar und zellarm.

a) Botulismus (Erreger: Clostridium botulinum, die Bakterien-Toxine werden als mögliche biologische Kampfstoffe angesehen) ist weltweit verbreitet und wird durch Verzehr oder Inhalation von Toxinen, die unter anaeroben (sauerstoffarmen) Bedin- gungen gebildet werden können, meistens mit hausgemachten und nicht ausreichend erhitzten Konserven aufgenommen. Zu Beginn kommt es zu Magen-Darmbe- schwerden, nachfolgend treten verschwommenes Sehen, Doppelbilder, Lichtscheu, Schluckstörungen, trockener Mund und absteigende schlaffe Lähmungen auf. Fieber entwickelt sich nur bei komplizierenden Sekundärinfektionen. Die Erholungsphase ist verzögert, falls die Intoxikation überlebt wird. Die Sonderformen des infantilen und des Wundbotulismus kommen nicht epidemisch vor. Die Toxine werden in Serum-, Stuhl- oder Nahrungsmittelproben nachgewiesen. Die Therapie wird mit Antitoxin unter intensivmedizinischer Überwachung durchgeführt.

b) Frühsommer-Meningoenzephalitis, FSME, TBE, RSSE (Erreger: FSME-Virus, tick-borne encephalitis virus, möglicher biologischer Kampfstoff) ist verbreitet von Europa nach Osten bis Hokkaido, Japan, und wird übertragen durch Zecken (Holzbock, Ixodes ricinus), möglicherweise auch durch Milch von Nutztieren. Es entsteht eine akute, fieberhafte, gelegentlich biphasische Erkrankung: grippeartig in der 1. Woche, in 10 % 2. Phase in der 2. Krankheitswoche mit erneutem Fieberan- stieg (39°C), heftigen Kopf- und Gliederschmerzen mit starkem Krankheitsgefühl bei klinischer Meningitis oder Enzephalitis mit entsprechenden ZNS-Schäden, dabei zu 10 % bleibende Defekte mit Lähmungen und Gemütsleiden. Die Diagnose wird gestellt durch Nachweis spezifischer IgM- und IgG-Serumantikörper oder

66 2111 Bd.52 IH neu 16.06.2003 9:45 Uhr Seite 67

molekularbiologisch (PCR) mit Blut und Liquor. Die Therapie ist symptomatisch. Immunprophylaxe ist möglich durch eine aktive Schutzimpfung mit inaktiviertem Virus sowie postexpositionell mit FSME- Hyperimmunglobulin (bei Kindern unter 14 Jahren in Deutschland nicht zugelassen). Die Wirkung dieser Maßnahmen ist nicht wissenschaftlich gesichert.

c) Japanische Enzephalitis (Erreger: Japanische Enzephalitis-Virus, JE-Virus, Japanese encephalitis virus, möglicher biologischer Kampfstoff) ist nur in Asien verbreitet und wird durch Stechmücken (Culex sp.) übertragen. Es entwickelt sich eine akute, fieberhafte, grippeartige Erkrankung mit Hirnhaut- und Gehirn- schädigung (Meningoenzephalitis) unter Bevorzugung von Kindern und Alten. Zu etwa 80 % ist mit einer permanenten Nervenschädigung zu rechnen; Nachweis: spezifischer IgM- und IgG-Serumantikörper; spezifische PCR und Viruskultur vorzugsweise mit Liquor. Die Therapie ist symptomatisch. Die Schutzimpfung gilt als wirksam.

d) Meningokokken-Meningitis (Erreger: Neisseria meningitidis, sog. Meningo- kokken, mit 12 Serogruppen, z.B. A, C, Y, W135) ist weltweit verbreitet mit über- wiegenden Einzelerkrankungen. Natürliche Epidemien gibt es vorwiegend im Meningitis-Gürtel (Sahel-Zone) Afrikas und in den Megastädten der Entwicklungs- länder, dabei sind überwiegend Kinder und Jugendliche betroffen. Die Krankheit wird durch Tröpfcheninfektion von gesunden Bakterienträgern (Nasen-Rachenraum) übertragen. Es entwickelt sich eine akute, fieberhafte Erkrankung mit grippeartigen Symptomen, Schüttelfrost und Nackensteifigkeit (Meningismus) mit ZNS-Schäden (Meningitis). In Einzelfällen besteht eine komplizierende Sepsis mit Kreislauf- schock, Exanthem und Blutungsneigung bei raschem Multiorganversagen (Water- house-Friderichsen-Syndrom). Vor allem bei Kleinkindern können die klinischen Zeichen der Meningitis zunächst auf Erbrechen und Fieber beschränkt sein, bei Säuglingen kann die Fontanelle aufgetrieben sein. Der Liquor (Hirnwasser) ist trübe und zellreich, Bakterien sind darin nicht immer mikroskopisch sichtbar. Der Er- regernachweis gelingt durch kulturelle Anzucht oder molekularbiologisch (PCR) mit Liquor oder Blut. Schnelltests zum spezifischen Antigennachweis in Liquor, Serum und Urin sind verfügbar. Die Therapie ist antibiotisch mit Penicillin G, Cephalosporinen oder Chloramphenicol sowie nach Sensibilitätsprüfung und an- schließender Rifampicin-Nachbehandlung. Impfungen sind gegen Erreger der Sero- gruppen A, C, W135, Y möglich. Die Patienten sollen für 24 Stunden nach Beginn einer spezifischen Therapie abgesondert werden, zudem soll Schutzkleidung in der Krankenversorgung getragen werden. Eine postexpositionelle Chemoprophylaxe für Kontaktpersonen ist mit Rifampicin, Ceftriaxon oder Ciprofloxacin möglich.

e) Nipah-Virus-Enzephalitis (Erreger: Nipah-Virus) wurde erst kürzlich im Rah- men einer Epidemie in Malaysia entdeckt. Es entwickelt sich eine rasch zuneh- mende ZNS-Schädigung (Enzephalitis) mit hoher Letalität, aber geringer Defekt- heilungsrate. Das Virus wird wahrscheinlich von Schweinen auf den Menschen übertragen. Das Virus kann in Hirnwasser (Liquor), Sputum und Urin nachge- wiesen werden (Goh et al 2000). Die Therapie ist symptomatisch.

67 2111 Bd.52 IH neu 16.06.2003 9:45 Uhr Seite 68

f) Ostamerikanische Pferde-Enzephalitis, Eastern equine encephalitis, EEE (Erreger: Ostamerikanische Pferde-Enzephalitis-Virus, Eastern equine encephalitis virus, EEEV, möglicher biologischer Kampfstoff) ist verbreitet in Amerika, in der Karibik und in Südostasien, vornehmlich in Sumpfgebieten mit Pferdehaltung, und wird durch verschiedene Stechmückenarten übertragen. Menschen und Pferde sind Fehlwirte und erkranken typischerweise schwer. Es entwickelt sich eine akute, fieberhafte Erkrankung, häufig im Rahmen einer Epidemie unter Pferden, mit grippeartigen Symptomen, Bewusstseinstrübung, Krämpfen und einer hohen Rate an bleibenden zentralnervösen Defekten. Die Diagnose wird durch Nachweis spezi- fischer IgM- und IgG-Serumantikörper sowie durch Viruskultur mit Blut und Liquor gestellt. Die Therapie ist symptomatisch. Impfstoffe für Pferde und Men- schen sind lokal verfügbar.

g) Poliomyelitis (Erreger: Poliovirus 1-3, human poliovirus 1-3) ist verbreitet in Europa, Afrika und Asien mit rückläufiger Tendenz, die Ausrottung durch globale Impfkampagnen mit Lebendimpfstoff wird für möglich gehalten. Der Mensch ist der einzige natürliche Wirt, die Krankheit wird durch direkten Kontakt, zumeist als fäkale Schmierinfektion, übertragen. Es entsteht ein akutes, fieberhaftes Krankheits- bild mit Kopfschmerzen, Übelkeit und gelegentlicher Nackensteifigkeit. Die Krank- heit heilt entweder innerhalb von 2–3 Tagen aus (typisch für Kleinkinder), oder es entwickelt sich ein längerer Verlauf mit Bauchschmerzen, Durchfall, Muskel- schmerzen, Gefühlsstörungen und schließlich Lähmungen, auch Atemlähmung. Die Ausheilung wird innerhalb von Tagen bis zu 2 Jahren beobachtet. Der Nachweis des Virus gelingt durch Kultur mit Stuhl, Liquor und Rachenspülflüssigkeit oder indirekt mit Hilfe spezifischer IgM- und IgG-Serumantikörper. Die Therapie ist symptomatisch, ggf. unter intensivmedizinischer Behandlung (Beatmung). Die Impfung mit Totimpfstoff ist effektiv, bei Epidemien und zur globalen Ausrottung wird Lebendimpfstoff als Abriegelungsimpfung nach Anordnung der zuständigen Gesundheitsbehörde bevorzugt.

h) Venezuelanische Pferde-Enzephalitis, Venezuelan equine encephalitis,VEE (Erreger: Venezuelanische Pferde-Enzephalitis-Virus, Venezuelan equine encepha- litis virus, möglicher biologischer Kampfstoff) ist nur in Amerika verbreitet und wird durch verschiedene Stechmückenarten übertragen. Es entsteht eine akute, fieberhafte Erkrankung mit Muskelschmerzen, ZNS-Schäden (Enzephalitis) mit seltenen bleibenden Behinderungen. Der Nachweis wird durch Viruskultur mit Blut oder durch die Bestimmung spezifischer IgM- und IgG-Serumantikörper geführt. Die Therapie ist symptomatisch. Impfstoffe für Menschen, Pferde und Esel sind regional verfügbar.

i) Westamerikanische Pferde-Enzephalitis (Erreger: Westliche Pferd-Enzepha- litis-Virus, Western equine encephalitis virus, möglicher biologischer Kampfstoff) ist verbreitet nur in Amerika und wird durch verschiedene Stechmückenarten über- tragen. Es entwickelt sich eine akute, fieberhafte Erkrankung mit grippeartigen Symptomen. Schwere Verläufe mit ZNS-Schäden sind eher selten. Der Erreger- nachweis gelingt durch Viruskultur mit Blut oder mit Hilfe von spezifischen IgM- und IgG-Serumantikörpern. Die Therapie ist symptomatisch. Impfstoff für Tiere und Menschen ist regional verfügbar.

68 2111 Bd.52 IH neu 16.06.2003 9:45 Uhr Seite 69

Blutungsneigung

Die Blutungsneigung (hämorrhagische Diathese) ist ein Komplikationszeichen zahlreicher systemischer Infektionen und Intoxikationen. Häufige Ursachen sind Gefäßschäden und Gerinnungsstörungen. Bei Virusinfektionen und bei der Malaria stehen Schäden kleiner Gefäße (Kapillaren, Venolen), bei bakteriellen Infektionen auch Gerinnungsstörungen (intravasale Gerinnung, DIC) im Vordergrund. Die virus- bedingten systemischen Infektionen mit Blutungsneigung (virale hämorrhagische Fieber, VHF) sind quarantäne- und hospitalisationspflichtig.

a) Argentinisches hämorrhagisches Fieber (Erreger: Junin-Virus, Junin virus, möglicher biologischer Kampfstoff) ist nur in ländlichen Gebieten Argentiniens verbreitet und wird über Nahrungsmittel, Staub oder Direktkontakt mit infizierten Mäusen oder Patienten übertragen. Es entwickelt sich eine akute, fieberhafte Er- krankung mit Blutungsneigung, Nierenversagen und Nervenschäden. Eine mögliche Spätkomplikation ist eine etwa 5-tägige fieberhafte Enzephalitis 4–6 Wochen nach dem akuten fieberhaften Stadium. Der Erregernachweis soll möglichst im Speziallabor (Sicherheitsstufe 4) geführt werden. Therapeutisch ist lokal verfügbares Plasma von immunen Spendern in der 1. Krankheitswoche wirksam. Ribavirin scheint zusätzlich wirksam zu sein. Das Medikament kann auch prophylaktisch für Kontaktpersonen und in der Krankenversorgung eingesetzt werden.

b) Bolivianisches hämorrhagisches Fieber (Erreger: Machupo-Virus, Machupo Virus, möglicher biologischer Kampfstoff) ist im Nordosten Boliviens verbreitet. Der Mensch infiziert sich über kontaminierte Lebensmittel, virushaltiges Wasser und direkt durch Kontakt mit Nagern oder infektiösem Material über Hautläsionen und Schleimhäute, selten ist die Übertragung von Mensch zu Mensch. Es entwickelt sich eine akute grippeartige Erkrankung mit Kopf- und Gliederschmerzen. Blu- tungsneigung besteht in etwa 30 % der Fälle, Kreislaufschock und ZNS-Schäden (Enzephalitis) sind weitere Komplikationen. Der Erregernachweis soll möglichst im Speziallabor (Sicherheitsstufe 4) durch Virusanzucht (Blut), spezifische PCR und spezifische IgM- und IgG-Serumantikörper geführt werden. Die Therapie ist symptomatisch. Die Patienten sollen isoliert werden, und in der Krankenver- sorgung soll Schutzkleidung getragen werden.

c) Ebola-Fieber (Erreger: Ebola-Virus, Ebola virus, mit den Arten Reston, Sudan und Zaire (EBO-R, EBO-S, EBO-Z), mögliche biologische Kampfstoffe) ist verbreitet im tropischen Afrika. EBO-R hat nach Import über Meerkatzen aus den Philippinen zu menschlichen Infektionen, nicht aber zu Erkrankungen geführt. Die Infektion wird über Schleimhäute und Hautläsionen nach engem Kontakt mit Affen oder Patienten und deren Untersuchungsproben erworben. Krankenhausausbrüche (noso- komiale Epidemien) im Rahmen der Krankenversorgung und über kontaminierte Kanülen sind typisch. Es entwickelt sich eine akute, fieberhafte Erkrankung mit schwerer grippeartiger Symptomatik, Bauch und Brustschmerzen, Mundgeschwüren, verschiedenartigen Exanthemen und schon nach wenigen Tagen einsetzender allge- meiner Blutungsneigung, ZNS-Schäden. Die Letalität ist durchschnittlich 70 %. Der Erregernachweis durch Viruskultur und spezifische PCR aus Blut oder Leichen- gewebe soll nur im Speziallabor (Sicherheitsstufe 4) geführt werden. Die Therapie

69 2111 Bd.52 IH neu 16.06.2003 9:45 Uhr Seite 70

ist symptomatisch, ggf. intensivmedizinisch. Die Krankheit ist quarantäne- und hospitalisationspflichtig, strikte Absonderung der Patienten, Schutzkleidung und strikte Hygienemaßnahmen in der Krankenversorgung sind erforderlich.

d) Gelbfieber (Erreger: Gelbfieber-Virus, virus, möglicher biologischer Kampfstoff) ist im tropischen Afrika und tropischen Südamerika verbreitet und wird durch verschiedene tagaktive Stechmückenarten zwischen Menschen und verschie- denen Affenarten übertragen. Es entwickelt sich eine akute Erkrankung, typischer- weise biphasisch: in der 1. Woche grippeartig, in der 2. Woche Komplikationen mit Blutungsneigung, Kreislaufschock und Multiorganversagen, meistens keine Gelbsucht (Ikterus) in der akuten Phase, sondern erst in der Erholungsphase (Rekonvaleszenz) nach kompliziertem Verlauf. Die spezielle Diagnostik soll mög- lichst im Speziallabor (Sicherheitsstufe 3) durchgeführt werden. Die Therapie ist symptomatisch. Der verfügbare Lebendimpfstoff ist sehr gut wirksam und im inter- nationalen Reiseverkehr auf bestimmten Routen vorgeschrieben (WHO 2000).

e) Hämorrhagisches Dengue-Fieber, DHF (Erreger: Dengue-Virus 1-4, dengue virus 1-4, möglicher biologischer Kampfstoff, s. auch: Fieber, 4.) ist weltweit in den Tropen und Subtropen als komplizierter Verlauf des Dengue-Fiebers verbreitet. Die schweren Verläufe des DHF und des Dengue-Schocksyndroms (DSS) treten meistens gemeinsam auf und entstehen wahrscheinlich überwiegend nach mehrfachen Infek- tionen mit verschiedenen Dengue-Virus-Arten in bestimmter Reihenfolge, vorüber- gehend Exponierte sind kaum betroffen. Meist bei Säuglingen und Kindern ent- wickelt sich in der 2. Krankheitswoche ein schweres Krankheitsbild mit Blutungs- neigung, Kreislaufschock und Multiorganversagen. Der Nachweis gelingt mittels Viruskultur und spezifische PCR im Speziallabor (Sicherheitsstufe 3). Die Therapie ist symptomatisch und besteht insbesondere in der Schocktherapie durch Plasma- ersatz-lnfusionen. Impfstoffe sind in der Erprobung.

f) Hämorrhagisches Fieber mit renalem Syndrom, HFRS (Erreger: verschie- dene Arten, z.B. Hantaan-, Puumala-, Seoul-Virus, der Gattung Hantavirus, mög- liche biologische Kampfstoffe) ist weltweit verbreitet, das Hantavirus-Lungen- syndrom allerdings bisher nur in Amerika. Die Krankheit wird übertragen nach mittelbarem (z.B. über kontaminierte Nahrungsmittel) oder unmittelbarem Kontakt mit Reservoirtieren (Ratten und Mäuse), die das Virus mit dem Urin, Speichel und Fäkalien ausscheiden, eine direkte Übertragung von Mensch zu Mensch ist selten. Es entwickelt sich eine akute, fieberhafte Erkrankung mit grippeartigen Symptomen und Nierenfunktionsstörung, gelegentlich auch mit generalisierter Blutungsneigung, Kreislaufschock und Bewusstseinstrübung. Eine gefährliche Sonderform ist das Hantavirus-Lungensyndrom, HPS, mit schwerster Atemnot bei radiologisch nach- weisbarer Lungenentzündung und -blutung. Typisch ist in allen Fällen Eiweiß im Urin (Proteinurie) und eine gestörte Nierenfunktion (Kreatinin-Wert im Serum erhöht). Die Diagnose wird durch Nachweis spezifischer IgM- und IgG-Serumanti- körper sowie Viruskultur und PCR mit Blut im Speziallabor (Sicherheitsstufe 4) gestellt. Therapeutisch ist nur eine symptomatische, ggf. intensivmedizinische (Be- atmung, Dialyse) Behandlung verfügbar. Schutzkleidung in der Krankenversorgung wird insbesondere bei HPS empfohlen.

70 2111 Bd.52 IH neu 16.06.2003 9:45 Uhr Seite 71

g) Hämorrhagisches Krim-Kongo-Fieber (Erreger: hämorrhagisches Krim-Kongo- Fieber-Virus, Crimean-Congo hemorrhagic fever virus, möglicher biologischer Kampfstoff) ist in Osteuropa, Asien sowie in Afrika verbreitet und wird durch verschiedene Zeckenarten oder Kontakt mit Patientenproben übertragen. Es ent- steht ein akutes, fieberhaftes Krankheitsbild, zunächst grippeartig, dann vielfach mit Haut- und Schleimhautblutungen. Die Diagnose wird durch Nachweis spezifischer IgM- und IgG-Serumantikörper sowie durch Viruskultur und spezifische PCR mit Blut im Speziallabor (Sicherheitsstufe 4) gestellt. Die Therapie ist symptomatisch und virustatisch mit Ribavirin. In der Krankenversorgung soll Schutzkleidung ge- tragen werden. Eine postexpositionelle Ribavirin-Prophylaxe ist möglich.

h) Lassa-Fieber (Erreger: Lassa-Virus, Lassa virus, möglicher biologischer Kampf- stoff) ist verbreitet in West- und Zentralafrika. Reservoir ist die Vielzitzenratte Mastomys natalensis, die Virus mit dem Urin ausscheidet und Betten, Böden und Lebensmittelvorräte kontaminiert, wo sich der Mensch schleimhautvermittelt in- fiziert, eine direkte Übertragung von Mensch zu Mensch ist ebenfalls möglich. Es entwickelt sich eine akute Erkrankung mit grippeartigen Symptomen, Hals- und Brustschmerzen. Nur in der Minderheit der Fälle kommt es zu Blutungs- und Schockneigung sowie schließlich Multiorganversagen ab der 2. Krankheitswoche. Der indirekte Erregernachweis durch spezifische IgM- und IgG-Serumantikörper und die Virusanzucht und die spezifische PCR mit Blut soll möglichst im Spezial- labor (Sicherheitsstufe 4) durchgeführt werden. Die Therapie ist symptomatisch und virustatisch mit Ribavirin, das auch zur postexpositionellen Prophylaxe ein- gesetzt werden kann. Die Patienten sollen isoliert werden, in der Krankenversorgung soll Schutzkleidung getragen werden. Impfstoffe sind in der Entwicklung.

i) Marburg-Krankheit (Erreger: Marburg-Virus, , möglicher bio- logischer Kampfstoff) ist nur in Afrika verbreitet und wird über infizierte Affen übertragen, seltener von Mensch zu Mensch über Blut und Ejakulat. Es entwickelt sich eine akute, fieberhafte, grippeartige Erkrankung, nach Tagen tritt ein fleckiger Hautausschlag auf, in der 2. Krankheitswoche Blutungsneigung, Kreislaufschock und Multiorganversagen. Die spezielle Diagnostik mit Hilfe der Virusanzucht und der spezifischen PCR mit Blut soll nur im Speziallabor (Sicherheitsstufe 4) durchgeführt werden. Die Therapie ist symptomatisch. In der Krankenversorgung soll Schutzkleidung getragen werden.

j) Milzbrand, (Erreger: Bacillus anthracis, möglicher biologischer Kampfstoff, bildet umweltresistente Dauerformen, die Sporen) ist weltweit ver- breitet, vorzugsweise in wärmeren Klimazonen und Viehzuchtgegenden. Klinisch werden unterschieden:

– Hautmilzbrand: Infektion durch Kontakt mit kontaminierten tierischen Mate- rialien über kleine Hautverletzungen, rasch größer werdende Papel, die sich zu einem nicht schmerzhaften, mit schwärzlichem Schorf bedeckten Geschwür mit Umgebungsrötung entwickelt, Allgemeinsymptome mit Benommenheit, Kreislauf- und Herzrhythmusstörungen, komplizierende Erregeraussaat in die Blutbahn (Milzbrandsepsis)

71 2111 Bd.52 IH neu 16.06.2003 9:45 Uhr Seite 72

– Lungenmilzbrand: Inhalation von sporenhaltigem Staub oder Aerosolen (z.B. beim Schlachten), schwere, akute Lungenentzündung mit blutigem Auswurf

– Darmmilzbrand: orale Aufnahme der Sporen mit ungenügend gekochtem Fleisch oder Innereien von erkrankten Tieren, akuter Durchfall mit blutigem Stuhl und schweren Allgemeinsymptomen

Eine direkte Übertragung von Mensch zu Mensch ist möglich. Der Erregernachweis gelingt durch Kultur mit Sputum, Stuhl, Blut und Wundabstrichen. Die Therapie ist antibiotisch mit Ciprofloxacin, Doxycyclin, Penicillin, Erythromycin oder Chloram- phenicol sowie gezielt nach Sensibilitätsprüfung. Wirksame Impfstoffe sind gegen- wärtig nur für die USA-Streitkräfte verfügbar. Für den Epidemiefall wird die Kom- bination aus Impfung und Ciprofloxacin-Chemoprophylaxe favorisiert. Eine post- expositionelle Chemoprophylaxe ist möglich mit Doxycyclin oder Ciprofloxacin.

k) Pest (Erreger: Yersinia pestis, möglicher biologischer Kampfstoff) ist verbreitet in Asien, Afrika, Mittel- und Südamerika sowie im Südwesten der USA und wird vom Tierreservoir (Nagetiere, Katzen) durch Stich verschiedener Floharten, durch direk- ten Kontakt mit eröffneten Tierkadavern (z.B. beim Häuten und Ausweiden erlegter Murmeltiere) und durch Tröpfcheninfektion von Patienten mit Lungenpest auf den Menschen übertragen. Es können sich verschiedene Krankheitsbilder entwickeln:

– Beträchtliche, rasch zunehmende, schmerzhafte Lymphknotenschwellung mit Einschmelzungs- und Perforationsneigung in Abhängigkeit vom Flohstich (z.B. Leistenbeuge): Bubonenpest

– Bei Durchbruch der Bakterien in die Blutbahn akute Verschlimmerung mit Fieber, Schüttelfrost, Eintrübung, Kopf- und Gliederschmerzen: septikämische Pest

– Absiedelung der Bakterien in der Lunge bei septikämischer Pest oder Primär- befall der Lunge durch Tröpfcheninfektion mit Atemnot und blutigem Auswurf: Lungenpest

Der Nachweis des Erregers gelingt aus dem Blut, dem Buboneneiter oder dem Sputum mittels Mikroskopie (durch bipolare Färbung der Stäbchenbakterien mit Methylenblau, Aussehen wie eine geschlossene Sicherheitsnadel) und Kultur (mög- lichst im Speziallabor, Sicherheitsstufe 3) oder indirekt durch Nachweis spezifi- scher IgM- und IgG-Serumantikörper. Antibiotisch wird Ciprofloxacin, Tetracyclin, Gentamicin, Streptomycin oder Chloramphenicol, ggf. nach Sensibilitätsprüfung, gegeben. Die Pest ist in Europa seit über 650 Jahren quarantäne- und hospitalisa- tionspflichtig. Eine postexpositionelle Prophylaxe ist mit Ciprofloxacin oder Doxy- cyclin möglich. In der Krankenversorgung soll Schutzkleidung getragen werden. Verbesserte Impfstoffe sind in der Entwicklung.

l) Tularämie, Hasenpest (Erreger: Francisella tularensis, möglicher biologischer Kampfstoff), ist herdförmig verbreitet in der nördlichen Hemisphäre und wird durch Haut- oder Schleimhautkontakt mit infektiösem Tiermaterial, Verzehr von nicht ausreichend erhitztem, kontaminiertem Hasenfleisch (Hasen), durch verschiedene

72 2111 Bd.52 IH neu 16.06.2003 9:45 Uhr Seite 73

Stechmücken- und Zeckenarten, Aufnahme mit kontaminiertem Wasser oder Staub übertragen. Es entsteht eine akute, fieberhafte Erkrankung mit Kopf- und Glieder- schmerzen sowie schmerzlosem Geschwür an der Eintrittspforte und schmerzhafter regionaler Lymphknotenschwellung mit Einschmelzungstendenz: ulzeroglanduläre Form. Bei Durchbruch der Bakterien in die Blutbahn entwickelt sich die septikä- mische Tularämie unter Verschlimmerung des Allgemeinzustandes, Organmani- festation mit häufigem Lungenbefall: Sekundärstadium. Sonderformen sind die primäre Lungenentzündung nach Einatmen der Bakterien sowie Rachengeschwüre und Magen-Darmbeschwerden nach Verzehr. Der Erregernachweis wird durch Kultur der Bakterien aus peripherem Blut, Abstrichen und Biopsien möglichst im Speziallabor (Sicherheitsstufe 3) geführt. Antibiotisch wird mit Streptomycin (Resistenzen bekannt), Gentamicin, Tobramycin, Doxycyclin oder Chloramphenicol behandelt. Postexpositionell und in der Krankenversorgung kann prophylaktisch Ciprofloxacin und Doxycyclin eingenommen werden.

Maßnahmen zur Aufklärung einer Epidemie Bei epidemieverdächtigen Krankheitshäufungen soll schnellstmöglich kompetente Hilfe gesucht und die zuständige Gesundheitsbehörde informiert werden. Schon vor Eintreffen der Experten kann versucht werden, Hinweise auf den Übertra- gungsmodus und die Art des zeitlichen Zugangs der Kranken (z.B. explosiv) zu sammeln. Hierbei wird gezielt nach epidemiologischen Gemeinsamkeiten der Patienten gefragt:

– gemeinsame Trinkwasser- und Lebensmittelversorgung – gemeinsame raumlufttechnische Anlagen oder Exposition gegenüber Aerosolen – vorangegangene Kontakte unter den Erkrankten – Häufung der Fälle im Krankenhaus – gemeinsame Exposition gegenüber Blutsaugern (z.B. Mücken, Zecken, Läuse, Flöhe) – gemeinsame Exposition gegenüber bestimmten Wild- und Nutztieren oder deren Kadaver

Durch die bekannten Verbreitungsgebiete der Infektionserreger kann die Differen- zialdiagnose weiter eingeengt werden, allerdings nicht bei terroristischen, krimi- nellen oder militärischen Anschlägen mit B-Kampfmitteln.

Verbreitung von Epidemien

1. Wasser und Nahrungsmittel als Infektionsquelle

Diese Infektionen kommen insbesondere bei einer gemeinsamen Trinkwasserver- sorgung und Gemeinschaftsküchen infrage, im Einzelnen:

73 2111 Bd.52 IH neu 16.06.2003 9:45 Uhr Seite 74

– Argentinisches hämorrhagisches Fieber – Bolivianisches hämorrhagisches Fieber – Botulismus – Brucellose – Campylobacter-Enteritis – Cholera – Darmmilzbrand – FSME (fraglich) – Giardiasis – Hepatitis A – Hepatitis E – HFRS – Lassa-Fieber – Melioidose – Poliomyelitis – Rotavirus-Enteritis – Salmonellen-Enteritis – Shigellose – Staphylokokken-Enteritis – Tularämie – Typhus abdominalis – Yersinien-Enteritis

2. Aerogene Infektionen

Auf dem Luftwege vermittelte (aerogene) Infektionen können vermutet werden, wenn Epidemien im Rahmen von Menschenansammlungen auf engem Raum auftreten wie bei:

– Affenpocken – Diphtherie – Influenza – Lungenpest – Meningokokken-Meningitis – Pocken – Tularämie

Aerogen vermittelte Epidemien werden zudem beobachtet nach Exposition gegen- über kontaminiertem Staub und Spritzwasser sowie kontaminierten Tieren, deren Kadaver und Produkte, im Einzelnen:

– Argentinisches hämorrhagisches Fieber – Bolivianisches hämorrhagisches Fieber – Ebola-Fieber – Histoplasmose – Kokzidioidomykose – Kryptokokkose

74 2111 Bd.52 IH neu 16.06.2003 9:45 Uhr Seite 75

– Legionellose – Malleus – Melioidose – Nipah-Virus-Enzephalitis – Psittakose – Q-Fieber – Rift Valley-Fieber

3. Infektionen durch Körperflüssigkeiten

Diese Infektionen sind typisch für sexuell und durch verunreinigte Kanülen oder Blutprodukte übertragbare Krankheiten (z.B. Aids, Hepatitis B und C). Sie verursa- chen allerdings überwiegend schleichend beginnende und anhaltende Epidemien chronischer Krankheiten und sind daher nicht Gegenstand der Katastrophenmedizin. Unter ungünstigen hygienischen Bedingungen entstehen aber durchaus Epidemien, die sich rasch ausbreiten können, wobei die verantwortlichen Erreger nicht unbe- dingt sehr infektiös sein müssen. Hierbei können sich Krankenhäuser im Rahmen der klinischen und labortechnischen Krankenversorgung wesentlich beteiligen (nosokomiale Epidemien). Im Einzelnen werden folgende seuchenfähige Erkran- kungen durch Blut, Urin, Speichel und Intimkontakt übertragen:

– Affenpocken – Argentinisches hämorrhagisches Fieber – Bolivianisches hämorrhagisches Fieber – Diphtherie – Ebola-Fieber – Hämorrhagisches Krim-Kongo-Fieber – HFRS – Influenza – Lassa-Fieber – Marburg-Krankheit – Meningokokken-Meningitis – Milzbrand – Pest – Pocken – Psittakose – Typhus abdominalis

4. Vektorvermittelte Infektionen

Wesentliche Vektoren epidemiefähiger Infektionen sind Stechmücken, Zecken, Läuse und Flöhe. Stechmücken-assoziierte Epidemien entstehen nicht selten saiso- nal (z.B. nach einer Regenzeit) im Rahmen von Bevölkerungswanderungen und bei Biotop-Veränderungen (Anlegen neuer Brutplätze wie Stauseen), im Einzelnen:

75 2111 Bd.52 IH neu 16.06.2003 9:45 Uhr Seite 76

– Chikungunya – Dengue – Gelbfieber – Japanische Enzephalitis – Malaria – Ostamerikanische Pferde-Enzephalitis – Rift Valley-Fieber – Tularämie – Venezuelanische Pferde-Enzephalitis – Westamerikanische Pferde-Enzephalitis

Infizierte Zecken werden z.B. bei Viehauftrieben eingeschleppt oder treten zu- sammen mit ihren Nutz- und Wildtierwirten gehäuft auf, um Epidemien mit Rocky Mountain-Fleck-Fieber, FSME, hämorrhagisches Krim-Kongo-Fieber und Tularämie zu verursachen. Läuse lieben das häusliche Milieu mit Menschen in engen Wohn- verhältnissen (Lager, Gefängnis) und verursachen Epidemien mit Fleckfieber und Läuse-Rückfallfieber. Flöhe, schließlich, übertragen die Pest, die sich epidemieartig allerdings im Wesentlichen durch Tröpfcheninfektion als Lungenpest verbreitet.

Maßnahmen zur Seuchenbekämpfung

1. Allgemeine Maßnahmen

Für den Epidemiefall wird empfohlen, möglichst umgehend ein Seuchenbekämp- fungsgremium zu bilden, bestehend aus politischen und medizinischen Entschei- dungsträgern, die alle notwendigen Maßnahmen bestimmen, koordinieren, verant- worten und bekanntgeben:

– Panikbekämpfung mit Hilfe der Pressemedien – Anwerbung von Experten zur Aufklärung und Bekämpfung der Epidemie – Meldung nach BSeuchG (IfSG) und BKV – Festlegen oder Bereitstellen von Behandlungs- und Diagnostikeinrichtungen inklusive zusätzlicher Mittel und Kräfte – Permanente Kommunikation mit klinischen und diagnostischen Kompetenzzentren – Bereitstellung von Isolationseinheiten – Bereitstellung von Schutzkleidung – Aufstellung eines Hygieneplans – Festlegung von Versorgungsprioritäten (Triage) – Festlegung der Absonderungsmaßnahmen für Patienten und Kontakte – Festlegung der gezielten Maßnahmen zum allgemeinen Gesundheitsschutz nach Aufklärung der Epidemie

Bei direkt übertragbaren Erkrankungen hoher Infektiosität oder Letalität sollen im Patienten-, Leichen- und Laborprobenkontakt neben Einweg-Schutzhandschuhen und

76 2111 Bd.52 IH neu 16.06.2003 9:45 Uhr Seite 77

-Schutzkleidung auch Partikelschutz-Gesichts-Vollmasken mit HEPA-Filtern (z.B. Bilsom MX, Anhang 2.) getragen werden. Der Hygieneplan umfasst die Verfügbarkeit und Anwendung geeigneter Desinfektionsmittel nach möglicher Kontamination (Anhang 3.) unter sorgfältiger Trennung von Trink- und Abwasser einschließlich der Fäkalien. Für den Transport Hochinfektiöser stehen spezielle Isolatoren (z.B. ATI, Roberts, Anhang 2.) zur Verfügung. Mobile Isolierstationen (MIS, Dornier, Anhang 2.) sind in der Planung. Werden Großtransporte erforderlich, so soll baldmöglichst die zi- vilmilitärische Zusammenarbeit gesucht werden. Bei trinkwasservermittelten Infektio- nen sind rasch Alternativen zu installieren. Hier kann das THW (Anhang 2.) mit einer spezialisierten Einheit (SEEWA) in der Instandsetzung bestehender Systeme und mit mobilen Trinkwasseraufbereitungsanlagen helfen, die im Einzelfall auch kommerziell beschafft werden können (z.B. Kyll, Bergisch Gladbach, Anhang 2.).

2. Sanitäre Versorgung in Flüchtlingslagern

Die wahllose Ansammlung von menschlichen und anderen Abfallprodukten in Lagern stellt eine Bedrohung für die Gesundheit Einzelner und der Gemeinschaft dar. Von besonderer Wichtigkeit hierbei ist es, für sauberes Wasser und eine fach- gerechte Entsorgung der menschlichen Ausscheidungen, des Abwassers, sowie des Mülls zu sorgen. Insbesondere die kulturellen Gewohnheiten der entwurzelten Menschen sowie die örtlichen Gegebenheiten wie Geologie, Niederschlag, Wasser- verfügbarkeit und die Ableitungsmöglichkeiten des Abwassers sollten hierbei be- rücksichtigt werden, im Einzelnen:

– Art der Analhygiene – Bedürfnis nach Privatsphäre – Bevorzugte Position (sitzend oder hockend) – Trennung der Geschlechter oder anderer Gruppen, für die es unmöglich ist, eine gemeinsame Latrine zu benutzen – Kulturelle Tabus – Kulturelle Gewohnheiten bei Kindern, Latrinen müssen kindersicher sein – Nutzbarkeit in der Nacht, Beleuchtung – Distanz zu den Unterkünften: sind Latrinen zu weit entfernt, werden sie nicht genutzt – Überfüllte, zu nah an den Unterkünften gelegene Latrinen bergen wiederum gesundheitliche Gefahren – Die Entsorgung der Exkremente muss gewährleisten, dass der Wasservorrat nicht kontaminiert wird, um der Ausbreitung von Infektionen vorzubeugen.

Es ist notwendig, durch Öffentlichkeitsarbeit die Betroffenen zur Benutzung der Latrinen zu ermutigen und auf die Zusammenhänge zwischen der Entsorgung von Exkrementen und der Ausbreitung von Krankheiten hinzuweisen. Über- gangsweise können Grabenlatrinen verwendet werden, die später durch individu- elle Familienlatrinen ersetzt werden sollten.

77 2111 Bd.52 IH neu 16.06.2003 9:45 Uhr Seite 78

Latrinenarten

Es stehen vielfältige Arten von Latrinen zur Verfügung, hierbei sind solche, die einfach zu konstruieren, kostengünstig und in der Wartung leicht zu handhaben sind, von zentraler Bedeutung. Prinzipiell sind trockene von feuchten Latrinen- systemen zu unterscheiden.

Bei den Trockensystemen ist es wichtig, das Bohrloch so klein wie möglich zu halten und einen dicht sitzenden Deckel zu verwenden. Zu diesem System gehört die sehr kostengünstige flache Grabenlatrine, die allerdings nur wenige Tage be- nutzbar ist, und die tiefe Grabenlatrine, die mehrere Monate genutzt werden kann. Die Fallgrubenlatrine ist die am häufigsten verwendete Latrine. Hier können bis zu 300 Personen pro Hektar ihre Notdurft verrichten. Bohrlochlatrinen sind mit sieben Metern wesentlich tiefer als Fallgruben, doch bergen sie damit auch die Gefahr der Grundwasserkontamination. Weiterhin gibt es die kompostierende Latrine, die allerdings von der Anwendung her wesentlich aufwendiger ist.

Die Feuchtsysteme umfassen das Wasser-Plomben-System, das zwar kostengünstig ist, allerdings einen permanenten Wasservorrat zur Spülung (1–3 Liter) voraussetzt. Wasserklosetts, die wesentlich kostenintensiver sind, setzen einen Wassertank mit 1 m3 und weitere 5 Liter Wasser pro Person und Tag zur Spülung voraus. Die Oxfam Sanitation Unit ist die teuerste Form der Entsorgung, sie dient bis zu 1000 Personen pro Tag, wofür mit einem Wasserverbrauch von 3000 l/d gerechnet werden muss.

Abwasser, Müll und Staub

Um Seuchen zu vermeiden, sollte das Abwasser an bestimmten, vom Lager weit entfernten Stellen gesammelt und drainiert werden. Eine weitere Gefahr hinsichtlich der Ausbreitung krankheitsübertragender Insekten und Nager stellt die unkontrol- lierte Entsorgung von Müll dar. Dieser sollte an speziell ausgeschilderten Stellen gesammelt und der Zutritt hierzu ausdrücklich verboten werden. Speziell der Ent- sorgung medizinischer Abfälle muß besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden. Des Weiteren ist die gesundheitsgefährdende Wirkung großer Mengen Staub zu bedenken, die zu Irritationen der Augen, Atemwege und der Haut führen. Die besten Präventivmaßnahmen sind die Erhaltung der natürlichen Vegetation, das Befeuchten von Straßen, sowie eine kontrollierte Verkehrsführung.

Bekämpfung von Insekten und Nagetieren

Insekten und Nagetiere übertragen und verbreiten Krankheiten und können Nah- rungsmittelvorräte verunreinigen. Daher ist einerseits auf eine ausreichende Hy- giene, sowie das Bedecken von Körper und Nahrungsmitteln zu achten, andererseits sind auch präventive Maßnahmen zur Limitierung und Eliminierung insbesondere der Brutplätze der Vektoren von Bedeutung. Werden Arthropoden als Mitverur- sacher einer Epidemie vermutet, so ist für die Bekämpfung der Rat von Spezia- listen (Entomologen, Umweltbundesamt, Anhang 2.) einzuholen.

78 2111 Bd.52 IH neu 16.06.2003 9:45 Uhr Seite 79

3. Impfungen

Impfkampagnen sind eher zu Beginn als gegen Ende einer Epidemie sinnvoll. In Deutschland zugelassen sind Impfstoffe gegen

– Cholera – Diphtherie – FSME – Gelbfieber – Hepatitis A – Influenza – Meningokokken-Meningitis – Poliomyelitis – Typhus abdominalis

International verfügbar sind Impfstoffe gegen die

– Japanische Enzephalitis

Nur regional verfügbar sind Impfstoffe gegen

– Affenpocken – Brucellose – Fleckfieber – Milzbrand – Pocken – Q-Fieber – Rift Valley-Fieber – Venezuelanische Pferde-Enzephalitis – Westamerikanische Pferde-Enzephalitis.

Bei Bedarf sind RKI, CDC oder WHO zu kontaktieren (Anhang 2.).

4. Chemoprophylaxe

Die Chemoprophylaxe mit Arzneimitteln ist geeignet zur vorbeugenden Krank- heitsbekämpfung in Einzelfällen bei oder nach besonderer Exposition gegenüber Infektionserregern sowie auch zur Sanierung gesunder Keimträger. Im Einzelnen sind folgende Medikamente anwendbar:

Medikamente Krankheiten

Amantadin Influenza A

Ceftriaxon Lungenpest

79 2111 Bd.52 IH neu 16.06.2003 9:45 Uhr Seite 80

Chloramphenicol Pest-Meningitis Milzbrand-Meningitis Typhus abdominalis

Chloroquin Malaria Chloroquin + Proguanil Mefloquin

Ciprofloxacin Fleckfieber Meningokokken-Meningitis Milzbrand Pest Tularämie

Doxycyclin Malaria Fleckfieber Q-Fieber Pest Tularämie Cholera

Doxycyclin + Rifampicin Brucellose Doxycyclin + Streptomycin

Erythromycin Diphtherie

Itraconazol Histoplasmose

Penicillin Diphtherie

Ribavirin Argentinisches hämorrhagisches Fieber Hämorrhagisches Krim-Kongo-Fieber Lassa-Fieber

Rifampicin Meningokokken-Meningitis

Streptomycin Lungenpest

Tetracyclin Q-Fieber Tularämie

Rechtsgrundlagen der Seuchenbekämpfung

In den meisten Ländern können Grundrechte im Rahmen der Seuchenbekämpfung eingeschränkt werden, in Deutschland auf der Grundlage des BSeuchG (zukünftig: IfSG). Die Maßnahmen umfassen im Wesentlichen die Isolierung von Patienten und Kontaktpersonen sowie Impfungen, nicht aber die zwangsweise Therapie. Auf der Grundlage der International Health Regulations können permanente oder vorüberge- hende immun- und chemoprophylaktische Maßnahmen im internationalen Reisever- kehr angeordnet werden (WHO 2000). Für Ärzte und Rettungshelfer kann im Katas- trophenfall eine verminderte Haftbarkeit oder Haftung ohne Verschulden angenommen werden, wenn durch Versorgungsprioritäten (Triage) einzelne Opfer minderversorgt werden müssen. Jedenfalls hat der Weltärztebund (1994) die Mitgliedsstaaten und Versicherungsgesellschaften dazu aufgerufen, eine solche Regelung vorzusehen.

80 2111 Bd.52 IH neu 16.06.2003 9:45 Uhr Seite 81

Ethik der Seuchenbekämpfung

Seuchen und andere Katastrophen können ein akutes und unvorhergesehenes Ungleichgewicht zwischen der medizinischen Kapazität und den Bedürfnissen der Opfer und Gefährdeten verursachen. Hierdurch entstehen ethische Konflikte durch Ver teilungsentscheidungen, wenn bestimmte Untergruppen von Betroffenen be- wusst unterversorgt werden. Ein mögliches Beispiel wäre die Vernachlässigung einzelner Schwerstkranker zugunsten eines Impfprogramms. Solche Verteilungs- entscheidungen sind dem ärztlichen Ethos wesensfremd. Die ärztliche Berufsord- nung, das Genfer Gelöbnis, der Hippokratische Eid, der Nürnberger Codex und die Deklaration von Helsinki enthalten jedenfalls keine Maßstäbe, an denen die Ver teilungsentscheidungen auszurichten wären. Aus standesethischer Sicht sind nur bestimmte unverhandelbare Rechte des Patienten unstrittig, wie der Anspruch auf Hilfe ungeachtet der ethnischen, nationalen, politischen oder konfessionellen Zugehörigkeit sowie das Verbot der aktiven Sterbehilfe (Euthanasie). Der Gesetz- geber löst den ärztlichen Interessenkonflikt in der Seuchengesetzgebung nur zum Teil, indem er z.B. das Recht zur Absonderung und Therapie gegen den Willen des Patienten einräumt. Die o.g. Verteilungsentscheidungen sind gesetzlich aller- dings nicht geregelt. Es wird daher empfohlen, nach der „Erklärung des Welt- ärztebundes zur ärztlichen Ethik im Katastrophenfall“ (Weltärztebund 1994) zu verfahren. Hiernach sollte der Arzt versuchen, eine Reihenfolge der Prioritäten für die Behandlung (Triage) aufzustellen, welche „die Rettung der größtmöglichen Zahl von Schwerverletzten, die eine Chance zu genesen haben, und die Begrenzung der Morbidität auf ein Minimum ermöglicht bei Hinnahme der umständebedingten Grenzen“. Die Triage sollte einem bevollmächtigten Arzt übertragen werden, dem kompetente Mitarbeiter zur Seite stehen. Der bevollmächtigte Arzt wäre sinnvoller- weise von einem Gremium eingesetzt, das aus Delegierten der öffentlichen und privaten Seuchenbekämpfer besteht.

Medizinischer Schutz vor biologischen Kampfmitteln (Med B-Schutz) Med B-Schutz wird in Deutschland gegenwärtig nur von der BW bearbeitet, bei Verdacht auf Einsatz von biologischen Kampfmitteln wird daher die Konsultation der Sanitätsakademie der BW München empfohlen (Anhang 2.).

1. Aufgaben des Med B-Schutzes:

– Aufklärung von ungewöhnlichen Krankheitsausbrüchen bei Verdacht auf B-Kampfmittel-Einwirkung – Nachweis von B-Kampfstoffen (Med B-Aufklärung) und Spezialdiagnostik von Folgen einer B-Exposition (Infektion, Krankheit, Tod) in Kooperation mit Referenz-, Konsiliar- oder Expertenlaboratorien (Anhang 1.). – Absonderung (d.h. Quarantäne oder medizinische Beobachtung) und ggf. not- fallmedizinische Versorgung von B-Exponierten (Kranke und Verwundete) und Kontakten

81 2111 Bd.52 IH neu 16.06.2003 9:45 Uhr Seite 82

– Bergung und Registrierung von B-Exponierten (Krankheitsverdächtige und Verwundete) – Einstufung der krankheitsverdächtigen B-Exponierten nach Prioritäten für die nachfolgende Dekontamination (selbständig, liegend assistiert), notfallmedizi- nische Behandlung und Evakuierung (liegend, beatmet, sitzend) – Dekontamination (sofortiges Duschen der Körperoberfläche mit Seifenlösung und Warmwasser, Desinfektion der Kleidung und persönlichen Gegenstände) – Durchführung postexpositioneller chemo- und immunprophylaktischer Maßnahmen – Evakuierung der krankheitsverdächtigen B-Exponierten unter Bereitstellung geeigneter Transportmittel und Schutzkleidung zu ausgewiesenen Behand- lungszentren mit Isolierstation (= Isolierung) – Abschließende Dekontamination der Kontaminationszone, der Dekontaminations- plätze für Exponierte und Material, der Isolierbereiche für B-Exponierte und der Transportmittel

Der Transport von B-Verwundeten in eine klinische Einrichtung sollte innerhalb von 6 Stunden abgeschlossen sein. Für den Transportmodus und die Einstufung der Dringlichkeit werden die Anzahl der Verwundeten, der klinische Zustand, die Prognose sowie das Ansteckungsrisiko berücksichtigt. Solange der B-Kampfstoff nicht identifiziert ist, sollten Krankheitsverdächtige und Kranke in gesonderten Transportmitteln evakuiert werden.

2. B-Kampfmittel

B-Kampfstoff und Einsatzmittel bilden die B-Kampfmittel. B-Kampfstoffe sind natürlich vorkommende oder veränderte Viren, Bakterien, Pilze und Gifte biolo- gischen Ursprungs, die mit dem Ziel eingesetzt werden, Tod oder Krankheit bei Menschen, Tieren oder Pflanzen zu verursachen. Sie werden als Flüssigkeit (Sus- pension) oder Trockensubstanz (Lyophilisat, Spezialrezepturen) ausgebracht. Ein- satzmittel dienen der Verbreitung von B-Kampfstoffen: Raketen, Bomben, Gra- naten, Absprühvorrichtungen, Aerosolgeneratoren, Trinkwasserversorgungssysteme, Vektoren (z.B. Flöhe). B-Kampfmittel werden von Streitkräften, Terroristen, Krimi- nellen und Geisteskranken eingesetzt.

3. Wirkungen von B-Kampfstoffen

B-Kampfstoffe ähneln in ihrer Wirkung denen bei vergleichbarer natürlicher Ex- position (Mimikry-Potential), wodurch verdeckte Einsätze begünstigt werden; Modellrechnung einer WHO-Expertenkommission: nach einem Aerosolangriff mit 50 kg Milzbrandsporen von einem Flugzeug aus in einer Großstadt mit 500.000 ungeschützten Einwohnem wären 95.000 Tote und 125.000 Erkrankte an Lungen- milzbrand zu erwarten. Mit Hilfe der unterschiedlichen Kampfstoffeigenschaften können Personen vorzugsweise getötet oder geschädigt oder auch als Infektions- quelle für Sekundärepidemien benutzt werden.

82 2111 Bd.52 IH neu 16.06.2003 9:45 Uhr Seite 83

Anhang

1. Referenz- und Konsiliarlaboratorien Das RKI hat für Deutschland Laboratorien benannt, die den Nachweis der aufge- führten Erreger als Dienstaufgabe wahrnehmen und bevorzugt berücksichtigt werden sollen. Vom Ausland aus kann neben dem RKI auch die WHO und das CDC konsultiert werden.

Bakterielle Infektionen

Campylobacter-Enteritis Prof. Dr. M. Kist, Dr. B. Steinbrückner Institut für Medizinische Mikrobiologie und Hygiene Klinikum der Universität Freiburg Hermann-Herder-Str. 11 79104 Freiburg Tel. 07 61/2 03 65 90/65 10 Fax 07 61/2 036562

Psittakose Prof. Dr. Eberhard Straube, Frau Dr. A. Groh Institut für Medizinische Mikrobiologie am Klinikum der FSU Jena Semmelweisstr. 4 07740 Jena Tel. 0 36 41/93 31 06 Fax 0 36 41/93 34 74

Botulismus Dr. habil. H. P. Schau Thüringer Medizinal-, Lebensmittel- und Veterinäruntersuchungsamt (TMLVUA) Abt. Medizinaluntersuchung Erfurt FB Medizinische Mikrobiologie Nordhäuser Str. 74 Haus 6 99089 Erfurt Tel. 03 61/74 09 10 Fax O3 61/7 40 91 13

Diphtherie Dr. A. Roggenkamp, Prof. Dr. Dr. J. Heesemann Max von Pettenkofer-Institut für Hygiene und Medizinische Mikrobiologie Pettenkoferstr. 9a 80336 München Tel. 089/51 60 52 01 Fax 089/5 38 05 84

83 2111 Bd.52 IH neu 16.06.2003 9:45 Uhr Seite 84

Tularämie Dr. E.-Jürgen Finke, PD Dr. R. Grunow Sanitätsakademie der Bundeswehr Bw 742 Neuherbergstr. 11 80837 München Tel. 089/31 68 28 05/28 06 Fax 089/31 68 32 92 E-Mail [email protected]

Legionellose Dr. Chr. Lück Institut für Medizinische Mikrobiologie und Hygiene Medizinische Fakultät der TU Dresden Dürerstr. 24 01307 Dresden Tel. 03 51/4 63 85 85/85 72 Fax 03 51/4 638573

Meningokokken-Meningitis Prof. Dr. H.-G. Sonntag, Frau Dr. J. Erhard NRZ für Meningokokken am Hygiene-Institut der Universität Heidelberg Im Neuenheimer Feld 324 69120 Heidelberg Tel. 0 62 21/56 83 10/78 17 Fax 0 62 21/56 58 57/43 43

Pest Prof. Dr. Dr. J. Heesemann, Herr Dr. A. Rakin Max von Pettenkofer-Institut für Hygiene und Medizinische Mikrobiologie Pettenkoferstr. 9a 80336 München Tel. 089/51 60 52 01 Fax 089/5 38 05 84

Parasitosen

Malaria Prof. Dr. B. Fleischer Bernhard-Nocht-Institut für Tropenmedizin Hamburg Bernhard-Nocht-Str. 74 20359 Hamburg Tel.: 040/3 11 82-401, Fax: 040/3 11 82-400

84 2111 Bd.52 IH neu 16.06.2003 9:45 Uhr Seite 85

Pilzinfektionen

Kryptokokkose, Histoplasmose, Kokzidioidomykose Frau Dr. K. Tintelnot Robert-Koch-Institut Berlin FG 212 Nordufer 20 13353 Berlin Tel. 030/45 47 22 08 Fax 030/45 47 26 14

Virusinfektionen

Lassa-Fieber,Argentinisches hämorrhagisches Fieber, Bolivianisches hämorrhagisches Fieber, Dengue, Ebola-Fieber Prof. Dr. H. Schmitz Bernhard-Nocht-Institut Hamburg Bernhard-Nocht-Str. 74 20359 Hamburg Tel. 040/31 18 24 01/460 Fax 040/31 18 24 00 E-Mail [email protected]

Marburg-Krankheit, Ebola-Fieber Prof. Dr. W. Slenczka, PD Dr. H. Feldmann Institut für Virologie der Universität Marburg Robert-Koch-Str. 17 35037 Marburg Tel. 0 64 21/2 86 62 53 (Instituts-Sekretariat), 0 64 21/2 86 36 91 (Klinikum-Zentrale)

Hepatitis A, Hepatitis E Prof. Dr. W. Jilg Institut für Med. Mikrobiologie und Hygiene der Universität Regensburg Franz-Josef-Strauß-Allee 11 93053 Regensburg Tel. 09 41/9 44 64 08 Fax 09 41/9 446402

Importierte Virusinfektionen Prof. Dr. H. Schmitz Bernhard-Nocht-Institut Hamburg Bernhard-Nocht-Str. 74 20359 Hamburg Tel. 0 40/31 18 24 01/4 60 Fax 0 40/31 18 24 00 E-Mail [email protected]

85 2111 Bd.52 IH neu 16.06.2003 9:45 Uhr Seite 86

Poxviren PD Dr. C.-P. Czerny, Prof. Dr. O.-R. Kaaden Institut für Medizinische Mikrobiologie, Infektions- und Seuchenmedizin Ludwig-Maximilians-Universität München Veterinärstraße 13 80539 München Tel. Dr. Czerny 0 89/21 80 25 36, Prof. Kaaden 0 89/21 80 25 27/25 28 Fax 0 89/21 80 25 97

Rotavirus-Enteritis Prof. Dr. H. Werchau, Dr. A. Rohwedder Ruhr-Universität Bochum Abt. für Med. Mikrobiologie u. Virologie Universitätsstr. 150 44801 Bochum Tel. Prof. Werchau 02 34/7 00 31 89, Dr. Rohwedder 02 34/7 00 21 04 Fax 02 34/7 094352 E-Mail [email protected]

EM -Schnelldiagnostik Dr. H. R. Gelderblom Robert-Koch-Institut FG 122 Nordufer 20 13353 Berlin Tel. 0 30/45 47 23 37 Fax 0 30/45 47 26 05 E-Mail [email protected]

Ausgewählte Syndrome (syndromorientierte Konsiliarlaboratorien)

Bakterielle Enteritis Prof. Dr. J. Bockemühl Hygieneinstitut Hamburg Marckmannstr. 129 a 20539 Hamburg Tel. 0 40/78 96 42 01/202 Fax 0 40/78 96 44 83

86 2111 Bd.52 IH neu 16.06.2003 9:45 Uhr Seite 87

Virus-Enteritis Prof. Dr. H. Werchau, Dr. A. Rohwedder Ruhr-Universität Bochum Abt. für Med. Mikrobiologie u. Virologie Universitätsstr.150 44801 Bochum Tel. Prof. Werchau 02 34/7 00 31 89 Dr. Rohwedder 02 34/7 00 21 04 Fax 02 34/7 094352 E-Mail [email protected]

Bakterielle Atemwegsinfektion Prof. Dr. F. J. Fehrenbach, Frau Dr. I. Horbach Robert-Koch-Institut (RKI) FG 211 Nordufer 20 13353 Berlin Tel. 0 30/45 47 22 50/25 28 Fax 0 30/45 47 26 08 E-Mail [email protected]

Atemwegsinfektion durch Chlamydien (z.B. Psittakose) und Coxiellen (Q-Fieber) Prof. Dr. W. Slenczka Institut für Virologie der Universität Marburg Robert-Koch-Str. 17 35037 Marburg Tel. 0 64 21/28 43 13 Fax 0 64 21/28 54 82

Virale Atemwegsinfektion einschließlich Influenza Dr. Dr. R. Heckler Niedersächsisches Landesgesundheitsamt Hannover Roesebeckstr. 4–6 30449 Hannover Tel. 05 11/4 50 52 01 Fax 0511/4 50 51 40

2. Klinische und technische Kompetenzzentren Abteilung für Infektions- und Tropenmedizin der Ludwig-Maximilians-Universität München Leopoldstr. 5 80802 München Tel. 0 89/21 80 35 17 Fax 0 89/33 60 38 E-Mail tropinst@lrz. uni-muenchen.de

87 2111 Bd.52 IH neu 16.06.2003 9:45 Uhr Seite 88

Abteilung für Infektions- und Tropenmedizin Klinik für Innere Medizin IV der Universität Leipzig Härtelstraße 16-18 04107 Leipzig Tel. 03 41/9 72 49 71 Fax 03 41/9 72 49 79

Abteilung für Tropenmedizin und Infektionskrankheiten Klinik und Poliklinik für Innere Medizin der Universität Rostock Ernst-Heydemann-Straße 6 18057 Rostock Tel. 03 81/4 94 75 11 Fax 03 81/4 947509

Arbeitsgruppe Katastrophenmedizin, Krisenmanagement und Humanitäre Hilfe (AGKM) Chirurgische Klinik Hoppe-Seyler-Str. 3 72076 Tübingen

Augenklinik der Universität München Abteilung für Präventiv- und Tropenophthalmologie Mathildenstraße 8 80336 München Tel. 0 89/51 60 38 24

Bernhard-Nocht-Institut für Tropenmedizin Bernhard-Nocht-Straße 74 20359 Hamburg Tel. 0 40/42 81 80

Bilsom AB Box 550 26050 Billesholm Schweden

Bundesanstalt Technisches Hilfswerk (THW) Leitung Deutschherrenstr. 93-95 53177 Bonn Postfach 200351 53133 Bonn Tel. 02 28/94 00 Fax 02 28/9 401520

88 2111 Bd.52 IH neu 16.06.2003 9:45 Uhr Seite 89

Centers for Disease Control and Prevention 1600 Clifton Rd. Atlanta, GA 30333 U.S.A. Tel. 001 404 639 3311

Dornier GmbH 88039 Friedrichshafen Tel. 0 75 45/8 00 Fax 0 75 45/84411

Institut für Medizinische Parasitologie der Universität Bonn Siegmund-Freud-Straße 25 53127 Bonn Tel. 02 28/2 87 56 73

Institut für Tropenhygiene und Öffentliches Gesundheitswesen der Universität Heidelberg Im Neuenheimer Feld 324 69120 Heidelberg Tel. 0 62 21/56 29 05 Fax 0 62 21/56 59 48

Institut für Tropenmedizin Berlin Spandauer Damm 130 14050 Berlin Tel. 0 30/30 11 66

Institut für Tropenmedizin Städtisches Klinikum Dresden-Friedrichstadt Friedrichstraße 39 01067 Dresden Tel. 03 51/4 80 38 05

Institut für Tropenmedizin Universitätsklinikum Tübingen Keplerstr. 15 72074 Tübingen Tel. 0 70 71/2 98 23 65 Fax 0 70 71/29 52 67 E-Mail: [email protected]. de

Kyll GmbH Schneppruthe 4 51469 Bergisch Gladbach

89 2111 Bd.52 IH neu 16.06.2003 9:45 Uhr Seite 90

Robert Koch Institut Nordufer 20 13357 Berlin Tel. 0 18 88/75 40

Roberts Isolators Limited Ellerton House Wistanswick NR. Market Drayton Shropshire TF9 2BD England Tel. 00 44/16 30 63 83 82 Fax 00 44/16 30 63 87 07 Mobil 00 44/8 50 99 06 62

Sektion Infektiologie und klinische Immunologie Medizinische Klinik und Poliklinik der Universität Ulm Robert-Koch-Straße 8 89081 Ulm Tel. 07 31/5 02 44 21 Fax 07 31/5 024422 E-Mail: [email protected]

Städtisches Klinikum St. Georg II. Klinik für Innere Medizin Delitzscher Straße 141 04129 Leipzig Tel. 03 41/9 09 26 19 Fax: 03 41/9 09 26 30

Städtisches Krankenhaus Schwabing IV. Medizinische Abteilung Kölner Platz 1 80804 München Tel. 089/30 68 26 01 Fax 089/30 68 39 10

Tropenklinik Paul Lechler-Krankenhaus Paul-Lechler-Str. 24 72074 Tübingen Tel. 0 70 71/20 60 Fax 0 70 71/22359

90 2111 Bd.52 IH neu 16.06.2003 9:45 Uhr Seite 91

Tropenmedizinische Abteilung, Missionsärztliche Klinik Salvatorstraße 7 97074 Würzburg Tel. 09 31/7 91 28 21 Fax 09 31/7 912453

Umweltbundesamt, FB IV 1.5 Dr. G. Hoffmann Bismarckplatz 1 14193 Berlin Tel. 0 30/89 03 (0) 13 32/13 83 Fax 0 30/89 03 22 85

Universitätsklinikum Rudolf Virchow Standort Wedding II. Medizinische Abteilung Augustenburger Platz 1 13353 Berlin Tel. 0 30/4 50 50

World Health Organization Avenue Appia 20 CH-1211 Genf 27 Schweiz Tel. 00 41 22/7 91 21 11

3. Desinfektionsmittel

Objekt Mittel (Beispiele von Handelspräparaten) Hände Desderman N Promanum N Spitacid

Bedienungsknöpfe Buraton 10F Betten Incidin Perfect Fußboden Incidin PLUS Geräte Melsitt Mobiliar Toiletten Untersuchungsliege Verbandswagen

Blutdruckmanschette Alkohol 70 % Kunststoff Stethoskop

91 2111 Bd.52 IH neu 16.06.2003 9:45 Uhr Seite 92

4. Flüssigkeits-, Elektrolyt- und Azidoseausgleich bei schweren Durchfallkrankheiten

Orale Rehydratationslösung (ORS) nach WHO

NaCl 3,5 g/l Trinatriumcitratdihydrat 2,9 g/l KCl 1,5 g/l Glukose 20,0 g/l

Kommerziell erhältlich z.B. als Elotrans® Pulver

Parenterale Rehydrierung

Ringer-Lactat-Lösung

5. Melde- und Anzeigepflicht Formal besteht für einige der o.g. Infektionen keine Meldepflicht nach BSeuchG oder nach dem zukünftigen IfSG. Der Verdacht auf eine Seuche ist jedoch grund- sätzlich zu melden, in Deutschland an das regionale Gesundheitsamt und das RKI. Das RKI entscheidet, ob zusätzlich an die WHO gemeldet wird. Im Ausland werden die lokalen Gesundheitsbehörden informiert und an das Regionalbüro der WHO gemeldet. Bei Infektionen der beteiligten Ärzte und Rettungshelfer ist die Anzeigepflicht nach der BKV zu beachten. Anzeigepflichtig bei Verdacht auf ei- ne Berufskrankheit sind der behandelnde Arzt und der Arbeitgeber.

6. Abkürzungen AFLP Fragmentlängen-Polymorphismus nach Amplifikation Aids acquired immune deficiency syndrome ATI aircraft transit isolator BKV Berufskrankheitenverordnung BSeuchG Bundes-Seuchengesetz BSG Blutkörperchen-Senkungsgeschwindigkeit BW Bundeswehr CDC Centers for Disease Control and Prevention CRP C-reaktives Protein DHF dengue hemorrhagic fever DIC disseminated intravascular coagulation DSMZ Deutsche Sammlung von Mikroorganismen und Zellkulturen DSS dengue shock syndrome EM Elektronenmikroskopie FSME Frühsommer-Meningo-Enzephalitis GOT (AST) Glutamat-Oxalacetat-Transaminase (Asparat-Aminotransferase)

92 2111 Bd.52 IH neu 16.06.2003 9:45 Uhr Seite 93

GPT (ALT) Glutamat-Pyruvat-Transaminase (Alanin-Aminotransferase) HAV Hepatitis A-Virus HEPA high efficiency particulate air HEV Hepatitis E-Virus HFRS hämorrhagisches Fieber mit renalem Syndrom HIV human immunodeficiency virus IfSG Infektionsschutzgesetz IgA Immunglobulin A IgG Immunglobulin G IgM Immunglobulin M LDH Laktatdehydrogenase MIS mobile Isolierstation MVA modifiziertes Vacciniavirus Ankara PCR Polymerase-Kettenreaktion PFGE Pulsfeld-Gelelektrophorese RFLP Restriktionsfragmentlängen-Polymorphismus RKI Robert-Koch-Institut RSSE Russian spring summer encephalitis SEEWA Schnelleinsatzeinheit zur Wasserversorgung Tbc Tuberkulose TBE tick-borne encephalitis THW Technisches Hilfswerk WHO World Health Organization ZNS zentrales Nervensystem

Literatur DSMZ: Bacterial nomenclature up-to-date. http://www.dsmz.de/bactnom/bact- name.htm

Goh KJ et al: Clinical features of Nipah virus encephalitis among pig farmers in Malaysia. N Engl J Med 342 (2000) 1229-1235

Hofmann F (Hrsg): Infektiologie. ecomed, Landsberg 1991 (wird ständig aktualisiert und ergänzt)

Index Virum: The Universal Virus Database. http://life.anu.edu.au/viruses/lctv/fr-indv0.htm

Knobloch J (Hrsg): Tropen- und Reisemedizin. Gustav Fischer, Jena 1996

Sohns A et al: Gesundheitsschäden durch ABC-Kampfmittel und ähnliche Noxen. In: Hempelmann G et al: Notfallmedizin ainf 3, Georg Thieme Verlag, Stuttgart 1999, pp 612-625

93 2111 Bd.52 IH neu 16.06.2003 9:45 Uhr Seite 94

Weltärztebund: Erklärung des Weltärztebundes zur ärztlichen Ethik im Katas- trophenfall, verabschiedet von der 46. Generalversammlung des Weltärztebundes Stockholm, Schweden, September 1994

WHO: International travel and health. Vaccination requirements and health advice. WHO, Genf 2000 (wird jährlich aktualisiert)

Danksagung

Wir danken Herrn Prof. Dr. U. Wiesing, Lehrstuhl für Ethik in der Medizin, Eber- hard-Karls-Universität Tübingen, für seine Hilfe bei der Ausarbeitung des Kapitels „Ethik der Seuchenbekämpfung“.

94 2111 Bd.52 IH neu 16.06.2003 9:45 Uhr Seite 95

Neue Ansätze in der Therapie der Organophosphatvergiftung

G. Petroianu, Roderich Rüfer †

Die Stoffklasse der Organophosphate (OP) umfasst einige tausend verschiedene Verbindungen, wovon einige hundert Präparate kommerziell erhältlich sind. Die weltweite jährliche OP-Produktion wird auf etwa 500 000 Tonnen geschätzt, wo- bei die Substanzen Anwendung finden in der Landwirtschaft als Insektizide und Akarizide, in Industrie und Technik als Schmiermittelzusätze und Weichmacher von Kunststoffen und in der Wehrtechnik als chemische Kampfstoffe. Zwar ha- ben die OP gegenüber dem DDT den Vorteil, dass sie nicht in der Nahrungskette akkumulieren, dafür aber den Nachteil einer stark ausgeprägten akuten und chro- nischen Warmblütertoxizität. Die massive Anwendung der OP, hauptsächlich in der Landwirtschaft, gekoppelt mit einer relativ leichten Verfügbarkeit der Sub- stanzen, spiegelt sich wider in den akzidentellen oder suizidalen Vergiftungs- zahlen. Die WHO schätzt die Anzahl der OP-Intoxikationen mit letalem Ausgang weltweit auf über 5000/Jahr.

Die Akutsymptomatik der OP-Vergiftung entspricht einer „endogenen Acetyl- cholinvergiftung“ nach Hemmung der Acetylcholinesterase. Das klinische Haupt- problem in der akuten Phase der Vergiftung ist die Sicherung der O2-Versorgung des Patienten. Die Kombination aus Bronchokonstriktion und Bronchospasmus bei gleichzeitig gesteigerter Bronchialsekretion (peripher-muskarinerge Effekte) mit Pseudolungenödem, Schwäche/Lähmung der Atemmuskulatur (nikotinerge Effekte) und möglicherweise erniedrigtem Atemantrieb (zentralmuskarinerger Effekt) ma- chen eine frühe Intubation und kontrollierte mechanische Ventilation zwingend.

Die Therapie besteht aus spezifischen und unspezifischen Maßnahmen, wobei die Sicherung der O2-Versorgung absoluten Vorrang hat. Dabei ist Hautkontakt mit dem Patienten zu vermeiden, also keine Mund-zu-Mund Beatmung, sondern es ist die sofortige Intubation anzustreben. Anschließend ist für einen adäquaten Kreislaufzugang und Volumensubstitution zu sorgen, wobei der Volumenbedarf des OP-Vergifteten stets massiv unterschätzt wird. Engmaschige Häematokrit- kontrollen erlauben eine bedarfsorientierte Substitution. Mittel der Wahl ist dabei Ringer-Laktat.

Die Laktatkomponente schützt sowohl die AChE als auch die BChE vor Hem- mung durch manche Organophosphate. Der IC50 von Paraoxon (POX) für die zwei genannten Enzyme nimmt in Anwesenheit von Laktat um den Faktor 40 zu (siehe Bild 1 und 2).

Atropinisierung: Nach Sicherung der O2-Versorgung und eines Kreislaufzuganges werden die cholinergen Symptome mittels Atropin antagonisiert. Die Atropingabe erfolgt als Infusion, nach Wirkung titriert. De facto besteht keine Dosisbegrenzung.

95 2111 Bd.52 IH neu 16.06.2003 9:45 Uhr Seite 96

Abb. 1: SHIFT of IC 50 of Paraoxon/BChE in the presence of mM L-LAC

Abb. 2: SHIFT of IC 50 of Paraoxon/AChE in the presence of mM L-LAC

Ein inhärentes Problem der Atropinisierung ist die Entwicklung einer Tachykardie, welche die Atropindosis begrenzen könnte. Wenn sich die Applikationsgeschwin- digkeit von Atropin nach der Herzfrequenz und/oder dem Blutdruck richtet, kann dies möglicherweise zu einer nicht ausreichenden Atropingabe führen. Es erscheint daher sinnvoll, falls die Entwicklung einer Tachykardie die Atropingabe limitie- ren sollte, zu versuchen, die Herzfrequenz medikamentös zu senken. Dabei sollten keine ß-Blocker, sondern Mg2+ verwendet werden.

Die Substanz hat nicht nur den Vorteil einer ausgezeichneten Steuerbarkeit, son- dern ist auch in der Lage die Neurotransmitterfreisetzung zu hemmen. Im nichtto- xischen Bereich hat die Substanz keine negativ-inotropen Nebenwirkungen und führt nicht zu einer weiteren (additiv zur OP-bedingten) Hemmung der Cholin- esterase. Möglicherweise wirkt Mg2+ organprotektiv auch dadurch, dass es in der Lage ist, OP-gehemmte Na+-K+-ATPasen zu reaktivieren. Neuere Erkenntnisse sehen in der Mg2+-Wirkung einen direkten Antagonismus, der über muskarinerge Cho-

96 2111 Bd.52 IH neu 16.06.2003 9:45 Uhr Seite 97

linozeptoren (mAChR) vermittelten Wirkungen. Mg2+ aktiviert die Adenylatzyklase und hat dadurch direkt mAChR-antagonistische Wirkungen. Monovalente Kationen (Li+ > K+) potenzieren dagegen die mAChR-Hemmung der Adenylatzyklase; dies könnte die Potenzierung der epileptogenen Wirkung der OP durch Li+ erklären. In diesem Licht erscheint es sinnvoll, Hyperkaliämien zu vermeiden.

Oximtherapie: Nach Erreichen einer adäquaten Ventilation und Kreislaufstabi- lität muss der Versuch unternommen werden, die gehemmten Esterasen durch Oximgabe zu reaktivieren. Es ist wegen der intrinsischen cholinomimetischen Wirkung der Oxime strikt darauf zu achten, dass die Oximgabe nur nach adäqua- ter Atropinisierung erfolgt. Die Oximapplikation vor Atropingabe gilt als Kunst- fehler. In Deutschland ist der Oximreaktivator Obidoxim (Toxogonin) üblich. Die Oximgabe hat langsam zu erfolgen. Bei schneller i.v.-Applikation besteht die Gefahr eines Herzstillstandes. Neben der im Allgemeinen üblichen i.v.-Injektion wird von einzelnen Autoren die Anwendung in Form einer Kurzinfusion über 10 oder 20 min empfohlen. Die Initialdosis Obidoxim (Toxogonin) für Erwachs- ene wird überwiegend mit 250–500 mg angegeben. Kinder sollen 4–8 mg/kg KG erhalten. Bei Vergiftungen mit Karbamaten (ähnliche Symptomatik) ist die Oximgabe kontraindiziert.

Insgesamt sind die klinischen Erfahrungen mit der Oximgabe sehr enttäuschend: Unsere in vitro Messungen suggerieren für Pralidoxim eine völlige Wirkungs- losigkeit. Die Enzymreaktivierung scheint ein messtechnischer Artefakt zu sein (siehe Bild 3, 4 und 5).

Prophylaxe/Therapie eines Krampfanfalles: Klinisch ist das Krampfen der OP- vergifteten Patienten gut bekannt und wird mit Diazepam (Valium) therapiert. Bei muskelrelaxierten Patienten (OP-Vergiftungen) kann unerkannte epileptifor- me Aktivität im ZNS zu irreversiblen Schäden führen. Um ZNS-Schäden zu ver- meiden, erscheint es daher sinnvoll, massiv OP-vergiftete Patienten generell pro- phylaktisch mit Benzodiazepinen zu schützen.

pH-Kontrolle: OP werden u.a. auch durch eine basenkatalysierte Hydrolyse ent- giftet. Es erscheint daher sinnvoll, Blut und Harn des Patienten zu alkalisieren. Dabei ist der K+-Spiegel engmaschig zu monitoren, da er bei jedem pH-Anstieg von 0,1 um etwa 0,5 mmol l-1 erniedrigt wird.

Prophylaxe des Intermediärsyndroms (IMS): Nach Überleben der akutcholi- nergen Krise können manche Patienten ein Intermediärsyndrom (IMS) entwi- ckeln. Es ist z. Z. unklar, ob es zwischen einzelnen OP Unterschiede in der Fähigkeit, das Entstehen eines IMS zu fördern/verursachen, gibt. Die größte Gefahr des IMS ist, dass die schleichend auftretende Ateminsuffizienz unerkannt bleibt und dass betroffene Patienten an der entstehenden Hypoxie sterben. Die zwingende Konsequenz aus dem zeitlichen Verlauf der Ereignisse ist es, OP-vergif- tete Patienten mindestens 96 h nach der akutcholinergen Krise engmaschig zu überwachen.

97 2111 Bd.52 IH neu 16.06.2003 9:46 Uhr Seite 98

Abb. 3: PRX AChE-Eigenaktivität Pseudoaktivität

Abb. 4: PRX BChE-Eigenaktivität Pseudoaktivität

Abb. 5: SHIFT of IC 50 of Paraoxon/BChE mM PRX/ corrected for pseudo -activity

98 2111 Bd.52 IH neu 16.06.2003 9:46 Uhr Seite 99

Neuere Veröffentlichungen sehen im IMS die Folge einer verlängerten Trans- mitter-Rezeptorinteraktion, die dann wahrscheinlich über eine Erhöhung des in- trazellulären Ca2+-Spiegels und der Aktivierung von Proteasen zu einer Rhabdo- myonekrose führt. Demnach soll ein IMS durch frühe Gabe nicht-depolarisieren- der Muskelrelaxanzien (NDMR) zu verhindern sein.

Eine rationale und intensive Therapie des OP-vergifteten Patienten sollte in den meisten Fällen ein Überleben ohne Restsymptomatik erlauben.

Literatur

L. Karalliedde, Organophosphorus poisoning and anaesthesia. Anaesthesia 54, 1073–1088 (1999)

R. Levine, Recognized and possible effects of pesticides in humans. In Handbook of Pesticide Toxicology. General Principles, ed. by W. J. Hayes and E. R. Laws, Vol. 1, pp. 275–360 Academic Press, San Diego (1991).

G. Petroianu and R. Rüfer, Intoxikationen – präklinische und intensivtherapeutische Behandlungsstrategien. Notarzt 11, 229–231 (1995).

G. Petroianu, L. M. Toomes,A. Petroianu, W. Bergeler and R. Rüfer, Control of blood pressure, heart rate and haematocrit during high-dose intrave- nous paraoxon exposure in mini pigs. J. Appl. Toxicol. 18, 293–298 (1998).

G. Petroianu, B. Kärcher, N. Kern, F. Hardt, U. Helfrich and R. Rüfer, L-Lactate reduces in vitro the inhibition of butyrylcholinesterase (BChE) by Paraoxon (E 600). J. Appl. Toxicol. 19, 329–336 (1999).

G. Schmidt and R. Zech, Organophosphate. Biochemie-Toxikologie-Therapie, Zivilschutzforschung Bd. 22. Bundesamt für Zivilschutz (Hrsg.), Osang. Bonn (1988).

99 2111 Bd.52 IH neu 16.06.2003 9:46 Uhr Seite 100 2111 Bd.52 IH neu 16.06.2003 9:46 Uhr Seite 101

Energie- und Äquivalentdosisleistungsprofile in Abhängigkeit von Flughöhe und geomagnetischer Breite, gemessen mittels mikrodosimetrischer Verfahren an Bord von Alitalia-Flugzeugen auf den Routen Mailand Ð Los Angeles, Rom Ð Rio de Janeiro und Mailand Ð Tokio.

Rudolf E. Grillmaier, St. Gerdung und T. Lim

Einleitung Durch die Neubewertung des Strahlenrisikos durch die ICRP auch hinsichtlich der beruflich strahlenexponierten Personen, sah sich die Europäische Union ver- anlasst, ein Forschungsprogramm mit dem Ziel und dem Titel „Study of Radia- tion Fields and Dosimetry at Aviation Altitudes“ aufzulegen. An diesem Projekt, das von 1996 bis 1999 lief und seitens der EU von Dr. H.G. Menzel wissenschaft- lich begleitet wurde, beteiligten sich unter der Koordinierung von D. O’Sullivan vom Dublin Institute for Advanced Studies (DIAS), School of Cosmic Physics, insgesamt 8 Forschungseinrichtungen aus fünf europäischen Ländern. Eine dieser Forschungseinrichtungen war eine der Arbeitsgruppen der Fachrichtung Bio- physik an der Universität des Saarlandes.

Mehr oder weniger im Rahmen des genannten Forschungsprojektes der EU orga- nisierte die italienische nationale Behörde für den Umweltschutz ANPA (Agenzia Nationale di Protetione dell’ Ambiente) unter der Federführung von Dr. Luigi Tommasino und der großzügigen Unterstützung von Alitalia ein Messprogramm an Bord von Verkehrsflugzeugen auf drei von Alitalia beflogenen Routen. An die- sem Messprogramm nahmen neben ANPA mehrere Institutionen mit passiven und aktiven Dosimetern sowie Systemen zur Bestimmung der Komponenten des Strahlenfeldes (und deren Energien) in den Verkehrsflugzeugen teil. Die Arbeits- gruppe der Fachrichtung Biophysik beteiligte sich mit zwei gleichartigen aktiven und tragbaren Dosismessgeräten, die in der Lage sind, alle im Strahlenfeld anzu- treffenden Strahlenarten bzw. für die Strahlendosis relevanten Anteile zu regis- trieren.

101 2111 Bd.52 IH neu 16.06.2003 9:46 Uhr Seite 102

Messmethode Die von uns eingesetzten, unter dem Namen HANDI bekannten Messgeräte wur- den im Wesentlichen von H.G. Menzel auf der Basis mikrodosimetrischer Prin- zipien konzipiert und soweit es die elektronischen Komponenten betrifft, von A. Kunz und E. Arend entwickelt (Kunz et al.1989 und Kunz et al.1990). Eines der HANDIs war mit einem im Handel erhältlichen kugelförmigen Detektor der Fa. FarWest, das andere mit einem in unserer Arbeitsgruppe (Gerdung 1992) ent- wickelten zylindrischen Detektor ausgestattet. Letzterer hat gegenüber dem kom- merziellen, kugelförmigen Detektor zwei Vorteile: Wegen des größeren Zähl- volumens besitzt er eine größere Messempfindlichkeit und wegen der einfache- ren Bauweise sind Störungen bei Erschütterungen (Telefonieeffekt) geringer.

Die Mikrodosimetrie hat sich zum Ziel gesetzt, die Energiedosis in mikroskopisch kleinen Gewebsvolumina zu messen. Dieses Ziel wird in guter Näherung durch folgende Maßnahmen erreicht: Es werden Detektoren verwendet, deren Wandung und Zählgas hinsichtlich der molekularen Zusammensetzung aus nahezu gewe- beäquivalentem Material bestehen. Der Druck des Zählgases wird soweit redu- ziert, dass die in ihm durch ionisierende Teilchen abgegebene Energie der in ei- nem kugeförmigen Gewebsvolumen von größenordnungsmäßig 1 µm Durchmesser deponierten Energie entspricht. Durch Variation des Druckes ist bei konstanten Dimensionen des Detektors die Größe des simulierten Gewebsvolumens in ge- wissen Grenzen veränderbar. Üblicherweise werden bei kugelförmigen oder zy- lindrischen Detektoren (deren Verhältnis von Durchmesser und Höhe etwa gleich 1 ist) mittlere Durchmesser von 2 bis 0,5µm simuliert.

Als Detektoren werden in der Mikrodosimetrie Proportionalzählrohre verwendet, die, wenn die Gewebeäquivalenz des Wandmaterials und des Gases gegeben ist, in der Literatur gewöhnlich als Tissue Equivalent Proportional Counter (abgekürzt TEPC) bezeichnet werden. Bei Proportionalzählrohren ist die Höhe des an seinem Ausgang abgreifbaren Impulses proportional der Menge der elektrischen Ladung, die von einem ionisierenden Teilchen im Gas freigesetzt wird. Aus der Ladungs- menge wird über den W-Wert die an das Zählgas übertragene Energie bestimmt. Diese, von einem Sekundärteilchen, das bei einer Wechselwirkung der Primär- strahlung mit dem Wandmaterial freigesetzt wurde, an das Zählgas übertragene Energie wird durch die mittlere Weglänge, die solch ein Teilchen im simulierten Volumen zurücklegen kann, dividiert. Die auf diese Weise erhaltene Größe y, welche die Dimension Energie durch Weg besitzt und üblicherweise in der Einheit keV/µm angegeben wird, trägt die Bezeichnung „lineale Energie“ und ist als solche ein sehr guter Schätzwert für die Größe „Linearer Energietransfer“ (LET). Aus dem eben Erwähnten geht hervor, dass beim gleichzeitigen Ein- dringen von mehr als einem Teilchen in das Zählgas ein nicht den wahren Ver- hältnissen entsprechender Wert der linealen Energie bzw. des LET-Wertes abge- leitet werden würde. Das bedeutet, dass das geschilderte Verfahren nicht in Strah- lenfeldern mit hoher Intensität bzw. Dosisleistung angewandt werden kann.

102 2111 Bd.52 IH neu 16.06.2003 9:46 Uhr Seite 103

Durch Division der von dem Sekundärteilchen an das Zählgas übertragenen und ab- sobierten Energie mit der Masse des Gases erhält man die Energiedosis, die durch dieses einzelne Sekundärteilchen erzeugt wurde. Die Gesamtdosis ergibt sich aus der Summe aller dieser Einzelereignisse, die während der Bestrahlung auftreten. Da das Zählgas je nach der Form des Detektors ein kugel- oder zyinderförmiges Gewebsvolumen von größenordnungsmäßig (je nach Gasdruck) 2 bis 0,5 µm Durch- messer darstellt, ist das Ziel der Mikrodosimetrie in guter Näherung erreicht.

Die für den Strahlenschutz bzw. zur Beurteilung des Strahlenrisikos wichtige Größe der Äquivalentdosis wird durch Multiplikation der Energiedosis mit dem in der Strahlenschutzverordnung vorgegebenen Bewertungsfaktoren erhalten. Da beim HANDI die durch einzelne Ereignisse zur Gesamtenergiedosis beigesteuer- ten Beiträge nach den gemessenen bzw. berechneten Werten der linealen Energie als Schätzwert der LET (in 16 Kanälen) sortiert werden, kann auf einfache Weise in guter Näherung die Äquivalentdosis ermittelt werden. Abbildung 1 zeigt ein Beispiel eines „lineal energy spectrum“.

Aus dem Linealen Energiespektrum, welches die Zusammensetzung des Strah- lenfeldes hinsichtlich locker und dicht ioniserender Anteile erkennen lässt, wird die Gesamt-Energie- und Äquivalentdosis ermittelt und auf einem kleinen Display des HANDI angezeigt.

Messungen und Ergebnisse Wie aus Tabelle 1 zu entnehmen ist, wurden insgesamt 72 Flüge auf den Strecken Mailand–Los Angeles, Mailand–Tokio und Rom–Rio de Janeiro durchgeführt. Auf den beiden zuerst genannten Strecken, die über den Nordatlantik bzw. in höhere nördliche Breitengrade führen mit entsprechend höherer Dosisleistung, wurde jeweils mit beiden HANDIs eine halbe Stunde gemessen und aus der in dieser Zeit akkumulierten Strahlendosis die mittlere Dosisleistung berechnet. Bei einer Flugdauer von etwa 10 bis 12 Stunden und dem gleichzeitigen Einsatz von zwei Messgeräten ergaben sich pro Flug etwa 40 Messergebnisse jeweils für Energie- und Äquivalentdosis sowie 40 lineale Energiespektren. Bei den Flügen über den Äquator von Rom nach Rio de Janeiro wurde wegen der kleineren Dosisleistung die Messdauer verdoppelt, so dass pro Flug nur halb so viele Mess- werte anfielen. Die Gesamtzahl der Messungen wurde jedoch ausgeglichen durch die Verdoppelung der Anzahl von Flügen auf der Strecke Rom–Rio de Janeiro.

103 2111 Bd.52 IH neu 16.06.2003 9:46 Uhr Seite 104

Abb. 1: Lineal-Energy-Spektrum, eines n-Mischfeldes mit hohem Gammastrahlen-Anteil y in keV/µm

Zum Vergleich dazu in Abb. 7 das lineal-energy-spectrum eines reinen γ-Strahlenfeldes einer 60Co-Quelle.

Abb. 2: Lineal-Energy-Spektrum (mikrodosimetrische Verteilung); Quelle: 60Co y in keV/µm

104 2111 Bd.52 IH neu 16.06.2003 9:46 Uhr Seite 105

Leider waren nicht für alle der rund 1500 Messungen an Bord der Verkehrs- flugzeuge die Daten für die Position der Flugzeuge zum Zeitpunkt der Messung verfügbar. Es konnten jedoch für nahezu zwei Drittel (956) der Ergebnisse die entsprechenden Werte ermittelt werden, so dass die Zusammenhänge zwischen Energie- bzw. Äquivalentdosis und der Flughöhe sowie der geografischen bzw. der geomagnetischen Breite in gesicherter Weise ermittelt und dargestellt werden können. Mit Hilfe dieser Daten können für fast alle Flugrouten Dosisleistungs- profile (ähnlich wie in Abb. 2) erstellt werden.

Flugroute Zahl der Anzahl der Mittlere Mittlere Mittlerer Flüge Messungen Energiedo- Äquivalent- Qualitäts- (one way) sisleistung dosisleistung faktor (µGy/h) (µSv/h)

Mailand ↔ Los 20 650 2.15 4.82 2.24 Angeles

Mailand ↔ Tokio 16 250 2.10 4.70 2.23

Rom ↔ Rio de 36 600 1.28 2.39 1.86 Janeiro

Tabelle 1: Übersicht über die Flugrouten, Zahl der Flüge und der Messungen auf diesen Routen, mittlere auf den angegebenen Strecken gemessenen Dosisleistungen, mittlere Qualitätsfaktoren der Strahlung. Für die Äquivalentdosisleitungswerte gilt ein rela- tiver Fehler (einfache Standardabweichung in Prozent des Mittelwertes) von unge- fähr 10%.

Aus Tabelle 1 ist wie erwartet wurde ersichtlich, dass die Dosisleistung in Flug- höhen von 10 bis 12 km wesentlich höher ist, als auf der Erdoberfläche und dass sie auf den Flugstrecken in höheren (in diesem Fall nördlichen) Breitengraden etwa doppelt so hoch ist wie bei den Flügen über und in Nähe des Äquators. Der Vergleich der Qualitätsfaktoren zeigt, wie ebenfalls zu erwarten war, dass bei höh- eren Breitengraden der Anteil dicht ioniserender Strahlung größer ist als in Äqua- tornähe. In Abbildung 3 sind drei mikrodosimetrische Spektren (identisch mit „li- neal energy spectra“) dargestellt. Zwei davon wurden in 2 verschiedenen Höhen aber in etwa gleichen Breitengraden über 60° Nord gemessen. Das dritte Spek- trum wurde in Äquatornähe aufgenommen. Es zeigt sich beim Vergleich der er- sten beiden Spektren mit dem zuletzt genannten, dass in höheren Breitengraden die Anteile der dichter ionisierenden Strahlung an der Gesamtdosis signifikant gestiegen ist. Dagegen ist der Unterschied der Spektren die in verschiedenen Höhen von 8840 m und 11280 m gemessen wurden, zwar vorhanden aber nicht in gleicher gravierender Weise.

105 2111 Bd.52 IH neu 16.06.2003 9:46 Uhr Seite 106

Abb. 3: Mikrodosimetrische Spektren (aufgetragen ist nur die Energiedosis) gemessen in zwei verschiedenen Flughöhen bei etwa gleichen Breitengraden größer als 60° Nord (durch- gezogene Linie: 8840 m; gepunktete Linie: 11280 m) und in Äquatornähe (gestrichelte Linie, Flughöhe 11000 m)

In Abb. 4 ist das Dosisleistungsprofil, so wie es während eines der Flüge auf der Route Mailand–Los Angeles gemessen wurde, wiedergegeben in Abhängigkeit von der während der Messung vom Flugzeug eingenommenen geographischen Breite. Die Werte wurden dem Flugschreiber entnommenen. Wenn sich während der Messung die Breitenlage änderte, wurde aus den Werten zu Beginn und am Ende der Messung ein Mittelwert gebildet.

Abb. 4: Dosisleistungswerte in chronologischer Reihenfolge, gemessen während eines Fluges von Mailand nach Los Angeles, aufgetragen in Abhängigkeit von der jeweiligen geographi- schen Breite.

106 2111 Bd.52 IH neu 16.06.2003 9:46 Uhr Seite 107

Diskussion Die im Rahmen des ANPA-Alitalia Surveys eingesetzten Geräte bestanden neben den beiden HANDIs aus einem modifizierten REM-Counter, einem auf Neutro- nen ansprechenden Blasen-Detektor, einem Reuter-Stokes γ-Strahlen Detektor und zwei Kernspurtektoren, von welchen einer von ANPA entwickelt und der an- dere von DIAS zur Verfügung gestellt worden war. Im Rahmen des von der Euro- päischen Kommission geförderten Vorhabens wurden weitere aktive und passive Dosismessgeräte und Geräte zur Bestimmung der Komponenten des Strahlenfeldes eingesetzt. Die experimentellen Messungen wurden durch theoretische Betrach- tungen und Berechnungen des Strahlenfeldes und der Dosisleistung ergänzt. Die Ergebnisse des ANPA-Alitalia Projektes werden demnächst von L. Tommasino et al. als „Italian National Survey of Aircrew Exposure“ veröffentlicht werden. Die Resultate des von der Europäischen Kommission geförderten Vorhabens mit der Bezeichnung „Study of Radiation Fields and Dosimetry at Avation Altitudes“ (1999) sind bereits im Abschlussbericht zusammengefasst und stehen der Öffent- lichkeit zur Verfügung. Ein Vergleich der Ergebnisse zeigt, dass die mit den HANDIs gemessenen Werte mit den Resultaten der anderen Institute, die sich an dem ANPA-Alitalia Projekt und dem von der Europäischen Kommission geför- derten Vorhaben beteiligten, sehr gut übereinstimmen.

Literatur Kunz, A., H.G. Menzel, E. Arend, H. Schuhmacher, R.E. Grillmaier, (1989), Radiat. Prot. Dosim. 29, S. 99 ff.

Kunz, A., P. Pihet, E. Arend, H.G. Menzel: (1990) „An easy-to-operate portable pulse-height analysis system for area monitoring with TEPC in radiation protec- tion.“ Nuclear Instruments and Methods in Physics Research A 299, S 696-701.

Gerdung, St., (1992), „Messung der KERMA von Neutronen und Entwicklung eines Niederdruck-Proportionalzählers“. Diplomarbeit, Math.-Naturw. Fakultät der Univ. d. Saarlandes, Saarbrücken.

Italian National Survey of Aircrew Exposure, ANPA, L. Tommasino et al.

Study of Radiation Fields and Dosimetry at Aviation Altitudes, (Contract No. F14PCT950011), Final Report January 1996–1999, Co-ordinator: D.O ‘Sullivan, Dublin Institute of Advanced Studies, Dublin, Irland

107 2111 Bd.52 IH neu 16.06.2003 9:46 Uhr Seite 108 2111 Bd.52 IH neu 16.06.2003 9:46 Uhr Seite 109

– Vorträge 2001 – 2111 Bd.52 IH neu 16.06.2003 9:46 Uhr Seite 110 2111 Bd.52 IH neu 16.06.2003 9:46 Uhr Seite 111

Eröffnung der 50. Jahrestagung

Arthur Scharmann

Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Mitglieder der Schutzkommission.

Ich begrüße Sie ganz herzlich zum 50. Geburtstag der Schutzkommission im schönen Freiburg. Die Schutzkommission hat im Verlaufe ihrer Geschichte an vielen Orten Deutschlands getagt, besonders häufig aber in Freiburg, wo wir uns stets sehr wohl gefühlt haben. Wir hätten gerne auch einmal in Berlin getagt. Ende der 70er Jahre hatten wir dies zum ersten Mal geplant. Diese Pläne wurden uns damals vom Auswärtigen Amt untersagt. Auf eine entsprechende Anfrage des damaligen Vorsitzenden Heinz Reichenbach wurde der Schutzkommission mitge- teilt, dass die Drei Westlichen Mächte im damals geteilten Berlin dies nicht wünschten, da die Behandlung von Fragen wie „der Schutz vor radioaktivem Niederschlag von Kernwaffen“ eindeutig in den Bereich fiele, in dem sich die Drei Mächte ihre Rechte und Verantwortlichkeiten vorbehalten haben“. Und wei- ter: „Die Schutzkommission gebe es seit langer Zeit. Es sei nicht einzusehen, warum sie nunmehr zum ersten Mal im Frühjahr 1978 in Berlin (West) tagen sol- le. Eine solche Sitzung würde niemandem nützen, sie sei jedoch geeignet, die Sowjetunion zu provozieren“. Heute schmunzeln wir über diese Geschichte. Wir werden uns weiter bemühen, die Pläne einer Tagung in Berlin zu realisieren.

Unter unseren Gästen begrüße ich an erster Stelle den Vertreter des Bundesinnen- ministeriums, Herrn MinDir Henning Rosen und seine Mitarbeiter, sowie die Mitarbeiter des früheren Bundesamtes für Zivilschutz (jetzt Zentralstelle für Zivilschutz ZfZ). Herr Rosen hat dankenswerterweise den Festvortrag übernommen. Ich begrüsse Herrn MinDirig Gudat als Vertreter des Arbeitskreises V der Innenminis- terkonferenz sowie die Vertreter des Innenministeriums Baden-Württemberg und der Stadt Freiburg, die Herren Dr. Haug und Dr. Wörner. Danken möchte ich aber auch vor allem unserem Geschäftsführer Professor Weiss und Frau Seifert für ihren unermüdlichen Einsatz.

Es ist sicherlich dem Anlass angemessen, in dieser Eröffnung zur 50. Jahresta- gung zurückzublicken und Bilanz zu ziehen. Vor 50 Jahren, in den Anfängen der Bundesrepublik, gab es keinen nennenswerten Schutz der Bevölkerung gegen mögliche Bedrohungen von außen. Die Selbstschutzorganisationen waren sämt- lich nach Kriegsende aufgelöst worden. Bedrohungen von außen gab es aber genügend: die Machtblöcke in Ost und West hatten gerade mit dem atomaren Wettrüsten begonnen; im Jahr 1951 führten die USA bereits 18 atmosphärische Kernwaffenversuche durch, die UdSSR, die zwei Jahre zuvor das Monopol der USA auf diesem Gebiet gebrochen hatte, zog mit 2 Tests nach. Die Entwicklung im darauf folgenden Jahrzehnt war dramatisch mit immer mehr Kernwaffentests und immer größeren Kalibern – bereits 1952 bzw. 1953 wurden die ersten Wasser- stoffbomben erprobt. Die Wirkungen dieser Massenvernichtungswaffen (Druck-

111 2111 Bd.52 IH neu 16.06.2003 9:46 Uhr Seite 112

stoß, Wärmestrahlung und insbesondere die radioaktive Strahlung) waren damals weitgehend unbekannt. Selbst einfachste Nachweismethoden für die radioaktive Strahlung waren nicht verfügbar.

Aber nicht nur die Atomwaffen stellten eine Bedrohung dar: Es waren auch andere Entwicklungen auf dem Gebiet biologischer Waffen und chemischer Kampfstoffe erkennbar, die Anlass zur Sorgen gaben.

Die Wissenschaftler der Bundesrepublik waren zu dieser Zeit, kurz nach dem verlorenen Krieg, weitgehend von den einschlägigen Informationen der Groß- mächte abgeschnitten. Eine Einschätzung der tatsächlichen Gefahren sowie von Möglichkeiten zur Gefahrenerfassung und zum Schutz der Menschen war nur durch eigene Forschungstätigkeit möglich. An dieser Situation änderte sich über viele Jahre hinweg nichts Wesentliches.

In dieser Situation wurde 1951 die Schutzkommission auf Anregung des Physikers Werner Heisenberg als Kommission der Notgemeinschaft der Deutschen Wissen- schaft (heute Deutsche Forschungsgemeinschaft, DFG) gegründet mit der „Aufgabe, das Bundesministerium des Innern durch namhafte und unabhängige Wissenschaft- ler in allen Fragen zu beraten, die mit der Abwehr von Schäden durch atomare, biologische und chemische Angriffe zusammenhängen“. An dieser Aufgaben- stellung hat sich über die Jahrzehnte hinweg nichts Grundlegendes geändert.

Zum ersten Vorsitzenden wurde der Bonner Kernphysiker Prof. Wolfgang Riezler gewählt. 1961 wurde unsere Schutzkommission eine Kommission beim Bundes- minister des Innern. Ihm folgte 1962 Prof. Wolfgang Gentner, der zusammen mit seinem Assistent Dr. Sittkus die Geschicke der Kommission über 9 Jahre hinweg vom Physikalischen Institut der Universität Freiburg aus leitete. Sein Nachfolger war wieder ein Freiburger Physiker, Dr. Heinz Reichenbach, Direktor des Ernst- Mach-lnstituts. Er leitete die Kommission von 1971 bis 1977. Mit Prof. Dr. Franz Gross von der Universität Heidelberg übernahm dann in den Jahren 1977 bis 1983 erstmals ein Nicht-Physiker den Vorsitz. Die Geschäftsstelle verblieb aller- dings in Freiburg. Im Jahr 1980 übernahm Dr. Wolfgang Weiss, ein Schüler von zwei hochverdienten Mitgliedern unserer Schutzkommission, Otto Haxel und Karl-Otto Münnich, die Geschäfte von Dr. Sittkus in der „Messstelle“ in der Rosastraße und auf dem Schauinsland. 1984 wurde die „Messstelle“ in das Bundesamt für Zivilschutz eingegliedert als „lnstitut für atmosphärische Radio- aktivität“ und 1990 in das Bundesamt für Strahlenschutz beim BMU überführt.

In den Jahren 1983 bis 1987 war Prof Dr. Wolfgang Pohlit, Frankfurt, Vorsitzen- der. Mit einer kurzen Unterbrechung im Jahr 1994 durch Prof. Hettich, Aachen, lag seit 1987 der Vorsitz in meinen Händen. Die Schutzkommission hat seit ihrem Bestehen bewegte Zeiten erlebt, sowohl in der Weltpolitik als auch in unserem Staat! Hier einige – sicherlich auch subjektiv gefärbte – Schlaglichter.

Bereits in den 50er Jahren errichtete die Schutzkommission ein Netz von empfindli- chen Messstationen, um die atmosphärischen Kernwaffentests zu verfolgen. Wenn Sie so wollen, waren diese Stationen über lange Zeit hinweg das einzige deutsche

112 2111 Bd.52 IH neu 16.06.2003 9:46 Uhr Seite 113

Fenster zur Verfolgung der Kernwaffenentwicklungen der Großmächte in Ost und West. Die entsprechenden Fragestellungen wurden im Fachausschuss „Radioaktive Niederschläge“ verfolgt. Eine dieser Stationen hier auf dem Freiburger Hausberg, dem Schauinsland, hat die Jahrzehnte überstanden. Von dort aus wurden zunächst die Auswirkungen atmosphärischer Kernwaffentests, in den späteren Jahren verein- zelt auch die unterirdischer Tests, beobachtet. In den 70er Jahren standen Frei- setzungen von Wiederaufarbeitungsanlagen im Zentrum des Interesses mit dem Ziel, die Produktion von waffenfähigem Plutonium in Ost und West abzuschätzen. Seit den 70er Jahren kamen Fragen der Überwachung von Kernkraftwerken hinzu – eine Frage, die hier in der „Regio“ mit grenznahen Anlagen in Fessenheim und Leibstadt immer eine besondere Bedeutung hatte. Die Station Schauinsland hat trotz schwieriger Bedingungen zum Ende der 70er und in den 80er Jahren überlebt. Sie ist heute wichtiger Bestandteil sowohl des deutschen Überwachungssystems, das nach Tschernobyl aufgebaut wurde, als auch des globalen Überwachungssystems, das derzeit aufgebaut wird, um die Einhaltung eines umfassenden Verbots aller Kernwaffentests zu überwachen. Zu berichten ist auch, dass das Institut für Atmos- phärische Radioaktivität im Rahmen einer von mir als damaligem Vorsitzenden des Wissenschaftlichen Beirats der Fachbereiche Strahlenhygiene und Strahlenschutz des BfS (als Nachfolger von Ludwig Feinendegen) angeregten internationalen Peer Review als international führendes Institut klassifiziert wurde. Dazu gilt unserem Geschäftsführer Prof. Weiss auch von uns Glückwunsch und Anerkennung.

Aber lassen Sie mich zurückkommen zu den Anfängen vor etwa 50 Jahren:

Strahlenbiologische Untersuchungen der „Schulen“ von Prof. Boris Rajewski und Prof. Hanns Langendorff führten bereits sehr früh zur Etablierung eines hohen Standards des Strahlenschutzes in unserem Lande. Die beiden „Schulen“ haben Generationen überlebt, die Erinnerung an die dominierenden Gründerväter wirkt bis heute nach. Der Bedeutung der beiden Schulen und der Fragen des Strahlenschutzes entsprechend, lagen die Schwerpunkte der Arbeit der Schutzkommission lange Zeit in diesem Bereich. Es wurden zwei Fachausschüsse eingerichtet, die sich mit den mehr grundlegenden Fragen der „Strahlendosis und Strahlenwirkung“ sowie mit den mehr praxisorientierten Fragen von „Strahlenschäden und Strahlenkrankheit“ befas- sten. Lange bevor Deutschland wieder offiziell in die internationalen Fachgremien des Strahlenschutzes, wie z.B. das Wissenschaftskomitee der Vereinten Nationen UNSCEAR aufgenommen wurde, waren Mitglieder der Schutzkommission wie Prof. Otto Messerschmitt bereits international tätig, z.B. während seines Studienauf- enthaltes in Japan in den Jahren 1957 und 1958.

Weitere Schwerpunkte der Arbeiten in den ersten beiden Jahrzehnten der Existenz der Schutzkommission waren: – Schutzwirkungen von Bauten – Pharmakologie, Toxikologie und Körperschutz – Schutz vor Seuchen und Infektionskrankheiten – Katastrophenmedizin – Störung von Warnanlagen (EMP) – Psychobiologie (Verhalten in Belastungssituationen).

113 2111 Bd.52 IH neu 16.06.2003 9:46 Uhr Seite 114

Ich kann aus Zeitgründen nicht über alle diese Schwerpunkte berichten, möchte aber doch auf zwei Sachverhalte kurz eingehen, die mir interessant erscheinen. Es ist bemerkenswert, dass die aus heutiger Sicht und insbesondere aus Sicht der Öffentlichkeit zentralen Fragen des Verhaltens in Belastungssituationen nicht von Anfang an Gegenstand der Arbeit der Schutzkommission war, sondern erst ab dem Jahr 1971. Dies hat sicherlich damit zu tun, dass in den 50er und 60er Jahren die Diskussion von Fragen der Gefährdung und des Schutzes mehr unter dem Aspekt der Klärung von Sachfragen geführt wurde und weniger unter den As- pekten der Akzeptanz entsprechender Maßnahmen in der Bevölkerung. Hier hat sich vieles geändert. In Zukunft wird diesem Bereich sicherlich eine noch viel größere Bedeutung zukommen.

Der „Schutzwirkung von Bauten“ wurde über Jahrzehnte hinweg in der Schutz- kommission und speziell auch hier am Ernst-Mach-lnstitut in Freiburg unter Heinz Reichenbach große Aufmerksamkeit gewidmet. Die diesen Arbeiten zu- grunde liegende Idee, dass das Schützen und damit das Vermeiden von Schäden sicher der bessere Weg ist als das Heilen von bereits aufgetretenen Schäden, ist einleuchtend. Verwunderlich ist, dass es in Deutschland über Jahrzehnte hinweg nicht gelungen ist, diese einfache Idee in der Bevölkerung und bei den Politikern so verständlich zu machen, dass eine auch nur annähernd flächendeckende Ver- sorgung mit Schutzräumen möglich war. An den Ergebnissen der Facharbeit lag es sicherlich nicht. Und in den Nachbarstaaten ist dies ja auch gelungen. Aus heuti- ger Sicht muss ich mich fragen: Was wurde hier falsch gemacht?

Entscheidend für die erfolgreiche Arbeit der Kommission über die Jahrzehnte hin- weg war die Unabhängigkeit der Fachwissenschaftler von politischen Einfluss- nahmen. Nur auf diese Weise war und ist es möglich, auch mahnend und fordernd aufzutreten. Dies mag für die zu Beratenden nicht immer angenehm gewesen sein, ist aber nach meiner Überzeugung eine ganz zentrale Bedingung für die Arbeit der Schutzkommission, auf die wir auch in Zukunft nicht verzichten können. Wenn ich in diesem Zusammenhang manchmal bezüglich unserer Schutzkommission von ei- ner „königlichen Kommission“ spreche, bedeutet dies immer den Anspruch, den wir an uns selbst stellen müssen. lch möchte als Beispiele für mahnendes und fordern- des Auftreten der Schutzkommission nur zwei Beispiele nennen: die Denkschrift von 1961 und den Gefahrenbericht aus dem Jahr 1996. Beide Schriften bringen die Sorge zum Ausdruck, dass zum Schutze der Bevölkerung zu wenig getan wird und zeigen konkreten Handlungsbedarf auf. Die Bedrohungsannahmen haben sich zwar zwischen 1961 und 1996 grundlegend geändert, die Besorgnis ist aber geblieben.

Es war immer eine Ehre, in der Schutzkommission mitarbeiten zu dürfen. Auf- grund des ehrenamtlichen Engagements für die Schutzkommission und damit für die Bürger in unserem Lande konnte diese Unabhängigkeit trotz wechselhafter Zeiten bis heute erhalten werden. Dass diese Tugenden und insbesondere die Be- reitschaft, sich ehrenamtlich zu engagieren, in unserem inzwischen immer mehr kommerzialisierten Forschungssystem rar geworden sind, ist nicht zu verkennen. Es muss deshalb alles getan werden, um die Prinzipien der Unabhängigkeit und des Ehrenamts in der Schutzkommission zu erhalten.

114 2111 Bd.52 IH neu 16.06.2003 9:46 Uhr Seite 115

Im Verlaufe der letzten 50 Jahre hat sich die Welt sowohl macht- und sicherheits- politisch wie auch gesellschaftlich völlig verändert. Zu Beginn gab es klare Be- drohungen durch wohl geordnete Machtblöcke; der Bedarf zum Schutz war poli- tisch und in der Gesellschaft anerkannt – schließlich waren die Erinnerungen an den Krieg noch allgegenwärtig. Es herrschte Aufbau- und Aufbruchstimmung. Die Balance zwischen den Machtblöcken wurde trotz ständiger Anstrengungen, sich durch Aufrüstung einseitig Vorteile zu verschaffen, über Jahrzehnte hinweg stabil aufrecht erhalten. Die nukleare Option war eine Garantie dafür, dass Kriege nur ganz weit entfernt vom unmittelbaren Einflussbereich der Machtblöcke – und dazu gehörte Europa – geführt wurden. Die Bedrohung wurde bald nicht mehr als Realität angesehen, zumal mit dem Heranwachsen einer neuen Generation im Wohlstand auch die Erinnerung an den Krieg und die Bereitschaft, sich mit „theoretischen“ Gefahren auseinanderzusetzen, stark zurückging. Trotz erheblicher Überkapazitäten an Massenvernichtungswaffen konnten wir mit der immer mehr „virtuell“ erscheinenden Beobachtung gut leben. Hinzu kam, dass das Vertrauen in Wissenschaft und Technik und der Glaube an moderne Technologien noch un- gebrochen waren. Die 70er und 80er Jahre waren aus diesen Gründen für die Schutzkommission eine existentiell schwierige Zeit.

Die öffentliche Einschätzung von technologischen Gefahren änderte sich schlag- artig im April 1986: Der Unfall in Tschernobyl führte nicht nur zur Verbreitung von Radioaktivität über weite Teile Europas und damit zu Problemen des Strahlen- schutzes. Er führte auch zu einer Neubewertung der Risikoeinschätzung von Großtechnologien und in breiten Teilen der Gesellschaft zu einer Erschütterung der bis zu diesem Zeitpunkt vorhandenen Vertrauensbasis. Tschernobyl ist im Übri- gen noch kein Beweis gegen die Kernenergie, sondern der Beleg dafür, dass ein falsches politisches System mit einem falschen Reaktor die falschen Experimente gemacht hat. Die Jahre danach brachten noch dramatischere Ereignisse, die z.T. bis heute Nachwirkungen haben. Die Union der Sowjetischen Republiken zerbrach in viele Einzelteile, der Ostblock löste sich auf, Grenzen fielen, der Eiserne Vorhang riss auf, Deutschland wurde wieder vereint, das geteilte Berlin wurde Bundeshauptstadt.

Neben diesen erfreulichen Entwicklungen gibt es aber auch Unerfreuliches zu berich- ten, darunter an erster Stelle: Kriege in Mitteleuropa sind wieder möglich geworden, auch wenn viele es nicht wagen, das Wort Krieg zu verwenden, mit allen Konsequen- zen für die Zivilbevölkerung! Wir haben von Lars Clausen gelernt, dass es künftig nie mehr Krieg, aber auch nie mehr Frieden geben wird, vielmehr alle Zustände dazwischen.

Mit diesen grundlegenden Veränderungen der sicherheitspolitischen Lage ver- bunden waren weitreichende staatliche Entscheidungen zum Abbau von Maß- nahmen und Vorhaltungen zur militärischen Verteidigung und des Zivilschutzes und zur Neuordnung dieser Bereiche. Dass dabei manchmal ein wenig zuviel getan wurde, wie z.B. mit dem Abbau der Sirenen in Deutschland, ist bedauerlich, aber im Nachhinein nicht mehr zu ändern. Positiv ist, dass mit den Bemühungen zur Neuordnung des Zivilschutzes Prinzipien aufgegriffen wurden, die die Schutz- kommission seit ihrem Bestehen immer vertreten hat: Schutz- und Vorsorge- maßnahmen in Ausnahmesituationen müssen auf Ressourcen und Strukturen auf- bauen, die auch in normalen Zeiten genutzt und durch ständigen Einsatz erprobt

115 2111 Bd.52 IH neu 16.06.2003 9:46 Uhr Seite 116

werden. Dass ein solches Vorgehen in einem föderalen System wie der Bundes- republik mit ganz unterschiedlichen Interessen und Verantwortlichkeiten des Bundes und der Länder nicht immer einfach zu realisieren ist, leuchtet ein. Dass ein solches Vorgehen aber nach wie vor zumindest auf der Ebene der Koordi- nation erhebliche Anstrengungen des Bundes erfordert, erscheint mir leider noch nicht in allen Fällen akzeptiert zu sein. In diesem Bereich zu viel einsparen zu wollen, kann zu einem großen Risiko für das gesamte Vorsorgesystem werden.

Einschneidende Veränderungen, wie wir sie alle in den letzten zehn Jahren erlebt haben, bieten immer auch weitreichende Möglichkeiten zur Neugestaltung. Dieser Herausforderung hat sich die Schutzkommission gestellt. Sie hat mit dem Ge- fahrenbericht im Jahr 1996 ihre Sicht der neuen Herausforderungen und des Handlungsbedarfs dargelegt. Der Bericht wird derzeit fortgeschrieben. Leider müssen wir feststellen, dass in den letzten 5 Jahren nicht alle unsere Empfeh- lungen so umgesetzt werden konnten, wie wir uns dies gewünscht hätten. Es bleibt noch viel zu tun in den nächsten Jahren.

Das besondere Augenmerk der Schutzkommission galt in den letzten Jahren Fragen der medizinischen Versorgung der Bevölkerung in Notfallsituationen un- terschiedlicher Art. Hier gäbe es noch vieles zu verbessern. Inwieweit es gelingt, ein tragfähiges Verbundsystem zu schaffen, das dem Versorgungsanspruch der Menschen in Ausnahmesituationen gerecht wird, bleibt der Zukunft vorbehalten. Die Schutzkommission wird die Entwicklungen sicherlich mit Aufmerksamkeit verfolgen und sich bei Bedarf zu Worte melden. In diesem Zusammenhang möchte ich darauf hinweisen, dass die Neuauflage des Leitfadens für Katastro- phenmedizin in diesen Tagen fertiggestellt wird. lch habe von Dr. Weidringer, der diese Arbeit fachlich koordiniert hat, gerade einen Vorabdruck des Leitfadens er- halten, um ihn Herrn MinDir Rosen zu überreichen. lch möchte Herrn Dr. Weid- ringer und vor allem aber auch Ernst Rebentisch und allen anderen, die sich eh- renamtlich für die Neuauflage engagiert haben, an dieser Stelle herzlich danken.

Die Schutzkommission hat in den letzten Jahren einen Prozess der Erneuerung eingeleitet, sowohl strukturell als auch personell. Zwei Drittel der Mitglieder wurden entpflichtet; ein Teil davon steht der Kommission weiterhin als Alt- mitglieder beratend zur Verfügung. Wir haben seit etwa zwei Jahren damit begon- nen, neue Mitglieder zu werben. Sie werden heute Nachmittag Herrn Prof. Thoma, Freiburg, und Dr. Michels, Trier, als neue Mitglieder kennenlernen. Herzlich willkommen in der Schutzkommission! Der Prozess der Erneuerung ist derzeit noch nicht abgeschlossen. Es ist leider noch nicht gelungen, eine hinrei- chend große Zahl neuer Mitglieder zu gewinnen, die erforderlich ist, um sicher- zustellen, dass die Arbeit der Schutzkommission mit der notwendigen fachlichen Breite und Tiefe auch in Zukunft fortgeführt werden kann. Ich bitte Sie alle, dazu beizutragen, dass die erforderliche Basis baldmöglichst geschaffen werden kann.

Der Blick ist nach vorne gerichtet im Bestreben, die staatlichen und persönlichen Vorsorgemaßnahmen zum Schutze der Bevölkerung und zur Gefahrenabwehr in Ausnahmesituationen auf fachlich fundierter Grundlage zu konzipieren und zu orga- nisieren. Die Schutzkommission wird auch in Zukunft hierzu ihren Beitrag leisten.

116 2111 Bd.52 IH neu 16.06.2003 9:46 Uhr Seite 117

50 Jahre Schutzkommission Ð Wissenschaft im Dienst der nationalen Vorsorge

Klaus-Henning Rosen

Als die Medien uns zu Jahresanfang die Bilder aus der indischen Erdbebenregion Gujarat übermittelten, zitierten sie den zuständigen Innenminister mit dem Be- kenntnis: „Wir waren auf eine Katastrophe dieses Ausmaßes nicht vorbereitet!“

Die Enttäuschung des indischen Ministers war spürbar – weniger über die Katas- trophe an sich, eher das Unbehagen, einer Erwartung der Bürger seines Landes nicht genügt zu haben. Inzwischen haben indische Experten mit Unterstützung der Vereinten Nationen um Unterrichtung über das deutsche System des Kata- strophenschutzes nachgesucht. Diese Information mag der Sorge entgegenwir- ken, jemand könne uns indische Verhältnisse unterstellen, ich warne dennoch vor allzu unkritischem Selbstlob. Dennoch beunruhigt mich die Vorstellung, nach einer Katastrophe hierzulande müsste ein Innenminister, ein Bürgermeister oder Landrat – letztere als Einsatzleiter bei Katastrophen – sich einmal zu einem vergleichbaren Eingeständnis veranlasst sehen.

Nach den Großereignissen der letzten Jahre bestand dazu jedenfalls überhaupt kein Anlass – ich nenne beispielhaft: die Wasserkatastrophen an Oder, Donau, Mosel und Rhein, die Eisenbahnunglücke in Eschede und Brühl oder den Orkan Lothar, alles Schadenslagen, die den Katastrophenschutz zum Teil in neue Dimensionen führten. Ich nehme mich selbst von der geäußerten Sorge nicht aus; denn auch wenn der Schutz vor zivilen Katastrophen formal, das heißt nach der Rechtslage, in die Zuständigkeit der Länder und der unteren Verwaltungsbehörden fällt: die Ver pflichtung zum Schutz der Bürger trifft, allerspätestens bei Großkatastrophen vom Ausmaß eines Erdbebens wie dem in Indien, alle politisch Verantwortlichen, und zwar unabhängig von der Verfassungsebene. Und diese Verantwortung trifft auch und gerade den Bundesinnenminister.

Wir hatten vor wenigen Wochen Anlass, uns auf ein Ereignis vorzubereiten, das die Möglichkeit in sich barg, sich zu einer Katastrophe zu entwickeln; diese wird definiert, um etwa das einschlägige baden-württembergische Landesgesetz zu zi- tieren, mit den Worten: ein Geschehen, das Leben oder Gesundheit zahlreicher Menschen, die Umwelt, erhebliche Sachwerte oder die lebensnotwendige Versor- gung der Bevölkerung in so ungewöhnlichem Maße gefährdet oder schädigt, dass es geboten erscheint, ein zu seiner Abwehr und Bekämpfung erforderliche Zusam- menwirken von Behörden, Stellen und Organisationen unter die einheitliche Leitung der Katastrophenschutzbehörde zu stellen.

Es ging um die Operation der russischen Raumfahrtbehörde, die Raumstation MIR zur Erde zurückzubringen. Im Verlauf von Bremsmanövern, das war nicht auszuschließen, hätte die Station außer Kontrolle geraten können. Fairerweise 117 2111 Bd.52 IH neu 16.06.2003 9:46 Uhr Seite 118

muss ich eingestehen, dass die westliche Welt, Deutschland eingeschlossen, an- gesichts der schwierigen wirtschaftlichen Situation Russlands und vor dem Hinter- grund der komplexen technischen Abläufe von dieser Sorge ganz akut geplagt war. Die Folge eines Scheiterns der Operation wäre gewesen: tonnenschwere Trümmer hätten statt im Zielgebiet, dem Pazifischen Ozean, irgendwo unterhalb des 53. Breitengrades, also möglicherweise auch in der Mitte oder im Süden Deutschlands, hinweg zu Boden stürzen können.

Das Bundesinnenministerium hatte mit anderen Bundesministerien, mit den Län- dern und den westlichen Raumfahrtorganisationen, ein über mehrere Monate operierendes Lagezentrum eingerichtet, um sich auf diesen gedachten Fall vorzu- bereiten. Es stand kontinuierlich mit der russischen Raumfahrtbehörde in Verbin- dung. Allen Beteiligten – den Ländern vor allem – will ich bei dieser Gelegenheit für die unkomplizierte Zusammenarbeit danken, die eine Premiere war was die Bewältigung von Großschadenslagen angeht. Jede solcher Operationen ist ja auch ein Lehrstück für die Zukunft.

Die befürchtete Katastrophe bei der Landung der MIR blieb glücklicherweise aus. Man mag im Nachhinein deshalb unseren Aufwand belächeln – wir hatten ein Lagezentrum eingerichtet, Alarmpläne ausgearbeitet, Verbindungen zum Ka- tastrophenschutz aufgebaut, Warnrufe an die Bevölkerung vorbereitet. Die Ver- waltungen hatten sich in aller Stille vorbereitet, die Politik war informiert; die Tageszeitungen berichteten in eher kurzen Beiträgen, ohne das Ereignis zu dra- matisieren. In der Regel ging es dabei um die Geschichte des Raumkörpers und nicht um das Risiko seines Scheiterns und die möglichen Katastrophen. Nervo- sität kam nur zeitweilig auf, nachdem ein Wissender einem Massenblatt unsere Planung mitgeteilt hatte. Das brachte für Momente einen etwas hysterischen Zug in die Berichterstattung; davon beunruhigt waren aber weniger die Fachleute als die oben genannte, in der Verantwortung stehende Politik.

Sie als Fachkundige werden mir zustimmen: auch wenn es nie das übertriebene Risiko einer MIR-Katastrophe gegeben haben mag, der Aufwand war in jedem Falle gerechtfertigt. Das unterscheidet unsere Planung für die MIR nicht von an- deren Planungen der Katastrophenvorsorge. Ob gerechtfertigt oder nicht, beant- wortet sich im übrigen am allereinfachsten, wenn man sich vorstellt, im konkreten Fall wäre ein tonnenschweres Trümmerteil mit Rennwagengeschwindigkeit hier in Freiburg niedergegangen; und verblüfft hätte der Herr Oberbürgermeister als Chef des örtlichen Katastrophenschutzes nach indischem Beispiel bekennen müssen, niemand sei darauf eingerichtet gewesen.

Am Vorgang MIR lässt sich trefflich demonstrieren, wann und warum man in vergleichbaren Fällen vom Staat – Staat im weitesten Sinne – erwartet (und er- warten darf), dass er etwas tut. Das ergibt sich zum einen daraus, dass dem Einzelnen bei Unglücksfällen eines bestimmten Typs oder Ausmaßes – spätestens wenn wir von Katastrophe sprechen – die Fähigkeit fehlt, Vorsorge für sich selbst zu treffen, sich zu schützen oder zu retten.

118 2111 Bd.52 IH neu 16.06.2003 9:46 Uhr Seite 119

Es liegt freilich auch in der Art und Weise begründet, wie wir unser gemein- schaftliches Leben organisieren. Für die Sicherheit – nach innen wie nach außen – wird das Gemeinwesen in Anspruch genommen. Das ist nicht erst eine Aus- wirkung des modernen Staatswesens und Konsequenz aus der Bereitschaft des Einzelnen, sich der staatlichen Herrschaft unterzuordnen. Bewährung in der Not ist seit jeher eine der Grundlegitimationen des Staates.

Der Mensch früherer Zeiten war frei und unabhängig, dafür war er auch bei der Abwehr von Gefahren auf sich selbst gestellt. Diese Brauchbarkeit des Staates reicht bis weit vor die Zeiten der Aufklärung zurück. Ein Beamter, der sich heute im Feld des Katastrophenschutzes bewegt, wird sich kaum auf eine moralische Ver pflichtung berufen, Mitmenschen vor Gefahren zu schützen oder sich im Falle des Eintritts nicht aus Menschenfreundlichkeit gedrängt fühlen, Folgen zu behe- ben oder zu lindern. Vielmehr gehört es zum Selbstverständnis des öffentlichen Bereichs, Problemen nicht auszuweichen und Lösungen für sie zu suchen. Das lässt sich am Katastrophenschutz sehr schön nachweisen.

Die zunehmende Inpflichtnahme des modernen Staates für die Gefahrenabwehr beruht auf seiner besseren Qualifikation. Auch der Staat kann freilich Kata- strophen nicht ausschließen, das kann keine menschliche Organisation. Aber der Staat kann regelmäßig mehr Schutz geben als der Einzelne: ihm stehen Mittel zu Gebote, Gefahrenquellen zu entdecken und den Eintritt von Gefahren vorauszu- sagen, gegen ihren Eintritt, zur Rettung aus ihnen oder zur Folgenbeseitigung Vorsorge zu treffen.

Die entscheidende und viel wichtigere Konsequenz der Rolle des Staates bei der Gefahrenabwehr ist die unbestreitbare Verkümmerung des individuellen Gefahr- bewusstseins. Es mag widersinnig klingen, sie ist umgekehrt sogar Folge der aus- drücklich zu nennenden hohen Qualifikation der Rettungsdienste und Hilfsorgani- sationen, die – ungeachtet der vom Staat übernommenen Gesamtverantwortung – in concreto die Gefahrenabwehr betreiben. Für den Bürger ist es nämlich gut zu wissen (hierher gehört das Zitat der „Nachtwächter“szene aus den Meistersingern), dass er sich zur Ruhe begeben kann, weil andere zuverlässig über seine Sicherheit wachen.

In ähnlicher Weise trägt zur Verkümmerung des Gefahrenbewusstseins die Technik bei. Wir werden von unseren Ingenieuren mit einer Fülle von Vorrichtun- gen ausgestattet, die unser Leben sicherer machen sollen; der Trockengehschutz bei der Herdplatte – die Einbruchsicherung an unserer Wohnung – aIs Dieb- stahlschutz die Wegfahrsperre beim Kraftwagen – der Airbag a1s Unfallschutz – die Schnellabschaltung für technische Abläufe, um einige zufällig ausgewählte Beispiele zu nennen. Wir verlassen uns auf die Maschine, die es uns abnehmen soll, der möglichen Gefahr selbst zu begegnen, sie überhaupt erst wahrzunehmen. Wir empfinden es bisweilen als unanständig, wenn solche Hilfen fehlen und uns wieder abgefordert wird, für Sicherheit selbst zu sorgen.

Der ungebrochene Glaube an die Leistungsfähigkeit der Technik bringt den Staat in eine neue Rolle: so zwingt er etwa die Betreiber immer leistungsstärkerer und schnellerer Verkehrsträger, noch sorgfältigere Vorgaben und Kontrollen für die

119 2111 Bd.52 IH neu 16.06.2003 9:46 Uhr Seite 120

Sicherheit einzubauen, sich noch gründlicher beraten zu lassen, um neuartigen Gefahren auf die Spur zu kommen. Und jede dieser Vorgaben ist für den gedachten Fall des Scheiterns mit zusätzlichen Vorkehrungen für die Katastrophenhilfe verbun- den. All das ist nicht zum Nulltarif zu haben. Deshalb möge sich niemand beklagen, der Staat und seine Organe ließen sich ihren Aufwand für den Schutz vor Gefahren entgelten. Niemand soll andererseits bejammern, wenn der Staat dem Bürger mögli- cherweise wieder mehr Eigenverantwortung für die eigene Sicherheit zumutet, weil der bestimmte Leistungen als zu aufwendig empfindet. Die veränderte Wahrneh- mung technogener Gefahren – das der Vollständigkeit halber – bleibt naturgemäß nicht ohne Auswirkung auf den Umgang mit Gefahren aus der natürlichen Umwelt.

Das Bewusstsein für Gefahr kann nicht zuletzt durch die uns eröffnete Möglich- keit verkümmern, Sicherheit einzukaufen, will sagen durch die Versicherung. Hier werden Gefahren und ihre Abwehr umgewandelt in ein mathematisch bere- chenbares, kaufmännisch kalkuliertes Risiko, das sich in den letzten zweihundert Jahren, wie bekannt, zu großer Blüte entwickelt hat.

Nicht dass ich das für eine falsche Entwicklung hielte. Problematisch wäre sie nur, wenn dadurch das Bewusstsein für Gefahren verloren ginge und damit die Eigenverantwortung für Sicherheit. Wer sich etwa durch die Kaskoversicherung von der Pflicht zu verantwortungsbewusstem Autofahren entbunden fühlen wür- de, durch die Hausversicherung vor sorgfältiger Berücksichtigung von Natur- gefahren in der häuslichen Nachbarschaft, durch die Reiseversicherung vor maßvoller Erkundung der Welt – der handelt ein Stück weit verantwortungslos und zu Lasten der Gemeinschaft.

Auf dem Symposium des THW hatte Herr Schöttler in seinem Vortrag zur Zukunfts- fähigkeit unseres Schutzsystems das hierher gehörende Beispiel vom Autofahrer ge- bracht, der sich bei einer Panne weigert, den Reifen selbst zu wechseln, weil er als ADAC-Mitglied doch den Straßenwachtfahrer kommandieren kann.

Ohne dass ich Versicherungsgesellschaften von ihrer Bereitschaft zur Risikoüber- nahme entlasten oder sie belehren wollte: zum verantwortungsbewussten Versichern gehört aber auch die sorgfältige Risikoverteilung zwischen Versichertem und Ver- sicherer, m.a.W. auch die Obliegenheiten des Versicherten sorgsam zu definieren. Das geschieht ja im Regelfalle über Gefahrklassen und ähnliche versicherungs- technische Vorkehrungen. Es ist zu begrüßen, wenn Versicherer auf diese Weise sogar dazu beitragen – ich denke hier an die neuartige Versicherung gegen Hoch- wasser – Gefahrenpotentiale abzubauen; wenn die Versicherer sich weigern, in den durch Hochwasser extrem gefährdeten Zonen zu versichern, dann hilft es dem Staat, die Besiedelung von solchen Risikozonen zu verhindern. Wer sich in der Komunalpolitik betätigt, weiß, wie schwer dies mit Hilfe von Bebauungsplänen gelingt. Und nur am Rande erinnere ich an die aus Anlass des Oderhochwassers geführte Diskussion um die Entsiedelung der Ziltendorfer Niederung.

Am Beispiel der Hochwasserversicherung wird deutlich: Gefahrenbewusstsein ist keine statische Angelegenheit. Der Wunsch nach Schutz ist permanent in der Gesellschaft vorhanden, aber es bedarf aktueller Anlässe, damit er ins öffentliche

120 2111 Bd.52 IH neu 16.06.2003 9:46 Uhr Seite 121

Bewusstsein dringt. Die periodischen Extremhochwasser am Rhein, das Erdbeben in Indien waren solche Anlässe. Bereits nach einem vergleichbaren Anlass, den Erdbeben in El Salvador, hatte es hierzulande Kommentare dramatischen Inhalts gegeben. So ließ das DRK mitteilen: »Wir leben in der trügerischen Vorstellung, bei uns werde schon nichts passieren«. Das mag geeignet oder bestimmt sein, das Interesse der Öffentlichkeit zu wecken. Obgleich im Hintergrund die im Kata- strophenschutz tätigen Behörden und Einrichtungen, also in erster Linie Feuer- wehren, aber auch das Technische Hilfswerk, unermüdlich tätig sind, eine stets einsatzbereite Truppe von mehr als einer Million Männern und Frauen zu organi- sieren und zu trainieren. Deshalb widerspreche ich nachdrücklich dem Vorwurf, Deutschland sei auf Katastrophen des Ausmaßes wie in Indien nicht vorbereitet. Auch die Geschwindigkeit, mit der deutsche Organisationen sich international in solche Katastrophen als Helfer einbeziehen, ganz zu schweigen von den nationa- len Einsätzen, widerlegt solche Horrorvergleiche.

Auf die notwendige wissenschaftliche Begleitung dieses Prozesses gehe ich später ein. Gefahrbewusstsein ist weltweit nicht in gleicher Intensität vorhanden. Es er- füllt mich in der Verantwortung für Zivilschutz und Katastrophenvorsorge schon mit Neid, wenn ich am Ende der alljährlichen Haushaltsverhandlungen den Um- fang der mir zu Gebote stehenden finanziellen Mittel mit dem vergleiche, was anderwärts – etwa in den skandinavischen Ländern – zur Gefahrenvorsorge zur Verfügung gestellt wird.

Wenn man mich fragt, ob Finnen, Schweden oder Norweger in ihrem National- charakter durch mehr Ängstlichkeit geprägt sind, so müsste ich dem lebhaft wider- sprechen. Im Gegenteil, von deren Selbstbewusstsein im Umgang mit dem Öffent- lichen würde ich mir gelegentlich eine Portion für uns wünschen. Es gibt reale Hintergründe für diese andere Form des Umgangs mit Gefahren, die wir hier nicht ausbreiten müssen. Vor allem liegt ihm eine bewusste Entscheidung der Politik zugrunde, der Bevölkerung ein bestimmtes, möglicherweise von uns abweichen- des Maß an Vorsorge zukommen zu lassen.

Woher aber holt die Politik sich dieses Wissen? Sie ist darauf angewiesen, sich eine realistische Einschätzung von Gefahr im weitesten Sinne vermitteln zu las- sen. Gefahrbewusstsein ist vermittelbar und lernbar, es wäre vermessen, von je- dermann die Fähigkeit zu erwarten, Gefahren in seiner Umgebung realistisch und umfassend einzuschätzen. Das gilt für den Bürger wie für die Politik. Katastrophen- schutz ist die Akzeptanz der Unzulänglichkeit menschlichen Tuns. Politik braucht hier Beratung.

Ich möchte heute eine Einrichtung würdigen und ihren Trägern danken, die die Bundesregierung bei der Suche nach Sicherheit vor Gefahren berät.

Dies tue ich auch im Namen von Herrn Minister Schily, der wegen einer Aus- landsverpflichtung jetzt nicht hier sein kann. Er hat mich gebeten, Ihnen seine Grüße für diese Festveranstaltung zu übermitteln; Ihnen Herr Professor Dr. Scharmann als langjährigen Vorsitzenden, Frau Seifert als der sprichwörtlichen guten Seele im Hintergrund und Herrn Professor Dr. Weiss, dem Sekretär, aber

121 2111 Bd.52 IH neu 16.06.2003 9:46 Uhr Seite 122

auch allen Mitgliedern der Schutzkommission für Ihre Arbeit zu danken. Er wünscht der Schutzkommission eine gute Zukunft. Wir sind, meine Herren, auf Sie und Ihre Zuarbeit angewiesen.

Die Schutzkommission beim Bundesminister des Innern tut ihre Arbeit seit nun- mehr fünfzig Jahren. Es sollte nicht unerwähnt bleiben, dass wir dieses Jubiläum im Jahr des Ehrenamtes begehen. Und besonders freut es mich, diesen Anlass hier in Freiburg im Breisgau feiern zu dürfen. Ich habe der Stadt Freiburg für die Bereitschaft zu danken, das Jubiläum der Schutzkommission in so gastfreundlicher Weise zu würdigen.

Dass es eine Einrichtung nach Art der ehrenamtlich arbeitenden Schutzkommission gibt, wird den wenigsten Menschen in diesem Lande bekannt sein. Die Geschichte dieser Kommission ist noch nicht geschrieben, man muss das ja nicht unbedingt mit runden Festtagen verbinden. Im übrigen braucht der Herr Vorsitzende eine Aufgabe für seinen Ruhestand – wenn er diesen denn als Emeritus anstrebt.

Zu meiner Verwunderung hat man mir aus den Akten des Innenministeriums nur sehr wenige Dokumente über die Entstehung dieser Kommission geben können.

Der Anstoß zu ihrer Errichtung ist, das ist gesichert, nur aus der Situation der mi- litärischen Bedrohung zu Beginn des Kalten Krieges zu erklären: für uns heute Älteren, die der Bedrohung des Zweiten Weltkrieges entkommen waren, stand angesichts der Verschärfung der politischen Lage zwischen Ost und West am Be- ginn des Koreakrieges die apokalyptische Gefahr atomarer Vernichtung, Verseu- chung bedrohlich im Hintergrund.

Eine der wenigen Quellen ist ein Brief des Bundesministers des Innern, Dr. Lehr an seine Kollegen im Bundesministerium der Finanzen.

Dort heißt es – ich zitiere mit Ihrer Erlaubnis –:

„Am 21.11.1950 hat in meinem Ministerium ein verbindlicher Meinungsaus- tausch zwischen Wissenschaftlern und Politikern auf dem Gebiet des Luftschutzes stattgefunden, an dem insbesondere auch das Physikalische Institut der Uni- versität Bonn durch Herrn Professor Dr. Riezler vertreten war.“ Und er kommt dann auf einen zweiten Initiator zu sprechen, der heute eher als der Stifter der Kommission in Anspruch genommen wird. Ich zitiere weiter: „Am 8.1.1951 hat sich im Max-Planck-Institut in Göttingen unter dem Vorsitz von Professor Dr. Heisenberg der ‚Deutsche Forschungsrat in der Deutschen For- schungsgemeinschaft‘ in seiner ,Kommission zum Schutz der Zivilbevölkerung ge- gen kernphysikalische, chemische und biologische Angriffe (Schutzkommission des Deutschen Forschungsrates)‘ mit den Problemen befasst, die sich mit der Wiedereinrichtung eines deutschen Luftschutzes ergeben.“

122 2111 Bd.52 IH neu 16.06.2003 9:46 Uhr Seite 123

Hier wird beide Male ausdrücklich der Begriff »Luftschutz« gebraucht. Damit der Herr Vorsitzende nicht neidisch wird, sage ich – ganz leise – wie vieler Aus- schüsse sich die beiden Kommissionen bedienten, um ihre Arbeit zu erledigen: es waren – und da waren schon zwei zusammen gefasst worden – sage und schreibe 16. Und wenn der Herr Vorsitzende weg hört, sage ich auch, wieviel Geld der Bundes- minister des Innern von seinem Finanzkollegen für das Haushaltsjahr 1952 verlangte: „etwa 500.000,- DM“, das sind nach heutigem Geld zwischen zwei und gut drei Millionen DM. Notabene: dies war nur fünf Jahre nach dem Ende des Reichsluftschutzes und nur zwei Jahre nach Gründung der Bundesrepublik Deutschland, als der Aufbau des Bundesministeriums des Innern längst nicht abge- schlossen war.

Aus der Einleitung des Briefes von Dr. Lehr wird auch deutlich, warum die etwas gewundene Ausdrucksweise und warum der Anstoß für die Gründung einer bzw. zweier Schutzkommissionen aus der Wissenschaft und nicht der Politik kam. Ich zitiere:

„Durch das Kontrollgesetz Nr. 23 vom 4.10.46 ist es der Deutschen Bundes- republik z.Zt. noch verboten, sich mit Luftschutzeinrichtungen und Organisa- tionen zu befassen, soweit sie militärischen Zwecken dienen oder eine mögliche Nutzbarmachung für Kriegszwecke vorsehen. Die Vorbereitung einiger defensiver Luftschutzmaßnahmen wird dadurch jedoch nicht betroffen. Dieser Umstand“, so Dr. Lehr, „hat dazu geführt, dass in der Öffentlichkeit das Problem des Schutzes gegen Atombomben-Explosionen und ihre Folgen in wissenschaftlichen und po- pulären Veröffentlichungen erörtert wird, die sich größtenteils auf die im europäi- schen und außereuropäischen Ausland weit vorgetriebenen Forschung stützen.“

Wenn man so will: auch hier war der Krieg wieder einmal der Vater der Dinge, diesmal der Schutzkommission. Ich will an dieser Stelle auch den ersten Vor- sitzenden der Schutzkommission würdigen, Herrn Professor Dr. Riezler.

Wichtig für die Geschichte der Schutzkommission und mit dieser zweiten Station will ich der historischen Betrachtung ihr Bewenden lassen, ist die reibungslose Überleitung der DFG-Kommission in die Schutzkommission beim Bundes- ministerium des Innern zehn Jahre nach ihrer Gründung. In einer Niederschrift über die Sitzung im Bundesministerium des Innern mit den Wissenschaftlern der Schutzkommission vom 11. Januar 1962 wird berichtet, ich zitiere:

„von dem Schreiben des Herrn Präsidenten der Deutschen Forschungsgemein- schaft, Herrn Professor Hess, vom 26. Oktober 1961“ demzufolge „der Senat der Deutschen Forschungsgemeinschaft am 20. Oktober 1961 beschlossen (hat), die Schutzkommission an das Bundesministerium des Innern zurückzugeben.“

Das war eine sehr salomonische Formulierung für Unlust an der Fortführung der Arbeit, weil sie, so die Begründung, nicht in die Struktur der Forschungsge- meinschaft passte. Ergebnis dieser Sitzung war dann ein Beschluss über den Fort- bestand der Kommission als „Schutzkommission beim Bundesministerium des Innern“ unter Leitung von Professor Dr. Riezler. Damals wurden auch die Un-

123 2111 Bd.52 IH neu 16.06.2003 9:46 Uhr Seite 124

abhängigkeit der Kommission und ihre Struktur, etwa die Einrichtung einer In- neren Kommission, festgelegt. Es wird Ihnen nicht entgangen sein, dass wir die Kommission seit der letzten Satzungsänderung als „Schutzkommission beim Bundesminister des Innern“ führen.

Die Niederschrift über die konstituierende Sitzung der (neuen) Schutzkommis- sion am 27. Februar 1962 dokumentiert – nicht anders als heutige Niederschriften der Kommission – in eindrucksvoller Weise das Engagement vielfältiger Diszipli- nen der deutschen Wissenschaft.

Die von der militärischen Nutzung des Atoms ausgehende Gefahr, ich deutete das an, ist inzwischen in den Hintergrund getreten. Auch Tschernobyl liegt bereits mehr als ein Jahrzehnt zurück, ein Castortransport erregt nur noch eine Minderheit hierzulande.

Ich will damit die Ernsthaftigkeit der Wahrnehmung einer aktuellen Gefahr nicht in Frage stellen. Vorhin sprach ich aber von der Veränderbarkeit des Gefahr- bewusstseins. So hat sich auch das Selbstverständnis der Schutzkommission bzw. der beiden am Anfang existierenden Kommissionen verändert. Längst versteht die Kommission, was sich schon in der Sitzung zur Neugründung 1962 abzeich- nete, ihren Auftrag übergreifend. Die Kommission, so will ich es formulieren, hat sich demokratisiert, das hat ihrer Arbeit gut getan; die Kommission hat auch nicht die Sorge, ihre Ergebnisse könnten zum Schutz des Militärs nutzbar gemacht werden. Im Gegenteil, auch hier besteht ein erfreulicher interdisziplinärer, auch an einzelnen Personen festzumachender Austausch, der der Sache förderlich ist.

Wichtig ist mir, dass die Schutzkommission sich seit langem beim Aufspüren und Bewältigen von zivilen Großschadenslagen engagiert. lnsoweit hat sie die dem Bund durch Art. 73 Nr. 1 des Grundgesetzes gesetzte Kompetenzbeschränkung sinnvollerweise längst aufgegeben. Der im Oktober 1996 vorgelegte Gefahren- bericht und seine jetzige Fortschreibung tragen deshalb auch in der Langfassung die Überschrift „Mögliche Gefahren für die Bevölkerung bei Großkatastrophen und im Verteidigungsfall“. Die Schutzkommission, dafür bin ich ihr dankbar, hat damit mitgeholfen, den über lange Jahre gepflegten, unsäglichen Kompetenz- konflikt zwischen Bund und Ländern – hier: Zivilschutz, sprich Vorsorge für den Kriegsfall; dort: Katastrophenschutz, sprich: Vorsorge für Alltagsgefahren – zu überwinden. Gleichzeitig haben die Länder die in der Neukonzeption des Zivil- schutzes angelegte Aufgabenverlagerung positiv aufgegriffen. Konsequenz ist beispielsweise die von der Schutzkommission im Gefahrenbericht angemahnte stärkere Einbeziehung der Länder in ihre Forschungstätigkeit.

Auch mir erleichtert es meine Arbeit, wenn in meiner Amtszeit in dieser Weise zu dieser Entkrampfung beigetragen wurde. Denn wenn man Katastrophenschutz als Vorbereitung auf das Unabwendbare, wenn sie es anders ausdrücken wollen, das Schicksal versteht, dann macht es keinen Unterschied, ob Auslöser einer Kata- strophe ein militärischer Akt ist, oder ob es sich um eine zivile Katastrophe han- delt, sei sie vom Menschen oder durch die Natur verursacht. Am Ende sind immer identische Menschen in identischer Gefahr.

124 2111 Bd.52 IH neu 16.06.2003 9:46 Uhr Seite 125

Ich will nicht versäumen anzufügen, dass die mit der Entspannung im Ost-West- Verhältnis einhergehenden Veränderungen im Sicherheitsgefüge der Welt nur über eine kurze Spanne auch als Entspannung für den Zivil- und Katastrophen- schutz empfunden werden konnten. Inzwischen entwickeln sich neue Gefahren- potentiale, die das Bewusstsein für militärische Gefahren wieder deutlicher ins Bewusstsein rücken lassen. Wo dieser Prozess noch nicht angekommen ist, möge das folgen.

Daraus erwachsen auch für die Schutzkommission neue Aufgaben. Ich will sagen: die Schutzkommission bleibt für die Bundesregierung im Ansatz unverzichtbar, mag sie sich auch – so wie es in der Vergangenheit immer wieder geschehen ist – in ihrer Struktur und in ihrem Selbstverständnis verändert haben. Und es verdient an dieser Stelle mit Blick auf die Politik in Erinnerung gerufen zu werden, wo- rauf die Schutzkommission im Gefahrenbericht hinweist, – ich zitiere „dass ein Großteil der hier einschlägigen Themen nicht zu den an Universitäten und ein- schlägigen Forschungseinrichtungen ohnehin bearbeiteten Fragestellungen zählt.“ Mit anderen Worten: man kann nicht das bei Bedarf notwendige Wissen von Sei- ten des Staates per Knopfdruck abrufen.

Auf die Frage nach dem Zustand des deutschen Katastrophenschutzes könnte ich mangels Zuständigkeit des Bundes, für den ich spreche, die Antwort verweigern und an die zuständigen Länder verweisen. Da ich aber nicht bereit bin, mit einer solchen Reaktion Spekulationen über Ungereimtheiten des deutschen Föderalis- mus Vorschub zu leisten, würde ich antworten: ich könnte ihn mir besser vorstellen.

Damit Sie mich nicht falsch verstehen: das beziehe ich nicht auf die Arbeit der sechzehn deutschen Länder, ihrer Katastrophenschutzorganisationen. Da wird Großartiges geleistet. Aber eben sechzehn Mal. Ich will damit sagen – und werde das noch mit einigen Hinweisen belegen – die Zusammenarbeit könnte besser sein. Dennoch sind wir längst über den Zustand hinaus, in dem, wie ich es un- längst formuliert fand, das partnerschaftliche Miteinander von Bund und Ländern negiert oder als illegitimer Eingriffsversuch betrachtet wird.

Um einer möglichen Verstimmung der hier anwesenden Ländervertreter zu be- gegnen, will ich ausdrücklich hervorheben – und da halte ich mir – um es noch einmal zu loben – zugute, die mir bei Amtsantritt vermittelte Unüberwindbarkeit der Zuständigkeitsregelung mit tätiger Hilfe meiner Länderkollegen aufgelockert zu haben; ich kann mich jedenfalls über die Zusammenarbeit auf der politischen Ebene, sprich: im Arbeitskreis V – Feuerwehrangelegenheiten, Rettungsdienst, Katastrophenschutz und Zivilverteidigung – der Ständigen Konferenz der Innenminister und -senatoren (IMK), nicht beklagen.

Gleichwohl wird allenthalben Unzufriedenheit mit der Situation im deutschen Katastrophenschutz laut. Ich räume ein, das Unbehagen richtet sich zunächst gegen den Bund, will sagen, gegen die Behandlung des Themas Zivilschutz.

125 2111 Bd.52 IH neu 16.06.2003 9:46 Uhr Seite 126

Das ist im Ansatz unbegründet. Zivilschutz ist die aus der Zuständigkeit des Ge- samtstaates für die Verteidigung abgeleitete Verpflichtung zum Schutz der Zivil- bevölkerung in militärischen Krisen. Umfang und Gestalt dieser Aufgabe, ich er- wähnte das bereits mehrfach, sind nicht statisch, sie richten sich vernünftigerweise an der politischen Lage aus. Und die hatte sich ab Mitte der 80er Jahre grundlegend geändert.

Die konstante Spannungslage zwischen den beiden Militärblöcken, die die Arbeit des vormaligen Bundesamtes für Zivilschutz legitimierte, gibt es nicht mehr. Es wäre widersinnig, dies bei der Wahrnehmung der Aufgabe nicht zu berücksichti- gen. Also war es nicht nur gerechtfertigt, sondern sogar gefordert, den Einsatz von Mitteln und die Organisation der Aufgabe zu verändern. Ergebnis war das Zivilschutzneuordnungsgesetz.

Zweifel zu äußern, ob das der große Wurf war, steht mir nicht zu. Aber die Frage muss schon erlaubt sein, warum die 1997 gefundene Lösung schon zwei Jahre später wieder in Frage gestellt werden konnte. Nicht ohne Grund wird der Vorwurf erho- ben, die Konzeption sei nur unzureichend in die Wirklichkeit übertragen worden.

Das ungelöste Grundproblem war die nach meinem Eindruck unzureichende Ko- ordinierung der verschiedenen Ebenen. Das unterschied den Zivilschutz nicht vom Katastrophenschutz. Deshalb sind wir jetzt dabei, nachzuarbeiten. Nach mei- ner Vorstellung soll die Akademie für Nofallvorsorge und Zivilschutz, die jetzt zum Bundesverwaltungsamt gehört, bei der Entwicklung konzeptioneller Vor- stellungen – national wie international – eine neue Rolle übernehmen. Das setzt eine noch engere Zusammenarbeit mit den Akteuren der Notfallvorsorge voraus d.h, den Ländern, den Feuerwehren, vor allem aber so wichtigen Organisationen wie der ständigen Konferenz und dem DKKV, nicht zuletzt aber mit der Wis- senschaft. Beispielhaft seien erwähnt die Bund-Länder-Arbeitsgruppen, die sich derzeit beispielsweise mit dem Aufbau eines modernen Warnsystems, einem Schutzplatzkonzept oder der Kostenregelung auf Standortebene befassen. Für die mit der Materie nicht so vertrauten: hier finanziert der Bund Leistungen der Rettungsdienste und Hilfsorganisationen, die sich dem Zivilschutz widmen und ihre Dienste und Geräte übergreifend für den Katastrophenschutz – also in Frie- denszeiten – bereit halten.

Besondere Bedeutung kommt dem Deutschen Notfallvorsorge-Informations- system, kurz deNIS, zu. Es soll Bund, Ländern, Kommunen und anderen verant- wortlichen Stellen jederzeit die rasche Information über Helfer und Ressourcen ermöglichen, Geodaten speichern, ferner im Falle der Einberufung der interminis- teriellen Koordinierungsgruppe für großflächige Gefahrenlagen diese bewerten und – ohne der Kompetenz der örtlichen Leitstellen vorzugreifen – die Erarbei- tung aktueller Lagebilder und Handlungsoptionen unterstützen. Zu den potentiel- len Nutzern zählen wir auch die Wirtschaft und die Wissenschaft. Die Informa- tionszentrale soll auch ein wichtiger Baustein in dem sich entwickelnden europä- ischen Notfall-Kommunikationssytem werden. Beim Aufbau von deNIS arbeiten wir eng mit den Ländern zusammen.

126 2111 Bd.52 IH neu 16.06.2003 9:46 Uhr Seite 127

Die gleiche enge Zusammenarbeit pflegen wir auch bei der Forschung, sowohl mit den Bundesländern als auch mit der Schutzkommission. Ein wichtiger Baustein in diesem konzeptionellen Verbund ist die Akademie für Notfallvorsorge und Zivilschutz (AkNZ) als Ausbildungs- und Begegnungsstätte, national wie inter- national. Die neue Rolle der AkNZ half, ihre Schließung zu verhindern, die ja auch leichthin diskutiert wurde, als der Zivilschutz in die Bundesoberbehörde Bundes- verwaltungsamt übernommen und das Bundesamt für Zivilschutz aufgelöst wurde.

Ohne dass ich die Diskussion um diese organisatorische Maßnahme im Geschäfts- bereich des Bundesministeriums des Innern wieder beleben will: man sollte die- sen staatsorganisatorischen Vorgang nicht überdramatisieren. Die Politik durfte – wie ich sagte – die Augen nicht davor verschließen, dass angesichts der Verände- rung der Bedrohungslage dem Abbau des West-Ost-Konflikts der Zivilschutz in seiner ursprünglichen, aber auch in der 1995 konzipierten Form nicht mehr trag- fähig war. Entscheidend ist vor allem: die Aufgabe „Zivilschutz“ wird auch in der Zukunft angemessen und ungeschmälert, wenn auch mit neuen Akzenten wahrge- nommen. Es wird Aufgabe sein, das so zu organisieren, dass bei einer Verände- rung der geostrategischen Lage der Zivilschutz rasch an neue Gefahren angepasst werden und auf sie reagieren kann. Wichtig ist des Weiteren, dass am Grundge- danken der Neukonzeption, nämlich dem gemeinsamen Hilfeleistungskonzept, festgehalten wird.

Deshalb stimmte ich der Bewertung dieses organisatorischen Schrittes durch das Deutsche Komitee für Katastrophenvorsorge nicht zu, es habe dem Bund Mög- lichkeiten genommen, auf die Gestaltung des Katastrophenschutzes Einfluss zu nehmen. Man kann das genau andersherum sehen: die kritische Prüfung der Haushaltsansätze setzt den Bund in die Lage, von den Ländern eine selbstkriti- sche Auseinandersetzung mit dem Einsatz der vorhandenen Mittel zu verlangen. Und das findet statt im AK V, aber auch in parallelen Runden des Bundes und der Länder ganz aktuell in zwei Wochen in der Akademie.

Um es auf den Punkt zu bringen: die Sorge teile ich nicht, der Zivil- und Katastro- phenschutz als vierte Säule des Systems der Inneren Sicherheit könnte „notlei- dend“ werden. Wir werden allerdings nicht alles beim Alten lassen können. Die Herausforderungen liegen unter anderem beim Aufbau internationaler Katastro- phenschutzstrukturen, die vom europäischen Rat in Feira gefordert wurden, der Fortsetzung der nationalen Umsetzung der Zivilschutzkonzepte und bei der Berücksichtigung neuer Bedrohungen. Beispielhaft möchte ich hier Bioterro- rismus, Seuchen und Gefahren aus modernen Technologien nennen. Hierbei setzen wir auch weiterhin auf die fachkundige Unterstützung durch die Schutzkommission.

Die Europäische Union ist hier initiativ geworden. Die in diesem Zusammenhang vorgesehenen Maßnahmen wie z.B. der Aufbau von Schnelleinsatzeinheiten und Evaluierungsteams werden auch national bei Katastrophen innerhalb der EU in hohem Maße geeignet sein und können zu einem effektiven Bevölkerungsschutz beitragen. Die Instrumente und Strukturen hierfür zu erarbeiten wird noch erheb- licher Anstrengungen bedürfen.

127 2111 Bd.52 IH neu 16.06.2003 9:46 Uhr Seite 128

Allerdings sollte nicht der Eindruck aufkommen, Zivil- und Katastrophenschutz wollten sich künftig nur auf ausländische Unterstützung stützen. Nationale Vor- kehrungen bleiben auch in Zukunft die Grundlage des Bevölkerungsschutzes. Hier bleibt, wie ich wohl hinreichend deutlich gemacht habe, jenseits besserer Koordinierung und intensiverer Zusammenarbeit noch eine ganze Menge zu tun.

Die bereits erwähnten Bemühungen zur Gewährleistung der Warnung der Bevölke- rung unter Berücksichtigung der technischen Entwicklungen auf dem Kommuni- kationssektor gehören hierzu ebenso wie die Überlegungen zur Entwicklung eines neuen Schutzplatzkonzepts oder das Nachdenken über besser abgestimmte Aus- stattung mit Fahrzeugen. Die Anpassung der Struktur des Technischen Hilfswerks an die sich ändernden Rahmenbedingungen gehört ebenfalls in diesen Zusammenhang.

Bei der Beurteilung neuer Bedrohungen und technischer Entwicklungen wird uns der fortgeschriebene Gefahrenbericht – so bin ich zuversichtlich – wertvolle Hinweise geben. Das gilt sowohl für die Forschungsplanung als auch für präven- tive Maßnahmen, denn Vorbeugen ist allemal besser als Heilen.

Über die Beschäftigung mit diesen neuen Aufgabenfeldern sollten wir den Jubiläumscharakter der heutigen Veranstaltung nicht vergessen. Ich freue mich mit Ihnen auf die Gelegenheit, im Anschluss hieran auf eine fruchtbare und erfolgreiche Zusammenarbeit anstoßen zu können.

Ich schließe mit dem nochmaligen Dank an die, die das Unternehmen Schutz- kommission vorwärts getragen haben und wünsche der Schutzkommission eine weiterhin aktive Rolle bei der Vorsorge für die Bevölkerung dieses Landes.

128 2111 Bd.52 IH neu 16.06.2003 9:46 Uhr Seite 129

ZÜRS – Zonierungssystem Überschwemmung Rückstau Starkregen

Horst H. Kriebisch

Ich darf vorausschicken, dass die Erarbeitung des Systems ZÜRS einen sehr ho- hen verbandspolitischen Stellenwert hat, insbesondere auch deshalb – ich komme noch darauf zu sprechen – weil es eine überzeugende Antwort auf die allgemei- nen politischen Herausforderungen beinhaltet.

Als wir vor ca. zwei Jahren die Entscheidung im zuständigen Fachausschuss ge- troffen haben, als Verbandslösung, ich betone als Verbandslösung, unseren Mit- gliedsunternehmen ein Handwerkszeug zur risikogerechten Zuweisung der Gebäude im Hinblick auf die Gefahr Überschwemmung/Hochwasser zur Verfügung stellen zu wollen, war Ausgangspunkt der Überlegungen, im Rahmen eines marktwirt- schaftlichen Modells den politischen Herausforderungen, die insbesondere anläss- lich der Oder-Katastrophe losgetreten wurden, aktiv mit einem versicherungs- technisch abgerundeten Verfahren begegnen zu können. Nicht unterschlagen werden darf an dieser Stelle, dass die deutsche Versicherungswirtschaft bereits ab 1992, ausgestattet mit dem damals noch erforderlichen Segen des BAV, im Rahmen der Hausrat-, Gebäude- und Geschäftsversicherung Deckungsschutz gegen Elementar- ereignisse anbietet. Wir hätten dieses Angebot schon sehr viel früher unseren Kunden unterbreitet, wenn nicht die seit eh und je aufrechterhaltene Rechtsauf- fassung des BAV, es handele sich bei der Deckung von Elementarereignissen um die Übernahme unversicherbarer Gefahren, dem im Wege gestanden hätte. Diesen Rechtsstandpunkt hat das BAV, natürlich auch aufgrund unserer Einlassungen, im Jahre 1991 aufgegeben.

Ich räume ein, dass die Platzierung der Elementarschadenversicherung im Privat- bereich seitens unserer Mitgliedsunternehmen in der Vergangenheit nur sehr ver- halten erfolgte. Grund hierfür war die Unsicherheit mit dem Umgang dieses neuen Versicherungsmodells, wenn ich nur an die Problemfelder Kumul, Vorschadens- feststellung oder Eintrittswahrscheinlichkeit einer Überschwemmung denke. Geholfen haben wir uns im Einzelfall dann damit, dass der VN im Antrag gewisse Spezifika bezüglich der potentiellen Uberschwemmungsgefahr vor Ort hinsicht- lich Vorschäden, Schadenhöhe etc. erklären musste. Ein sehr unsicheres und mit großen Mängeln behaftetes Verfahren, das in vielen Fällen den Grundsätzen der Versicherungstechnik bzgl. der Risikoübernahme durch Vertrag widersprach und wegen der unvollständigen und im Einzelnen nicht zu beantwortenden Abfragen widersprechen musste. Wir haben uns sodann auf dem Markt umgeschaut mit dem Ziel, ein praxistaugliches Bewertungssystem sozusagen von der Stange zu kaufen. Abgesehen von einem Angebot der Fa. Dornier gab es jedoch keine Umsetzungsmöglichkeiten. Sehr schnell haben unsere Fachleute festgestellt, dass das Dornier-System mit gravierenden Mängeln hinsichtlich der Aussagege- nauigkeit bezüglich der Risikodisposition eines Gebäudes behaftet war. Ziel aller 129 2111 Bd.52 IH neu 16.06.2003 9:46 Uhr Seite 130

Überlegungen war aber, dem Sachbearbeiter in der Akquise oder der Bestands- verwaltung ein objektgenaues, reales und damit benutzerfreundliches Auskunfts- system anbieten zu können. Diesem Anspruch werden wir – wie ich gleich dar- stellen werde – mit ZÜRS voll gerecht. Von daher ist davon auszugehen, dass nach Übergabe des Systems, was voraussichtlich Ende des Jahres der Fall sein wird, die Vertragsabschlüsse für die Elementarschadenversicherung flächen- deckend sehr deutlich zunehmen werden.

Der Vollständigkeit halber noch ein Wort zu der von mir erwähnten marktwirt- schaftlichen Grundlage der Elementarschadenversicherung. Hintergrund dieser Aussage ist die politische Diskussion über die angeblich erforderliche Einführung einer Elementarschadenpflichtversicherung, die auch diesen Kreis seinerzeit sehr beschäftigt hatte. Jüngste Initiative war die hier in Bayern anlässlich des Pfingst- hochwassers, bundesweit per Bundestags- bzw. Bundesratsbeschluss die Elementar- schadenpflichtversicherung bezüglich der Gefahr Überschwemmung gesetzlich zu verankern. Ich komme auf diese Aktion der bayerischen Staatsregierung noch zu sprechen, möchte aber an dieser Stelle die Diskussion nicht wieder eröffnen. Abschließend hierzu kann ich mit Befriedigung feststellen, dass die staatlichen Überlegungen zur Einführung einer Pflichtversicherung offensichtlich vom Tisch sind. Man ist unserem Rechtsstandpunkt gefolgt, dass eine Elementarschaden- pflichtversicherung verfassungsrechtlich nicht umsetzbar ist.

Soweit, meine Herren, meine Vorbemerkungen. Ich komme damit zur Vorstellung des Systems ZÜRS, wobei Sie mir bitte nachsehen wollen, dass ich neben den technischen Aussagen zu ZÜRS auch einige verbandspolitische Anmerkungen zur Elementarschadenversicherung mache, wie bereits geschehen.

ZÜRS ist ein sehr komplexes Thema. Es beinhaltet die ganze Spannweite der Ingenieurwissenschaft bezüglich eines geographischen Informationssystem bis hin zur Umsetzung der Grundprinzipien der Versicherungstechnik. Die Politik er- wartet von uns eine risikogerechte Bewertung und Einstufung der Gebäude, aber nicht eine – nach Aufgabe der Idee einer Pflichtversicherung – durch den Bestand quersubventionierte Versicherung. Damit würde ein evtl. vorhandenes risikoorien- tiertes Verhalten der Bürger abgeschafft, zumindest jedoch reduziert. Eine nicht risi- koorientierte Überschwemmungsversicherung würde in den hochexponierten Zo- nen zu einer Schadenerzeugungsmaschine. Im Interesse der Gesellschaft und der Versicherungswirtschaft brauchen wir daher einen risikoorientierten flächen- deckenden Versicherungsansatz.

Noch ein Wort zu der vielfach zitierten und strapazierten Quersubventionierung. Diese Form der Finanzierung des Versicherungsmodells Überschwemmung wäre zwingenderweise Bestandteil der eben angesprochenen Pflichtversicherung ge- wesen, die wir dem Grunde nach immer abgelehnt haben. Wichtig in diesem Zusammenhang ist das Faktum, dass nach unseren Ermittlungen lediglich 6 bis 8 Prozent aller Gebäude in Deutschland in der hochexponierten Gefährdungsstufe 3 liegen, also mit einer Eintrittswahrscheinlichkeit von 1 bis 10 Jahren rechnen müssen. Auf die entsprechenden Zonierungszuweisungen komme ich noch zu sprechen. Diese Risiken gelten gemeinhin aufgrund der kontinuierlich eintreten-

130 2111 Bd.52 IH neu 16.06.2003 9:46 Uhr Seite 131

den Schadenereignisse als nicht versicherbar, wobei ich als Verbandsmann diesen Ausdruck nicht benutzen darf. Will sagen, dass bei einer Quersubventionierung die Masse der VN dann quasi per Steuerabgabe diese notleidenden Risiken finan- zieren müsste. Auch ordnungspolitisch im Rahmen der von der neuen Bundes- regierung propagierten Steuerentlastungsdebatte ein Unding. Dennoch sind hier in Bayern – wie erwähnt – auf Kabinettsebene Stimmen laut geworden, gerade für dieses hochgefährdete Klientel Versicherungsschutz zu ermöglichen. Wir ste- hen in Verhandlung mit der bayerischen Staatsregierung im Hinblick auf die Er- arbeitung einer befriedigenden Lösung. Nach unseren Vorstellungen könnte diese so aussehen, dass wir zunächst eine Risikogemeinschaft der drei beteiligten Kreise bilden. Dies könnte so aussehen, dass dem Bürger ein deutlicher Selbst- behalt zur Korrektur des subjektiven Risikos auferlegt wird, wir denken hier an mindestens DM 10.000, die Versicherungswirtschaft eine Basisdeckung in noch zu definierender Höhe gegen adäquate Prämie übernimmt und schließlich der Staat eine Ausfallhaftung gegen Barleistung bezüglich der Schäden, die über die Grunddeckung hinausgehen, übernimmt. Dass dieses Modell nichts mehr mit risi- kobezogener Versicherungstechnik zu tun hat, liegt auf der Hand, da wir neben der Übernahme der Basisdeckung lediglich das Handling verwalten würden. Wir warten derzeit ab, ob unsere Überlegungen von der bayerischen Staatsregierung aufgegriffen werden.

Zurück zu ZÜRS.

ZÜRS ist so aufgebaut, dass wir mit dem System nicht nur das Überschwem- mungsrisiko sondern auch die Risiken aus Rückstau und Starkregen flächendeck- end abdecken. ZÜRS ist ein digitales, geographisches Zonierungssystem für Über- schwemmung, Rückstau und Starkregen – von daher der Name ZÜRS – auf räumlicher Ebene im Weltkoordinatensystem. Es geht somit um die Gefahren, die in den einschlägigen Bedingungswerken BEH und BEW versichert sind.

ZÜRS liefert verbandseinheitliche Zuordnung und Kennzeichnung von:

– Bestandsadressen mit Gefährdungsklassen – neuen Adressen über Adresseingabe mit und ohne Kartendarstellung und damit – versicherungstechnisch die Basis der Beitragsberechnung sowie – erstmalig eine umfassend versicherungstechnische Bewältigung der Elementargefahr Wasser.

Es erfolgt die Systemmitteilung über die Eintrittswahrscheinlichkeit einer Über- schwemmung und damit die Basis der konkreten Tarifierung.

Die verbandseinheitliche, d.h. von allen Unternehmen zu praktizierende Zonierungs- zuweisung ist marktentscheidend. Wir sind uns alle einig darin, dass insoweit kein Wettbewerbsinstrumentarium eröffnet werden darf. In der Praxis darf es nicht dazu kommen, dass das Unternehmen X das Gebäude Y der Zonierung 2 zuweist,

131 2111 Bd.52 IH neu 16.06.2003 9:46 Uhr Seite 132

das Konkurrenzunternehmen Z jedoch der Zone 1. Insofern gibt es auch techni- sche Restriktionen, die vom System her einen Eingriff in diese Logik verhindern.

ZÜRS bildet drei Gefährdungsklassen der Gebäude ab:

Gefährdungsklasse 1 Überschwemmungen sind seltener als einmal in 50 Jahren oder kommen über- haupt nicht vor.

Gefährdungsklasse 2 Überschwemmungen häufiger als einmal in 50 Jahren, aber seltener als einmal in 10 Jahren.

Gefährdungsklasse 3 Überschwemmung häufiger als einmal in 10 Jahren.

Die Zoneneinteilung ist das Ergebnis von Studien und Schadenanalysen unter wissenschaftlicher Begleitung. Dauerhaft oder wiederholt ergiebige Nieder- schläge über weiten Gebieten auch in Verbindung mit Schneeschmelze führen zu Überschwemmungen vor allem in den Tälern der großen Flüsse. Die dort mögli- che Risikokonzentration und die damit verbundene Kumulationsgefahr erfordern eine gesonderte Bewertung häufigerer und seltenerer Überschwemmungsrisiken.

Starkniederschläge nicht nur bei Gewittern lassen bei kleineren Flüssen die Wasserstände schnell ansteigen oder fließen unmittelbar als schädigendes Ober- flächenwasser (Erosions- und Abschwemmungsschäden) ab, sie sind örtlich begrenzt. Eine gesonderte Risikozonierung hat sich für dieses Risiko als nicht erforderlich erwiesen und auch nicht als metereologisch begründet dargestellt. Starkregen ist bundesweit gesehen ein flächendeckendes Phänomen ohne differenzierte und da- mit signifikante regionale Zuweisung.

Rückstau entsteht in der öffentlichen Kanalisation durch: – Rückstau aus Gewässern (Risikozonierung analog Flusshochwasser)

– Überlastung aus Kurzzeitniederschlägen (Örtlich begrenztes Schadenmuster) besonders bei mangelnder Bauvorsorge. Eine weitergehende Zonierung des Rückstaurisikos erübrigt sich. Bezüglich der von unserem Ausschuss entschiedenen Neuaufnahme der Gefahr Rückstau haben wir uns schwer getan. Dass Rückstau ein Versicherungsbedürfnis beinhaltet liegt auf der Hand, obwohl durch relativ einfache technische Mittel in Form von Rück- stauklappen bzw. Ventilen dieser Gefahr begegnet werden kann. Umstritten war aber die Frage, ob Rückstau nur bei Einhalten gewisser Obliegenheiten, nämlich dem Einbau einer Rückstauklappe versicherbar sein sollte, oder ob der VN von einer solchen Vorgabe befreit werden konnte. Spötter gingen gar so weit, dass sie nicht die Gefahr Rückstau versichern wollten sondern vielmehr das Versagen des Rückstauventils. Nach langen Diskussionen haben wir uns dann darauf geeinigt,

132 2111 Bd.52 IH neu 16.06.2003 9:46 Uhr Seite 133

dass dem VN die Einhaltung und Umsetzung der maßgebenden öffentlichen Bau- vorschriften abverlangt werden sollte. Versicherungstechnisch insoweit kein Pro- blem, da der VN nach den VGB und den VHB ohnehin im Rahmen existierender, vertraglich vereinbarter oder behördlich angeordneter Sicherheitsmaßnahmen entsprechende Vorkehrungen treffen muss.

Zusammengefasst kann zu der Risikoverteilung der drei versicherten Gefahren Überschwemmung, Starkregen und Rückstau bezogen auf die dargestellte Zo- nierung Folgendes festgestellt werden: Uberschwemmung ist insbesondere zuge- wiesen den GK II und III. Starkregen stellt sich – wie gesagt – flächendeckend dar, so dass das vorhandene Schadenspotential in GK II und GK III entsprechend erhöht wird. Zusätzlich sind GK II und GK III durch Starkregenschäden belastet. Diese Bewertung der Schadenslast war für unsere Statistiker sehr wichtig für die Kalkulationsaussage des Verbandes.

Nun zu den einzelnen Schritten der Risikozonierung. Wir mussten folgende Grundvoraussetzungen erfüllen:

1. Berechnung der Überschwemmungsgebietsgrenzen (HW 10/HW 50) mit einem wissenschaftlich anerkannten Wasserspiegelberechnungsverfahren.

2. Übernahme rechtlich festgesetzter oder tatsächlich bekannter Überschwem- mungsgebiete von der Wasserwirtschaftsverwaltung.

3. Abgleich mit dem wasserwirtschaftlichen Sachverstand vor Ort unter Berücksichtigung der Wirkung von Hochwasserschutzmaßnahmen.

Abgleich der Daten mit dem wasserwirtschaftlichem Sachverstand vor Ort hört sich sehr harmlos an. Dahinter steckt aber eine immense Detailarbeit mit Besu- chen von mehr als 200 Wasserwirtschaftsämtern in Deutschland. Der Grund für die erforderliche Verifizierung der Daten vor Ort liegt darin, dass die von Herrn Prof. Kleeberg gelieferten Polygone, die sogenannten Schmutzränder, technische Überschwemmungsschutzmaßnahmen an den Flüssen nicht berücksichtigen. Das hat zur Folge, dass ein sogenanntes Deichhaus an einem Fluss nach der Aussage von Herrn Kleeberg in die höchste Gefährdungsklasse III eingestuft wäre, obwohl es durch einen hundertjährig ausgelegten Deich geschützt ist, de facto also in GK I einzugruppieren wäre. In mühevoller Kleinarbeit müssen wir nunmehr die realen technischen Situationen erfassen und in das digitale System umsetzen. Ich darf in diesem Zusammenhang erfreut feststellen, dass diese Gespräche bei den Wasser- wirtschaftsämtern sehr kooperativ verlaufen. Aufgrund vorheriger Kontaktauf- nahme mit den Landesumweltministern stehen uns überall die Türen offen, auch wenn in Einzelfällen bei der Nachkorrektur der Polygone manchmal politische Probleme auftauchen. Welcher Bürgermeister lässt sich schon gerne sagen, dass die baulichen Maßnahmen an einem Fluss den eigenen politischen Aussagen zu- wider, den propagierten Schutz der Bürger nicht bieten, z.B. wegen baulicher Mängel an den Deichen.

133 2111 Bd.52 IH neu 16.06.2003 9:46 Uhr Seite 134

Die modellrechnerische Lösung von ZÜRS sieht so aus:

1. Aufbereitung und Zusammenführung der Höhendaten in ein homogenes Datenmodell

2. Ermittlung der Flussachse, Knoten, Lauflänge und Laufrichtung der Flüsse Das Ergebnis sind Talprofile und die örtlichen Gefälle.

3. Berechnung der Hochwasserabflüsse an Flussquerschnitten (HQ) von ausge- wählten Pegeln bzw. Einzugsgrößen

4. Berechnung der Überschwemmungsbreite nach einer Fließformel in Abhängig- keit von Talprofil, Längsgefälle, Hochwasserabfluss und Rauigkeitswert

Das Ergebnis ist die Darstellung der Überschwemmungsflächen, wie wir sagen, der Schmutzränder, technisch ausgedrückt der Polygone.

Die digitale Verschneidung der Zonen führt im Ergebnis zu:

– Berechneten Überschwemmungsflächen – Digitalen Ortsflächen – Digitalen Straßenkarten – Digitalen Informationen über Hausnummern.

Die digitalen Informationen über Hausnummern setzten die Erfassung der Haus- nummernsystematik aus Katasterkarten (rechts, links, relevante Kreuzungs- stützpunkte) voraus. Die Berechnung der Hausnummernkoordinate erfolgt durch Interpolation. Die Entscheidung für eine Hausnummerrohpositionierung war ein entscheidender Einschnitt bei der Entwicklung von ZÜRS. Wir haben uns damit verabschiedet von der ursprünglich angedachten Geocodierung. Diese Geocodie- rung hätte nur Aussagen getroffen über die Risikosituation in einer definierten Fläche mit der Maßgabe, dass bei Infizierung nur eines Gebäudes, sprich Ein- gruppierung in Zone III, sämtliche Gebäude auf dieser Fläche in GK III eingrup- piert worden wären. Für die praktische Akquise natürlich keine befriedigende Vor- gehensweise. Hinzu kamen Lizenzprobleme mit den Dienstleistern der Geo- codierungssoftware, so dass wir sehr erfreut waren, als sich eine technisch bessere Methode abzeichnete. Die Hausnummerrohpositionierung ermöglicht es, jedes Gebäude zielgenau – mit einer Streubreite von 20 Metern – anzusprechen mit der nachfolgenden Aussage des Systems, welcher Gefährdungsklasse dieses konkrete zu versichernde Haus zuzuweisen ist. Ein kleiner Wermutstropfen hierbei ist nur der, dass wir – abgesehen von Ballungszonen – nur Ortschaften über 5000 Einwohner abgreifen können. Durch die Aufarbeitung entsprechender Karten in den sogenannten Auengebieten, notfalls durch entsprechende Luftaufnahmen, werden wir jedoch auch dieses Problem lösen können.

134 2111 Bd.52 IH neu 16.06.2003 9:46 Uhr Seite 135

Die operative Umsetzung des Systems stellt sich nach alledem wie folgt dar: Ermittlung der Gefährdungsklasse über Eingabe der Risikoadresse (PLZ, Ort, Straße, Hausnummer) mit der Folge der:

a) direkten Zuordnung im gekennzeichneten Bestand (Bestandslauf) b) generellen Visualisierung c) bei Orten über 5000 Einwohnern über Suchroutine oder Viewer.

Als Ergebnis bleibt festzuhalten, dass ZÜRS die Zuordnung eines Gebäudes zu den drei Gefährdungsklassen liefert, bezüglich jeder Adresse aus dem Bestand und jeder Fremd- oder Neuadresse über Suchroutine. Bei untergeordneten Flüssen und Orten kleiner als 5000 Einwohner existiert die Risikobewertung per Viewer.

Ich hoffe, dass ich Ihnen das System ZÜRS etwas näher bringen konnte. Da ich von Hause aus kein EDV-Mann, Metereologe oder Wasserbauingenieur bin, müs- sen Sie mir nachsehen, dass ich insoweit die Materie vielleicht etwas vereinfacht habe. Wir sind uns alle im klaren darüber, dass ZÜRS ein einmaliges und nicht vergleichbares Pilotprojekt ist. In keinem anderen Land der Welt gibt es etwas Vergleichbares. Zugegebenermaßen mag noch die eine oder andere Schwach- stelle existieren. Aber welche neu auf den Markt kommende Software ist schon frei von Fehlern. Beispiele hierfür gäbe es genug, wenn ich nur an das Haus Microsoft denke. Es steht für uns fest, dass es zu der eingeschlagenen Vorgehens- weise keine Alternative gibt.

Wir werden natürlich in Zukunft regelmäßig Updates durchführen. Eine bei dem Verband eingerichtete „Zentrale Stelle“ wird den Unternehmen bei der Instal- lation und Benutzung der Software mit Rat und Tat zu Verfügung stehen. Wichtig ist auch die kontinuierliche Information der Unternehmen bezüglich des Einsatzes der Software, insbesondere in der Startphase. Hier müssen noch erhebliche EDV- technische Vorarbeiten geleistet werden, um ZÜRS lauffähig zu machen. Dass die ganze Sache nicht zum Nulltarif zu haben ist, können Sie sich vorstellen. Zur Finanzierung der Entwicklungsarbeiten haben wir daher im letzten Jahr eine von allen Sachversicherungsunternehmen zu zahlende Sonderumlage beschlossen. Von daher stehen wir natürlich auch unter Erfolgszwang und Handlungsdruck.

135 2111 Bd.52 IH neu 16.06.2003 9:46 Uhr Seite 136 2111 Bd.52 IH neu 16.06.2003 9:46 Uhr Seite 137

Entwicklung des Gesundheitsdienstes Ð ãVon den Anfängen bis zu den Entwicklungen der letzten Jahre“

Harald Michels

Erste Ansätze für ein Herrscherinteresse an der Gesundheit der Bevölkerung fin- det man in der medizinhistorischen Literatur bereits zur Pharaonenzeit in Ägyp- ten, die bereits zur Behandlung der Bevölkerung Beamte als „Ärzte“ einstellten.

Auch der griechische Stadtstaat unterhielt Ärzte, um Arme und Durchreisende zu versorgen. In Italien des 14. Jahrhunderts wurden dann erste Hygienevorschriften erlassen. In diesen waren Vorschriften und Regelungen zur Gefahrenabwehr, ins- besondere bei in dieser Zeit auftretenden Epidemien, enthalten mit Beschrän- kungen des Reiseverkehrs, insbesondere auch Einreiseverbote aus Gebieten, in denen Infektionskrankheiten aufgetreten waren. Auch die Isolierung von an Pest erkrankten Menschen resultierte aus dem öffentlichen Interesse zur Verhütung der Weiterverbreitung einer Infektionserkrankung. So wurden bereits in Venedig und Reggio 1374 Quarantänevorschriften für Personen und Güter erlassen, in Ragusa folgten solche Vorschriften 1377.

Die Regenten der damaligen Zeit mussten sehr schnell feststellen, dass große Epidemien mit zahlreichen Erkrankten und Todesfällen zu massiven Steueraus- fällen führten und dies gerade in Zeiten in denen Geld für Quarantänemaßnah- men dringend benötigt wurde.

In Deutschland entwickelte sich ein erster Ansatz eines öffentlichen Gesundheits- dienstes im späten Mittelalter, hauptsächlich in den Städten. In einer Nürnberger Medizinalverordnung vom Mai 1592 wurden die Schwerpunkte der Tätigkeit des damaligen öffentlichen Gesundheitsdienstes beschrieben. In dieser Verordnung wurden insbesondere der Seuchenbekämpfung aber auch der Beaufsichtigung von Medizinalpersonen und auch der medizinischen Betreuung Mittelloser Raum gewidmet.

Eine große Wende trat im 18. und 19. Jahrhundert auf. Als Begründer eines mo- dernen öffentlichen Gesundheitsdienstes muss aus meiner Sicht Johann-Peter Frank bezeichnet werden, der 1745 in Rodalben in der Pfalz geboren wurde. Johann-Peter Frank verstarb 1821 und hat während seines Lebens eine enorme Schaffenskraft bewiesen. Er kam während seines beruflichen Lebens mit Kaisern und Zaren in Kontakt, so mit Josef II, Napoleon I und Alexander I. Ein entschei- dender Schritt in seinem Leben war jedoch eine Tätigkeit im Dienste des Bischofs von Speyer, des Grafen Limburg-Styrum, dessen Leibarzt er wurde. Zu dieser Zeit erkannte Johann-Peter Frank, dass man die bis dahin akzeptierten Krankheits- äthiologien, die die Krankheit als eine Fehlmischung der Säfte oder als ein gottge-

137 2111 Bd.52 IH neu 16.06.2003 9:46 Uhr Seite 138

wolltes unvermeidliches Schicksal deuteten, anzweifeln musste. Er wollte den Krankheitsursachen nachspüren, die „ins Große auf die Völker wirken.“ Er war der Ansicht, dass viele Krankheitsursachen vermeidbar wären, weil sie in den so- zialen Bedingungen der Gesellschaft begründet seien. Er hat zum ersten Mal die Zusammenhänge zwischen Lebensbedingungen, Arbeitsbedingungen und Erkran- kungen gesehen. Besonders berühmt ist sein mehrbändiges Werk mit dem Titel „System einer vollkommenen Medizinischen Polizey“. Der erste Band dieses Werkes erschien 1779 und hatte den Untertitel „Servandis et augendis clvibus“ – die Bevölkerung gesund zu halten und sie zu vermehren. Dieser erste sozialmedi- zinisch geprägte Ansatz einer Betrachtungsweise von Erkrankungen brachte eine große Wende in die Medizin der damaligen Zeit. Diese Leistung von Johann- Peter Frank hat dazu geführt, dass der Bundesverband der Ärzte des Öffentlichen Gesundheitsdienstes e.V. bereits vor vielen Jahren eine Johann-Peter-Frank-Me- daille geschaffen hat, die jährlich an verdiente Persönlichkeiten im Bereich des öffentlichen Gesundheitswesens verliehen wird.

1796 wurde dann erstmals von Jenner die Pockenschutzimpfung beschrieben. Dies löste in der Folge eine rasante medizinische Entwicklung im Bereich des Impfwesens aus. Gezwungen durch das immer engere Zusammenleben der Men- schen mit der zunehmenden Industrialisierung und Verstädterung kam es zu einer Ausbreitung von Seuchen, welche durch das enge Zusammenwohnen der Men- schen begünstigt wurde. Diese Situation führte dazu, dass auch Probleme der Wasserversorgung und der Abwasserbeseitigung, der Lebensmittelüberwachung, des Bestattungswesens und der Seuchenabwehr immer mehr in den Vordergrund des Handelns des öffentlichen Gesundheitsdienstes traten, welches überwiegend von „Stadt- oder Kreisphysici“ wahrgenommen wurde.

Als weiterer wesentlicher Meilenstein bei der Entwicklung eines öffentlichen Gesundheitswesens muss die Einrichtung eines Lehrstuhls 1853 in München gelten, an dem Max von Pettenkofer seine erste hygienische Vorlesung aufnahm, die sich mit den vorgenannten Themen befasste.

Die zunehmende Industrialisierung führte aber neben der Seuchengefahr zu gra- vierenden sozialen Problemen, so dass als neue Aufgaben der Ärzte im Bereich des öffentlichen Gesundheitsdienstes die Vorsorge, Fürsorge und Beratung der Bevölkerung und auch im Sinne einer Primärprävention bereits damals die Erziehung zu gesundheitsgerechtem Verhalten hinzutraten. Nach dem ersten Welt- krieg wurde als neue Aufgabe die Säuglings-, Kleinkinder- und Schulkinder- fürsorge den Gesundheitsämtern übertragen.

Ein großes Problem stellte die Tuberkulose dar, so dass eigene Abteilungen zur Tuberkulosebekämpfung etabliert wurden. Auch die Geschlechtskrankheiten waren ein zunehmend ernst zu nehmendes Thema. Es trat hinzu auch die Sorge um kör- perlich und geistig Behinderte und um Suchtkranke, insbesondere Alkoholkranke.

Als gesetzlicher Meilenstein muss auch heute noch das Gesetz über die Ver- einheitlichung des Gesundheitswesen von 1933 mit den drei Durchführungsver- ordnungen genannt werden, obwohl dieses Gesetz mit erb- und rassenpflegeri-

138 2111 Bd.52 IH neu 16.06.2003 9:46 Uhr Seite 139

schen Inhalten belastet war. Unabhängig von diesen Inhalten war es für die dama- lige Zeit jedoch ein modernes „Gesundheitsdienstgesetz“, welches alle hygieni- schen Belange eines Staatswesens umfassend regelte. Dieses Gesetz galt nach 1945 befreit von weltanschaulichem nationalsozialistischem Ballast zum Beispiel in Rheinland-Pfalz noch bis zum 31.12.1995 als geltendes Landesrecht weiter.

Am Beispiel von Rheinland-Pfalz möchte ich Ihnen die Entwicklung der letzten Jahre skizzieren.

Am 01.01.1996 trat in Rheinland-Pfalz ein modernes Gesundheitsdienstgesetz in Kraft. Ein Jahr später wurden die ehemals staatlichen Sonderbehörden „Gesund- heitsämter“ in die Kreisverwaltungen eingegliedert, wobei die Gesundheitsämter der Kreisverwaltung fast flächendeckend in Rheinland-Pfalz auch die Aufgaben für kreisfreie Städte übernahmen. Gleichzeitig fand in den letzten Jahren in Rheinland-Pfalz eine Verwaltungsmodernisierung statt, die sich auch gravierend auf die Tätigkeiten des öffentlichen Gesundheitsdienstes ausgewirkt hat. Zusätzlich zur Kommunalisierung der Gesundheitsämter wurden die ehemaligen Bezirksregierungen abgeschafft und die dort vorher ansässigen Aufgaben der oberen Gesundheitsbehörde dem Landesamt für Jugend, Soziales und Versorgung übertragen. Die drei in Rheinland-Pfalz ansässigen Medizinaluntersuchungsämter wurden mit den chemischen Untersuchungsämtern und dem Landesveterinär- untersuchungsamt zu einem neuen gemeinsamen Landesuntersuchungsamt zusam- mengefasst. Die Aufgaben der ehemaligen Medizinaluntersuchungsämter wurden jedoch weiter regional wahrgenommen, die Bezeichnung wurde jedoch geändert in „Institute für Hygiene und Infektionsschutz“. Die früher bei den Bezirks- regierungen ansässigen Aufgaben der Arztneimittelüberwachung und Apotheken- überwachung wurden ebenfalls regional beibehalten aber als Außenstellen des Landesamtes für Soziales, Jugend und Versorgung bei den jeweiligen Ämtern für soziale Angelegenheiten (den früheren Versorgungsämtern) angesiedelt.

Diese Verwaltungsmodernisierung hat im Bereich der den Gesundheitsämtern übergeordneten Behörden durch die Zersplitterung der Tätigkeiten zu großer Unübersichtlichkeit geführt.

Auf Bundesebene haben bereits erlassene moderne gesetzliche Regelungen, so- wie solche die kurz vor der Veröffentlichung stehen und solche, bei denen mit einer Veröffentlichung am Ende des Jahres zu rechnen ist, teilweise bereits zu einer Umstrukturierung geführt, weitere Änderungen der Aufgabenstruktur sind vor- programmiert.

Als wesentlicher Inhalt auf Bundesebene ist die Stärkung des Robert-Koch- Institutes durch eine im Infektionsschutzgesetz festgelegte Aufgabenbeschrei- bung hervorzuheben. Die Ziele des Infektionsschutzgesetzes und damit der Neu- ordnung des Seuchenrechts werden vom öffentlichen Gesundheitsdienst sehr po- sitiv aufgenommen. Hier kommt der Stärkung des Präventionsgedankens, der Stärkung der Eigenverantwortung und einer Effizienzsteigerung des öffentlichen Gesundheitsdienstes große Bedeutung zu. Den Gesundheitsämtern ist es in Zukunft erlaubt, in Einzelfällen Geschlechtskrankheiten und Tuberkulosekranke

139 2111 Bd.52 IH neu 16.06.2003 9:46 Uhr Seite 140

selbst zu behandeln, wenn sie von dem sonstigen medizinischen System nicht oder nur schlecht erreicht werden können. Hier schließt sich der Kreis zu den Anfängen einer öffentlichen Gesundheitsverwaltung im Mittelalter.

Als wesentlicher neuer Schritt muss jedoch die Einführung einer Infektions- epidemiologie genannt werden, der auch moderne Erhebungsverfahren, wie Sen- tinelerhebungen möglich macht. Bundesweit wurde ein elektronisches Melde- wesen im Gesetz eingeführt und im Wesentlichen auch bis auf wenige Aus- nahmen bereits umgesetzt. Hier wurde eine deutliche Straffung, Präzisierung und Modernisierung der Meldepflichten erreicht, unter anderem auch deshalb, weil das Meldewesen auf wissenschaftliche Grundlagen gestellt wurde. Das Meldewesen findet heute anhand von Falldefinitionen einzelner Krankheitsbilder statt, die von den von der CDC in Atlanta entwickelten Falldefinition abgeleitet worden sind.

Dem Robert-Koch-Institut kommt eine konzeptionelle Tätigkeit bei der Vorbeugung und Prävention von Erkrankungen zu, sowie bei der frühzeitigen Erkennung und Verhinderung der Weiterverbreitung von übertragbaren Krankheiten. Hierzu sol- len epidemiologische und laborgestützte Analysen entwickelt und selbst durchge- führt werden. Bei Zoonosen und mikrobiell bedingten Lebensmittelvergiftungen ist eine Beteiligung des Bundesinstitutes für den gesundheitlichen Verbraucher- schutz obligatorisch.

Dem Robert-Koch-Institut kommt jedoch auch eine Beratungsfunktion für Länder- behörden bei schwerwiegenden Infektionen oder bei länderübergreifendenden Epidemien zu. Zusätzlich wurde dem Robert-Koch-Institut die Aufgabe übertragen, Richtlinien und Merkblätter zu entwickeln, die vorgenannten Falldefinitionen im Meldewesen aufzustellen und zu aktualisieren, Krankheitserreger und Resistenz- situationen zu beschreiben, die von Krankenhäusern gemeldet werden müssen im Sinne der Erfassung von nosokomialen Infektionen, die bundesweiten Infektions- meldungen zusammenzufassen und auszuwerten und Sentinelerhebungen durchzu- führen. Diese Sentinelerhebungen sollen gemeinsam mit ausgewählten Einrich- tungen der Gesundheitsvorsorge und -versorgung durchgeführt werden in Fällen von Erkrankungen mit großer gesundheitlicher Bedeutung oder bei Krankheiten, die wegen ihrer Häufigkeit nicht über Einzelfallmeldungen erfasst werden können. Hierbei können auch anonyme, unverknüpfbare Testungen an Restblutproben und anderem Material durchgeführt werden. Bei solchen Erhebungen können auch Merkmale der betreuten Gesamtpopulation und statistische Informationen über die Zusammensetzung der betreuten Personen gewonnen werden.

Das Infektionsschutzgesetz hat zu einer erheblichen Aufgabenausweitung bei den Gesundheitsämtern geführt, nicht zuletzt auch deshalb, weil eine Überwachungs- pflicht für Einrichtungen des ambulanten Operierens und besonders hygienisch relevante sonstige Gesundheitseinrichtungen neu geschaffen wurde.

In der neuen Trinkwasserverordnung wird nochmals eine Ausweitung der Über- wachungspflichten der Gesundheitsämter gesetzlich gefordert. So ist zum Bei- spiel in allen öffentlich zugänglichen Gebäuden eine regelmäßige Trinkwasserbe- probung durch das Gesundheitsamt sicherzustellen. Dies führt bei der jetzigen

140 2111 Bd.52 IH neu 16.06.2003 9:46 Uhr Seite 141

Situation der Gesundheitsämter zu einer weiteren Verknappung personeller Ressour- cen und zu einem erheblichen Aus- und Fortbildungsbedarf.

In Rheinland-Pfalz ist es durch die Neustrukturierung im Rahmen der Kommunali- sierung zu einer erheblich unterschiedlichen Einbindung der Gesundheitsämter in die Kommunen gekommen. Teilweise ist die Identifikation als Gesundheitsamt verloren gegangen. Zeitgleich mit der Kommunalisierung wurden in zahlreichen Ämtern neue Steuerungsmodelle implementiert, die Leistungen der Gesundheits- ämter werden als Produkte beschrieben und die Tätigkeiten einzelner Mitarbeiter für eine Einzelleistung zeitlich erfasst, um eine Kostenrechnung möglich zu ma- chen. Es wurde ein interkommunaler Vergleich eingeführt im Sinne eines Qualitätsmanagement. Trotz dieser neuen Strukturen ist es nicht zuletzt durch die BSE-Problematik, die Maul- und Klauenseuche und auch durch Einzelfälle im- portierter schwerwiegender Erkrankungen wie Verdachtsfälle von Lassa-Fieber oder Gelbfieber mit Todesfällen zu einer Bewusstseinsänderung bei dem Auf- gabenprofil der Gesundheitsämter gekommen, wobei dem Gesundheitsschutz und der Gefahrenabwehr wieder mehr Gewicht zugeordnet wird.

Nach wie vor ist eine wesentliche Aufgabe der Gesundheitsämter die Beobach- tung, die Bewertung und die Untersuchung der gesundheitlichen Verhältnisse der Bevölkerung. Im rheinland-pfälzischen Gesundheitsdienstgesetz sind an moder- nen Gesundheitsleistungen der Gesundheitsämter auch die Koordinierung von Angeboten der Gesundheitsförderung genannt und die Beratungsfunktion der Bevölkerung und von Behörden. Eine wesentliche Aufgabe bei der Qualitäts- sicherung medizinischer Leistungen und auch der Überwachung der Einhaltung gesundheitsrechtlicher Bestimmungen sowie an die Anforderungen der Hygiene wurde festgeschrieben. Die Verhütung und Bekämpfung ansteckender Krankhei- ten sowie die Veranlassung und Durchführung von Impfungen wird als wesentli- cher Bestandteil wieder festgehalten.

Neu hinzu gekommen ist auch, ähnlich wie im Infektionsschutzgesetz, jedoch nicht nur mit seuchenhygienischem Ansatz, die epidemiologische Erfassung und Bewertung von Krankheiten in der Bevölkerung. Die Beratungsfunktion der Gesundheitsämter bezieht sich nicht nur auf Impfungen und Reisemedizin, son- dern auch nach wie vor in wesentlichem Umfang auf die AIDS-Prävention, die umweltmedizinische Beratung, die Beratung von psychisch Kranken und deren Angehörigen, sowie die Beratung von Suchtkranken und deren Angehörigen und auch eine Beratung bei wohnungshygienischen Problemen. Nach wie vor gehört in Rheinland-Pfalz auch die Einschulungsuntersuchung zu den Pflichtaufgaben der Gesundheitsämter. Dies ist besonders zu begrüßen, da dies die einzige Unter- suchung darstellt, bei der bundesweit ein gesamter Jahrgang erfasst und unter- sucht wird und auch epidemiologische Erkenntnisse gewonnen werden können. Grundsätzlich sind die Neuerungen im Aufgabenprofil und in der Art der Arbeit der Gesundheitsämter zu begrüßen, auch wenn sie mit einem deutlichen Mehr- arbeitsaufwand einhergehen. Gefordert werden muss, dass von der Politik hierfür die erforderlichen personellen und sachlichen Ressourcen für eine moderne, qua- litativ und quantitativ adäquate Aufgabenwahrnehmung bereit gestellt werden.

141 2111 Bd.52 IH neu 16.06.2003 9:46 Uhr Seite 142

Wesentlich ist, dass wieder dem Schutz der Bevölkerung wesentlich mehr Bedeu- tung beigemessen wird als dies in früheren Zeiten der Fall war. Jahrelang waren die Gesundheitsämter insbesondere mit Untersuchungen nach dem Beamtenrecht von ihrer eigentlichen Grundaufgabe, die sie auf ihrer geschichtlichen Tradition aufbauend durch die Jahrhunderte begleitet hat, abgehalten worden. So kann das Motto nur lauten: Zurück zu den geschichtlichen Wurzeln des öffentlichen Gesundheitsdienstes im Sinne des eigentlichen Begründers modernen sozialme- dizinischen Gedankengutes Johann-Peter Frank.

142 2111 Bd.52 IH neu 16.06.2003 9:46 Uhr Seite 143

Informationssicherheit im Wandel Ð vom klassischen Geheimschutz zur gesamtgesellschaftlichen Aufgabe

Ansgar Heuser

1. Einleitung Im Jahre 2000 hat die Ressortarbeitsgruppe KRITIS dem Bundesministerium des Innern ihren Bericht „Kritische Infrastrukturen und IT-Sicherheit in Deutschland“ vorgelegt. Dieser Bericht beschreibt eindrucksvoll die Gefährdungspotentiale, denen teilweise lebenswichtige informationstechnische Strukturen bei Staat, Wirtschaft und Gesellschaft ausgesetzt sind: die Stichworte sind hier „Information Warfare“, „Cyber Terrorism“, „Computer Crime“. Der KRITIS-Bericht macht dabei deutlich, dass Informationssicherheit heute weit über den engeren Begriff von Vertraulich- keit hinausreicht, wie er für den staatlichen Geheimschutz kennzeichnend war (und noch ist), und zu einer Notwendigkeit für weiteste Bereiche in Staat und Gesellschaft geworden ist.

In diesem Vortrag will ich zu erläutern versuchen, wie aus der Sicht der tech- nischen Informationssicherheit Antworten auf die im KRITIS-Bericht geschilder- ten Bedrohungen aussehen könnten. Zu diesem Zweck werde ich die grundlegen- den Techniken der Informationssicherheit skizzieren und ihre Wirksamkeit, aber auch ihre Grenzen angesichts möglicher Bedrohungen diskutieren und in diesem Zusammenhang die Themen „Kritische Infrastrukturen“ und „Computerkrimi- nalität“ noch einmal aufgreifen.

Es ist meine Hoffnung, dabei deutlich machen zu können, dass – bei allem noch bestehenden Handlungsbedarf – die wesentlichen Techniken und Instrumente der Informationssicherheit mittlerweile verfügbar sind, dass ihr konsequenter Einsatz den überwiegenden Teil der zu Recht festgestellten Bedrohungen eliminieren würde und dass die Aufgabe der Zukunft im Wesentlichen in der Umsetzung des heute bereits technisch Möglichen besteht.

143 2111 Bd.52 IH neu 16.06.2003 9:46 Uhr Seite 144

2. Zur Begrifflichkeit Unter Informationssicherheit sei im Folgenden verstanden:

– Sicherheit elektronisch gespeicherter oder übertragener Daten1 vor unbefugter Kenntnisnahme: Vertraulichkeit

– Sicherheit vor unbefugter Veränderung: Echtheit

– Sicherheit vor Verfälschung des Autors: Verbindlichkeit

– Sicherheit vor Zerstörung, Verweigerung des Zugriffs usf.: Verfügbarkeit

Erläuterung:

Die Definition von Information als elektronisch gespeicherte oder übertragene Daten ist hier eine rein technische: sie nimmt lediglich Bezug auf deren – in der Regel digitale – Gestalt ohne Rücksicht auf ihre semantische Interpretation als Zeichen, Töne, Bilder oder drgl.

Vertraulichkeit liegt dann vor, wenn der Kreis der Personen und Prozesse, die Kenntnis von einem Datum erlangen können, durch geeignete Maßnahmen von vornherein festgelegt werden kann – und dies ist genau das, was der klassische Geheimschutz fordert.

Echtheit bedeutet, dass jegliche Veränderung eines Datums nach seiner Erstel- lung, sei sie absichtlich herbeigeführt oder zufällig eingetreten2, als solche nach- gewiesen werden kann. (Sogar der Zeitpunkt der Erstellung von Daten kann be- reits Teil ihrer Echtheit sein.)

Verbindlichkeit erfordert, dass Daten zweifelsfrei ihrem Autor zugeordnet werden können. Dies heißt genauer, dass weder ein Datum einem Dritten untergeschoben werden („Fälschungssicherheit“) noch der Autor seine Autorenschaft nachträg- lich bestreiten kann („Unabweisbarkeit“).

Verfügbarkeit soll hier in einem ganz allgemeinen Sinne verstanden werden als die weiter bestehende Funktionstüchtigkeit und korrekte Funktion informations- verarbeitender und übertragender Systeme unter Einschluss der weiter gewährleis- teten Zugänglichkeit, Vollständigkeit und Unversehrtheit aller notwendigen Daten und Programme.

1 Künftig stets als „Daten“ bezeichnet 2 z.B. durch Störungen bei der Übertragung oder Speicherdefekte

144 2111 Bd.52 IH neu 16.06.2003 9:46 Uhr Seite 145

3. Informationssichernde Techniken 3.1 Vertraulichkeit: Verschlüsselung

Verschlüsselung bedeutet die Transformation (Chiffrierung) eines elektronischen Datums (Klartext) nach Maßgabe eines Parameters (des Schlüssels) in eine nicht verständliche Form (ein Chiffrat), die nur durch denjenigen wieder rückgängig gemacht werden kann, der über eine zusätzliche, geheime Information (einen weiteren3 Schlüssel) verfügt.

Verschlüsselung ist seit alters her die Methode der Wahl, um Vertraulichkeit von Informationen herzustellen; der Kreis der Personen (heutzutage auch Prozesse), denen die vertrauliche Information zur Kenntnis gegeben werden soll, definiert sich über die Kenntnis des zur Entschlüsselung benötigten Schlüssels. Sowohl die Geheimhaltung gespeicherter Informationen wie auch über nicht weiter gesicherte Übertragungskanäle gesendete Daten lässt sich auf diese Weise erreichen.

Verschlüsselungstechnik steht heute für jedwede Form digitaler Daten und nahe- zu alle Arten von Übertragungstechnik zur Verfügung; mit Schwerpunkt ist diese Technik zwar nach wie vor im staatlichen Hochsicherheitsbereich (Militär, Diplo- matie, Nachrichtendienste) anzutreffen, sie findet jedoch zunehmend Eingang in den allgemeinen behördlichen Geschäftsgang, die Privatwirtschaft und natürlich in die private Kommunikation und Datenhaltung.

Die heutigen Möglichkeiten dezentraler Schlüsselverwaltung auf der Basis asym- metrischer Verfahren sowie die Fortschritte der Informationstechnik (Stichworte sind hier Miniaturisierung, Software, Chipkarten) haben überdies die Hand- habbarkeit von Verschlüsselungstechnik deutlich verbessert und nicht zuletzt ihre Kosten dramatisch gesenkt.

3.2 Echtheit und Verbindlichkeit: Digitale Signatur

Die Funktionsweise ist rasch erklärt:

Der Signierer eines elektronischen Datums berechnet mittels eines asymmetrischen Chiffrierverfahrens nach Maßgabe eines nur ihm bekannten, privaten Schlüssels aus diesem Datum einen Wert (die Signatur) und fügt diese, gemeinsam mit seinem Zertifikat (s.u.), dem zu signierenden Datum an.4 Zur Prüfung der Signatur wird

3 Beide Schlüssel können identisch („symmetrische Chiffrierverfahren“) oder auch voneinander ver- schieden („asymmetrische Verfahren“) sein. 4 Aus praktischen Gründen wird zunächst das Datum mittels einer „Hashfunktion“ auf eine kleine Datei komprimiert, und diese wird dann dem Chiffrierverfahren unterworfen; für das Prinzip der digitalen Signatur ist dies jedoch unerheblich.

145 2111 Bd.52 IH neu 16.06.2003 9:46 Uhr Seite 146

diese dem umgekehrten Chiffrierprozess nach Maßgabe des zum eingesetzten priva- ten Schlüssel gehörenden öffentlichen5 Schlüssel zugeführt, und nur, wenn dabei das eigentliche Datum exakt reproduziert wird, gilt die Signatur als gültig. Entscheidend ist hier, dass jedermann, also etwa auch ein Richter, diese Signaturprüfung vorneh- men kann, ohne dass er der Kenntnis irgendwelcher geheimer Informationen bedarf.

Notwendig dazu gehört allerdings ein vertrauenswürdiger Dritter, der kraft seiner Autorität beglaubigt, dass ein öffentlicher Schlüssel (und damit implizit auch der zugehörige private) einer bestimmten Person oder Institution unzweifelhaft zuzu- ordnen ist. Er tut dies, indem er seinerseits den öffentlichen Schlüssel des Signierers digital signiert; diese Signatur bildet dann, neben Elementen wie der Identität, der Gültigkeitsdauer u.a. das Zertifikat. Eine solche vertrauenswürdige Instanz lässt sich allerdings nicht allein durch Technik schaffen, sie erfordert vielmehr eine or- ganisatorische Infrastruktur (im Jargon: PKI, „Public Key Infrastructure“)

Dieses Verfahren leistet in der Tat das Verlangte:

i) Echtheit

Jede Veränderung des elektronischen Datums, und sei sie noch so minimal, führt zu einer völlig davon abweichenden Signatur, so dass die Signaturprüfung not- wendig negativ ausfallen muss; in Unkenntnis des privaten Schlüssels kann ein Angreifer auch nicht nach von ihm vorgenommenen Modifikationen wieder eine gültige Signatur erzeugen (unter der Voraussetzung, dass die eingesetzten Kryptoverfahren diesem Anspruch tatsächlich genügen!).

Natürlich gestattet die Signaturprüfung nicht zu entscheiden, ob eine willentliche Manipulation oder eine zufällig eingetretene Veränderung vorliegt; in der Regel ist auch nicht mehr erkennbar, an welchen Positionen innerhalb des Dokuments Abweichungen eingetreten sind.

ii) Verbindlichkeit

Mit Ausnahme des Inhabers des privaten Signierschlüssels ist niemand in der Lage, zu einem Dokument eine gültige Signatur zu erzeugen: das „Unterschieben“ eines Dokuments ist also ausgeschlossen; andererseits kann eben deswegen der Inhaber des Signierschlüssels auch nicht dementieren, ein Dokument gezeichnet zu haben.

Das Faszinierende an der digitalen Signatur ist, dass sie eine unauflösliche Ver- bindung zwischen dem Inhalt6 eines elektronischen Datums und seinem Autor herstellt, eine Eigenschaft, über die eine herkömmliche manuelle Unterschrift niemals verfügt hat!

5 Es ist das Charakteristikum der asymmetrischen Verfahren, dass der öffentliche Schlüssel ohne Schaden für die Sicherheit publiziert werden kann, solange nur der private geheim bleibt. 6 NB: Inhalt als Strom digitaler Daten, nicht im semantischen Sinne!

146 2111 Bd.52 IH neu 16.06.2003 9:46 Uhr Seite 147

Es liegt auf der Hand, dass dieses Instrument hervorragend geeignet ist, elektro- nischen Geschäftsprozessen jenes Maß an Verbindlichkeit zu verleihen, wie sie bisher nur papiergetragenen Verträgen zukam, und dies mit einem viel höheren Grad an Fälschungssicherheit. Ohne verlässliche digitale Signaturen (unter Ein- schluss der vertrauenswürdigen technischen Implementierung und der notwendi- gen PKI-Struktur) ist so etwas wie E-Commerce im Grunde nicht denkbar, eben- so wenig wie die Abbildung behördlicher Abläufe (Stichwort E-Government) in die elektronische Welt.

3.3 Verfügbarkeit

Erhaltung von Verfügbarkeit in dem hier umfassend definierten Sinne, nämlich der Gewährleistung von Funktionsfähigkeit bei Netzen und DV-Systemen ein- schließlich der garantierten Zugänglichkeit, Vollständigkeit und Unversehrtheit von Daten und Software ist nicht mit einem prinzipiellen Ansatz, wie ihn Ver- schlüsselung oder digitale Signatur darstellen, zu erreichen. Vielmehr ist ein sol- cher Zustand nur im Zusammenwirken personeller, organisatorischer und techni- scher Maßnahmen herzustellen.

3.3.1 Zugangskontrollmechanismen Personen oder Prozesse, die auf ein elektronisches Datum (typischerweise eine Datei, Datenbank usf.) zugreifen wollen, müssen ihre Legitimation nachweisen: Dies kann erfolgen durch ein simples Passwortverfahren, ein Identifizierungs- und Authentisierungsprotokoll (hier spielen digitale Signaturen eine große Rolle) oder – bezogen auf Personen – durch biometrische Merkmale. Viele, wenn nicht die meisten, spektakulären „Hacker“-Angriffe der Vergangenheit wären bei An- wesenheit solcher elementaren Zugangskontrollmechanismen gescheitert.

3.3.2 Netzabsicherung Eindringversuche in lokale Netze, die mit ungesicherten öffentlichen Netzen ver- bunden sind, stellen eine massive Bedrohung dar. Ihr kann begegnet werden durch die Installierung von Filtern am Netzeingang („Firewallrechner“), die jede eingehende (u.U. auch ausgehende) Nachricht auf ihre Berechtigung hin überprüfen. Oberflächlich beschränkt sich diese Kontrolle auf eine Inspektion von Adressat und Absender, wirkungsvoller, aber auch erheblich schwieriger zu realisieren, ist eine Durchsicht der eigentlichen Inhalte auf etwaige Schadfunktionen (z.B. Viren).

Höchst effizient ist auch hier der Einsatz von Verschlüsselung: sinnvolle Inhalte kann nur der in ein Netz hinein übertragen, der Kenntnis der notwendigen Schlüs- sel hat und sich so indirekt legitimiert. Dies blockiert nicht den „Innentäter“, wie überhaupt festgestellt werden muss, dass das Problem des Innentäters durch tech- nische Maßnahmen der Informationssicherheit allein nicht in den Griff zu be- kommen ist: auch jede technische Maßnahme rekurriert letzten Endes auf das Ver trauen zu Personen.

147 2111 Bd.52 IH neu 16.06.2003 9:46 Uhr Seite 148

3.3.3 Netzüberwachung Sind in einer konkreten Systemkonfiguration Eindringversuche nicht mit letzter Sicherheit abzufangen, ist in jedem Fall der Einsatz von Überwachungsmechanis- men (z.B. durch „mobile Agenten“) anzuraten, die ein solches Eindringen zumin- dest detektieren und Gegenmaßnahmen einleiten können. Eine sorgfältige Proto- kollierung und Auswertung sicherheitskritischer Ereignisse ist Bestandteil der notwendigen organisatorischen Vorbeugemaßnahmen.

4. Zentrale informationstechnische Strukturen in Staat, Wirtschaft und Gesellschaft 7 Soweit informationstechnische Strukturen (Rechnernetze, Kommunikationsver- bindungen, Einzelanlagen) bedroht sind vom Verlust der Vertraulichkeit, Verbind- lichkeit oder Echtheit von Informationen durch Angriffe aus dem Netz oder „vor Ort“, ergeben sich hier keine neuen Gesichtspunkte gegenüber dem allgemeinen Begriff von Informationssicherheit: die grundlegenden Methoden der Verschlüs- selung und Signierung (s.d.) vereiteln, sofern vertrauenswürdige Technik einge- setzt und ordnungsgemäß administriert wird, jeden Versuch der unbefugten Kenntnisnahme oder unbemerkten Manipulation von Daten.

Anders verhält es sich mit der Bedrohung des Verlustes von Verfügbarkeit:

Verschlüsselung oder Signierung von Daten sind im Sinne der Erhaltung von Verfügbarkeit nur flankierende Elemente; Blockierung von Angriffen bedeutet an dieser Stelle vor allem die

Verweigerung von Systemzugriffen durch Unbefugte8

Dies ist das entscheidende Element des Schutzes für die ungestörte Funktion wichtiger Prozesse in Staat, Wirtschaft und Gesellschaft unverzichtbarer informa- tionstechnischer Strukturen. Erreicht werden kann dies durch konsequent einge- setzte Zugangskontrollmechanismen wie Rechteverwaltung, Authentisierungs- verfahren und Filtertechniken (s.d.). Natürlich bedeutet eine solche sorgfältige Abschottung einen unvermeidlichen Verlust an Kommunikationsfähigkeit mit der Außenwelt: der Kompromiss zwischen Sicherheit und Bequemlichkeit muss in jedem Einzelfall aufs Neue gefunden werden.

Die Funktionsfähigkeit von Systemen kann jedoch auch durch Überflutung mit Informationen gefährdet werden: im militärischen Kontext ist die Ve r stopfung ei- nes Informationskanals mit Energie eine altbekannte Angriffstechnik, der durch systematisches Ausweichen auf andere Kanäle oder Verteilung auf viele Kanäle begegnet werden kann. Penetrant wiederholte Einwahlversuche auf ein System

7 Den sich einbürgernden Begriff „Kritische Infrastrukturen“ darf man für eine etwas unkritische Übertragung aus dem Amerikanischen halten. 8 wie stets: Personen wie Prozesse

148 2111 Bd.52 IH neu 23.06.2003 7:39 Uhr Seite 149

(ohne eigentliche Hoffnung auf Eindringen) können jeden Kontrollmechanismus überlasten und so auch die Einlassbegehren Befugter behindern (so die bekannt gewordenen denial-of-service-Attacken durch Viren).

5. Kriminalprävention durch Informationssicherheit Die Mechanismen, die den militärischen Angreifer oder den Terroristen am Ein- dringen in Rechnernetze oder an der Manipulation von Daten und Programmen mit dem Ziel der Ausspähung, Verfälschung oder Sabotage zu hindern in der Lage sind, stellen ebenso auch Elemente der vorbeugenden Kriminalprävention dar:

Offenkundig ist dies für das Delikt der Computersabotage: die zur Erhaltung der Verfügbarkeit aufgezählten Techniken sind wirksam, unabhängig von einer mili- tärischen, terroristischen oder kriminellen Intention eines Angreifers.

Die vielfältigen Betrugsformen, die allesamt auf die manipulative Veränderung elektronischer Daten hinauslaufen, sind weitgehend durch die Methode der digi- talen Signierung zu bekämpfen. Allerdings besteht auf diesem Felde weiterer Forschungsbedarf, um zu wirklich verlässlichen Techniken zu gelangen. In einem ähnlichen Zusammenhang ist der Einsatz von Kryptier- und Authentisierungs- methoden bei kostenpflichtigen Diensten (Beispiel Pay-TV) zu sehen, um der dort sehr verbreiteten Piraterie entgegenzutreten.

Der Ausspähung von Kommunikationsinhalten in der Absicht, die so gewonnenen Informationen in betrügerischer Absicht zu verwenden, kann durch den Einsatz von Kryptierung wirksam begegnet werden: ein bekanntes Beispiel ist hier die Ausforschung von Kreditkartennummern bei Bestellungen im Internet.

6. Ausblick Die vielbeschworene Informationsgesellschaft bietet enorme Chancen: in nicht allzu ferner Zukunft wird es möglich sein, an jedem Ort und zu jeder Zeit jedwede elektronische Dienstleistung, seien es Informationen oder Transaktionen, Geschäftsvorgänge oder Unterhaltung, in Anspruch zu nehmen. Dem steht die Binsenweisheit gegenüber, dass diese gewaltigen Chancen nicht minder bedroh- liche Risiken bergen: der Abhängigkeit von der korrekten, von niemandem mani- pulierten und von keinerlei neugierigen Blicken begleiteten Funktion informa- tionstechnischer Systeme wird sich keine Person, keine Institution und kein Gemeinwesen entziehen können.

Die volle Nutzung der vielfältigen Chancen der Informationsgesellschaft setzt al- lerdings beim breiten Publikum, den Märkten und bei den Institutionen von Staat und Gesellschaft das Vertrauen in die Zuverlässigkeit der zugrunde liegenden in- formationstechnischen Systeme voraus: dieses Vertrauen kann nur bei entspre- chender Sicherheit gewonnen werden.

149 2111 Bd.52 IH neu 23.06.2003 7:39 Uhr Seite 150

Meine zentrale These ist jedoch, dass die unleugbaren Risiken der Informations- gesellschaft bei konsequenter Anwendung der heute zur Verfügung stehenden Techniken der Informationssicherheit beherrschbar bleiben werden.

150 2111 Bd.52 IH neu 23.06.2003 7:39 Uhr Seite 151

Hochleistungsbetone Duktilität – Fasern – Feuerwiderstand

Horst Falkner

1. Einleitung Beton ist der Baustoff, der weltweit am häufigsten eingesetzt wird. 50 – 80 % aller Konstruktionen bestehen vollkommen oder teilweise aus dem Baustoff Beton. Beton – die Römer nannten diesen Baustoff „opus caementitium“ ist schon über 2000 Jahre alt (Bild 1.1).

Bild 1.1: Römischer Beton – Aquädukt Aspendos

151 2111 Bd.52 IH neu 23.06.2003 7:39 Uhr Seite 152

Und doch hat es in den letzten Jahren bei diesem altbekannten Material gewaltige technologische und qualitative Fortschritte gegeben. Wir haben Methoden und Rezepturen für Massenbetone entwickelt und können dabei Temperaturen in Höhe und Verlauf so einstellen, dass beim Erhärten die Eigenspannungen klein bleiben und keine Risse entstehen. Hochfeste Betone sind in ihrer Festigkeit heute fast so gut wie Stahl. Was vor wenigen Jahren noch undenkbar erschien, ist heute Wirklichkeit.

Es gibt Betone mit geringen Schwindmaßen, mit hohem chemischen und physi- kalischen Widerstand. Wir wissen, dass Beton auf Druck ein hervorragender Baustoff ist und dort wo Zugbeanspruchungen auftreten, können diese mit Betonstahl, Spannstahl und neuerdings auch mit Fasern aus Stahl oder Kunststoff abgedeckt werden. Mit der Zugabe von Fasern, gleichmäßige Vermischung und Ver teilung vorausgesetzt, kann Beton praktisch in jeder beliebigen Richtung als Faserverbundbaustoff Zugkräfte aufnehmen. So entsteht ein hoher mechanischer und dynamischer Widerstand, Robustheit und Dauerhaftigkeit werden günstig be- einflusst.

Beton ist quasi ein künstlicher Stein, der, abhängig von seiner Festigkeit, unter- schiedliche Porosität aufweist. Primär ist Beton ein hervorragender Baustoff, der hohe Druckkräfte aufnehmen kann, während die Tragfähigkeit auf Zug etwa bei 10 % der Druckbeanspruchung liegt. Ein Vergleich der „Zähigkeit“ bei Zugbe- anspruchungen zwischen dem Material Beton, Stahl und Gummi, zeigt in den Bil- dern 1.2 und 1.3 sehr anschaulich die unterschiedlichen „Zähigkeitseigenschaften“.

Bild 1.2: Zug-Grenzdehnung – Zähigkeit

152 2111 Bd.52 IH neu 23.06.2003 7:39 Uhr Seite 153

Nimmt man einen Betonstab von 1 m Länge und beansprucht ihn auf Zug, kommt es bereits nach einer Verlängerung von 0,1 mm, das entspricht einer Dehnung von 0,01 %, zum Versagen dieses Demonstrationsversuches. Vergleicht man dieses Betonverhalten mit Stahl bzw. Gummi, so stellt man fest, dass bei Stahl die Elastizitätsgrenze etwa bei 0,2–0,3 %, dass heißt bei einer Verlängerung von 2–3 mm bezogen auf den Meterstab erreicht, während die Bruchdehnung et- wa in der Größenordnung von 20 % angenommen werden kann. Jeder kennt die großen Verformungseigenschaften von Gummi. Wir wissen, dass je nach Gummi- mischung die Grenzdehnung zwischen 100 und 500 % betragen kann, das heißt wenn man Gummi mit Beton vergleichen würde, so kommt man auf Vergleichs- zahlen in der Zähigkeit zwischen 1:10.000 und 1:50.000. Nun kann man große oder kleine Verformungseigenschaften nicht als gut oder schlecht bezeichnen, es kommt immer auf den Verwendungszweck an. Würden wir zum Beispiel eine Brücke aus Gummi bauen, so hätten wir große Probleme, denn eine solche Brücke würde sich unter Belastung, seien es LKWs oder die Eisenbahn, so stark verformen, dass eine normale Nutzung nicht mehr möglich wäre.

1000 – 5000 mm

Bild 1.3: Spannungs-Zugdehnungsdiagramme (schematisch)

Betrachten wir nun Beton in unterschiedlicher Qualität. Bei Druckbeanspru- chung müssen wir feststellen, dass Betone mit sehr hohen Festigkeiten bei Bean- spruchungen auf Druck spröde werden, das heißt explosionsartig versagen. Diese Eigenschaft, die in der Realität unerwünscht ist, kann durch Zugabe von Stahl oder/und Kunststofffasern günstig beeinflusst werden.

An Versuchen mit Druckgliedern am iBMB der TU Braunschweig konnte nach- gewiesen werden, dass abhängig von der Faserzugabe die Sprödigkeit so abgefe- dert werden kann, dass im Versagenszustand die Explosion nicht mehr auftritt und anstelle eines plötzlichen Versagens eine Restfestigkeit von 30–40 % der Bauteilfestigkeit erhalten werden kann. Dies ist insbesondere dann wichtig, wenn bei Extrembeanspruchungen, das heißt seien es Erdbeben, Explosionen oder Be- schuss, Bauteile aus hochfestem Material, aus hochfesten Betonen bis in den Grenzbereich der Druckbeanspruchung belastet werden.

153 2111 Bd.52 IH neu 23.06.2003 7:39 Uhr Seite 154

Das Bild 1.4 zeigt das Spannungs-Dehnungsdiagramm eines normalfesten Be- tons im Vergleich zu einem hochfesten Beton und Bild 1.5 zeigt das Spannungs- Dehnungsdiagramm von hochfestem Betonen mit und ohne Fasern.

Bild 1.4: Spannungs-Zugdehnungsdiagramm von Normalbeton und hochfestem Beton

Bild 1.5: Spannungs-Zugdehnungsdiagramm von hochfestem Beton mit und ohne Stahlfasern

Am Beispiel von hochfesten Stützen, d.h. Stahlbetonstützen aus hochfestem Beton, hochfestem Stahl als Druckbewehrung sowie hochfesten Stahlfasern und Poly- propylenfasern, wird das Verhalten dieses High-Tech-Materials unter Belastung und unter Feuerbeanspruchung untersucht.

154 2111 Bd.52 IH neu 23.06.2003 7:39 Uhr Seite 155

2. Anwendung von Stahlbetonstützen mit hochfestem Stahl Die ersten größeren Anwendungen der von Leonhardt/Teichen entwickelten Stützen mit hochfestem Stahl und hohen Bewehrungsgraden kamen bei den neuen Instituten der Ingenieurwissenschaften (IW) und den Elektrotechnischen Instituten (ETI) an der Technischen Universität Stuttgart zur Anwendung (Bild 2. 1).

Bild 2.1: Ansicht einer HH-Stütze

Die Stützen mit bis zu 14 % Bewehrung wurden als Fertigteilstützen über fünf Geschosse, das heißt mit einer Länge von 20 m im Fertigteilwerk hergestellt, anschließend auf die Baustelle transportiert, mit dem Kran versetzt, ausgerichtet, verankert und als Fertigteil mit den Ortbetonflachdecken in Verbindung gebracht. Während die Mittelstützen als Ortbetonstützen mit Querschnittsabmessungen von 60 x 60 cm ausgeführt wurden, kamen bei den Randstützen die Fertigteil- stützen mit Querschnittsabmessungen von 30 x 30 cm zur Anwendung. Die Be- messung dieser Stützen wurden auf der Grundlage des Heftes 222 /1/ des Deut- schen Ausschusses für Stahlbeton (DAfStb) durchgeführt.

155 2111 Bd.52 IH neu 23.06.2003 7:39 Uhr Seite 156

Der Ansatz für die rechnerische zentrische Traglast ergibt sich dabei ohne Berück- sichtigung des Betons zu

Fu = fy,k • As

2 mit fy,k = Mindeststreckgrenze des Spannstahls, zum Beispiel 60 N/mm

Die rechnerische zentrische Gebrauchslast PD ergibt sich aus der Traglast Pu ge- teilt durch den im Stahlbau üblichen globalen Sicherheitsbeiwert von γ = 1,75

FD = Fu/1,75.

Die tatsächliche Traglast war zusätzlich nach der Theorie II. Ordnung unter Beachtung der tatsächlichen Exzentrizitäten des Lastangriffes, jedoch mit einer Mindestexzentrizität von

eu = i/20 + sk/500 mit i = Trägheitsradius

sk = Knicklänge der Stütze

für die ungewollten Ausmittigkeiten zu berechnen. Die schlanken Randstützen mit den o. a. Querschnittswerten von 30 x 30 cm zeigen bei den Institutsgebäuden IW und ETI im Verhältnis zu den kräftigen Mittelstützen mit Querschnitts- abmessungen von 60 x 60 cm einen deutlichen Vorteil in Bezug auf die Raum- nutzung. Die Nutzung der Räume, insbesondere im Fensterbereich, konnte deut- lich verbessert werden.

Bei den Institutsbauten kam sowohl Stahl St 850 als auch St 1.100 zur Anwen- dung. Man hat entweder übersehen oder es einfach nicht berücksichtigt, dass kaltgereckter und wärmebehandelter Stahl bei Druckbeanspruchung eine geringere Streck- bzw. Quetschgrenze aufweist, als bei Zugbeanspruchung. Bei der Anwen- dung des Stahls St 1.100 wurde somit bei einem Teil der Stützen ein rechnerisch zu hoher Traglastanteil des Bewehrungsstahls berücksichtigt. Bei derart veredel- ten Stählen handelt es sich um den sogenannten Bauschinger Effekt. Bei diesen Stählen kommt es infolge der Streck- und Wärmebehandlung zu Veränderungen im kristallinen Gefüge, mit der Folge, dass diese Stähle bei Druckbeanspru- chungen eine geringere Festigkeit aufweisen.

All dies wurde erst festgestellt, als ein Teil des Institutsgebäudes mit derartigen Stützen schon lange bezogen und von Studierenden und Professoren genutzt wurde. Eine nachträglich durchgeführte Trag- und Gebrauchslastuntersuchung der Stützen zeigte jedoch, dass die geforderten Sicherheiten einwandfrei eingehalten wurden, wenn die Mitwirkung des Betons auf Druck berücksichtigt wird. Man sieht, dass stille Reserven, wie die des nicht angesetzten Betons manchmal sehr hilfreich sein können, um dem Tragwerkplaner schlaflose Nächte zu ersparen.

156 2111 Bd.52 IH neu 23.06.2003 7:39 Uhr Seite 157

3. Allgemeine Ansätze – HH-Stützen Bei den HH-Stützen wird die Tragwirkung des hochfesten Betons, der sich mit hohen Lastanteilen an der Lastabtragung beteiligt, nicht vernachlässigt. Gleich- zeitig ist zu überprüfen, ob Beton mit hoher Festigkeit in Verbindung mit Stahl ebenfalls hoher Festigkeiten bei Betonstauchungen von 3–4 % noch ein ein- wandfreies Verbundverhalten aufweisen. Bild 3.1 zeigt die Stützenbewehrung.

Bild 3.1: Stützenbewehrung

Der Bauschinger Effekt (siehe Bild 3.2) wurde berücksichtigt bzw. umgangen, da hochfeste Stähle zum Einsatz kommen, die nicht kalt gereckt wurden.

Bild 3.2: Bauschinger Effekt

157 2111 Bd.52 IH neu 23.06.2003 7:39 Uhr Seite 158

Dies hat zur Folge, dass die Festigkeit bei Druckbeanspruchung höher liegt, als dies bei Zugbeanspruchung der Fall ist. Auch dieser Effekt ist auf unterschiedli- ches Verhalten des Stahles bei Zug bzw. Druck im kristallinen Gefüge zurückzu- führen. Bild 3.3 zeigt die Arbeitslinie des verwendeten Stahles.

Bild 3.3: Arbeitslinie des verwendeten Spannstahls

Beim Beton war abzuklären, welche Festigkeiten heute für hochfesten Beton im Fertigteilwerk unter industriellen Randbedingungen erzielt werden können.

In Zusammenarbeit mit der Bilfinger + Berger Bau AG, Mannheim, konnten im Fertigteilwerk hochfeste Betone hergestellt werden, wie sie in Tabelle 3.1 wieder- gegeben sind.

βw150 βw150 βzyl βbz E-Modul Betonart (28 d) N/mm2 (56 d) N/mm2 (28 d) N/mm2 N/mm2 N/mm2

Faserfreier Beton 133 151 126,1 7,4 53.200

Beton mit PP-Fasern 140 148 130,0 7,3 52.700

Beton mit PP + SF 139 147 126,8 8,6 52.400

Tabelle 3.1: Materialkennwerte

Die Zylinderfestigkeiten lagen nach 28 Tagen zwischen 130 und 140 N/mm2 und sie erhöhten sich nach 56 Tagen auf Werte zwischen 140 und 150 N/mm2.

158 2111 Bd.52 IH neu 23.06.2003 7:39 Uhr Seite 159

Es galt weiter abzuklären, ob bei Bewehrungsgehalten von 10–15% und einem Stahlfaseranteil von 40 kg ein einwandfreies Betonieren, Rütteln und Nachbe- handeln möglich ist. Gleichzeitig war eine einwandfreie und gleichbleibende Qualität der Fertigteilstützen gefordert. Inzwischen ist geklärt, dass HH-Stützen mit Bewehrungsanteilen von 10–15 % und 40 kg Stahlfasern einwandfrei herge- stellt werden können.

Wozu die Stahlfasern?

Hochfester Beton zeigt bei Druckbeanspruchung ein unangekündigtes, plötzliches und explosionsartiges Versagen. Mit Hilfe von Stahlfasern kann diese Sprödig- keit so verändert werden, dass der Beton duktil und nicht explosionsartig versagt. Bild 3.4 zeigt deutlich den Unterschied im Versagensfall bei hochfesten Betonen ohne Faserzusatz im Vergleich zu Betonen, die mit Polypropylenfasern bzw. mit einem Gemisch aus Polypropylen + Stahlfasern untersucht wurden. Wie bereits gesagt, versagt hochfester Beton explosionsartig mit lautem Knall, und ohne Schutz- vorrichtungen kann es zu gefährlichen „Querschlägern“ kommen, die auch für das Laborpersonal nicht ungefährlich sind, und die zu Beschädigungen von Geräten führen können.

Im Gegensatz dazu, verläuft ein Druckversuch bei ausreichender Faserzugabe nahezu geräuschlos und bei geeigneten Mischungsverhältnissen kann es erreicht werden, dass der Prüfkörper nach dem Erreichen der Traglast optisch nahezu un- beschädigt bleibt und dann noch eine Resttraglast von ca. 20–30% der Versagens- last aufweist (Bild 3.4, rechter Betonzylinder).

Normalbeton Beton mit PP-Fasern Beton mit PP und Stahlfaser

Bild 3.4: Betonzylinder nach Druckfestigkeitsprüfung

159 2111 Bd.52 IH neu 23.06.2003 7:39 Uhr Seite 160

4. Versuche mit HH-Stützen am iBMB der TU Braunschweig

4.1 Der Versuchskörper

Für die Ermittlung der Traglasten wurden Stützen mit Querschnittsabmessungen von 20 x 20 cm und einer Länge von 2,30 m ausgewählt. Dies entspricht einem l/d-Verhältnis von 11,5. Dies wurde gewählt, da bei der praktischen Anwendung Stützen mit einer Länge von 3,6 x 4,20 m und Querschnittsabmessungen von 40 x 40 cm zur Anwendung kommen sollen.

Neben der angestrebten Betongüte von B 125 wurde für die Druckbewehrung Spannstahl der Güte St 750/1200, der eine Quetschgrenze von 930 N/mm2 auf- weist, verwendet. Der Bewehrungsprozentsatz betrug mit 8 ø 26,5 mm, 11%. Die Verbügelung wurde mit ø 8/7,5 cm hergestellt. In den Lasteinleitungsbereichen wurde der Bügelabstand von 7,5 cm auf 5,0 cm verringert. Bild 4.1 zeigt den Bewehrungskorb.

Bild 4.1: Stützenbewährung

160 2111 Bd.52 IH neu 23.06.2003 7:40 Uhr Seite 161

Die Lasteinleitung am Kopf und Fuß erfolgte über 45 mm dicke Stahlplatten. Die Verbindung zwischen den Bewehrungsstäben und der Stahlplatte wurde als Stumpf- stoß mit zusätzlicher Verklebung ausgeführt.

Der Vergleich des Spannungs-Dehnungsverlaufes bei Zylinderprüfungen von Beton zeigt den Unterschied zwischen Normalbeton und hochfestem Beton. Während sich bei Normalbeton Stauchungen zwischen 2 und 2,3 % ergeben, erhöhen sich diese bei Kurzzeitbeanspruchung bei hochfestem Beton auf Werte zwischen 3 und 3,5 %.

4.2 Versuchsdurchführung

Die Versuche wurden in einem Versuchsstand mit einer 10.000 kN-Presse wegge- steuert durchgeführt. Bild 4.2 zeigt den Versuchsstand mit der eingebauten Ver- suchsstütze. Die ermittelten Traglasten bei einer Betonfestigkeit nach 28 bzw. 56 Tagen lagen zwischen 6.800 und 7.300 kN. Allein durch unterschiedliche Belas- tungsgeschwindigkeiten steigen die Traglasten von zunächst 7.100 auf 7.300 kN an.

Bild 4.2: Versuchsstand mit eingebauter Versuchsstütze

161 2111 Bd.52 IH neu 23.06.2003 7:40 Uhr Seite 162

Während sich die kleinere Traglast bei einer sehr schnellen Belastungsgeschwin- digkeit, das heißt von 15 Minuten bis zum Erreichen der Traglast ergab, wurde der höhere Traglastwert bei einer Belastungsdauer von 25 Stunden bis zum Ver- sagen erreicht. Der Einfluss ist damit zu erklären, dass bei langsamer Belastung das bereits einsetzende Kriechen des Betons zu einer Belastungsumlagerung vom Beton auf den Stahl führt. Das bedeutet, dass die Lasten im Beton relativ abneh- men, während sie im Stahl zunehmen.

Bei der praktischen Anwendung, zum Beispiel im Hochhausbau, wird dieser Effekt noch deutlicher, da die Herstellung von 30 und mehr Geschossen sich über Monate oder länger hinziehen kann. Somit wird der Einfluss des Betonkriechens auf die Traglast der HH-Stützen noch deutlicher ausgeprägt. Möglich wird dieser Umlagerungseffekt durch die Anwendung eines hochfesten Stahls und die da- durch gleichzeitig höhere zulässige Stauchung des Stahls im Gebrauchszustand. Es ist beabsichtigt, die Größe und den Einfluss der Umlagerungen vom hochfes- ten Beton auf den hochfesten Stahl in Langzeitversuchen noch näher zu erfor- schen. Dabei sollen auch Parameterstudien mit unterschiedlichen Bewehrungs- graden und Fasergehalten durchgeführt werden.

5. Brandversuche Beim Einsatz von HH-Stützen im Hochhausbau ist eine Feuerwiderstandsdauer von 90 bzw. 120 Minuten nachzuweisen. Für Stützen aus hochfestem Beton und Beweh- rungen mit normalem Betonstahl der Güte BSt 550 liegen an der MPA in Braun- schweig genügend Versuchsergebnisse und rechnerische Ansätze vor, um für beliebige Stützenquerschnitte den Nachweis der Feuerwiderstandsdauer führen zu können.

Die zusätzlich im Beton verarbeiteten Polypropylenfasern der Firma Bagrat werden nur für den Brandfall vorgehalten. Bei Brandeinwirkung schmelzen die Kunststoff- fasern bei Temperaturen zwischen 100 und 150°C so, dass im Beton feine Kanäle entstehen, durch die der durch die Wärmeeinwirkung entstehende Wasserdampf entspannen und entweichen kann. Die Gefahr der Betonabplatzungen unter Brandeinwirkung wird somit fast ausgeschlossen oder sehr stark reduziert.

Um festzustellen, ob diese rechnerischen Ansätze auch auf die HH-Stützen über- tragen werden können, wurde es erforderlich, zusätzlich entsprechende Brand- versuche durchzuführen. Erste Ergebnisse an Stützen mit einem Querschnitt von 20 x 20 cm und Brandeinwirkung nach der ETK (maximale Temperatur ca. 1.000 °C) zeigten, dass die vorhandenen Rechenansätze im wesentlichen auch auf die HH- Stützen übertragen werden können.

In einem Brandversuch wurde eine Stütze mit Querschnittsabmessungen von 20 x 20 cm und 2,3 m Systemlänge bei einer konstant gehaltenen Druckbelastung von 1.000 kN im Brandfall untersucht. Die Feuerwiderstandsdauer ergab sich zu 141 Minuten. Die rechnerische Untersuchung mit einer Gebrauchslast von 2.000 kN ergibt dann eine Feuerwiderstandsdauer von 120 Minuten.

162 2111 Bd.52 IH neu 23.06.2003 7:40 Uhr Seite 163

Bei diesen Ergebnissen mit Stützen von Querschnittsabmessungen von 20 x 20 cm ist hinzuzufügen, dass es hierbei zu einer starken Aufheizung der Stütze im ge- samten Querschnitt kommt. Um den Einfluss größerer Querschnittsabmessungen auf die Feuerwiderstandsdauer festzustellen, wird zusätzlich noch ein weiterer Brandversuch mit einer Querschnittsabmessung von 30 x 30 cm durchgeführt, um aus den Ergebnissen dieses Brandversuches dann auf analytischem Wege die Feuerwiderstandsdauer praktisch vorgesehener Stützen mit Querschnittsabmes- sungen von 40 x 40 cm ermitteln zu können.

Aufgrund der Versuche kann festgestellt werden, dass die HH-Stützen die gefor- derte Feuerwiderstandsdauer bis zu 120 Minuten erreichen.

Bild 5.1 zeigt schematisch die unterschiedlichen Temperaturverteilungen bei Erwärmung von Stützen mit den Querschnittsabmessungen von 20 x 20 cm bzw. 40 x 40 cm. Besonders deutlich ist der Temperaturunterschied im Kernbereich, der bei der 20er Stütze bei etwa 480 °C und bei der 40er Stütze bei etwa 40 °C liegt.

Bild 5.1: Temperaturverteilungen über den Querschnitt

Es ist darauf hinzuweisen, dass sich Normalbetone und hochfeste Betone bei Brandeinwirkung in der Festigkeitsentwicklung unterschiedlich verhalten. Nor- malbeton zeigt bei Erwärmung zunächst einen leichten Festigkeitsanstieg und anschließend bei Temperaturen bis zu 800° einen Abfall auf etwa 20 % der Aus- gangsfestigkeit.

Hochfeste Betone zeigen bei Erwärmung keinen Festigkeitsanstieg, sondern die Festigkeiten nehmen kontinuierlich ab und erreichen bei 800 °C ebenfalls etwa 20 % der Ausgangsfestigkeit.

Geht man davon aus, dass bei HH-Stützen mit Querschnittsabmessungen von 40 x 40 cm im Kernbereich eine Temperatur von 60–100 °C erreicht wird, wenn gleichzeitig die Randtemperaturen ca. 1.000 °C betragen, können die zugehöri- gen Betonfestigkeiten mit etwa 70–80 % der Normaltemperaturfestigkeit ange- setzt werden. Bild 5.2 zeigt den temperaturabhängigen Festigkeitsverlauf von Beton und hochfesten Beton.

163 2111 Bd.52 IH neu 23.06.2003 7:40 Uhr Seite 164

Bild 5.2: Temperaturabhängige Betonfestigkeiten

Die Veränderung der Festigkeiten bei Temperaturerhöhung im Spannstahl zeigt Bild 5.3. Hier wird deutlich, dass bereits bei einer Temperatur von 100 °C ein Festigkeitsabfall von rund 20 % eintritt und bei 600 °C die Restfestigkeit unter 10 % Ausgangsfestigkeit liegt. Bei der praktischen Anwendung der HH-Stützen ist vor- gesehen, Druckbewehrung nicht nur im Außenbereich, sondern auch im Kern- bereich der Stützen anzuordnen. Damit wird erreicht, dass bei Brandeinwirkung Belastungsreserven sowohl des Betons als auch des innen liegenden Stahls zur Erreichung der geforderten Feuerwiderstandsdauer herangezogen werden können.

Bild 5.3: Temperaturabhängige Spannstahlfestigkeit

Wie günstig sich die Polypropylenfasern auf das Abplatzverhalten des Betons auswirken zeigt Bild 5.4. Im linken Bildteil ist eine Stütze aus hochfestem Beton nach dem Brandversuch zu sehen, das rechte Bild zeigt das Oberflächendetail und die relativ geringen Abplatzungen.

164 2111 Bd.52 IH neu 23.06.2003 7:40 Uhr Seite 165

Oberflächendetail

Bild 5.4: Abplatzverhalten von hochfestem Beton mit Stahl- und Polypropylenfasern

6. Bemessung Bei den für den Versuch und die praktische Anwendung gewählten Querschnitts- abmessungen und der Wahl der Druckbewehrung beteiligt sich der Beton mit et- wa 2/3 und der Stahl mit etwa 1/3 und der Lastabtragung. Diese Relation gilt zunächst, wie bereits früher angesprochen, für Kurzzeitbeanspruchung. Im Dauer- standsversuch, bei der vorhandenen Elastizität des Stahls, werden sich Last- anteile des Betons infolge Kriechen vom Beton auf den Stahl umlagern.

Für die Bemessung soll der Umlagerungseffekt durch Kriechen des Betons zunächst außer Acht gelassen werden. Für die rechnerische Ermittlung der Trag- und Gebrauchslasten werden somit die Spannungs-Dehnungsbeziehungen des hochfesten Betons und des Spannstahls auf Druck herangezogen. Die rechneri- sche Traglast ergibt sich demnach bei der Annahme von gleichmäßigen Deh- nungen für Beton und Stahl aus der maximalen Bruchdehnung des hochfesten Betons, die in den Versuchen zwischen 3 und 3,5 % ermittelt wurde.

Wählt man zunächst einen konservativen Ansatz für die Betonstauchung von 3 %, ergibt dies im Spannstahl eine Dehnungsreserve von etwa 1,5%, wenn man davon ausgeht, dass die Quetschgrenze des Stahls bei 930 N/mm2 liegt. Somit erhält man die Bruchlast Pu zu

Fu = βc,zyl • Ac + 3,0 • Es • As (Stauchungsreserve Stahl ca. 1,4–1,5 %)

Für die Festlegung der Gebrauchslast wurden unterschiedliche Bemessungsansätze untersucht.

165 2111 Bd.52 IH neu 23.06.2003 7:40 Uhr Seite 166

6.1 Globaler Sicherheitsfaktor bezogen auf die Versuchsergebnisse

Bei einer derartigen Globalbetrachtung wird die rechnerische Traglast mit einem globalen Sicherheitsbeiwert von γ = 2,5; 2,75 oder 3,0 aus den Versuchsergeb- nissen ermittelt, das heißt die Gebrauchslast ergibt sich zu

FGebr = Fu,Vers/γ.

6.2 Globalansatz mit unterschiedlichen Sicherheitsfaktoren

Bei dieser Betrachtungsweise werden unterschiedliche globale Sicherheitswerte für den Beton und den Stahl angesetzt. Für den Beton γ = 2,1 analog DIN 1045 (alt) /2/ und für den Stahl γ = 1,75. Dann ergibt sich

FGbr = As • fy,s • γR/1,75 + AB • βc,k/2,1

γR = Reduktionsfaktor, da die Steckgrenze des Stahles nicht erreicht wird.

6.3 Gesplittete Sicherheitsbeiwerte für Last und Widerstand

In Anlehnung an DIN 1045 (neu) /4/ und Eurocode /5/ werden die Teilsicher- heitsbeiwerte sowohl bei der Einwirkungs- als auch auf der Widerstandsseite zum Ansatz gebracht:

Fu = As • βs • γR + Ac • βc,k FD, = As • βs • γR /1,15 + Ac • βc,k/l,5 FGebr = FD/1,4

Zusammenfassend kann für die Bemessung festgestellt werden, dass bei der Berücksichtigung eines globalen Sicherheitsansatzes ein Sicherheitsbeiwert von 2,75–3,0 zwischen Gebrauchs- und Traglast angestrebt wird. Die Berechnung mit gesplitteten und last- bzw. widerstandsbezogenen Teilsicherheitsbeiwerten zeigt, dass alle drei Ansätze in etwa zum selben Sicherheitsniveau führen.

Für die Anwendung der HH-Stützen ist eine Zustimmung im Einzelfall erforder- lich. Diese wird derzeit in Abstimmung mit den eingesetzten Gutachtern im hes- sischen Wirtschaftsministerium für ein Projekt in Frankfurt erarbeitet.

7. Knoten-Stützdecke Bei der Durchleitung der Stützenlasten durch die Geschossdecken gibt es viele verschiedene konstruktive Lösungen. Decken werden heute üblicherweise mit Betongüten von B 35 bis maximal B 55 hergestellt. Legt man die derzeitigen Ansätze der DIN 1045 zugrunde, so müsste man im Deckenbereich die höhere Betongüte der Stützen und auch des Stahls konsequent durchführen und gleich-

166 2111 Bd.52 IH neu 23.06.2003 7:40 Uhr Seite 167

zeitig dafür sorgen, dass die Differenzlasten aus den einzelnen Geschossdecken in die Stützen eingeleitet werden können.

Konstruktive Lösungsvorschläge für die Knotenausbildung sind bereits im DAfStb-Heft 222 /1/ angegeben (Bild 7.1).

Neueste Versuche zeigen jedoch, dass in Einleitungs- bzw. Durchleitungs- bereichen, die allseitig mit ausreichend Beton umhüllt sind, Betonpressungen aufgenommen werden können, die etwa das fünf- bis zehnfache der Würfel- bzw. Zylinderfestigkeit des normal beanspruchten Betons betragen.

Bild 7.1: Mögliche Knotenausbildung

Derartige Voraussetzungen liegen vor allem bei der Durchleitung von Stützenlasten im Mittenbereich von Decken vor, bei der der Durchstützkörper in der Decke die Aufgabe hat, die Stützenlast über die Deckendicke vom oberen in den unteren Stützenabschnitt durchzuleiten. Betrachtet man den Grenzfall, dass der umhüllende des Durchleitungsbereiches Beton fehlt, wird deutlich, dass Stützen ungestört mit denselben Querschnittsabmessungen und Betongüten auszubilden sind.

Ein weiterer Grenzfall stellen Randstützen dar, bei denen der äußere Deckenrand einer Stützenseite entspricht. In diesem Fall ist die Stütze nur von drei Seiten vom Deckenbeton umhüllt, während die Randseite frei liegt. Solche Randknoten sind dann entweder ohne Berücksichtigung der dreiseitigen Umhüllung der Decke zu betrachten oder der freie Rand ist konstruktiv, zum Beispiel durch Horizontalbewehrung zu verstärken, um eine Verformung in Richtung des freien Randes entsprechend zu reduzieren.

167 2111 Bd.52 IH neu 23.06.2003 7:40 Uhr Seite 168

In einem Versuchprogramm wird derzeit untersucht, welche Durchstützlasten bei derartigen Deckenknoten möglich sind, wenn der Deckenbeton den Knoten im Durchstützbereich mit unterschiedlicher Breite umhüllt. Damit können sowohl Mittelstützen als auch Randstützen erfasst werden.

Ein weiteres Ziel dieser Untersuchungen ist, den zusätzlichen Einfluss von Biegung und Querkraft aus der Decke auf Knoten mit zu erfassen /7/. Geht man zum Beispiel bei Mittelstützen davon aus, dass die Oberseite der Platte infolge des negativen Stützenmomentes Rissbildungen aufweist, so wird naturgemäß die umhüllende und damit verformungsbehindernde Funktion der Deckenscheibe re- duziert. Auch hier soll mit dem angesprochenen Versuchsprogramm geklärt wer- den, welche zulässigen Durchstützlasten sich bei dieser Beanspruchungskom- bination ergeben und welchen Einfluss konstruktive oder statische Bewehrung im Stützenbereich auf die mögliche Durchstützlast hat.

Bild 7.2: Durchstützbereich – Modellierung als hydraulischer Zylinder

Man kann einen derartigen Knoten als hydraulischen Zylinder modellieren (siehe Bild 7.2). Geht man in erster Näherung davon aus, dass sich die Zylinderwand bei Druckbeanspruchung nicht verformt, so könnten auf diesem gedanklichen Zylinder theoretisch unendlich hohe Belastungen aufgebracht werden. In Wirk- lichkeit gibt es sowohl Verformungen der Zylinderwand, das heißt der Decken- scheiben, als auch Verformungen des Materials, das heißt des Deckenbetons im Durchleitungsbereich. Die Untersuchungen sollen dazu beitragen, diese Einflüsse abzuklären.

Ein wichtiger Detailpunkt ist der Knoten bei der Durchleitung der Stützenlasten durch die Geschossdecken. Um ohne die in Bild 7.1 dargestellten Einbauteile auszukommen, wird in einem Versuchprogramm abgeklärt, welche Durchstütz- lasten im Deckenknoten möglich sind, wenn neben der Normalkraft aus der Stütze zusätzlich der Einfluss von Biegung und Querkraft aus der Decke im Knotenbereich berücksichtigt werden muss.

168 2111 Bd.52 IH neu 23.06.2003 7:40 Uhr Seite 169

Bild 7.3 zeigt einen derartigen Versuchskörper. Mit den an den Ecken der Versuchsplatte angeordneten Pressen kann das Stützmoment und die Querkraft einer Flachdecke im Auflagerbereich simuliert werden. Mit dem mittleren Zylinder wird die durch den Stützbereich durchzuleitende Stützenlast simuliert.

Bild 7.3: Durchstützbereich – Versuchsdurchführung

Die Versuchsergebnisse zeigen, dass trotz Rissbildung im Stützenbereich der Decken Durchstützlasten erreicht werden, die zu Druckspannungen führen, die zwei- bis dreimal größer sind, als die Druckfestigkeit des Deckenbetons. Grenzen für die Beanspruchung der Decken ergeben sich jedoch weniger aus der Traglast im Knoten, als vielmehr aus den Verformungen, die durch die hohen Stützen- lasten in der Decke selbst entstehen. Über die Versuchsergebnisse wird an ande- rer Stelle detailliert berichtet werden.

8. Ausblick – Anwendung Die HH-Stützen als schlankes Bauteil mit kleinen Querschnittsabmessungen, ho- her Tragfähigkeit und einem Feuerwiderstand von F120, sollen erstmals bei dem Bürogebäude Herriot’s in Frankfurt am Main zur Anwendung kommen (siehe Bild 8.1). Bauherr dieses Projektes ist die Deutsche Sparkassenorganisation (DESPA) in Frankfurt, Architekt Köhler – Architekten BDA, Tragwerksplaner IBF Dr. Falkner GmbH, Prüfingenieur Prof. Dr.-Ing. König, Frankfurt am Main.

Architekten, Bauherren und Nutzer sind vor allem bei den Büro- und Verwal- tungsgebäuden daran interessiert, die Stützenabmessungen möglichst klein zu halten, um dadurch eine möglichst flexible und ungestörte Nutzung der Büro- flächen zu ermöglichen.

169 2111 Bd.52 IH neu 23.06.2003 7:40 Uhr Seite 170

Bild 8.1: Bürogebäude Herriot’s in Frankfurt

Entscheidend für die Anwendungen sind die tatsächlichen Kosten der Stützen, deren Qualität und ein reibungsloser und termingerechter Ablauf während der Rohbauphase. Bereits jetzt kann festgestellt werden, dass die Erfahrungen mit Fertigteilstützen bezüglich Qualität, Montage und Einsatz auf der Baustelle posi- tiv sind. Der Einsatz von Fertigteilprodukten auf der Baustelle ermöglicht die ter- mingerechte Vorfertigung und die Garantie, dass nur ein qualitätsgesichertes Produkt auf der Baustelle zum Einsatz kommt. Ein gewaltiger Vorteil im Ver- gleich zu Ortbetonlösungen, bei der nicht selten schlechte Ausführungsqualität zum Teilabbruch und damit zu Terminverzögerungen führt.

Die Kosten der HH-Stütze liegen bei der derzeitigen Kalkulation etwa 15–20 % über den vergleichbaren Kosten einer Stahlbetonstütze aus Normalbeton und Betonstahlbewehrung. Wenn man den Raumnutzungsvorteil rechnerisch in Ansatz bringen will, der durch die kleineren Stützenabmessungen gewonnen wird, so kann man theoretisch hochrechnen, dass bei einer Nutzungsdauer des Gebäudes von 30 oder 50 Jahren dem Bauherren nicht nur keine Zusatzkosten entstehen, sondern ein Gewinn erwirtschaftet wird.

Natürlich ist eine solche Betrachtungsweise zunächst nur theoretisch, da in Bürogebäuden häufig die Flächen ohne Berücksichtigung eines Stützenabzuges ermittelt und vermietet werden. Praktisch ist der Nutzen in jedem Fall gegeben, da der Bauherr Gebäude mit kleinen Stützen leichter und besser vermieten kann und der Nutzer den Vorteil der größeren Flexibilität hat.

170 2111 Bd.52 IH neu 23.06.2003 7:40 Uhr Seite 171

Das neue Stahlbetonprodukt mit hochfesten Materialien ist jedoch nicht nur im Hochbau, sondern auch im Tiefbau, bei Sanierungen, beim Umbau von Bauwerken und in der Denkmalpflege einsetzbar. Überall dort, wo es gilt, mit kleinen Quer- schnittsabmessungen große Lasten abzutragen, bietet die neue Konzeption aus hochfesten Materialien, jedoch mit duktilem Verhalten, neue und interessante Möglichkeiten für Bauherren, Architekten und Anwender.

9. Literatur /1/ Leonhardt, F.; Teichen, K.-T.: Druckstöße von Bewehrungsstäben und Stahlbetonstützen mit hochfestem Stahl St 90. Heft 222 des DAfStb, Berlin, 1972

/2/ DIN 1045: Ausgabe Juli 1988

/3/ Deutscher Ausschuss für Stahlbeton (DAfStb): Richtlinie für hochfesten Beton. Ausgabe August 1995.

/4/ DIN 1045-1: Entwurf, Ausgabe Dezember 1988

/5/ Eurocode 2, Part1: Design of Concrete Structures

/6/ Falkner, H.; Teutsch, M.: Hochfeste Betonstützen mit hochfestem Stahl. Versuchsbericht des iBMB der TU Braunschweig. September 2000.

/7/ Falkner, H.; Teutsch, M.; Weiske, R.: Normalfeste Decke – Hochfeste Fertigteilstütze (HH). Versuchsbericht des iBMB der TU Braunschweig in Vorbereitung.

171 2111 Bd.52 IH neu 23.06.2003 7:40 Uhr Seite 172 2111 Bd.52 IH neu 23.06.2003 7:40 Uhr Seite 173

Baulicher Schutz und Schutz von Infrastruktur

Klaus Thoma

Der Beitrag lag zur Veröffentlichung als Foliensatz vor. Um eine eigene Inter- pretation zu vermeiden, wird vom Herausgeber ausschließlich der Inhalt der Folien als Textbeitrag abgedruckt.

Baulicher Schutz und Schutz von Infrastruktur Aktuelle Arbeiten und zukünftige Forschungsschwerpunkte des Ernst-Mach-Instituts

Klaus Thoma Direktor Ernst-Mach-Institut

50. Jahrestagung der Schutzkommission

Schutzkommission K.Thoma 24.-25.Mai 2001 Freiburg, 24. –25. Mai 2001

173 2111 Bd.52 IH neu 23.06.2003 7:40 Uhr Seite 174

174 2111 Bd.52 IH neu 23.06.2003 13:57 Uhr Seite 175 ein Institut der Fraunhofer-Gesellschaft der ein Institut

ist EMI Das für angewandte Forschung (FhG) Forschung für angewandte ca. 200 Mitarbeiter 3 Standorte, Fraunhofer-Gesellschaft: Institute 50 ca. 10 000 Mitarbeiter 1.4 Mrd DM Haushalt 2001 .Mai oma 24.-25 ssion K.Th ssion Schutzkommi

175 2111 Bd.52 IH neu 23.06.2003 7:40 Uhr Seite 176 rogebäude Efringen-Kirchen Bü rogebäude Efringen-Kirchen Bü auptgebäude Eckerstraße H 2001 .Mai auptgebäude Eckerstraße H rsuchsplatz Holzen im Kandertal Das neue Technikum in Efringen-Kirchen oma 24.-25 Ve 24.-25.Mai 2001 24.-25.Mai rsuchsplatz Holzen im Kandertal Das neue Technikum in Efringen-Kirchen ssion K.Th ssion Ve mmission K.Thoma Schutzkommi Das EMI an 3 Standorten Schutzkommission K. Thoma 24.–25.Mai 2001 o

176 2111 Bd.52 IH neu 23.06.2003 7:40 Uhr Seite 177 Fakultät Wien Universität Universität Graz Universität Experimentalphysik an der Experimentalphysik Universität Prag der Universität Prag 1867-1895 für Ordinarius 18721879 Philosophischen der Dekan 1895-1901an für Philosophie Lehrstuhl der Rektor der Prag Universität Akademische Tätigkeit: Akademische 1864-1866 an für Mathematik Ordinarius 1866-1867 1866-1867 an der Ordinarius für Physik 2001 .Mai oma 24.-25 ssion K.Th ssion ysiker und Philosoph und ysiker Schutzkommi Der Namensgeber des Instituts Der Namensgeber Ernst Mach 1838-1916 Ph

177 2111 Bd.52 IH neu 23.06.2003 7:40 Uhr Seite 178 istik Ball Kurzzeit- technologie triebsvorgänge Messtechnik Informations- An sche Simulation + numeri Werkstoffcharakterisierung Werkstoffcharakterisierung EMI Arbeitsgebiete Impaktphysik 2001 .Mai Detonik oma 24.-25 Schutz- und Schutz- und aulicher Schutz aulicher Systemstudien Waffenwirkung B ssion K.Th ssion Schutzkommi Die Arbeitsgebiete des EMI

178 2111 Bd.52 IH neu 23.06.2003 7:40 Uhr Seite 179 Space Debris Impacts Debris Space ESA EMI 24.-25.Mai 2001 24.-25.Mai das oma hutzanordnungen ssion K.Th ssion Entwicklung von Entwicklung Sc gegen Weltraummüll gegen durch durch Schutzkommi Schutz im Weltraum Columbus Module of

179 2111 Bd.52 IH neu 23.06.2003 7:40 Uhr Seite 180 THAAD THAAD MEADS MEADS Abwehr Ballistischer Flugkörper Abwehr Ballistischer Flugkörper 2001 .Mai oma 24.-25 ssion K.Th ssion Schutzkommission K. Thoma 24.–25.MaiSchutzkommission K. 2001 Schutzkommi Schutz im Weltraum Schutzkommission K. Thoma 24.–25.Mai 2001

180 2111 Bd.52 IH neu 23.06.2003 7:40 Uhr Seite 181 -

oder Sabotage - inrichtungen ) 2001 .Mai Datenräume, Verkehrs-, Versorgungs- und oma 24.-25 ssion K.Th ssion Telekommunikationse Einrichtungen hochtechnologische Infrastruktur erlaubt keine Ausfälle sensibler (z. B. anschlägen zu rechnen sein geworden. Aufgrund der veränderten sicherheitspolitischen Lage sind kriegerische Auseinandersetzungen unwahrscheinlich Schutzkommi Weshalb Forschung im Bereich Schutz von Infrastruktur? • Die starke Abhängigkeit unserer Gesellschaft durch eine • Jedoch wird zukünftig mehr mit Terror •

181 2111 Bd.52 IH neu 23.06.2003 7:40 Uhr Seite 182 Aufwand für Gefährdung der Risiko und abnehmendem 2001 .Mai oder die Täter kann eine zunehmende oma 24.-25 ssion K.Th ssion Bevölkerung verursacht werden. potential. in urbanen Strukturen ein zunehmendes Gefährdungs- Risikoanalyse, -minderung und Schadensminimierung eine sehr wesentliche Reduktion der Gefährdung erreicht werden. Forschungsergebnisse undkonsequente Fortsetzungvon Forschungs- und Entwicklungsarbeiten in Richtung den • Mit abnehmendem • Mit • Dennoch kann durch eine gezielte Nutzung vorhandener • Generell ergibt sich durch die Konzentration der Bevölkerung Schutzkommi Weshalb Forschung im Bereich Schutz von Infrastruktur?

182 2111 Bd.52 IH neu 23.06.2003 7:40 Uhr Seite 183 2001 .Mai oma 24.-25 ssion K.Th ssion Schwerverletzte Schutzkommi Verletzte, davon 19 Tote, ca. 260 Tote, 19 Anschlag Khobar Towers Aziz Air Abdul King Base, Dhahran, 15:00 1996, Juni 25 64

183 2111 Bd.52 IH neu 23.06.2003 7:40 Uhr Seite 184 Khobar Towers Khobar Schutzkommission K. Thoma 24.–25.Mai 2001

184 2111 Bd.52 IH neu 23.06.2003 7:40 Uhr Seite 185 1993 1993 . 26 Februar 26 26 Februar 26

Anschlag World Trade Center Trade World Anschlag Anschlag World Trade Center Trade World Anschlag

185 2111 Bd.52 IH neu 23.06.2003 7:40 Uhr Seite 186 und Risikominimierung und (netzbehaftete und netzfreie Methoden) (netzbehaftete baulichen Schutz baulichen Einwirkung von Schock, Blast und Impakt auf bauliche bauliche auf Impakt und Blast Schock, von Einwirkung Strukturen Schutzkommission K. Thoma 24.–25.Mai 2001 Aktuelle und zukünftige Forschungsthemen des EMI und zukünftige Aktuelle • für die Risikoanalyse Simulationsverfahren von Entwicklung • physikalischen von Berechnungsverfahren Weiterentwicklung • Einsatz den Hinblick auf im Werkstoffen neuen an Forschung •

186 2111 Bd.52 IH neu 23.06.2003 7:40 Uhr Seite 187 400 . / / 0 c * po x * * 2

 350 ung N. Johnson; N. ung arctan * po 300

* 2 ter pressure pressure ter mit Cm und angepaßtem und Cm mit angepaßtem und C2 mit saufzeichn  ) x ( ] 2 ps 250 Funktion mit Cm und angepaßtem po Funktion mit C2 und angepaßtem po Versuchsaufzeichnung N. Johnson; static water pressure Funktion po Funktion po Versuch static wa ng [mm] 200 iegu Durchb 150 200 250 300 350 400 Durchbiegung [mm 150 100 50 1,52laminated / 1575[mm] glass 3 pane annealed 975 x [mm] / 3 3/1,52/3 laminated anneated glasspane 1575 [mm] x 975 0 050100

0,020 0,018 0,016 0,014 0,012 0,010 0,008 0,006 0,004 0,002 0,000

0,020 0,018 0,016 0,014 0,012 0,010 0,008 0,006 0,004 0,002 0,000 Druck [N/mm²] Druck

] [N/mm Druck 2 Laminated Glass ährdung durch Glasfragmente durch ährdung f Ge Einwirkung von Schock, Blast und Impakt auf bauliche Strukturen bauliche auf Impakt und Blast Schock, von Einwirkung

187 2111 Bd.52 IH neu 23.06.2003 7:40 Uhr Seite 188 bon Fibre Car Shock Tube rwerk, Einfluss einer Bewehrung LuftstoßbelastungMaue von Schutzkommission K. Thoma 24.–25.Mai 2001

188 2111 Bd.52 IH neu 23.06.2003 7:40 Uhr Seite 189 DUCON Concrete Ductil Baulicher Schutz: Impakt auf Beton Baulicher Schutz: Impakt Schutzkommission K. Thoma 24.–25.Mai 2001 Baulicher Schutz: Impakt auf Beton Baulicher Schutz: Impakt

189 2111 Bd.52 IH neu 23.06.2003 7:40 Uhr Seite 190 rbesserungen: DUCON Ve - Stahlkugeln (Bügel) - 3D-Matte - Elektrokorund Forschung an neuen Werkstoffen an neuen Forschung Schutzkommission K. Thoma 24.–25.Mai 2001

190 2111 Bd.52 IH neu 23.06.2003 15:01 Uhr Seite 191 80 60 SIFCON 40 Dehnung % 20 BETON 0 2

0

80 40 120 N/mm Druckfestigkeit 800 Faser Ol Faser M Faser ZL 600 400 Faseranteil V*l/d % 200 Fibre Concrete SIFCON 0

0 30 20 10

Biegezugfestigk. N/mm Biegezugfestigk. 2 120 = 7,0 % f 100 mm ,0 %, V 80 bewehrter SIFCON 2 µ= Streubereich nach Gl. (1) 60 Æ 2,0 % s X Stahlbeton µ= 40 20 0 2 0 50 350 300 250 200 150 100 kN/m s P Ç Forschung an neuen Werkstoffen an neuen Forschung Schutzkommission K. Thoma 24.–25.Mai 2001

191 2111 Bd.52 IH neu 23.06.2003 7:40 Uhr Seite 192 basto W05 W03 W01 W02 G6 G2 El 08090100 g [%] Dehnungs-Di agr amm Dehnun Spannungs- 04050607 010203

0,00

70 ,0 0 60 ,0 0 50 ,0 0 40 ,0 0 30 ,0 0 20 ,0 0 10 ,0 0

tigkeit [N/mm²] tigkeit s Druckfe Polymerbeton zur Schockdämpfung

Füllstoff Mais

x%) (N/mm Integrad

2 )

% l ( N m ² x / m I t n e g r a

3,5

s

i

a

0 0 0 0 0 0

M

0 0 0 0 0 0 -

0

f

0 1 2 3 4 5 6

600 500 400 300 200 100

f

0

0

o

2

t

.

3

s r

30

g

N

a

l

l

e

h f

3,0

c

r

s

ü

u

W Z

Zuschlagstoff-Mais Würfel Nr. 20

:

n

o

t

e

b

0 r 20

2,5

e

2

)

m

y

l

%

(

o

P

g

n u

Polymerbeton

n

h

e D 2,0

Dehnung (%)

0 1 10

1,5

k

i

m

a

n

y d

0

0

t

i e

normierter Abstand m/kg/1/3

0 0

0 0 0 0 z 1,0

0

1

2 3 4 5 z

50 40 30 20 10

r

u

) (N/mm Druckfestigkeit ² ) m k e / N m i

g ( t K k f e c u s t i r

D t

2 t

u

u

t

t

i

i

t

t

s

s

n

n

I

I

-

r h

0,5

e

c

f

a

o

M

h

-

t

n

s

u

n

a

r

r

F E Fraunhofer Institut Kurzzeitdynamik Ernst-Mach-Institut Druck Druck Impuls Impuls Druck Impuls 0

0

3,5 2,5 2,0 1,5 0,5 3,0 1,0 Änderung Druck-Impuls Änderung Schutzkommission K. Thoma 24.–25.Mai 2001 Forschung an neuen Werkstoffen an neuen Forschung Werkstoffen an neuen Forschung

192 2111 Bd.52 IH neu 23.06.2003 7:40 Uhr Seite 193 e Beams Strengthening Reinforced Conret Composite Retrofit Schutzkommission K. Thoma 24.–25.Mai 2001 Forschung an neuen Werkstoffen an neuen Forschung

193 2111 Bd.52 IH neu 23.06.2003 7:40 Uhr Seite 194 Retrofit mit Faserverbundwerkstoffen mit Retrofit Innenraum- detonationen nergieabsorbierende Materialien nergieabsorbierende E Zum Vergleich: ohne Wand Schutzmaß- nahmen Schutzkommission K. Thoma 24.–25.Mai 2001 Forschung an neuen Werkstoffen an neuen Forschung Forschung an neuen Werkstoffen an neuen Forschung

194 2111 Bd.52 IH neu 23.06.2003 15:02 Uhr Seite 195 Schock-Überlast Gasdruck-Überlast Blastimpuls-Überlast verstärktem Beton (RC) Rechteckige Struktur aus Schädigungsdiagramme O- IS nalyse gefährdeter Bereiche gefährdeter nalyse Trümmerwurf A rsagensarten und ihre Konsequenzen ihre und rsagensarten Ve Risikoanalysen Softwaretools zu Risikoanayse und -minimierung und Risikoanayse zu Softwaretools Schutzkommission K. Thoma 24.–25.Mai 2001

195 2111 Bd.52IHneu23.06.20037:40UhrSeite196 196 Zukünftige Themen: Restfähigkeit beschädigter Strukturen

AUTODYN_2D Version 4.1.12 Century Dynamics Incorporated 500 kN DYOUNG

9.00E-01 Pressure,Tensile 8.00E-01 7.00E-01 6.00E-01 5.00E-01 4.00E-01 3.00E-01 2.00E-01 1.00E-01 0.00E+00 AX (mm.mg.ms) CYCLE 18000 T=1.620 E+00 B3013T: KONTAKTDETONATION

Residual Behavior

Schutzkommission K. Thoma 24.–25.Mai 2001 2111 Bd.52 IH neu 23.06.2003 7:40 Uhr Seite 197 arbeitung und Umsetzung von und Umsetzung arbeitung onstruktionsrichtlinien Zukünftige Themen: Erarbeitung und Umsetzung von Konstruktionsrichtlinien Er K Gebäude, öffentliche für z.B. Stadtteile Hochhäuser, Schutzkommission K. Thoma 24.–25.Mai 2001 Zukünftige Themen: Erarbeitung und Umsetzung von Konstruktionsrichtlinien

197 2111 Bd.52 IH neu 23.06.2003 7:40 Uhr Seite 198 Blast-Schutzmauern namik uiddy Numerische Simulation

Neuwald, H. Reichenbach

Zukünftige Themen: Erarbeitung und Umsetzung von Konstruktionsrichtlinien Schutzkommission K. Thoma 24.–25.Mai 2001 Modellversuche im Labormaßstab Fl AG Exp. P. Computer-Simulation AG Hiermaier S. Klomfass, A.

198 2111 Bd.52 IH neu 23.06.2003 7:40 Uhr Seite 199 er Einfluss von Abstand und Geometrie einer Blastschutzmau Zukünftige Themen: Erarbeitung und Umsetzung von Konstruktionsrichtlinien Zukünftige Themen: Erarbeitung und Umsetzung von Konstruktionsrichtlinien Schutzkommission K. Thoma 24.–25.Mai 2001

199 2111 Bd.52 IH neu 23.06.2003 7:40 Uhr Seite 200 htechnisierter Infrastruktur ipolare Welt ipolare Gesellschaft mit hoc und Fähigkeiten ausüben Fähigkeiten und Weapons of Mass Destruction) (WMD: Charakter und sind deshalb weitverbreitet deshalb sind und Charakter Eine neue Epoche des Zivilschutzes Epoche Eine neue • Mult • dual-use haben Systeme biologischen oder Viele chemische • WMD-Systeme über Kontrolle keine können Staaten Instabile • für die Bedrohungsszenario neues Ein Konsequenz: Die Situation aus US-Sicht aus Die Situation Schutzkommission K. Thoma 24.–25.Mai 2001

200 2111 Bd.52 IH neu 23.06.2003 7:40 Uhr Seite 201 University and personnel against terrorist bomb threats.” terrorist against and personnel

nuar 2001: Aufbau des Protective Technology Center an der Penn State facilities “With a two-year $3.51 million contract a Protective Technology Center has been has Center Technology a Protective million contract $3.51 a two-year “With military and government of safety the insure to methods develop to established USA: Aktivitäten im Forschungsbereich Aktivitäten USA: Ja will develop The Center guidelines • how to design better facilities better design to • how buildings • how to retrofit existing Schutzkommission K. Thoma 24.–25.Mai 2001

201 2111 Bd.52 IH neu 23.06.2003 7:40 Uhr Seite 202 sammenfassung aller Aktivitäten in der DTRA (Defense Threat Reduction Agency) Reduction Threat (Defense DTRA in der aller Aktivitäten sammenfassung Zu • DTRA der Präsenz weltweite • Milliarden 2 $ Budget • agency“ security land „home einer Planung • Kabinettslevel auf WMD durch Bedrohung der Darstellung USA: Aktivitäten im Regierungsbereich • Schutzkommission K. Thoma 24.–25.Mai 2001

202 2111 Bd.52 IH neu 23.06.2003 7:40 Uhr Seite 203 The influence of traffic of dangerous goods on society is analyzed. Factories and processes are analyzed. : mleitungen twicklung von twicklung hutzgehäusen für hutzgehäusen und lefon- ojektbeispiel ro Schweden Pr En Sc Te St Schutzkommission K. Thoma 24.–25.Mai 2001

203 2111 Bd.52 IH neu 23.06.2003 7:40 Uhr Seite 204 2111 Bd.52 IH neu 23.06.2003 7:40 Uhr Seite 205

Autoren

Domres, Bernd Professor Dr. Arbeitsgruppe Katastrophenmedizin Krisenmanagement und Humanitäre Hilfe (AGKM) Chirurgische Klinik Hoppe-Seyler-Straße 3 72076 Tübingen

Falkner, Horst Professor Dr.-Ing. Institut für Baustoffe, Massivbau und Brandschutz Beethovenstraße 52 38106 Braunschweig

Finke, E.-J. Dr., Oberstarzt Sanitätsakademie der Bundeswehr BW 742 Neuherbergstraße 11 80837 München

Grillmaier, Rudolf E. Professor Dr. rer. nat. Warburg 65 66424 Homburg/Saar

Held, Volkmar Dr.-Ing. Ing.-Büro, Technische Beratung Tulpenstraße 14 85591 Vaterstetten

Heuser, Ansgar Dr. Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik Abteilungleiter III Postfach 20 03 63 53133 Bonn

Knobloch, Jürgen Professor Dr. Institut für Tropenmedizin Universitätsklinikum Tübingen Keplerstraße 15 72074 Tübingen 205 2111 Bd.52 IH neu 23.06.2003 7:40 Uhr Seite 206

Kriebisch, Horst H. Rechtsanwalt GDV (Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft e.V.) Friedrichstraße 191 10117 Berlin

Michels, Harald Dr. med. Leitender Medizinaldirektor Facharzt für Öffentliches Gesundheitswesen – Umweltmedizin Paulinstraße 60 54292 Trier

Pretroianu, G. Priv. Doz. Institut für Pharmakologie und Toxikologie Maybachstraße 14-16 68169 Mannheim

Rosen, Klaus-Henning Ministerialdirektor Abteilungsleiter im Bundesministerium des Innern Alt Moabit 101 D 10559 Berlin

Rüfer, Roderich (verstorben) Institut für Pharmakologie und Toxikologie Maybachstraße 14-16 68169 Mannheim

Scharmann, Arthur Professor Dr. Dr. h.c. mult. I. Physikalisches Institut der Justus-Liebig-Universität Heinrich-Buff-Ring 16 35392 Gießen

Sohns, Torsten Dr., Oberstarzt Sanitätsakademie der Bundeswehr Leiter Bereich Studien und Wissenschaft Neuherbergstraße 11 80937 München

206 2111 Bd.52 IH neu 23.06.2003 7:40 Uhr Seite 207

Thoma, Klaus Professor Dr. Fraunhofer Institut Leiter des Ernst-Mach-Instituts Eckerstraße 4 79104 Freiburg

Weidringer, Johann Wilhelm Dr. med. Chirurg, Geschäftsführender Arzt Bayerische Landesärztekammer Mühlbaurstraße 16 81677 München

207 2111 Bd.52 IH neu 23.06.2003 7:40 Uhr Seite 208 2111 Bd.52 IH neu 23.06.2003 7:40 Uhr Seite 209

Zivilschutz-Forschung, Neue Folge Schriftenreihe der Schutzkommission beim Bundesminister des Innern Herausgegeben vom Bundesverwaltungsamt – Zentralstelle für Zivilschutz – ISSN 0343-5164 im Auftrag des Bundesministeriums des Innern

Band 52 Band 44 49. und 50. Jahrestagung der Schutzkommission E. Pfenninger, D. Hauber beim Bundesminister des Innern Medizinische Versorgung beim Massenanfall 2003, 212 Seiten, Broschur Verletzter bei Chemikalienfreisetzung 2001, 140 Seiten, Broschur Band 51 Erstellung eines Schutzdatenatlasses Band 43 2003, 268 Seiten, Broschur D. Ungerer, U. Morgenroth Empirisch-psychologische Analyse des mensch- Band 50 lichen Fehlverhaltens in Gefahrensituationen R. Zech und seine verursachende und modifizierenden Entgiftung von Organophosphaten durch Bedingungen sowie von Möglichkeiten zur Re- Phosphorylphosphatasen und Ethanolamin duktion des Fehlverhaltens 2001, 188 Seiten, Broschur 2001, 300 Seiten, Broschur

Band 49 Band 42 G. Matz, A. Schillings, P. Rechenbach 45., 46. und 48. Jahrestagung der Schutzkom- Task Force für die Schnellanalytik bei großen mission beim Bundesminister des Innern Chemieunfällen und Bränden – Vorträge – 2003, 268 Seiten, Broschur 2000, 344 Seiten, Broschur

Band 48 Band 41 Zweiter Gefahrenbericht der Schutzkommission W. König, M. Köller beim Bundesminister des Innern Einfluss von Zytokinen und Lipidmediatoren auf Bericht über mögliche Gefahren für die die Kontrolle und Regulation spezifischer Infekt- Bevölkerung bei Großkatastrophen und im abwehr bei Brandverletzung Ver teidigungsfall 2001, 76 Seiten, Broschur 2001, 92 Seiten, Broschur Band 40 Band 47 Institut der Feuerwehr Sachsen-Anhalt J. Rasche, A. Schmidt, S. Schneider, S. Waldtmann Entwicklung von Dekontaminationsmitteln und Organisation der Ernährungsnotfallvorsorge -verfahren bei Austritt von Industriechemikalien 2001, 88 Seiten, Broschur 2001, 124 Seiten, Broschur

Band 46 Band 39 F. Gehbauer, S. Hirschberger, M. Markus TÜV Energie und Umwelt GmbH Methoden der Bergung Verschütteter aus zer- Optimierung des Schutzes vor luftgetragenen störten Gebäuden Schadstoffen in Wohngebäuden 2001, 232 Seiten, Broschur 2001, 108 Seiten, Broschur

Band 45 Band 38 V. Held W. Kaiser, M. Schindler Technologische Möglichkeiten einer möglichst Rechnergestütztes Beratungssystem für das frühzeitigen Warnung der Bevölkerung Krisenmanagement bei chemischen Unfällen – Kurzfassung – (DISMA®) 2001, 144 Seiten, Broschur 1999, 156 Seiten, Broschur

209 2111 Bd.52 IH neu 23.06.2003 7:40 Uhr Seite 210

Band 37 – in Vorbereitung – Band 28 K.-J. Kohl, M. Kutz R. Zech Entwicklung von Verfahren zur Abschätzung Wirkungen von Organophosphaten der gesundheitlichen Folgen von Großbränden 1997, 110 Seiten, Broschur

Band 36 Band 27 M. Weiss, B. Fischer, U. Plappert und T.M. Fliedner G. Ruhrmann, M. Kohring Biologische Indikatoren für die Beurteilung mul- Staatliche Risikokommunikation bei Katastro- tifaktorieller Beanspruchung phen Experimentelle, klinische und systemtechnische Informationspolitik und Akzeptanz Untersuchung 1996, 207 Seiten, Broschur 1998, 104 Seiten, Broschur Band 26 Band 35 43. und 44. Jahrestagung der Schutzkommission K.Amman, A.-N. Kausch, A. Pasternack, J. Schlo- beim Bundesminister des Innern bohm, G. Bresser, P. Eulenburg – Vorträge – Untersuchung der Praxisanforderungen an Atem- 1997, 326 Seiten, Broschur und Körperschutzausstattung zur Bekämpfung von Chemieunfällen Band 25 2003, 160 Seiten, Broschur K. Buff, H. Greim Abschätzung der gesundheitlichen Folgen von Band 34 Großbränden W. Heudorfer – Literaturstudie – Teilbereich Toxikologie Untersuchung der Wirksamkeit von Selbst- 1997, 138 Seiten, Broschur schutzausstattung bei Chemieunfällen 2003, 280 Seiten, Broschur Band 24 42. Jahrestagung der Schutzkommission beim Band 33 Bundesminister des Innern J. Bernhardt, J. Haus, G. Hermann, G. Lasnitschka, – Vorträge – G. Mahr, A. Scharmann 1996, 205 Seiten, Broschur Laserspektrometrischer Nachweis von Stron- tiumnukliden Band 23 1998, 128 Seiten, Broschur K. Haberer, U. Böttcher Das Verhalten von Umweltchemikalien in Boden Band 32 und Grundwasser G. Müller 1996, 235 Seiten, Broschur Kriterien für Evakuierungsempfehlungen bei Chemiekalienfreisetzungen Band 22 1998, 244 Seiten + Faltkarte, Broschur B. Gloebel, C. Graf Inkorporationsverminderung für radioaktive Band 31 Stoffe im Katastrophenfall G. Schallehn und H. Brandis 1996, 206 Seiten, Broschur Beiträge zur Isolierung und Indentifizierung von Clostridium sp. und Bacillus sp. sowie zum Band 21 Nachweis deren Toxine Arbeiten aus dem Fachausschuß III: Strahlen- 1998, 80 Seiten, Broschur wirkungen – Diagnostik und Therapie 1996, 135 Seiten, Broschur Band 30 G. Matz Band 20 Untersuchung der Praxisanforderung an die Ana- Arbeiten aus dem Fachausschuß V lytik bei der Bekämpfung großer Chemieunfälle I. – D. Henschler: Langzeitwirkungen phosphororga- 1998, 192 Seiten, Broschur nischer Verbindungen II. – H. Becht: Die zellvermittelte typübergreifende Band 29 Immunantwort nach Infektion mit dem Influenza- D. Hesel, H. Kopp und U. Roller virus Erfahrungen aus Abwehrmaßnahmen bei che- mischen Unfällen 1997, 152 Seiten, Broschur

210 2111 Bd.52 IH neu 23.06.2003 7:40 Uhr Seite 211

III. – F. Hoffmann, F. Vetterlein, G. Schmidt; III. – T. M. Fliedner, W. Nothdurft: Präklinische Die Bedeutung vasculärer Reaktionen beim akuten Untersuchungen zur Beschleunigung der Nierenversagen nach großen Weichteilverletzungen Erholungsvorgänge in der Blutzellbildung nach (Crush-Niere) Strahleneinwirkung durch Beeinflussung von 1996, 127 Seiten, Broschur Regulationsmechanismen IV. – G. B. Gerber: Radionuklid Transfer Band 19 1993, 268 Seiten, Broschur Radioaktive Strahlungen I. – B. Kromer unter Mitarbeit von K. O. Münnich, Band 13 W. Weiss und M. Zähringer: H. Mönig, W. Oehlert, M. Oehlert, G. Konermann Nuklidspezifische Kontaminationserfassung Modifikation der Strahlenwirkung und ihre II. – G. Hehn: Folgen für die Leber Datenaufbereitung für den Notfallschutz 1993, 90 Seiten, Broschur 1996, 164 Seiten, Broschur Band 12 Band 18 Biologische Dosimetrie L. Clausen, W.R. Dombrowsky, R.L.F. Strangmeier I. – H. Mönig, Wolfgang Pohlit, Ernst Ludwig Satt- Deutsche Regelsysteme ler: Einleitung: Dosisabschätzung mit Hilfe der Vernetzungen und Integrationsdefizite bei der Biologischen Dosimetrie Erstellung des öffentlichen Gutes Zivil- und II. – Hans Joachim Egner et al.: Ermittlung der Strah- Katastrophenschutz in Europa lenexposition aus Messungen an Retikulozyten 1996, 130 Seiten, Broschur III. – Hans Mönig, Gerhard Konermann: Strahlenbe- dingte Änderung der Chemilumineszenz von Band 17 Granulozyten als biologischer Dosisindikator 41. Jahrestagung der Schutzkommission beim IV. – Paul Bidon et al.: Zellmembranänderungen Bundesminister des Innern als biologische Dosisindikatoren. Strahleninduzierte – Vorträge – Membranänderung im subletalen Bereich. 1996, 197 Seiten, Broschur Immunbindungsreaktionen an Lymphozyten 1993, 206 Seiten, Broschur Band 16 F. E. Müller, W. König, M. Köller Band 11 vergriffen Einfluß von Lipidmediatoren auf die Pathophy- Beiträge zur Katastrophenmedizin siologie der Verbrennungskrankheit 1993, 42 Seiten, Broschur Band 10 W. R. Dombrowsky Band 15 Bürgerkonzeptionierter Zivil- und Katastrophen- Beiträge zur dezentralen Trinkwasserversorgung schutz in Notfällen Das Konzept einer Planungszelle Zivil- und Teil II: K. Haberer und M. Drews Katastrophenschutz 1. Einfache organische Analysenmethoden 1992, 79 Seiten, Broschur 2. Einfache Aufbereitungsverfahren 1993, 144 Seiten, Broschur Band 9 vergriffen 39. und 40. Jahrestagung der Schutzkommission Band 14 beim Bundesminister des Innern Beiträge zu Strahlenschäden und Strahlen- krankheiten Band 8 vergriffen I. – H. Schüßler: Strahleninduzierte Veränderungen Beiträge zur dezentralen Trinkwasserversorgung an Säugetierzellen als Basis für die somatischen in Notfällen Strahlenschäden Teil I: K. Haberer und U. Stürzer II. – K. H. von Wangenheim, H.-P. Peterson, L.E. Feinendegen: Hämopoeseschaden, Therapieeffekte Band 7 vergriffen und Erholung E. Pfenninger und F. W. Ahnefeld Das Schädel-Hirn-Trauma

211 2111 Bd.52 IH neu 23.06.2003 7:40 Uhr Seite 212

Band 6 vergriffen O. Messerschmidt und A. Bitter Neutronenschäden

Band 5 vergriffen R. E. Grillmaier und F. Kettenbaum Strahlenexposition durch Ingestion von radio- aktiv kontaminiertem Trinkwasser

Band 4 vergriffen W. R. Dombrowsky Computereinsatz im Zivil- und Katastrophen- schutz

Band 3 B. Lommler, E. Pitt, A. Scharmann und R. Simmer Der Nachweis schneller Neutronen in der Katastrophendosimetrie mit Hilfe von Ausweisen aus Plastikmaterial 1990, 66 Seiten, Broschur

Band 2 vergriffen Gammastrahlung aus radioaktivem Niederschlag Berechnung von Schutzfaktoren

Band 1 vergriffen L. Clausen und W. R. Dombrowsky Zur Akzeptanz staatlicher Informationspolitik bei technischen Großunfällen und Katastrophen

Katastrophenmedizin – Leitfaden für die ärztliche Versorgung im Katastrophenfall Neuauflage 2001, Broschur

Broschüren und eine komplette Liste aller bisher erschienenen und bereits vergriffenen Bände können kostenlos bezogen werden bei: Bundesverwaltungsamt – Zentralstelle für Zivilschutz – Deutschherrenstraße 93–95 53177 Bonn

212