Magazin der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien Jänner 2017

Parsifals Wandlungen

Markus Stenz und das RSO Wien

Bei seinem ersten Konzert für die Gesellschaft der Musikfreunde in Wien spannt den Bogen von Wagner bis zu John Adams. Musik der Wunden und der Wunder in einem beziehungsreichen Programm, das typisch ist für den deutschen Dirigenten.

Zuversicht und Begeisterung prägen das Wesen von Markus Stenz. Mit Vorliebe packt der deutsche Dirigent Projekte an, deren Wirkung er gerne als „larger than life“ bezeichnet. Beeindruckende Aufführungen von Gustav Mahlers Achter Symphonie und Arnold Schönbergs „Gurreliedern“ zählen ebenso dazu wie die Verwirklichung eines „Ring des Nibelungen“ an nur zwei Tagen. Nahezu nahtlos war an der Kölner Oper im Jahr 2006 am ersten Aprilwochenende Richard Wagners Tetralogie in der bezwingend stringenten Inszenierung von Robert Carsen zu erleben. Das Wogen des „Rheingold“ begann am Samstag zu Mittag. Schon am späten Nachmittag fegten die Winterstürme der „Walküre“ heran. Am nächsten Morgen, sonntags um zehn, begann Siegfried das Schwert Nothung neu zu schmieden. Und kurz vor Mitternacht war dann die „Götterdämmerung“ im Weltenbrand zu Ende gegangen. Ein physischer wie psychischer Kraftakt, den der Dirigent mit unwiderstehlicher Energie bewältigte.

Wagner am Rhein Im Laufe seiner Kölner Ära – elf Jahre lang im Amt des traditionsreichen Gürzenich- Kapellmeisters, zehn davon auch als GMD der Stadt – eroberte sich Markus Stenz dann nahezu das gesamte Wagner’sche Œuvre. „Lohengrin“ realisierte er mit Klaus Maria Brandauer als Regisseur und dem späteren Wiener „Lohengrin“-Traumpaar Klaus Florian Vogt und Camilla Nylund. Auf „Tannhäuser“ folgte ein von David Pountney inszenierter „“ von außergewöhnlich kammermusikalischer Transparenz. An die „Meistersinger“ schloss sich schließlich der „Parsifal“ an, zunächst konzertant unter der Kuppel der Kölner Philharmonie, bald darauf szenisch in der bildgewaltigen Version der katalanischen Theatergruppe La Fura dels Baus. Da war Markus Stenz gerade dabei, von der Domstadt wieder Abschied zu nehmen. 2012/13 hatte er bereits überlappend seine neue und gegenwärtige Tätigkeit als Chefdirigent des niederländischen Radio Filharmonisch Orkest aufgenommen. Seit vergangener Saison ist er auch Erster Gastdirigent des amerikanischen Baltimore Symphony Orchestra und ab Jänner zudem Conductor in Residence beim Seoul Philharmonic Orchestra.

Wer heilt die Wunde? Richard Wagners „Bühnenweihfestspiel“ „Parsifal“ hatte sich Markus Stenz, der ein ausgeprägtes Faible für die Magie des Klanges besitzt, schon in den Jahren zuvor nach und nach angeeignet. Immer wieder kombinierte er meist orchestrale Ausschnitte daraus – wie nun für sein Debüt beim ORF Radio-Symphonieorchester Wien das Vorspiel und die Verwandlungsmusik aus dem dritten Aufzug – mit der symphonisch angelegten „Harmonielehre“ von John Adams aus dem Jahr 1985. Deren zweiter Satz trägt den Titel „The Anfortas Wound“ und knüpft damit an Wagners egomanisch-fulminantes

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Mittelaltermissverständnis an. Aus den unterschiedlichsten Ingredienzien hatte der Bayreuther Meister am Ende seines Lebens einen ebenso fragwürdigen wie genialischen Heils- und Erlösermythos amalgamiert: Vom heiligen, einst Christus in die Seite gestoßenen Speer wird der Gralskönig Amfortas in den Armen der verführerischen Kundry durch den Zauberer Klingsor scheinbar unheilbar verwundet. Der reine Tor Parsifal widersteht den Anfechtungen, nimmt den Speer an sich und kann mit ihm am Ende die Wunde des Gralskönigs wieder schließen. Angeregt von Carl Gustav Jungs analytisch-psychologischer Lesart dieser Amfortas- Verletzung bei Wagner, beschäftigte sich John Adams mit den mittelalterlichen Wurzeln des Stoffes. Dass der Komponist seinen Blick weiter und tiefer zurück als zu Wagner lenkte, signalisiert schon die ursprüngliche Schreibweise „Anfortas“. So nannte Wolfram von Eschenbach in seinem mittelhochdeutschen Versepos „Parzival“ den leidenden König, dessen Wunde nicht durch die Waffe, sondern schlicht durch die zutiefst menschliche Frage nach der Ursache des Schmerzes geheilt wird. „œheim, waz wirret dier?“, fragt Parzival schließlich, „Onkel, was fehlt Dir?“ Mitleiden, Anteilnahme, Empathie: davon gesundet hier der Gralskönig. Seine verhängnisvolle Wunde hatte Anfortas – wie auch der noch namenlose Fischerkönig im etwas älteren altfranzösischen „Perceval“ des Chrétien de Troyes – ausdrücklich an den Genitalien empfangen.

Die Romantik unserer Tage Für John Adams symbolisierte das „einen seelischen Krankheitszustand, auf dem der Fluch des Gefühls von Impotenz und Depression liegt“. Vor diesem Hintergrund gerät dieser bewusst von der schmerzlichen Wehmut eines Mahler’schen Adagios durchdrungene Satz auch zum Spiegel der schöpferischen Krise des Künstlers. Den herrlich lichten Gegenpol bildet der ebenfalls bildhafte Finalsatz „Meister Eckhardt and Quackie“: Der mittelalterliche deutsche Mystiker schwebt hier mit Adams’ kleiner Tochter durch das Weltall, die dem weisen alten Mann ein Geheimnis ins Ohr flüstert. So jedenfalls schildert der Komponist jenen Traum, der ihn zu diesem Tongemälde inspirierte. Ein weiterer Traum stand am Beginn des mächtigen und sehnsuchtsdurchpulsten Kopfsatzes, in dem Adams einen Supertanker aus der San Francisco Bay auslaufen und dann wie eine Rakete in den Himmel steigen sah. Mit dem Gesamttitel „Harmonielehre“ bezog sich Adams auf Arnold Schönbergs 1911 erstmals erschienenes, dem Andenken Gustav Mahlers gewidmetes Lehrbuch. Zahlreiche Spuren der zu dieser Zeit erodierenden Spätromantik durchziehen die beeindruckende Komposition. Mit ihr verließ John Adams das Biotop des streng konsequenten amerikanischen Minimalismus (ohne seinen soghaften, repetitiven Charakter gänzlich aufzugeben) und beschritt, nicht ohne rückblickende Nostalgie, seinen eigenen Weg in die neue Romantik unserer Tage.

Klangsinnliche Moderne Markus Stenz widmet sich dem Schaffen von John Adams kontinuierlich seit mehr als zwanzig Jahren. Zuletzt dirigierte er mehrfach dessen großes Oratorium „The Gospel According to the Other Mary“ (u. a. dessen niederländische Erstaufführung im Amsterdamer Concertgebouw) und das Opern-Oratorium „El Niño“. Die erste künstlerische Auseinandersetzung mit dem Komponisten fiel in seine Zeit als Chefdirigent der London Sinfonietta. Dieses renommierte britische Ensemble für zeitgenössische Musik, mit dem er für zahlreiche Uraufführungen verantwortlich zeichnete, leitete er von 1994 bis 1998. Im Anschluss daran zog es Markus Stenz ins ferne Australien. Bis zum Auftakt seiner Kölner Dekade bekleidete er dort die

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Position des Künstlerischen Leiters und Chefdirigenten des Melbourne Symphony Orchestra. Und schon mit diesem Klangkörper realisierte er eine Kombination von „Parsifal“-Passagen und der „Harmonielehre“ von John Adams. Die zeitgenössische klangsinnliche Moderne liegt dem Dirigenten grundsätzlich am Herzen. Prägend war dabei die frühe Begegnung mit , der ihm von Anfang an ein großes Vertrauen entgegenbrachte. Von 1989 bis 1995 hatte Markus Stenz die musikalische Leitung des von Henze ins Leben gerufenen Cantiere Internazionale d’Arte im italienischen Montepulciano inne. Mehrfach verwirklichte er im Laufe seiner Karriere Henzes effektvolle Jahrhundertoper „“ (Hamburg, Köln, Amsterdam). Weitere Musiktheaterwerke aus dessen Feder hob Markus Stenz immer wieder auf ausdrücklichen Wunsch des Komponisten in Berlin („“), München („“) und bei den Salzburger Festspielen („L’Upupa und der Triumph der Sohnesliebe“) als Ur- und Erstaufführungen aus der Taufe. Ebenso intensiv nimmt er sich des Œuvres von Henzes einstigem Schüler Detlev Glanert an. Nach den Uraufführungen von Glanerts Opern „Caligula“ in Frankfurt und „Solaris“ bei den Bregenzer Festspielen folgte im November 2016 die des „ für Hieronymus Bosch“ mit dem Königlichen Concertgebouworchester Amsterdam.

Zurück zu Mahler, zurück zur Klassik So nimmt es nicht wunder, dass sich Markus Stenz auch dem Werk jenes Komponisten mit großer Hingabe widmet, der die Klangsprache von Detlev Glanert nachhaltig prägte: Gustav Mahler. Ihm galt ein auf Jahre angelegter Zyklus aller Symphonien mit dem Kölner Gürzenich- Orchester. Die Gesamteinspielung, die daraus resultierte, hat es inzwischen auf die Bestenliste der Deutschen Schallplattenkritik geschafft. Doch bei allem Enthusiasmus für die Gestaltung von Monumentalem und die Durchdringung von Hochkomplexem kam Markus Stenz nie seine lebenslange Zuneigung zur Wiener Klassik abhanden. Selbstverständlich bildet ein Fundament seiner Arbeit das Werk Beethovens, dessen Dramatik er stets mit dem nötigen Quantum Sentiment abzumischen weiß. Mozart und Haydn zeichnet er mit Vorliebe durch feine Schlagkraft, schlank, alert – und mit einer wohltuenden Klarheit, in der sich auch sein Kenntnisreichtum zeitgenössischer Strukturen widerzuspiegeln scheint.

Oliver Binder Mag. Oliver Binder ist freier Dramaturg und Autor und lebt in Wien.

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