MARKUS HERZ

Betrachtungen aus der spekulativen Weltweisheit

Neu herausgegeben, eingeleitet, mit Anmerkungen und Registern versehen von

ELFRIEDE CONRAD, HEINRICH P. DELFOSSE UND BIRG IT NEHREN

FELIX MEINER VERLAG HAMBURG PHILOSOPHISCHE BIBLIOTHEK BAND 424

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Einleitung ...... VII 1. Leben und Werk ...... VII 1. Leben ...... VII 2. Schriften ...... XIII II. Herz und seine Lehrer ...... XVI 1. ...... XVI 2. ...... XXIII III. Die Betrachtungen aus der spekulativen Weltweisheit ...... XXX 1. Zur Entstehungs- und Wirkungsgeschichte . . XXX 2. Die Betrachtungen - nur eine Paraphrase?... XXXIV 3. Zur Textgestaltung ...... XXXVIII

MARKUS HERZ Betrachtungen aus der spekulativen Weltweisheit

[Vorrede] ...... 3 Erste Abteilung ...... 11 Zweite Abteilung ...... 46 Anhang zu den Betrachtungen ...... 75

Anmerkungen der Herausgeber ...... 83

Bibliographie ...... 111 1. Verzeichnis der von den Herausgebern abgekürzt zitierten Literatur ...... 111 2. Primärliteratur...... 118 a) Selbständige Veröffentlichungen ...... 118 VI Inhalt

b) Unselbständige Veröffentlichungen ...... 119 c) Übersetzungen...... 121 d) Rezensionen ...... 121 e) Briefe ...... 122 3. Sekundärliteratur ...... 123 a) Hilfsmittel ...... 123 b) Zur Biographie ...... 124 c) Einzeluntersuchungen ...... 127

Personenregister ...... 131 Sachregister ...... 13 5 EINLEITUNG

!. Leben und Werk

1.Leben

Am 17. Januar 1747 wird Markus Herz in einer armen jüdischen Familie zu geboren; seine Mutter war die Tochter eines Bediensteten, sein Vater Thoraschreiber der Berliner jüdischen Gemeinde. 1 Seine erste Bildung und Erziehung erhält der junge Herz in streng talmudischer Tradition im Ephraimischen Stift zu Berlin. Im Alter von fünfzehn Jahren wird er bei einem jüdi• schen Kaufmann in Königsberg in die Lehre gegeben. Diese Tätigkeit vermag den Geist des begabten jungen Mannes jedoch nicht auszufüllen. Herz gibt den Kaufmannsberuf auf und schreibt sich am 21. April 1766 an der Albertina in der medizini­ schen Fakultät ein,2 der einzigen, in der Juden im 18. Jahrhun­ dert Aufnahme fanden. 3 Der akademische Senat der Albertina hatte erst im Jahre 1731 - als letzte der preußischen U niversitä-

1 Vgl. Jacob Jacobson: Jüdische Trauungen in Berlin 1759-1813. Mit Ergänzungen für die Jahre von 1723 bis 1759. Berlin 1968 (= Veröffent• lichungen der Historischen Kommission zu Berlin beim Friedrich-Mei­ necke-Institut der Freien Universität Berlin XXVIII.4), S. 261. 2 Vgl. Georg Erler (Hrsg.): Die Matrikel der Albertus-Universität zu Königsberg i. Pr. 1544-1829 (=Publikation des Vereins für die Ge­ schichtevon Ost-und Westpreussen). Bd. 2: Die Immatrikulationen von 1657-1829. 1911/12 (Nachdruck Nendeln 1976), S. 501. 3 Über die Beschränkungen in der akademischen Ausbildung vgl. Mo­ nika Richarz: Der Eintritt der Juden in die akademischen Berufe. jüdi• sche Studenten und Akademiker in Deutschland 1678-1848. Tübingen 1974 (=Schriftenreihe wissenschaftlicher Abhandlungen des Leo Baeck Instituts 28), S. 43-45 und Hans-Jürgen Krüger: Die Judenschaft von Königsberg in Preußen 1700-1812. Marburg/Lahn 1966 (=Wissen­ schaftliche Beiträge zur Geschichte und Landeskunde Ost-Mitteleuro­ pas 76), S. 46-66. VIII Einleitung ten - Juden zum Studium zugelassen, sie aber erheblichen Re­ striktionen unterworfen, zu denen unter anderem die erhöhten Immatrikulationsgebühren gehörten.4 Als Kind armer Eltern kann Herz sein Studium nur mit der Unterstützung reicher Freunde finanzieren. Besondere Förderung erfährt er durch die in Königsberg ansässige Familie Moses Friedländers. 5 Mit David Friedländer, dem bekanntesten Sohn Moses Friedländers, ver­ bindet Herz zeitlebens eine enge Freundschaft. Auf den Beginn seiner Studienzeit, den entscheidenden Ein­ schnitt in seinem Leben, blickt Herz wenige Wochen vor seinem Tod zurück: »Nun betrat ich meine letzte Laufbahn, die literari­ sche, und zwar mit dem höchsten Grade von Anstrengung aller Seelenkräfte, die auch wohl bey dem vollkommensten Mangel jeder untalmudischen Kenntniß höchst nothwendig war, ich wußte von keiner Sprache, kannte meine mütterliche wie ein Judenknabe von damaliger Erziehung und hatte selbst von dem Namen keiner Wissenschaft eine Vorstellung. Lust und Trieb und gelinde Fortschritte erhielten mich indessen, bey meinem eigentlichen schwachen Körper, dennoch wohl und munter, es ging alles gut, ich wußte bey meinem anhaltenden Sitzen und Nachtwachen von keiner Unbehaglichkeit«.6 Wie alle neu im­ matrikulierten Studenten muß Herz vor Beginn des eigentlichen Fachstudiums die sogenannten Humaniora (neuere Sprachen,

4 Vgl. Erler: Die Matrikel der Albertus-Universität zu Königsberg i. Pr. 1544-1829 (=Publikation des Vereins für die Geschichte von Ost­ und Westpreussen). Bd. 1: Die Immatrikulationen von 1544-1656. Leipzig 1910 (Nachdruck Nendeln 1976), S. CIX. 5 Zur einflußreichen Familie Friedländer vgl. Heimann Jolowicz: Ge­ schichte der Juden in Königsberg i. Pr. Ein Beitrag zur Sittengeschichte des preussischen Staates. Posen 1867, S. 91-96 sowie Ernst Friedländer: Das Handlungshaus Joachim Moses Friedlaender et Soehne zu Königs• berg i. Pr. Hamburg 1913. Zu David Friedländer vgl. ebd„ S. 27-29. 6 Markus Herz: [Ein Stück Selbstbiographie und Krankheitsge­ schichte], in: Arend Buchholtz (Bearb.): Carl Robert Lessings Bücher• und Handschriftensammlung. Bd. 2: Handschriftensammlung Teil 2: Deutschland. Berlin 1915, S. 101. Leben und Werk IX

Philosophie und Mathematik) absolvieren.7 Studenten der Me­ dizin verwandten in der Regel sogar einen großen Teil ihrer akademischen Ausbildung auf mathematische und philosophi­ sche Studien. Herz' Neigung gilt dabei mehr der Philosophie, vor allem die Veranstaltungen Immanuel Kants besucht er mit großem Eifer. Wenn er auch die Medizin nicht ohne Interesse und mit viel Fleiß studiert, so ist sie doch eher eine Brotwissen­ schaft für ihn. Dennoch gelingt es Herz später auf eindrucksvolle Weise, Neigung und Broterwerb miteinander zu verbinden: » ••• ich liebe das Umherwandeln in den Gränzörtern der beyden Länder, der Philosophie und der Medizin, und habe meine Freude daran, wenn ich da Vorschläge und Einrichtungen zu Gemeinregirungen entwerfen kann. Es wäre gut, dünkt mir, wenn ähnliche Gränzörter zwischen der Philosophie und ihren benachbarten Gebieten fleißig von den Philosophen so wohl als von den praktischen Gelehrten und Künstlern aller Art fleißig besucht würden; jene würden dadurch dem häufigen gerechten Tadel der unnützen Grübeley, und diese dem der Empirie entge­ hen.«8 Mit Kant verbindet Herz schon frühzeitig eine enge Freund­ schaft, die über viele Jahre hinweg Bestand hat. Allein die Tatsa­ che, daß Kant 1770 gegen den Widerstand der Fakultät den jüdischen Studenten Herz zum Respondenten seiner Inaugural­ dissertation De mundi sensibilis atque intelligibilis forma et prin­ cipiis wählt, spricht in einer Zeit, in der man gerade erst anfängt, an die Emanzipation der Juden zu denken, für sich selbst. 9 Be-

7 Krüger: Die Judenschaft von Königsberg in Preußen 1700-1812, a. a. 0., S. 60. 8 Herz an Kant vom 27. Februar 1786 (Nr. 260; AA X 431f.). Vgl. unten S. 3 und Anm. zu S. 3, Z. 5. 9 David Friedländer, der große Vorkämpfer der jüdischen Emanzipa­ tion, schreibt dazu in der Neuen Berlinischen Monatsschrift: »Wie sehr aber dieser Schüler von dem großen Lehrer ausgezeichnet wurde, und wie lieb er ihm war, bewies der über jede Rücksicht auf Parteinamen erhabene Mann schon dadurch, daß er gerade ihn zum Respondenten bei seiner Inauguraldisputazion anstellte - obschon mit lautem Widerspruch einiger orthodoxen Herren. Einer derselben kühlte seinen Zorn durch XXXVIII Einleitung rungen über den Satz des Widerspruchs, mit denen er - in ausdrücklicher Abgrenzung gegen Kant - den Argumentations­ gang Mendelssohns übernimmt.BI

3. Zur Textgestaltung

Der vorliegenden Ausgabe von Herz' Betrachtungen aus der spe­ kulativen Weltweisheit liegt die Originalausgabe zugrunde, die 1771 im Verlag vonJohannJakob Kanter in Königsberg erschien. Der Neudruck, der sich im wesentlichen der Einheitlichkeit der Philosophischen Bibliothek unterzuordnen hatte, bemüht sich um eine moderate Angleichung an die präskriptive Norm des Duden. Die Herausgeber verzichten dabei grundsätzlich auf Eingriffe in den Satzbau und versuchen lediglich, die Herzsche Orthographie - die für einen Text des 18. Jahrhunderts schon eine verblüffende Regelhaftigkeit erreicht - nach der heutigen Schreibweise zu normieren. Die Eingriffe in den Text beschrän• ken sich meist auf eine Modernisierung der Interpunktion, über• all dort, wo das Original zu Interpretationsschwierigkeiten führen könnte. Alle diese Eingriffe werden nicht dokumen­ tiert. Im einzelnen sei auf folgendes hingewiesen: Um der besseren Lesbarkeit willen wurden einzelne Phra­ sen vervollständigt. Solche Ergänzungen wurden in eckigen Klammern in den Text eingefügt. Z.B. wurde an verschie­ denen Stellen sowohl „. als zu sowohl „. als [auch], des öfteren das Hilfsverb ergänzt, an und für zu an und für [sich] (S. 26 ), Lassen Sie zu Lassen Sie [uns] (S. 32) und so wie zu so wie [es] (S. 75).

Johann Wendler, 1764, in: Allgemeine deutsche Bibliothek 3 (1776), S. lOf. (GS IV.2, 49lf.). Vgl. auch Mendelssohn an Abbt vom 20. No­ vember 1763 (Nr. 238; JubA XII.1, 27) und vom 9. Februar 1764 (Nr. 241; JubA XIl.1, 31 f.) sowie unten S. 49f. 131 Vgl. Herz an Kant vom 11. September 1770 (Nr. 58; X 100) sowie MendelssohnanKantvom25. Dezember 1770 (Nr. 63; X 116). Vgl. dazu unten S. 59f. Betrachtungen aus der spekulativen Weltweisheit XXXIX

In Anpassung an die präskriptive Dudennorm wurden fol- gende Änderungen vorgenommen: ebenso ... als zu ebenso ... wie; als weil zu als; die Gegen­ stände unsers Denkens zu den Gegenständen unseres Den­ kens (S. 38); in allem Verstande zu in jedem Verstand (S. 51); zu klar zu klar (S. 56); jener seine Bahn zu jenes Bahn (S. 67); es im Stande zu imstande (S. 81). Latinismen, wie die im 18. Jahrhundert übliche Verwendung von dürfen für müssen und umgekehrt, wurden stillschweigend verbessert, ebenso die Wendung im Gegensatz der anstelle von im Gegensatz zur. Unverändert dagegen blieben: Lateinische Deklinationsformen wie z.B. Anthropomor­ phismo, Principio; Wörter, die sich ohne Sinnverschiebung nicht übertragen ließen, z.B. empfindlich, Gedenkbarkeit, gedenken, richterisches (Urteil), Spekulisten, übergetragen, Vorschmack oder unmittelbar auf den Sprachgebrauch Kants zurückgehen, z.B. denklich anstelle von denkbar. Konjunktive, auch wo sie heute ungebräuchlich erschei­ nen, blieben dann stehen, wenn Herz offenbar zwischen eigener Meinung und der Wiedergabe Kantischen Gedan­ kenguts unterscheiden will. Die deutsche Übertragung von Textstellen aus De mundi wurde der Übersetzung von Norbert Hinske in der Ausgabe von Wilhelm Weischedel (Hrsg.): Immanuel Kant. Werke in sechs Bänden. Bd. 3: Schriften zur Metaphysik und Logik. Darmstadt 61983 entnommen.

Bei der Erarbeitung der vorliegenden Neuausgabe haben die Herausgeber von vielen Seiten Hilfsbereitschaft und Förderung erfahren, ohne die sich die Arbeiten an diesem Band schwieriger gestaltet hätten. Für umfangreiche bibliographische Auskünfte danken wir Frau Graf (Leo-Baeck-Institut, New York) und Dr. Jähnig (Ge­ heimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz), Prof. Dr. Kaiser und Dr. Schwabe (Martin-Luther-Universität, Halle), Prof. Dr. Milde (Herzog August Bibliothek, Wolfenbüttel), Dr. Steinwa- XL Einleitung

scher (Niedersächsisches Staatsarchiv Bückeburg) und Dr. Trauth (Universität Trier). Für Nachweise und Kopien von hand­ schriftlichem Material ist uns der Dank an die Zentralkartei der Autographen, die Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz Berlin, das Germanische Nationalmuseum Nürnberg und Dr. Heuer vom Archiv Bibliographia Judaica eine angenehme Pflicht. Unser Dank gilt zudem Dr. Albrecht, Dr. Bourel, Prof. Dr. Brandt, Prof. Dr. Engel-Holland, Dr. Carboncini, Prof. Dr. Unguru, Prof. Dr. Vercruysse und Prof. Dr. Röll, der für uns die Übersetzung und Transliteration hebräischer Titel im Literatur­ verzeichnis angefertigt hat. Schon zu Beginn der Arbeit half uns die Jüdische Kultusgemeinde Trier, besonders Herr Schwebe!, bei der Entzifferung und Übersetzung von hebräischen und jid­ dischen Dokumenten. Seit mehr als einem Jahrzehnt begleitet uns Prof. Dr. Norbert Hinske nicht nur als akademischer Lehrer unbeirrbar bei unserer wissenschaftlichen Arbeit. Das vorliegende Buch schöpft aus uns kaum mehr wahrnehmbaren, weil so völlig selbstverständ• lichen Quellen, die ohne ihn nie aufgebrochen wären. Ihm sei dieser Band in Dankbarkeit gewidmet. Betrachtungen

aus der

spekulativen Weltweisheit

von

Markus Herz, der Arzneigelehrtheit Beflissenen.

Königsberg 1771.

BeiJohannJakob Kanter. 1-3 3

[VORREDE]

» Ich habe endlich Ihren vortrefflichen Brief lange genug unbeant­ " wortet gelassen. Die Zubereitungen zu meinem künftigen Beruf, die mich meiner Zeit ganz berauben, sind zwar nicht, wie Sie 'f einst glaubten, so leer von Reiz für mich. Die Zergliederung des menschlichen Körpers gewährt mir kein bloßes Namenregister; nein, mein Bester, dieses Wunder der Schöpfung ist dem Auge des Weltweisen ein unendlicher Schatz von Vergnügungen, eine 'f nie versiegende Quelle der reinsten Seelenlust. Allzu endlich um ,; das unermeßliche Weltganze mit seinen Blicken zu umfassen, findet der Weltweise bei Betrachtung einzelner Teile sehr oft Ausnahmen, die mit den allgemeinen Gesetzen nicht übereinzu• stimmen scheinen, welche die strenge Vernunft aus dem Beigriff der Welt, der Güte und der Weisheit Gottes herausgebracht hat, 15 und nicht selten erschüttern diese Phantome sein ganzes System, erfüllen sein Gemüt mit einer unglücklichen Zweifelsucht, und verwandeln sein Leben hienieden in einen bejammernswerten Zustand. Der menschliche Körper, dieses All im Kleinen, ist seiner Kurzsichtigkeit bequemer. Hier liegt der größte Teil der ,:. Maschine samt ihren Triebwerken vor ihm offen; hier findet er Absicht und Einhelligkeit in den Teilen, Ordnung und Schönheit im Ganzen, und Weisheit und Güte in beiden auf das genaueste miteinander verknüpft; und gewiß, die verstockteste Unwissen­ heit nur kann glauben, daß sie sich als eine geschicktere Meiste- 25 rin würde bewiesen haben, wenn ihr das Werk überlassen worden wäre. Nehmen Sie noch dazu die Belohnung, die sich derjenige von seinen Bemühungen zu versprechen hat, der diese mit der Arzneikunst so sehr verknüpfte Wissenschaft auf das Wohl der Menschen anzuwenden bestimmt ist. Welch eine ':- Glückseligkeit, einst zu sich sagen zu können: Diesen Menschen habe ich vom Rand des Todes zurückgerufen, diesen hat mir die Ge/sellschaft zu verdanken, diese Kräfte habe ich in ihre bestim­ mungsmäßige Wirksamkeit wiederum gesetzt! Und wie leicht 4 Betrachtungen aus der spekulativen Weltweisheit 3-5 muß dem alles unter den Händen vonstatten gehen, der, angefeu­ ert vom Vorschmack dieses göttlichen Vergnügens, sich mit den Zubereitungen beschäftigt? Möchte ich dieser Glückseligkeit nur ein einziges Mal in meinem Leben teilhaftig werden, wie stolz wäre ich auf meinen Beruf! Aber dennoch würde mir diese 5 Verrichtung weit weniger Beschäftigung sein, wenn sie mir die Abwechslung, mich mit Ihnen bisweilen zu unterhalten, nicht gänzlich versagte. Ich nenne nicht mit unserem liebenswürdigen Theokles nur dasjenige notwendige Beschäftigung, was meiner ,„ Neigung gerade zuwider ist, nein, auch was ihr gemäß ist, ver- 10 dient mir diesen Namen, sobald es ausschließend ist, sobald die Befriedigung mit der Erstickung aller anderen notwendig ver­ knüpft ist. Alles übrige ist für mich voller Anmut. Nun hat die strenge Witterung meinen Untersuchungen auf einige Zeit ein Ende gemacht. Die Natur selbst widersetzt sich 15 gewaltsam uns, die wir es wagen, sie auf ihren verborgenen We­ gen zu überiraschen; sie zieht nun vor ihre geheimen Werke einen dicken Vorhang, und zur Strafe unserer Verwegenheit ver­ bietet sie uns den Eingang sogar zu den sonst offenen Gemä• chern ihrer Werkstätte. Nun ist es aus mit unserem Forschen; die 20 Gesellschaft ist zerstreut; alles geht der Erholung mit offenen Armen entgegen. Wie unglücklich, wenn irgendein böser Dä• mon auch zu den heilsamen Erquickungen der Weltweisheit die Zuflucht mir abgeschnitten, oder wenn der zärtliche Geschmack ,,. der großen Welt sich auch meines Freundes bemeistert hätte, so, 25 daß er mit weggewandtem Gesicht meinen Betrachtungen seinen Schutz entzöge! Aber Dank sei es Ihrem Klima, oder vielmehr den heilsamen Grundsätzen, mit welchen eine gesunde Philosophie Sie bewaff­ net, mein Freund ist von dem ansteckenden Gift jener Seelenseu- 30 ehe verschont geblieben, mit welcher ein benachbarter Wind so ,,. manche unserer Gegenden heimsucht. Nein, aus jedem Zug in Ihrem unvergleichlichen Brief erkenne ich den wahren Weltwei­ sen, der unermüdet die Vergnügungen, welche die Vernunft! ihm darbietet, seine einzigen sein läßt, der unbekümmert über Lob 35 und Tadel einiger fader Köpfe seinen Weg dahinwandelt, und überzeugt, daß auch die Bemerkung der allersubtilsten Distink- 5-7 Vorrede 5

tion in der menschlichen Erkenntnis nie ohne eine Reihe von wichtigen Folgen in der Ausübung ist, zu jeder neuen Entdek­ kung, auf welche die Spekulation ihn führt, sich Glück wünscht. 5 In der Seltenheit dieser Gesinnung, teuerster Freund, scheint ':- mir die Ursache von dem jetzigen Zustand der Metaphysik zu liegen, über welchen Sie sich so sehr wundern. Man muß erstau­ ,:- nen, in einem Jahrhundert, das sich mit Recht das erleuchtete nennt, in welchem man den höchsten Gipfel der Wissenschaften 10 erreicht zu haben glaubt, gerade diejenige hintenangesetzt zu sehen, welche nicht nur der Würde des Menschen so sehr ange­ messen, sondern auch die Quelle ist, aus welcher alle übrigen schöpfen müssen, wenn sie ihren Zweck erreichen wollen. Denn wenn Wissenschaften und Künste einzig dahin zielen, uns zu 15 vergnügen, unsere Glückseligkeit zu befördern, so muß ldie Er­ kenntnis unserer selbst allerdings vor denselben vorhergehen; es muß demjenigen, der diese Zurüstung zu unserer Vollkommen­ heit sein Geschäft sein läßt, ebenso unentbehrlich sein, die Ei­ genschaft desjenigen Subjekts zu kennen, für dessen Befriedi- 20 gung er arbeitet, als es einem Baumeister notwendig ist, bei Ausführung eines Gebäudes, dessen künftigen Besitzer und den Gebrauch, zu welchem er es bestimmt, vorherzuwissen. Allein die beschwerliche Mühe, der sich hier und da ein tief­ sinniger Kopf unterzieht, bis in die verborgensten Geheimnisse 25 der menschlichen Natur zu dringen, ist nicht jedes Mannes Sa­ ,,_ ehe. Es gehört Selbstverleugnung dazu, auf der weiten See der Gedanken herumzuirren, und ohne sich von unzähligen fehlge­ schlagenen Versuchen abschrecken zu lassen, durch die Entdek­ kung einer einzigen Wahrheit seine ganze Mühe belohnt zu 30 halten. Man will seiner Ernte gewisser sein, man will keinen Schritt wagen, ohne sich dafür bezahlt zu wissen, man sucht den heiligen Wahrheiten der Vernunft als unfruchtbaren Grübeleien auszuweichen und glaubt ihrer vollkommen entbehren zu kön•

nen, 1 wenn das Werk nur mit dem Beifall der Menge gekrönt 35 wird. Je weiter wir uns aber von der weisen Führerin, der Philo­ sophie, entfernen, desto ungestalteter muß unser Werk und end­ lich der wahren Natur völlig unähnlich werden. Die Begierde 14-15 11

ERSTE ABTEILUNG

Der Begriff, den wir von einer Welt haben, kann so wie jeder >:· andere aus zwei verschiedenen Gesichtspunkten betrachtet wer­ den. Entweder seiner Wirklichkeit nach, insofern er ein vollstän• diger Gegenstand unserer Erkenntnis ist, oder seiner Entstehung nach, insofern wir durch das sinnliche Erkenntnisvermögen oder durch die reine Vernunft zu demselben gelangen. Im zweiten Fall kann wiederum die Form oder die Art, welche uns notwendig ist, um den Begriff zu bilden, von dem Begriff selbst abgezogen 10 und der Betrachtung ein besonderer Gegenstand werden; oder der Begriff bleibt zwar unser Objekt, nur daß wir ihn nicht erwä• gen, wie er unabhängig von unserem Erkenntnisvermögen sich außer uns verhält, sondern einzig und allein, wie er durch dieses als wirklich vorgestellt werden kann. 15 Diese mannigfaltigen Arten, unsere Begriffe zu untersuchen, sind so sehr voneinander unterschieden, daß nicht nur jede von ihnen eine ganz beson 1 dere Methode erfordert, sondern auch Grundsätze voraussetzt, die ihr allein eigen sind, und die selten ohne auf Kosten der Wahrheit, nie aber ohne der Gefahr ausge- 20 setzt zu sein, im Fortgang unseres Denkens auf die entferntesten Abwege geleitet zu werden, mit denjenigen verwechselt werden >:· können, welche der anderen Art besonders eigen sind. In der Vernachlässigung dieser genauen Unterscheidung, und nicht in dem Wankelhaften der Wissenschaft, glaube ich, teuerster >f Freund, hat man die Ursachen der Streitigkeiten zu suchen, in welche von jeher die Weltweisen über die wichtigsten Gegen­ stände der Metaphysik geraten sind; und nie kann meines Erach­ >f tens die Mühe, die sie sich geben, einander von ihren verschiede- nen Systemen zu überzeugen, aufhören, vergebens zu sein, 30 solange sie nicht diese verschiedenen Arten zu philosophieren gehörig auseinandersetzen und über ihre verschiedenen Grund­ sätze einstimmig werden. Es bieten sich mir der Beispiele eine Menge dar, die ich Ihnen zum Beweis anführen könnte, wie oft 12 Betrachtungen aus der spekulativen Weltweisheit 15-17 man in der Entwicklung verschiedener Verwirrungen endlich darauf hinauskommt, daß die Grund 1 sätze nicht gehörig unter­ schieden, und die Grenzen, welche unsere Erkenntnis einschlie­ ßen, irrigerweise den äußeren Gegenständen angepaßt worden sind, und ich darf nur von denen, welche Herr Kant in seiner .Abhandlung anführt, das erste, welches in die Augen fällt, zur Bestätigung dieser Wahrheit wählen. Das mathematische Unendliche z.B. wird von einigen durch ·~ eine Menge erklärt, über welche sich keine größere denken läßt. Da dieses nun in der Größenlehre ebensoviel ist als eine Zahl, zu 10 welcher keine Einheiten mehr hinzugedacht werden können, die wir uns aber so wenig vorstellen können, als sie an und für sich möglich ist, so muß ihnen notwendig der ganze Begriff eine bloße Fiktion sein, und sobald von einer unendlichen Reihe ne­ beneinander seiender oder aufeinanderfolgender wirklicher 15 Dinge die Rede ist, so leiht ihnen ihre falsche Erklärung des Unendlichen die streitbarsten Waffen, derselben die Möglichkeit abzusprechen; allein wenn das Unendliche in seinem wahren Verstand genommen wird, so wird eine solche Menge dadurch ausgedrückt, deren Verhältnis gegen jede andere Menge, 1 die 20 zum Maßstab als eine Einheit angenommen wird, durch keine Zahl ausgedrückt werden kann, alsdann folgt allerdings, daß ein solches Unendliches, als ein Ganzes betrachtet, kein Gegenstand unserer Vorstellung sein kann, keineswegs aber, daß es an sich unmöglich ist. Wir, die wir uns keinen Begriff von einem Ganzen 25 bilden können, außer durch eine allmähliche Hinzutuung der Teile, müssen mit diesem Hinzutun einmal zu Ende kommen, wenn wir uns das Ganze als bestimmt gedenken wollen. Es ist aber nichts, das uns nach vollbrachter Zusammensetzung ver­ hindern sollte, zu diesem Ganzen, so groß es auch immer sein 30 mag, noch mehrere Teile hinzuzudenken; das Unendliche aber leidet kein Aufhören des Zusammensetzens, weil es sonst größer gedacht werden könnte, als. es wirklich ist, und ist daher dem Verfahren, welches uns zur Bildung eines Ganzen notwendig ist, gerade zuwider; allein einem solchen Wesen, welches des 35 schwerfälligen Mittels nicht bedarf, dessen wir uns bedienen müssen, um zum Begriff eines Ganzen zu gelangen, dessen un- 17-19 Erste Abteilung 13

endlicher Verstand der Dinge Innerstes an 1 schauend erkennt, muß die Vorstellung eines unendlichen Ganzen weit weniger ko­ sten als uns der Gedanke einer noch so kleinen Größe. Ich habe Ihnen vor der Hand dieses Beispiel vorgelegt, um Ihnen zu zei- * gen, wie diejenigen, welche von einer falschen Erklärung eines Begriffs den Anfang machen, und diejenigen, welche, der richti­ gen Erklärung ungeachtet, dessen subjektive Möglichkeit von der objektiven nicht gehörig unterscheiden, in gleichen Schritten dem Irrtum entgegeneilen. Allein werfen Sie nur einen Blick auf 10 diese in der Metaphysik so fruchtbaren Begriffe, auf Raum und Zeit, und Sie werden jene berüchtigten Schwierigkeiten über den '' Ort der Seele, die Allgegenwart Gottes, die unendliche Teilbar­ keit usw., welche manchen Weltweisen gefährliche Klippen sind, alle darauf gegründet finden, daß die Grenzen der Wirklichkeit 15 äußerer Dinge mit den Grenzen unserer Erkenntnis für einerlei gehalten, und daher Bedingungen, welche dieser nach dem Wohlgefallen einer höchsten Weisheit vorgeschrieben sind, zum Verhalten der äußeren Dinge selbst übergetragen worden sind; so unmöglich es auch ist, die 1 notwendige Verknüpfung zwischen 20 diesen und unserer Erkenntnis von ihnen einzusehen. Erwägen Sie genau, liebster Freund, welcher Unterschied sich zwischen * diesen beiden Sätzen findet: Dieser Gegenstand kann nicht an­ ders sein; diesen Gegenstand kann ich mir nicht anders vorstel­ len! 25 Der Begriff, den wir von einer Welt haben, ist demjenigen gerade entgegengesetzt, den wir von einem einfachen Ding ha­ ben. Unter einem Ganzen werden viele Dinge verstanden, die vermittels einer Verknüpfung Eins ausmachen. Zum vollständi• gen Begriff eines einfachen Dinges wird daher erfordert, daß es 30 für sich nicht wiederum ein Ganzes sei, weil es sonst wider die * Natur des Einfachen aus Teilen bestehen müßte. Mit dem Begriff einer Welt verhält es sich umgekehrt. Dieser, in seiner völligen Ausdehnung genommen, muß alles, was durch die Schöpfung wirklich ward, in sich begreifen, und ein Einziges vorstellen: Es 35 kann daher nicht mehrere Dinge geben, die, wenn sie mit denen zusammengenommen werden, welche unter dem Begriff der Welt enthalten sind, noch ein größeres Ganzes ausmachen soll- 14 Betrachtungen aus der spekulativen Weltweisheit 19-22

ten, son 1 dem dieser Begriff muß alles erschöpfen, und daher ein solches Ganzes sein, das nicht ein Teil eines größeren Ganzen ,,_ ist. Zu dem Begriff eines einfachen Dinges sowohl als zum Begriff ,,_ einer Welt gelangen wir auf zwei verschiedenen Wegen, die wir sorgfältig voneinander unterscheiden müssen. Wir erhalten sie entweder durch die reine Vernunft oder durch das sinnliche Er­ kenntnisvermögen. Im ersten Fall haben wir zu unserem Zweck nur den Begriff der Zusammensetzung nötig. Diesen denken wir zu allen wirklich vorhandenen Dingen, so viel ihrer sind, hinzu, 10 und wir haben alsdann ein größtes Ganzes, welches darum nicht größer gedacht werden kann, weil nichts übrig ist, das von dieser allgemeinen Zusammensetzung ausgeschlossen worden wäre. Hingegen heben wir eben diesen Begriff in einem schon zusam­ mengesetzten Ding völlig auf, so sind die Stücke, die uns alsdann 15 übrigbleiben, vollkommen einfache Teile, deren jedes kein Gan­ zes mehr ausmacht, indem durch die allgemeine Aufhebung aller Zusammensetzung nichts Mannigfaltiges gelassen worden ist, das noch vermittels 1 einer Verknüpfung Eins sein sollte. Im letzten Fall aber, wo wir der Entstehungsart dieser beiden Be- 20 griffe durch das sinnliche Erkenntnisvermögen nachspüren, ist ein allgemeines Hinzudenken oder Aufheben der Zusammenset­ zung nicht hinreichend, sondern wir müssen vielmehr diese Begriffe von ihrem Ursprung an ihre ganze Bildung hindurch verfolgen, damit wir die Art, wie wir dazu gelangen, auf eine 25 sinnliche Weise anschauend zu erkennen vermögend sind. Wir müssen daher, um den Begriff eines Ganzen zu erhalten, die uns gegebenen einfachen Teile allmählich nebeneinander ordnen und miteinander verknüpfen, und umgekehrt in einem zusammenge­ setzten Ding dessen Teile allmählich trennen, bis das Ganze 30 völlig aufgelöst ist, wenn wir zu den einfachen Dingen kommen wollen. Dieses allmähliche Zusammensetzen und Auflösen kann nur in einer Reihe aufeinanderfolgender Augenblicke gesche­ hen, und wir können uns daher weder eine Analysis noch eine Synthesis vorstellen, es sei denn, daß wir den Begriff der Zeit 35 schon vorher haben; ein Begriff, der, wie ich Ihnen in der Folge ,,_ zeigen 1 werde, bei allen unseren sinnlichen Erkenntnissen zum 22-24 Erste Abteilung 15

Grunde liegt, aus den Erkenntnissen der reinen Vernunft aber gänzlich verwiesen werden muß. Sie werden nunmehr schon etwas deutlicher einsehen, von welcher Wichtigkeit diese genaue Unterscheidung der verschie- 5 denen Arten zu philosophieren in Untersuchung der Wahrheit sei. Denn da wir sowohl bei der Analysis als [auch] bei der Syn­ thesis den Begriff der Zeit voraussetzen und in der Beschäftigung mit beiden mit dem Fluß der Zeit sozusagen parallel gehen müs• sen; die Zeit an sich aber weder aus einfachen Teilen besteht, die 10 nicht wiederum sollten geteilt werden können, noch eine be­ stimmte Menge Teile in sich begreift, zu denen, wenn sie erschöpft sind, nicht noch mehrere bis ins Unendliche hinzuge­ dacht werden können: so werden wir uns auch vermittels des sinnlichen Erkenntnisvermögens weder von einer stetigen Größe 15 noch von einem unendlichen Ganzen einen vollständigen Begriff machen können, weil wir in beiden Fällen keine Grenzen haben, wo wir mit der Teilung oder mit der Zusammensetzung endlich stehenbleiben können, um durch das erste 1 einen einfachen Teil und durch das letzte ein solches Ganzes herausgebracht zu ha- 20 ben, das nicht größer gedacht werden kann. Hingegen steht nicht nur der reinen Vernunft nichts im Wege, das sie verhindern sollte, sich diese beiden Begriffe als möglich zu gedenken, son­ dern es kann auf das strengste a priori bewiesen werden, daß sie ,; unter den wirklichen Dingen notwendig eine Stelle einnehmen 25 müssen. Wir haben also zur vollständigen Erklärung einer Welt auf folgende drei Stücke unser Augenmerk zu richten, die zusam­ mengenommen diesen Begriff von jedem anderen hinreichend unterscheiden. ,; Erstens die Materie im metaphysischen Verstande, oder die gegebenen Teile, unter welchen die Verknüpfung stattfindet, welche sie in ein einziges Ganzes verwandelt. Diese müssen, um Bestandteile einer Welt auszumachen, Substanzen sein. Alles üb• rige außer diesen ist bloß eine Bestimmung von ihnen und 35 betrifft mehr ihren Zustand als sie selbst.! * Zweitens die Form oder die Verknüpfung selbst, welche die mannigfaltigen Stücke zu einem Einzigen macht. Diese muß 16 Betrachtungen aus der spekulativen Weltweisheit 24-26 wechselseitig und gleichartig sein. Wechselseitig, weil jede ein­ seitige Verknüpfung höchstens nur ein ideelles Ganzes zuwege bringen kann; gleichartig, damit die ganze Verbindung über• haupt von einem einzigen Grund hergeleitet werden könne. Dieser Bedingung zufolge werden wir diejenige Verknüpfung, welche zwischen Grund und Folge ist, nicht für diejenige halten können, welche verschiedene Substanzen zu einem Ganzen macht. Denn obzwar die Folge in einer reellen Abhängigkeit von der wirkenden Ursache ist und nicht ohne diese gedacht werden kann, so ist der Grund selbst doch nur ideell mit der Folge ver- 10 knüpft, d. i. insofern er als ein solcher gedacht werden soll, an und für sich aber findet sich in dem Begriff seines Daseins ohne die Folge nichts Widersprechendes. Da wir nun das Principium eines objektiven Ganzen haben müssen, so werden wir die Form, welche das Wesentliche dieses Ganzen ausmacht, in einer Menge 15 Substanzen zu suchen haben, die nebeneinander sind, 1 und wel­ che vermittels irgendeines Grundes (ich lasse es unausgemacht, >:· worin dieser eigentlich besteht) in einer solchen Verbindung ste­ hen, daß jede von ihnen sich gegen alle übrigen zusammenge­ nommen verhält, wie das Komplement eines Ganzen zum 20 Ganzen selbst. Von diesem einmal festgesetzten Principio des Weltganzen wird eben das behauptet werden müssen, was von dem Wesen eines jeden anderen Dinges gilt, daß es ewig und unveränderlich sei, und, aller Abänderungen ungeachtet, wel­ chen dieses Ganze in Ansehung seiner wechselnden Zustände 25 unterworfen ist, es dennoch nie aufhöre, dasselbe zu sein, so­ lange sein Dasein nicht gänzlich aufgehoben wird. Endlich drittens die größte Vollständigkeit eines Ganzen. >:· Diese Bestimmung ist darum notwendig, weil sie es eigentlich ist, wodurch das Ganze einer Welt von jedem anderen Ganzen 30 unterschieden wird, in welchem zwar Form und Materie gleich­ falls vorhanden sind, dem aber, da die Materie nicht alles Wirk­ liche, sondern nur einiges davon in sich begreift, der Name eines Ganzen nur beziehungsweise zukommt. Hingegen besteht die Materie des Weltganzen in allem Er 1 schaffenen, es gibt folglich 35 keine Materie mehr, die noch zu dieser hinzugenommen werden kann, um in der Verbindung ein noch größeres Ganzes auszuma- 46 86-87

ZWEITE ABTEILUNG

Wenn die Methode einer jeden Wissenschaft in der Ordnung be- 'f steht, wie ihre Sätze aus einander entwickelt werden und diese auf den Grundsätzen beruhen, welche jeder Wissenschaft beson­ ders eigen sind, so werden Sie nach der vorhergehenden Ausein­ andersetzung unserer sinnlichen und reinen Vernunfterkenntnis nicht im mindesten anstehen können, daß Wissenschaften, wel­ che sich mit zwei so verschiedenen Vorwürfen beschäftigen, durchaus nicht nach einerlei Methode behandelt werden kön• nen. Das Verfahren desjenigen, der uns von der Schönheit 10 irgendeines Gegenstandes überführen will, ist mit dem Verfah­ ren desjenigen, der uns die Eigenschaften eines Triangels oder irgend sonst eine geometrische Wahrheit demonstriert, insofern völlig einerlei, als beide bloß unsere Erkenntnis von den Dingen und nicht die Dinge selbst zum Gegenstand haben. Beide beru- 15 fen sich bei jedem Schritt, den sie mit uns tun, auf not 1 wendige Gesetze, welche unserer Seele beiwohnen, denen sie ihre Resul­ tate anzupassen suchen. Wenn jener daher zu den Eindrücken, die wir von den äußeren Gegenständen durch die Sinne empfan­ gen, (welche in unserer Erkenntnis die Materie ausmachen,) 20 nichts mehr hinzutut, sondern, indem er sie auf das deutlichste zergliedert, von allen Seiten zu betrachten gibt und unserer Auf­ merksamkeit nicht die mindeste ihrer Beziehungen aufeinander entwischen läßt, uns zeigt, daß sie den ewigen Gesetzen, welche uns allen beiwohnen, gemäß sind, so hat er sein Geschäft vollen- 25 det; und wenn dieser uns aus einer willkürlich gebildeten Idee unzählige andere entwickelt, die wir zufolge der anschauenden Grundsätze des Raums notwendig mitgedacht haben müssen, so hat er gleichfalls seinen Zweck vollkommen erreicht. Man rufe immer den Geschmackslehrern zu: »Die Schönheit ist keine Ei- 30 genschaft, welche dem Objekt eigentümlich ist, und wer weiß, gibt es nicht Wesen, die nach anderen Grundsätzen, was uns schön ist, häßlich finden?« Man mache dem Meßkünstler immer 87-90 Zweite Abteilung 47

den Zweifel: »Wer weiß, gibt es in der 1 Natur wirklich einen Triangel oder einen Zirkel?« Unbekümmert über die äußere Wirklichkeit der Dinge erteilen sie beide ihren Lehren die größte Gewißheit, indem sie sie auf die ewigen Gesetze unserer Er- 5 kenntnis gründen, und uns allein für die Welt ansehen, in wel­ cher ihre Gegenstände Wirklichkeit haben dürfen. Hingegen demjenigen würden wir nur halb danken, der uns z.B. das Da­ sein Gottes oder die Unsterblichkeit der Seele auf keine andere Art dartut, als es den Grundgesetzen unserer Erkenntnis gemäß 10 ist, solange diese Grundgesetze nicht von der Beschaffenheit sind, daß sich die äußeren Dinge unabhängig von aller Vorstel­ ,~ lung gleichfalls nach ihnen richten müssen. Wir wollen über• zeugt sein, daß ein Gott notwendig existieren muß, nicht daß er * uns zu denken notwendig sei; daß unsere Seele ihrer Natur nach 15 der Sterblichkeit unfähig sei, nicht daß sie uns so scheine. Aus dieser Betrachtung fließt der wichtige Unterschied der '' zwei Hauptwissenschaften, inwiefern die synthetische oder die analytische Methode ihnen eigentümlich ist. Die erste findet in der 1 Größenlehre statt, denn da in dieser eine willkürliche Idee 20 angenommen und die darin enthaltene Mannigfaltigkeit von an­ deren Ideen allmählich daraus entwickelt wird, so bekommt sie in der Tat mit jedem Fortschritt einen größeren Umfang, und unsere Erkenntnis von ihr wird durch die Synthesis in gleichem Verhältnis vermehrt. Man kann daher beständig die Definition 25 eines Begriffs vorausschicken, um die übrigen Lehrsätze daraus herzuleiten, ohne daß man für deren Richtigkeit besorgt sein muß, denn weil die Erklärungen willkürlich sind, so können sie auch nicht falsch sein. In der Weltweisheit aber, wo jeder Gegen­ stand mit allem, was sich in ihm erkennen läßt, wirklich vorhan- 30 den sein muß, können wir auf keine andere Art zu deren Kenntnis gelangen, als indem wir durch die Analysis das darin Enthaltene auseinandersetzen, und vom Besonderen zum Allge­ meinen hinaufsteigen. Die Definitionen werden also nicht das erste sein können, sondern müssen als Resultate unserer ganzen 35 Erkenntnis das letzte in derselben sein.I * In allen Wissenschaften, deren Grundsätze von der Erfahrung gegeben sind oder aus solchen Begriffen anschauend erkannt 48 Betrachtungen aus der spekulativen Weltweisheit 90-92 werden, welche die Form der sinnlichen Erkenntnis enthalten, als z.B. die Begriffe Raum, Zeit und Zahl sind, ist alle Untersu- ,„ chung a priori über die Methode, die einer jeden von ihnen besonders eigen ist, gänzlich überflüssig, denn da die Grund­ sätze als anschauende Erkenntnisse an und für sich schon die größte Gewißheit haben, so können sie keinen Irrtümern unter­ worfen sein, und der Gebrauch der Vernunft dabei ist bloß ,,. logisch, indem man besondere Begriffe den allgemeineren unter­ ordnet und vermittels des Satzes des Widerspruchs aus der Be­ schaffenheit des einen die Eigenschaft des anderen herleitet. Man 10 abstrahiert daher alsdann erst die Methode, welche der Wissen­ schaft am gemäßesten ist, wenn diese schon bis zu ihrer Reife gelangt ist. Allein in der Metaphysik, in welcher der Gebrauch ,,. der Vernunft reell ist, und deren erste Begriffe und Grundsätze selbst durch die reine Vernunft gegeben sind, muß die Art, nach 15 welcher unsere Vernunft verfährt, vorher untersucht und gehö- rig aus 1 einandergesetzt werden, wenn man in der Wissenschaft selbst einen sicheren Fortschritt machen will. Die Gesetze, wel­ che uns die Logik vorschreibt, setzen die Grundsätze als den Standpunkt, von welchem die Vernunft ihren Weg nimmt, unun- 20 tersucht voraus, und daher sind sie allen Disziplinen gemeingül• tig, aber eine Wissenschaft, in welcher die Grundsätze selbst entwickelt werden sollen, muß insofern eine ihr ganz besonders eigene Methode haben, als ihr Objekt von dem Vorwurf jeder anderen Wissenschaft wesentlich verschieden ist. 25 Mein Zweck ist hier nicht, diese so wichtige Materie auseinan­ derzusetzen. Ich empfinde die Unzulänglichkeit meiner Kräfte allzu sehr, als daß ich auf einem Weg, auf welchem ich so wenig vorgetretene Fußtapfen entdecke, mich mit dreisten Tritten ein­ herzugehen wagen sollte. Ich werde Ihnen bloß einige Sätze ,,. anzeigen, die fälschlich von unserer sinnlichen Erkenntnis zu den reinen Vernunfterkenntnissen übergetragen werden, aus de­ nen sich eine Menge Schwierigkeiten und Irrtümer, welche man in manchem System nicht sparsam ausgestreut findet, herleiten lassen; und 1 diesen Sätzen werde ich wiederum andere entgegen- 35 stellen, welche bei dem Verfahren so verschiedener Art von Erkenntnis als Regeln dienen können, um wenigstens diesem 92-94 Zweite Abteilung 49

Erschleichungsfehler auszuweichen, der in der ganzen Philoso­ phie von den wichtigsten Folgen ist. '' In jedem Urteil ist das Prädikat ein Merkmal des Subjekts und daher eine Bedingung, ohne welche das Subjekt auf keinerlei Weise stattfinden kann. Ich bediene mich nicht des Ausdrucks, welchen Herr Kant irgendwo gebraucht, daß das Prädikat ein Erkenntnisgrund des Subjekts sei, weil meiner Meinung nach kein Erkenntnisgrund von größerer Ausdehnung sein kann als diejenige Sache, die dadurch erkannt werden soll, damit man auf 10 das Dasein dieser allemal sicher schließen kann, wo man jenen antrifft. Mit den Sätzen aber verhält es sich ganz anders. Ein jedes Prädikat ist von größerem Umfang als das Subjekt, oder sein Umfang ist vielmehr gar nicht bestimmt, und es kann daher Fälle geben, wo das Prädikat vorhanden ist, und das Subjekt 15 dennoch mangelt; ein Umstand, wel 1 eher der Natur eines Er­ >:· kenntnisgrundes gerade zuwider ist. Herr Ploucquet legt zwar jedem Prädikat die Quantität des Subjekts bei. Dieses leistet ihm als eine Hypothese in seinem Kalkül vortreffliche Dienste; allein mit der Natur der Sache stimmt es so wenig überein, daß dadurch 20 alle Sätze zu völlig identischen gemacht werden, und jedes Prä• dikat selbst muß wiederum einen ganzen Satz enthalten, wovon doch endlich ein Prädikat von unbestimmter Quantität ange­ nommen werden muß, wenn das immer fortdauernde Sätzema• chen nicht ohne Ende fortgehen soll. 9 Wenn hingegen das 25 Prädikat als eine Bedingung betrachtet wird, so muß zugleich zugegeben werden, daß es auch von größerem Umfang sein kann als das Subjekt. Denn wenn es die Bedingung des Subjekts ist, so folgt schon von selbst, daß das Prädikat als die Bedin 1 gung al­ lenthalben da sein muß, wo das Subjekt als die bedingte Sache 30 vorhanden ist, keineswegs aber umgekehrt.

'' 9 Nach dem Herrn Ploucquet muß der Satz z.B. Alle Menschen sind sterblich, so ausgedrückt werden: Alle Menschen sind sterbliche Men­ schen; wer sieht aber nicht, daß das Prädikat selbst einen Satz ausmacht, denn sterbliche Menschen heißt in der Tat nichts anderes als Menschen sind 35 sterblich, so wie jedes Hauptwort mit einem Beiwort in einen Satz ver­ wandelt werden kann. S[iehe] dessen M ethodus calculandi in Logicis. 145-146 75

ANHANG ZU DEN BETRACHTUNGEN

S[eite] 31 (+)

* Einige philosophische Rezensenten haben Herrn Moses die Ein­ wendung gemacht, daß das Nichtsein vielmehr eine Aufhebung aller Zustände als selbst ein Zustand des Dinges sei; mithin wä• ren Sein und Nichtsein keine zwei sich entgegengesetzten Zu­ stände, bei deren Abwechslung ein Mittel erfordert würde, sondern, sobald der Zustand des Seins aufhöre, werde nichts Positives mehr gesetzt, das dessen Stelle vertrete, und das Gesetz 10 der Kontinuität sei also auf den Fall, wo von Sein und Nichtsein die Rede ist, gar nicht anwendbar. Man muß gestehen, der Be­ griff eines Zustandes setzt allerdings etwas Permanentes voraus, das bei den sich abwechselnden Bestimmungen gegenwärtig bleibt; sobald man aber gar nichts Dauerhaftes annimmt, so wie 15 [es] bei der Seele geschehen muß, wenn ihre Unsterblichkeit ge­ leugnet wird, so fällt auch 1 der Begriff des Zustandes weg, indem nichts vorhanden ist, das man sich in demselben gedenken kann. Dieses gilt sowohl von der Vernichtung als [auch] von der Verän• derung überhaupt, so daß, wenn alle Bestimmungen eines Din- 20 ges mit anderen ihre Stelle vertauschten und keine von den ersten mehr übrigbliebe, man nicht würde sagen können, daß sich das Ding verändert, sondern daß es völlig aufgehört habe und an dessen Stelle ein anderes gekommen sei. Indessen ist es in die Augen fallend, daß dieser Zweifel bloß wider das Wort Zustand 25 gerichtet ist, dessen sich Herr Moses bei dem Nichtsein bedient; der Strenge des Beweises selbst aber, der daraus für die Unsterb­ lichkeit der Seele gezogen wird, wird nicht das mindeste dadurch benommen. Man mag das Nichtsein benennen, wie man will, so muß doch zugegeben werden, daß der Augenblick, in welchem 30 das Ding sein Dasein verliert, vom demjenigen, in welchem es '' noch dasselbe hat, verschieden ist. Wenn es nun, wie ich oben gezeigt habe, keine zwei Augenblicke gibt, die sich einander die 76 Betrachtungen aus der spekulativen Weltweisheit 146-148 nächsten sind, sondern immer Zwischenaugenblicke vorhanden sein 1 müssen, die eine gemeinschaftliche Grenze ausmachen und sowohl zum vorhergehenden als [auch J zum nachfolgenden ge­ hören, so wird dieses von den zwei Augenblicken, in welchem die Seele ist, und in welchem sie zu sein aufhört, gleichfalls gelten s müssen. Da sich aber zwischen Sein und Nichtsein kein Mittel gedenken läßt, so findet auch keine gemeinschaftliche Grenze statt, und man muß also entweder annehmen, daß der Augen­ blick der Vernichtung mit dem Augenblick des Daseins ineinan­ derfalle, welches ungereimt ist, oder man muß die beiden 10 Augenblicke unmittelbar aufeinanderfolgen lassen, welches der wahren Beschaffenheit der Zeit und dem Gesetz der Natur ge­ rade zuwider ist. Auch den Begriff des Zustandes kann Herr Moses beibehalten, wenn er ihn nicht auf die Seele, sondern auf die Welt, von wel- 15 eher sie einen Teil ausmacht, anwendet, und der ganze Beweis verliert dennoch nichts von seiner Bündigkeit. Die Welt, welche alle erschaffenen Substanzen in sich begreift und zu einem Gan­ zen macht, muß notwendig in einen anderen Zustand versetzt wer 1 den, sobald sie an einem von ihren Teilen eine Veränderung 20 leidet. Da, wo eine allgemeine Verknüpfung vorhanden ist, läßt sich durchaus keine isolierte Veränderung gedenken. Jeder Zu­ wachs, jede Abnahme und Modifikation eines Teils muß einen Einfluß auf das Ganze haben und seinen Zustand in einen ande­ ren verwandeln. Dieser Übergang der Welt aus einem Zustand in 25 den anderen kann vermöge des Naturgesetzes nur durch einen Mittelzustand geschehen, welcher zwischen dem Zustand, der aus der Vernichtung eines Teils entsteht, und dem vorhergehen­ den nicht stattfindet usw. Diese Anmerkung scheint mir von einiger Erheblichkeit, nur darf man nicht außer acht lassen, daß 30 ich hier unter der Welt den objektiven reellen und nicht den ideellen Begriff verstehe. S[iehe J Mendelssohns Phädon oder >:­ über die Unsterblichkeit der Seele. ANMERKUNGEN DER HERAUSGEBER

S. 3, Z. 2: Brief] Ob sich Herz mit seinen Betrachtungen in der Tat an einen Freund wendet, bleibt unausgemacht. Allem Anschein nach handelt es sich jedoch um einen fiktiven Ansprechpartner. Mit der Einkleidung in die Briefform werden die Betrachtungen aus dem steifen akademischen Stil herausgelöst und gewinnen so für den Le­ ser ein größeres Interesse. Vorbildcharakter mögen vielleicht Moses Mendelssohns Briefe über die Empfindungen gehabt haben, die Herz in der zweiten Auflage der Philosophischen Schriften vorlagen. »Die schönen philosophischen Schriftsteller«, merkt Mendelssohn in dem anonym erschienenen Schreiben dazu an, haben bemerkt, daß »der systematische Vortrag nicht immer die beste Einkleidung ist« OubA I 524), er bevorzuge daher eine »zierliche Einkleidung« (ebd. 525). Vgl. dazu auch die Rezension der Betrachtungen in den Breslauischen Nachrichten von Schriften und Schriftstellern vom 28. Dezember 1771 (St. 52, S. 412): »Daß Moses Mendelssohn sein Mu­ ster ist, gereicht ihm zum Ruhm, und noch mehr, wenn er diesem gründlich und schön denkenden Philosophen ähnlich gekommen sein wird.« (Eine Kopie der nur schwer zugänglichen Rezension wurde uns freundlicherweise von Herrn Prof. Dr. Reinhard Brandt zur Verfügung gestellt.) S. 3, Z. 3: künftigen Beruf] Zu Herz' beruflichem Werdegang vgl. oben S. VII-XIII. -Zu den »Zubereitungen« !$.ehört nach seiner Rückkehr nach Berlin wohl in erster Linie die »Ubung im Prakti­ schen der Arzneykunst«, auf deren hervorragende Bedeutung Im­ manuel Kant seinen Schüler noch gegen Ende des Jahres 1773 verweist (Nr. 79; AA X 143). Über seine »Versäumnisse« auf diesem Gebiet vgl. Markus Herz: Grundlage zu meinen Vorlesungen über die Experimentalphysik. Berlin 1787, Vorrede (unpag., S. 1). S. 3, Z. 5: leer von Reiz] Vgl. Friedrich Schlichtegroll (Hrsg.): Nekrolog der Teutschen für das neunzehnte Jahrhundert. Bd. 3. Gotha 1805, S. 33: »Herz bedauerte späterhin, während der akade­ mischen Jahre zu sehr vom Studium der Philosophie angezogen worden zu seyn, deren Speculationen seinem Geiste zu viel Nahrung gaben und zu viel Reiz für ihn hatten. Die Folge war, daß er für seine Brodwissenschaft und für alles, was mit derselben zusammenhing, 84 Anmerkungen der Herausgeber nicht Zeit genug übrig behielt, oder in den Beschäftigungen dieser Art nicht genug Genuß fand.« Daß Herz dennoch eine positive Ein­ stellung zu seinem Beruf findet, rührt nicht zuletzt daher, daß er es auf vortreffliche Weise versteht, ihn mit seinen Neigungen zu ver­ knüpfen. Über den engen Zusammenhang zwischen Philosophie und Medizin vgl. seinen Grundriß aller medicinischen Wissenschaf­ ten. Berlin 1782, S. 1, seinen Versuch über den Schwindel. Berlin 1786, S. XXXII-XLII und seinen Brief an Kant vom 27. Februar 1786 (Nr. 260; AA X 431 f. ). Resultat dieses Berufsverständnisses ist seine eingehende Beschäftigung mit Fragen der Psychologie, beson­ ders der »Erfahrungspsychologie« (vgl. dazu E. Flatow: »Markus Herz, ein Vorkämpfer der bewußten Psychotherapie vor 150 Jah­ ren«, in: Deutsche Medizinische Wochenschrift 54 (1928), S. 1220f.). Über die Anerkennung, die er damit bei Kant findet, vgl. Kants Brief an Herz vom 20. August 1777 (Nr. 120; AA X 212). Erste Klagen über eine zu starke Beanspruchung durch seinen Beruf finden sich im Brief an Kant vom 7. April 1789 (Nr. 3 51; AA XI 14 f.). S. 3, Z. 5-26: Die Zergliederung ... überlassen worden wäre] Zwei literarische Vorbilder scheinen Herz bei den folgenden Überle• gungen geleitet zu haben: Mendelssohns Briefe über die Empfindun­ gen -v. a. der dritte Brief-und die philosophischen Gespräche -v. a. das dritte Gespräch über die beste Welt -, an die er sich sprachlich eng anlehnt, auch wenn sie weitgehend andere Themen behandeln. S. 3, Z. 9: nie versiegende Quelle der reinsten Seelenlust] Vgl. Mendelssohns dritten Brief über die Empfindungen QubA I 244): »Dem Weltweisen bleibet also die Betrachtung des Weltgebäudes eine unversiegende Quelle des Vergnügens.« S. 3, Z. 9f.: Allzu ... umfassen] Vgl. ebd. JubA I 243-245. S. 3, Z. 20: Maschine] Daß der organische Körper des Menschen (im Gegensatz zur vernünftigen Seele) als Mechanismus bzw. Ma­ schine aufgefaßt wurde, war Herz nicht nur durch die philosophi­ sche Tradition spätestens seit Rene Descartes (L'Homme, in: ders.: Oeuvres, hrsg. von Charles Adam und Paul Tannery. Bd. 11. Neu­ druck Paris 1967, S. 130f.) und Gottfried Wilhelm Leibniz (Nou­ veaux Essais, Buch III, Kap. 6, LA Vl.6, 328f., LPG V 309, Monadologie§ 64, LPG VI 618 und Leibniz/Clarke LPG VII 413, CW IV 661) geläufig, sondern entsprach auch weitgehend dem Men­ schenbild der zeitgenössischen Medizin (vgl. dazu den Artikel »Menschliche Maschine«, in: Johann Heinrich Zedler: Grosses voll­ ständiges Universal Lexicon Aller Wissenschafften und Künste .... Bd. 20. Halle und Leipzig 1739 (Nachdruck Graz 1961), Sp.