Burkhart Brückner (2004): Erfahrungen des Deliriums. Autobiographische Reflexionen in der Popularphilosophie und Medizin der deutschen Spätaufklärung am Beispiel von Friedrich Nicolai und Markus Herz. In: Cardanus – Jahrbuch für Wissenschaftsgeschichte 4, pp. 75-90.

Burkhart Brückner (2004): Erfahrungen des Deliriums. Autobiographische Reflexionen in der Popularphilosophie und Medizin der deutschen Spätaufklärung am Beispiel von Friedrich Nicolai und Markus Herz. In: Cardanus – Jahrbuch für Wissenschaftsgeschichte 4, pp. 75-89. Burkhart Brückner

Selbstzeugnisse sind in den letzten Jahren zunehmend zum Gegenstand von medizinhistorischen Untersuchungen geworden.4 Sie werden auch als Quellen der Patientengeschichtsschreibung genutzt.5 Zum einen bieten sie die Gelegenheit, einzelne Krankheitserfahrungen und Heilmetho­ den aus der Perspektive eines »Patienten« fallorientiert zu untersuchen. Zum anderen können mehrere Texte verglichen werden, um individuelle und soziale Unterschiede in der Krankheits­ und Heilerfahrung festzustellen oder historische Entwicklungen zu verfolgen. Die Kontroverse über das Verhältnis von Sozial- und Alltagsgeschichte oder von Makro- und Mikrohistorie hat für die Psychiatriegeschichte vor allem in England zu einem tragfähigen Konzept der Patienten­ geschichtsschreibung geführt. Roy Porter untersuchte demgemäß r 987 » What mad people meant to say, what was on their minds. [ ... ] lt is curious how little this had been done; we have been preoccupied with explaining away what they said.«6 Porters deskriptive Methode ist grundlegend, sie umgeht vorschnelle retrospektive Diagnosen und pathographische Absichten. Dennoch ist sein Ansatz im deutschsprachigen Raum kaum aufgegriffen worden. 7 Dabei bieten Selbstzeugnisse zahlreiche Ansatzpunkte: etwa für biographische Fragestellungen (individuelle Krankheitsverar­ beitung, autobiographische Selbstrepräsentation), für inhaltliche Überlegungen (Paläodiagnostik, psychosoziale Ätiologie, subjektive Krankheitstheorie, Sinnzusammenhang der Störung), für literaturwissenschaftliche Problemstellungen (Textsorten, Sprachverhalten, Funktion und Bedin­ gungen des Schreibens) und für kontextorientierte Ansätze (Wirkungsgeschichte, Verhältnis zu zeitgenössischen Krankheitstheorien, intertextuelle Merkmale). Um die Interessen der Autoren transparent zu machen, sind die subjektiven Einflüsse auf Inhalt und Form der Texte im Zuge der Quellenkritik nicht zu eliminieren, sondern zu reflektieren. Dies geschieht mittels einer Kontextualisierung des Materials, welche die Sichtweise des Autors, die Sichtweise seiner Zeitge­ nossen und die fachliche Sichtweise der Forschenden im Sinne qualitativer Forschungsmethoden trianguliert. Um zu erfassen, wovon die Rede ist, sind retrospektive Diagnosen mit heutigen Klassifikationsbegriffen ungeeignet; angemessener ist der Bezug auf die jeweilige zeitgenössische Terminologie.

4 Vera Jung und Otto Ulbricht: Krankheitserfahrungen im Spiegel von Selbstzeugnissen von l 500 bis heute. In: Historische Anthropologie 9 (2001), Heft l, S. 137-148. Jens Lachmund und Gunnar Stollberg: Patientenwelten. Krankheit und Medizin vom späten 18. bis zum frühen 20. Jahrhundert im Spiegel von Autobiographien. Opladen 1995· 5 Vgl. Eberhard Wolff: Perspektiven der Patientengeschichtsschreibung. In: Medizingeschichte: Aufgaben, Probleme, Perspektiven. Hg. von Norbert Paul und Thomas Schlich. Frankfurt am Main, New York 1998, S. 3 l 3. Ich verwende den Terminus >Selbstzeugnis< für Texte, in denen die Autoren explizit als handelnde Subjekte in Erscheinung treten, entsprechend der Definition von Benigna v. Krusenstjem: Was sind Selbstzeugnisse? Begriffskritische und quellenkundliche Überlegungen anhand von Beispielen aus dem 17. Jahrhundert. In: Historische Anthropologie 2 (1994), Heft 3, S. 462-47i. 6 Roy Porter: A social history of madness. The world through the eyes of the insane. London 1987, S. I. Seit Ende des 17.Jahrhunderts wurden in England Autobiographien, Protestschriften und Fachpublikationen veröffentlicht, in denen selbsterlebte Wahnsinnsepisoden zum Thema wurden. Vgl. auch Allen lngram: The Madhouse ofLanguage. Writing and reading madness in the eighteenth century. London, New York 1991; Dale Peterson: A Mad People's History of Madness. Pittsburg, London 1982. 7 Eine Perspektive, die Selbstzeugnisse berücksichtigt, bietet Doris Kauftnann: Aufklärung, bürgerliche Selbsterfahrung und die >Erfindung< der Psychiatrie in Deutschland, 1770-1850. Göttingen 1995· Am konsequentesten sind zur Zeit die Autoren des Sammelbands von Torsten Hahn, Jutta Person und Nicolas Pethes (Hgg.): Grenzgänge zwischen Wahn und Wissen. Zur Koevolution von Experiment und Paranoia 1850-1910. Frankfurt am Main 2002. Erfahrungen des Deliriums 77

Die folgende Darstellung setzt einen anderen Akzent, als es die reine >Patientenperspektive< könnte. Die beiden Autoren der Texte zeigten sich als Patienten und ebenso als Experten, sie traten als Subjekte einer Krankheitserfahrung und zugleich als Subjekte der Analyse dieser Erfah­ rung auf. Markus Herz erlebte 1782 ein mehrwöchiges akutes »Nervenfieber« und hat seine Krankheitsgeschichte 1783 im Magazin zur Erfahrungsseelenkunde veröffentlicht. Und Friedrich Nicolai erlebte 1791 zwei Monate lang Halluzinationen, die er 1799 in dem Artikel Beispiel einer Erscheinung mehrerer Phantasmen in der Neuen Berlinischen Monatsschrift beschrieb. In welchem gesellschaftlichen Kontext agierten die Autoren?

II. Bürgerliche Öffentlichkeit, Medizin und Geisterseher In den städtischen Bildungszentren, z.B. in Frankfurt, , Hamburg, Breslau und Königsberg, entstanden im Lauf des 18.Jahrhunderts zahlreiche literarische und wissenschaftliche Zirkel, Klubs und Vereine, aber eine bürgerliche Öffentlichkeit, die sich der eigenen politischen Stärke und literarischen Stimme bewußt war, etablierte sich in den deutschen Territorialstaaten bekanntlich erst nach 1775· Die Publikationsorgane, die Nicolai und Herz nutzten, waren Teil des Prozesses, mit dem das Bürgerrum sich selbst zum Thema erhob. Die Neue Berlinische Monatsschrift war das Sprachrohr der Berliner Spätaufklärung und wurde in Nicolais eigenem Verlag produziert. Sie setzte ab l 799 die kurzlebigen Berlinischen Blätter und die Berlinische Monatsschrift fort, in der Kant l 784 seinen Aufsatz Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? publiziert hatte. Das Periodikum sollte die »Kenntnis des Menschen« fördern und enthielt auch Regierungsmitteilungen. Es handelte sich um ein in liberalen, bürgerlich-adeligen Kreisen produziertes und gelesenes Unterhalrungsblatt, das für eine reformbereite, politisch gemäßigte preußische Aufklärung eintrat. Hingegen stand das zwischen l 783 und l 793 erscheinende Gnothi Sauthon - oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde, in dem Markus Herz veröffentlichte, dem frühromantischen Flügel der deutschen Spätaufklärung nahe. Mit dem delphischen Aufruf »Erkenne dich selbst!« war die Erforschung der »Seelenkrankheiten« für den Herausgeber Karl Philipp Moritz ( l 756-1 793) ein Mittel, um allgemeingültige, »empirische Begriffe aus Erfahrungen« zu bilden.8 So erschienen in diesem Magazin zahlreiche Berichte über okkulte Erlebnisse, Träume, Verbrechen, Suizidenten und Kindheitserinnerungen sowie theoretische Artikel über Psychologie, Theologie und Philo­ sophie. Darin äußerte sich das Bedürfnis nach Selbstreflexion einer ganzen Generation, welche die allmähliche Auflösung der ständischen Gesellschaft erlebte, zugleich in der neuen bürgerlichen Ordnung noch nicht angekommen war und sich ihrer kollektiven Identität vergewisserte. Sofern die Menschenkenntnis befördert werden sollte, fügten sich also die von Herz und Nicolai gegebenen Berichte über delirante und halluzinative Erfahrungen in das Programm der Publikationsorgane ein. Auch der weit verbreitete literarische Topos des >lrrenhausbesuches< versinnbildlichte dem Publikum die Folgen eines individuellen Abfalls von der Vernunft.9 Die Institutionen standen gegen Entgelt offen und beherbergten in der Regel Personen, die als gefährlich galten oder deren Familien zu arm waren, um sie privat zu pflegen. Erst Anfang des l 9. Jahrhunderts wurden psychiatrische Reformanstalten gegründet.

8 Karl Philipp Moritz: Grundlinien zu einem ohngefähren Entwurf in Rücksicht auf die Seelenkrankheiten. In: Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde als ein Lesebuch für Gelehrte und Ungelehrte. (1783), Bd. 1, 1. St., S. 33 . Vgl. dazu Sybille Kershner: Karl Philipp Moritz und die »Erfahrungsseelenkunde«. Literatur und Psychologie im 18. Jahrhunden. Herne 1991. 9 Einen Überblick geben Anke Bennholdt-Thomsen und Alfredo Guzzoni: Der Irrenhausbesuch. Ein Topos in der Literatur um 1800. In: Aurora 42 (1982), S. 82-1 IO. 7~ Burkhart Brüclmer

Psychische Störungen wurden in der Aufklärungsepoche großenteils noch im Sinne der hippo­ kratischen und galenischen Medizin humoralpathologisch erklärt, also als ein Ungleichgewicht der vier Körpersäfte (Blut, Schleim, gelbe und schwarze Galle) und ihrer Primärqualitäten (warm, kalt, feucht, trocken). Als zentrale Vermittlungsinstanz von Körper, Geist und Seele galten die >Spiritus< oder >Lebensgeister<, die man sich in der Tradition antiker Seelenlehren als eine warme, lichte und luftige Substanz mit Sitz in den Hirnkammern vorstellte. Die seit dem 17. Jahrhundert hinzukommenden zirkulatorischen, mechanistischen und chemischen Konzepte und die seit Mitte des 18. Jahrhunderts anhebende Theorie der Nervenstörungen modifizierten die älteren Theoreme. Der Begriff des Deliriums umfaßte zum einen eine ganze Ordnung von Krankheiten.'° Zum anderen umfaßte er Syndrome, welche die traditionellen Hauptkategorien >Melancholie<, >Manie<, >Phrenitis<'' und >Hysterie< überbrückten, so daß man zum Beispiel von einem >melancholischen Delirium< reden konnte. In Zedlers Universal-Lexikon von 1734 hieß es:"

Delirium, heißt insgemein eine Raserey, dergleichen den hitzigen Fiebern und Haupt-Krankheiten zu seyn pflegen. Solcbe aber ist nichts anders als eine Abweichung von der gesunden Vernunft, oder da die Spiritus alles, was ihnen nur vorkommt, ungeräumt und confus zusammen setzen.

Das Delirium wird hier im engen Zusammenhang mit fiebrigen Zuständen behandelt, wobei der Begriff >Fieber< aber nicht mit heutigen Vorstellungen gleichzusetzen ist, sondern manchmal auch nur einen erhöhten Pulsschlag bezeichnete. Der historische Begriff des Deliriums kann für die Epochen des Barocks und der Aufklärung als ein Terminus gelten, der die Phänomene des Verstandesverlusts und der Sinnesverwirrung vorn Gebiet der leichteren psychischen Verstörungen schied. Dementsprechend gibt es unter den einschlägigen Selbstzeugnissen zum einen Schriften über >Hysterien<, milde >Melancholien< oder >Nervenstörungen<, 13 und zum anderen Texte über schwerwiegendere Verstörungen. Selbstzeugnisse über letztere sind außerordentlich selten, und ich schlage vor, sie unter dem zeitgenössischen Terminus >Delirium< zu subsumieren. Allerdings waren die im Lauf des 18.Jahrhunderts entwickelten Klassifikationen uneinheitlich und befanden sich um 1 800 bereits wieder in Auflösung.

Eine weitere inhaltliche Scheidelinie läßt sich gegenüber den visionären Berichten der sogenannten >Schwärmer< ziehen. Diese oft im pietistischen oder puritanischen Kontext angesiedelten religiösen

'° Der historische Terminus >Delirium< kommt von >delirare< (>von der Ackerfurche abweichend<) und entspricht keineswegs dem gegenwärtigen medizinischen Begriff des >Delirs< für das mit gravierenden Bewußt• seinsstörungen verbundene psychoorganische Syndrom. In der einflußreichen Nosologie Mithodique ou Dis­ tribution des Maladies (Lyon 1772, Bd. VII) des französischen Mediziners Baissier de Sauvages (1706--1776) stand zum Beispiel die Ordnung der »Deliria« in der achten Krankheitsklasse (»vesaniae«; frz. »folie«) gleichberechtigt neben den Ordnungen der »Halluzinationen«, »Bizarrerien« und dem »anomalen Wahnsinn«. Sie umfaßte durch zerebrale Fehlfunktionen verursachte »Entfremdungen des Geistes« (»alienation d'esprit«) und enthielt wiederum fünf Arten (Verrücktheit, Amentia, Melancholie, Dämonomanie, Manie) mit insgesamt 56 Unterformen. " Der Begriff >Phrenitis< bezeichnete eine Fieberkrankheit mit Verwirrtheit. n Johann Heinrich Zedler (Hg.): Grosses vollständiges Universal-Lexikon Aller Wissenschaften und Künste. Halle, Leipzig 1734, Bd. VII, Spalte 458. ' 3 Über dieses Gebiet existiert eine umfangreiche Literatur; grundlegend sind immer noch Hans-Jürgen Schings: Melancholie und Aufklärung. Melancholiker und ihre Kritiker in Erfahrungsseelenkunde und Literatur des 18. Jahrhunderts. Stuttgart 1977; Wolf Lepenies: Melancholie und Gesellschaft. Mit einer neuen Einleitung: Das Ende der Utopie und die Wiederkehr der Melancholie. Frankfurt am Main 1998 (zuerst 1969). Eifahrungen des Deliriums 79

Berichte wurden im l 8.Jahrhundert sowohl im Bezug auf das Problem des >Enthusiasmus< als auch hinsichtlich der sogenannten >Geisterseherei< und metaphysischer Fragen debattiert. Immanuel Kant (1724-1804) hatte das entscheidende Problem bereits l 766 in seiner Polemik Träume eines Geistersehers erkannt. Die Schrift richtete sich gegen Emanuel Swedenborgs (1688-1772) Spiri­ tualismus. Swedenborg war der wohl bedeutendste Visionär des l 8. Jahrhunderts und zeigte sich von der Realität der Geister, die er tagtäglich sehe und spreche, fest überzeugt. Handelte es sich also um metaphysische Wahrheiten, um Einbildung, Betrug oder Wahnsinn? Laut Kant zwinge das philosophische Kernproblem, das die Geisterseherei mit der Metaphysik verbinde, dazu »einzusehen, ob die Aufgabe aus demjenigen, was man wissen kann, auch bestimmt sei und welches Verhältnis die Frage zu den Erfahrungsbegriffen habe, darauf sich alle unsre Urteile jederzeit stützen müssen. In so ferne ist die Metaphysik eine Wissenschaft von den Grenzen der 1 menschlichen Vernunft.« 4 Die Existenz von Geistern sei also im Einklang von Erfahrung und Vernunft nicht beweisbar, aber auch nicht widerlegbar. Wie an alle metaphysischen Ideen könne man daran zwar glauben, aber nichts davon wissen. Denn objektive Erkenntnis sei, wie Kant 1781 in der Kritik der reinen Vernunft erklärte, auf Raum und Zeit beschränkt. Aber auch diese Position muß für den hier zur Debatte stehenden Zeitraum der letzten zwanzig Jahre des 18. Jahrhunderts relativiert werden, denn in den neunziger Jahren erschienen bereits Fichtes und Schellings Frühschriften. Damit ist der Rahmen zum Verständnis der im folgenden behandelten Texte skizziert.

III. Das »Nervenfieber« des Markus Herz Markus Herz (1747-1803) war Schüler von Kant und (1729--1786), gehörte zum Kreis der Berliner Aufklärung, und seine Frau Henriette unterhielt einen geschätzten Salon. Er studierte ab l 766 Philosophie und Medizin in Königsberg, wurde l 770 von Kant zum Respon­ denten für dessen Antrittsvorlesung ausgewählt und erhielt 1786 den Titel eines außerordentlichen Professors. 1792 wurde ihm aufgrund seiner jüdischen Herkunft die Aufuahme in die Königlich• Preußische Akademie der Wissenschaften verweigert. 15 Herz war der Prototyp des >philosophi­ schen Arztes<. Seine ab 1780 durchgeführten Privatvorlesungen zielten darauf, den menschlichen Organismus im Ganzen, als Einheit von Leib und Seele zu erfassen. Der 1782 in erschie­ nene Grundriß aller medicinischen Wissenschaften war der Versuch eines Gesamtüberblicks, der die Kategorien Kants mit dem Stand der physiologischen Forschung vermitteln sollte. Im gleichen Jahr erhielt Herz eine Stellung als >dirigirender Arzt< am jüdischen Krankenhaus zu Berlin. Im ersten Band des Magazins zur Eifahrungsseelenkunde von 1783 veröffentlichte Markus Herz einen Brief an seinen ärztlichen Kollegen Joel mit dem Titel Psychologische Beschreibung seiner eigenen Krankheit vom Herrn D. Markus Herz an Herrn D. ]. in Königsberg. Der Bericht über eine

4 ' : Träume eines Geistersehers erläuten durch Träume der Metaphysik. (1766.) Textkritisch herausgegeben und mit Beilagen versehen von Rudolf Malter. Stuttgart 1994, S. 76. 5 ' Vgl. dazu die quellenorientierte Rekonstruktion des Falls durch Dominique Bourel: Die verweigerte Aufnahme des Markus Herz in die Berliner Akademie der Wissenschaften. In: Bulletin des Leo Baeck Instituts 67 (1984), S. 3-13. -Zu Leben und Werk vgl. Martin L. Davies: ldentity or History? Marcus Herz and the End of the Enlightenment. Detroit 1995; ferner die Einleitung der Herausgeber in Markus Herz: Betrachtungen aus der spekulativen Weltweisheit (1770). Neu herausgegeben, eingeleitet mit Anmerkungen und Registern versehen von Elfriede Conrad, Heinrich P. Delfosse und Birgit Nehren. Hamburg 1990. - Zur Stellung innerhalb der Berliner Aufklärer vgl. Steffen Dietzsch: Kants Kritizismus und das aufgeklärte Berlin. In: Dina Emundts (Hg.): Immanuel Kant und die Berliner Aufklärung. Wiesbaden 2000, S. 41 f. 80 Burkhart Brückner

siebzehntägige delirante Episode ist in seiner Klarheit und psychologischen Zielsetzung wohl der erste seiner Art im deutschsprachigen Raum. Als Auslöser der Krankheit gab Herz Überarbeitung an; ein Buch habe kurz vor der Fertigstellung gestanden, Vorlesungen hätten vorbereitet werden müssen und zudem habe er täglich über dreißig Krankenbesuche absolviert. Seine Ärzte hätten die als »Katarrhalfieber«, »Faulfieber« oder »hitziges Nervenfieber« bezeichnete Krankheit kaum in den Griff bekommen, ja für tödlich gehalten. Am 18. November 1782 habe das Leiden mit Unruhe, Kopfschmerzen und Schlaflosigkeit begonnen und sich nach acht Tagen trotz medikamentöser Behandlung zu einem »delirio« gesteigert:'6

[.. . ]meine Seele bekam einen Stoß aus dem wirklichen Zusammenhang der Dinge. Die wahren Gegen­ stände um mich, und die Klarheit ihrer Wirkung verschwanden bis zur unsichtbarsten Entfernung. Die dunkelsten Scheine bloß, die sie zurückließen, gaben meiner taumelnden Seele den Stof, woraus sie sich eine ganz neue Verkettung der Begebenheiten, eine ganz neue, häßliche, sie quälende Welt zusammensetzte. Mein Puls hob sich, stieg bis zu l 20 Schlägen in einer Minute. Mein Gesicht ward roth; mein Auge glühend, und schrecklich heiter, eine Hitze durchschwebte meinen ganzen Körper, und in meinem Gehirn befand sich eine Erleuchtung von vielen tausend Lampen. Ich rasete.

Dieser Zustand habe nach zehn Tagen zu Lähmungserscheinungen und Inkontinenz samt deliranten Gebärden geführt, so daß ihn die Ärzte fast aufgegeben hätten. Kurzfristig habe das Befinden sich gebessert, als der unter der Belastung zusammengebrochene Schwiegervater wieder zu Kräften gekommen sei, aber in der folgenden Woche seien Erregungszustände und Depressionen hinzu­ getreten. Schließlich habe sich die Wende ergeben, als man seinem Drängen nachgab, ihn mit dem Krankenbett in seine »Lesestube« zu bringen. Dies habe ihn zutiefst befriedigt, er sei sogleich in tiefen Schlaf gefallen und am nächsten Mittag in voller Bewußtseinsklarheit erwacht. ' 7 Im Lauf der nächsten zehn Tage habe er sich erholt und dann den im Magazin zur Erfahrungsseelenkunde veröffentlichten Bericht geschrieben. Erst ein Kuraufenthalt in Pyrmont führte zur völligen Rehabilitation. Was macht dieses Selbstzeugnis zu einem Stück Wissenschaftsautobiographik und worin beste­ hen die von Herz angekündigten psychologischen Elemente? Zunächst bestand der Autor auf der wissenschaftlichen Verwertbarkeit seiner Erfahrungen, denn:»[ ... ] es war Methode in meiner Tollheit, und ich kann mir ihre Entstehung und ihren Zusammenhang sehr gut psychologisch erklären. [... ] Es ist nichts seltnes, daß die Beobachtung der Narren uns weiser macht.« 18 Herz reflektierte den Einfluß psychosozialer Faktoren auf die Themen der Phantasien und den Verlauf des Deliriums. Das organische Grundgeschehen erklärte er traditionell. Das »Abstraktionsvermögens« sei durch »übermäßig gespannte sinnliche Organe« bei zugleich geschwächten Sehnerven, den raschen Blutdurchfluß und die schnelle »Absonderung der Lebensgeister« überfordert worden. '9 Die Inhalte der Fieberphantasien seien durch äußere Faktoren bestimmt worden, insbesondere davon, daß man sein Bett anfangs aus dem Schlafzimmer herausgebracht habe. So habe er sich bei lauten Geräuschen wie auf einem »öffentlichen Platz« inmitten der Straßen gewähnt oder beim Geruch des eigenen Schweißes wie auf einem Friedhof.'° Zudem seien depressive »Einbildungen« aufgetreten, weil seine besten Freunde nicht anwesend waren; deshalb habe er sich »gehaßt und

6 ' Markus Herz: Psychologische Beschreibung seiner eignen Kranklreit vom Herrn D . Markus Herz an Herrn D. J. in Königsberg. In: Gnothi sauton - Magazin zur Erfahrungsseelenkunde (1783), Nachdruck hg. von Uwe und Petra Nettelbeck 1986, Bd. l, 2. Stück, S. 128. ' 7 Herz: Psychologische Beschreibung (wie Anm. 16), S. 140 . •• Ebd., S. l 29 . •• Ebd., s. l 30 f. '° Ebd., s. l 3 I. Eifahrungen des Deliriums

verfolgt« gefühlt. Auch habe er die Blumen auf den »Bettgardinen« im »Delirio« für Menschen gehalten und von ihnen bislang verborgene Familiengeheimnisse erfahren, denn so »tief und unauslöschlich sind der Natur die Gesetze in unserer Seele, daß sie, in dem widernatürlichsten Zustande dieser, dem flüchtigen Auge zwar unkenntlich scheinen, den forschenden bewaffneten aber in ihrer völligen Deutlichkeit sich darstellen«." Und schließlich führte er die Genesung auf seinen Wunsch zurück, man möge sein Bett in seine vertraute »Lesestube« bringen. Die »herzliche Simpathie« seiner Freunde habe die Rekonvaleszenz beschleunigt. Diese Thesen sind nicht spektakulär, aber sie fügen das aufklärerische Wissen über die Prägung des Menschen durch soziale Umstände in die Theorie des Deliriums ein. Darüber hinaus zeigt sich, daß eine Selbstbeobachtung zur Hypothesenbildung geeignet war, denn nur Herz selber konnte angeben, was ihn im Laufe der Krankheit im Innersten bewegte. Insofern handelt es sich um einen Beitrag zur >Kenntnis des Menschen< auch auf dem marginalen Gebiet der deliranten Erfahrungswelt. Herz ging es darum, das »Geschäft der Seele« zu erkunden und teilte dieses Interesse mit zahlreichen Kollegen, die im Kreis der Natur- und Bewußtseinsphilosophie, des Sensualismus, des Vitalismus und der Nervenphysiologie, der Vermögenspsychologie und der Erfahrungsseelenkunde nach den Gesetzen des >Seelenorgans< und dessen psychophysischer Vermittlungstätigkeit suchten. Dieses Interesse ermöglichte anthropologische Ansätze, wie sie in Deutschland z.B. von Ernst Platner (1744-1818) und von Kant vertreten wurden," und mün• dete unter anderem in die Entwicklung des psychiatrischen Paradigmas, das sein Begründer in Deutschland, Johann Christoph Reil (1759--1830), ausdrücklich in der Auseinandersetzung mit weiteren Thesen von Markus Herz schuf. ' 3 Kann man Ähnliches auch von Friedrich Nicolai behaupten?

N. Friedrich Nicolais »Phantasmen«

Christoph Friedrich Nicolai ( 1733-1811) gilt als »Erzaufklärer« und Repräsentant der friederizia­ nischen Epoche im Verbund der Berliner Aufklärung. ' 4 Seinen Ruf erwarb er sich als Schriftsteller, Kritiker, Verleger, Historiker und Popularphilosoph. Der als äußerst nüchtern und pragmatisch bekannte Mann sah am 24. Februar 1791 aus dem Nichts die Gestalt eines Verstorbenen erscheinen. Fast zwei Monate lang nahm er ganze Scharen von geisterhaften Gestalten wahr. Fast auf den Tag genau acht Jahre später, am 28. Februar 1799, rollte er die Begebenheit in einem Vortrag an der Königlichen Akademie der Wissenschaften zu Berlin wieder auf. Im Mai 1799 erschien das Referat im ersten Band der Neuen Berlinischen Monatsschrift, und im Juni des folgenden Jahrs folgte ein Nachtrag in derselben Zeitschrift unter dem Titel Noch einige Anmerkungen über die Erscheinung

„ Ebd., s. I 34· " Ernst Platner: Anthropologie für Aerzte und Weltweise. Leipzig 1772 ; Immanuel Kant: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht ( 1798). Herausgegeben und eingeleitet von W Becker. Stuttgart 1998. 23 Vgl. dazu LeAnn Hansen: Metaphors of Mind and Society. T he Origins of Gennan Psychiatry in the Revolutionary Era. In: Isis 89 (1998), S. 387-409. 24 Peter Jörg Becker: Friedrich Nicolai. Leben und Werk. Ausstellung zum 250. Geburtstag. Berlin 1983, S. 11. - Vgl. auch Horst Möller: Aufklärung in Preußen. Der Verleger, Publizist und Geschichtsschreiber Friedrich Nicolai. Berlin 1974; Bernhard Fabian (Hg.): Friedrich Nicolai 1733-1811. Essays zum 250. Geburtstag. Berlin 1983. - Zur publizistischen Tätigkeit Nicolais vgl. Annette Antoine: Literarische Unter­ nehmungen der Spätaufklärung. Der Verleger Friedrich Nicolai, die Straußfedern und ihre Autoren. 2 Bde. Würzburg 2001. - Zur Berliner Aufklärung vgl. Klaus Hermsdorf: Literarisches Leben in Berlin. Aufklärer und Romantiker. Berlin 1987. 82 Burkhart Brückner

von Phantasmen. ' 5 Diese Veröffentlichungen sind nicht nur zeitgeschichtlich und medizinhistorisch bedeutsam, sondern brachten ihrem Verfasser auch erheblichen Ärger ein. Was hat ihn in diese Situation geführt?

Christoph Friedrich Nicolai wurde am 18. März 173 3 als Sohn eines Berliner Buchhändlers geboren. Die Mutter starb früh. 1749 begann er eine Buchhandelslehre und bildete sich als Autodidakt fort. Nach dem Tod des Vaters und des älteren Bruders übernahm er 1758 die väterliche Buchhandlung, fing an zu publizieren, freundete sich mit Lessing und Mendelssohn an und gründete 1757 die Al/gemeine Deutsche Bibliothek, das führende Rezensionsorgan der nächsten Jahrzehnte mit insgesamt 80.000 Rezensionen. Ab 1795 gab er unter anderem die Reihe Briefe, die neueste Literatur betreffend heraus. 1760 heiratete Nicolai die Arzttochter Elisabeth Makaria Schaarschmidt. Das Paar erzog acht Kinder. Die folgenden Jahre waren von lebhafter unternehmerischer und publizistischer Tätigkeit erfüllt. Zwischen 1773 und 1775 erschien der erfolgreiche, sowohl gegen orthodoxe Frömmelei wie gegen schwärmerische Empfindsamkeit gerichtete Briefroman Das Leben und die Meinungen des Herrn Sebaldus Notbanker. Die 1775 herausgekommenen Freuden des jungen Werthers verärgerten Goethe nachhaltig. 1781 reiste Nicolai zusammen mit seinem ältesten Sohn durch Deutschland, die Schweiz und Österreich. Seine mit Daten, Statistiken und Wörterbüchern angereicherten Eindrücke publizierte er zwischen 1783 und 1796 in zwölf Bänden. Er galt in den siebziger und achtziger Jahren als tonangebend in der Gesellschaft, besaß die mit 16.000 Bänden größte Privatbibliothek Berlins und diskutierte mit den führenden Aufklärern in der elitären und geheimen >Mittwochsgesellschaft<. Mit seiner Machtposition im Literaturbetrieb, seinem materialistischen Eklektizismus und einer verbissenen Skepsis gegenüber dem Sturm und Drang, der Weimarer Klassik, der Romantik und der Transzendentalphilosophie schuf er sich etliche Feinde und galt diesen als Reaktionär. Zudem trafen ihn in den neunziger Jahren mehrere Schicksalsschläge: 1790 nahm sich sein ältester Sohn Samuel das Leben, r 793 starb seine Frau an einem Schlaganfall, 1799 starb auch sein zweiter, nicht sonderlich wohlgelittener Sohn Karl August und kurz darauf verunglückte sein jüngster Sohn David tödlich. Sein Augenlicht nahm ab und er verstarb 1811 an den Folgen eines Schlaganfalls. Der 66jährige Nicolai präsentierte sich in seinem Aufsatz Beispiel einer Erscheinung mehrerer Phantasmen aus demJahr 1799 als Skeptiker. Alle bisherigen Versuche, das »Wesen des Menschen« in Körper, Geist und Seele einzuteilen und diese isoliert zu betrachten, seien spekulativ und hätten zu Scheinfragen geführt, etwa über die Unsterblichkeit der Seele oder die körperlose Existenz des Geistes und schließlich auch zur Frage, ob die Geister von Verstorbenen sinnlich wahrgenommen werden könnten. Durch den Prominentenarzt Christoph Wilhelm Hufeland (1762-1836) sei bekannt geworden, daß er selbst eine ähnliche Erfahrung gemacht habe. ' 6 Aber dessen Darstellung

' 5 Beide Schriften wurden später von Nicolai mit wenigen Zusätzen in einem Text für seine Philosophischen Abhandlungen (1808) zusammengefaßt. Vgl. Friedrich Nicolai: Beispiel einer Erscheinung mehrerer Phan­ tasmen. In: Friedrich Nicolai: Gesammelte Werke. Herausgegeben von Bernhard Fabian und Marie-Luise Spiekermann. Bd. l r. Hildesheim, Zürich, New York, S. 53-96. Soweit ich sehe, gibt es gegenwärtig zu Nicolais Erfahrungsbericht nur Randbemerkungen, z.B. in Kaufmann, Aufklärung (wie Anm. 7), S. 100 f.; oder Möller, Aufklärung in Preußen (wie Anm. 24), S. 35. 6 ' Hufeland war zunächst behandelnder Arzt von Goethe, Schiller, Wieland und Herder, wurde r797 mit seinem Votum für die Makrobiotik bekannt, ging 18or nach Berlin und stieg zum Leibarzt der königli• chen Familie, leitenden Arzt an der Charite und Dekan der medizinischen Fakultät auf. Die von Nicolai angesprochene kurze Nachricht enthält keine Namensnennungen, aber beschreibt den Hergang anders. So seien die »Visionen« bereits nach zwei Tagen vergangen. Vgl. Cristoph Wilhelm Hufeland: Sonderbare Geisterscheinung. In: Journal der practischen Arzneykunde und Wundarzneykunst (1798), Bd. VI, 4. Stück, S. 9°5-907· Erfahrungen des Deliriums sei falsch und er wolle nun die Genese und assoziativen Gesetze der Phänomene wissenschaftlich erschließen. Es habe sich bloß um die »Folge angespannter oder widernatürlich gereizter Nerven und einer unrichtigen Zirk:ulazion des Bluts« gehandelt. 27 Unter Berufung auf »ruhige« Selbstbe­ obachtung und Protokolle, ein »gutes und sicheres Gedächtnis« und das Zeugnis seines Hausarztes Christian Gottlieb Selle28 dürfe er auch vor gelehrtem Publikum von sich selbst reden. In den letzten zehn Monaten des Jahres 1790 habe er heftige Erschütterungen und »bittren Kummer« verarbeiten müssen. 29 Das wohl entscheidende Ereignis, nämlich den Suizid seines ältesten Sohnes Samuel, benannte Nicolai allerdings nicht. Er sei mit »sehr anstrengenden Arbeiten beschäftigt« gewesen, habe länger als üblich auf die sonst zwei bis dreimal pro Jahr erfolgten Aderlässe und Blutegelkuren verzichten müssen und in den ersten Monaten des Jahres 1791 schwerste Kränkungen erlebt:30

Mit denselben war am 24. Februar ein äußerst heftiger Verdruß verknüpft. Vormittags um IO Uhr befand sich meine Frau bei mir um mich zu trösten, und noch eine Person. Ich war in allzu heftiger Gemüthsbewegung über eine Reihe von Vorfällen, die mein ganzes moralisches Gefühl empört hatten, und woraus ich keinen vernünftigen Ausgang sah. Plötzlich stand, ungefähr zehn Schritte entfernt, eine Gestalt vor mir, die Gestalt eines Verstorbenen. Ich wies darauf, fragte meine Frau, ob sie die Gestalt nicht sähe. Sie sah natürlich nichts, nahm mich äußerst erschrocken in ihre Arme, suchte mich zu besänftigen, und schickte nach dem Arzte.

Die Figur sei nach einer Viertelstunde verschwunden.3' Nachmittags sei sie wieder aufgetaucht und am frühen Abend hätten sich weitere Gestalten gezeigt. Da Medikamente in den folgenden Tagen nicht halfen, habe Nicolai sich entschlossen, die »Phantasmen« genau zu beobachten, jedoch ohne einen vernünftigen Zusammenhang zwischen den Erscheinungen, seiner »Assoziation der Vorstellungen« und seiner »Einbildungskraft« erkennen zu können. Es sei ihm auch nicht gelungen, sie willkürlich hervorzurufen. Unter den »Personen«, die ihn in den nächsten Wochen umgaukelt hätten, seien Bekannte und Unbekannte gewesen, Lebende und Verstorbene, sie seien bei Tage und bei Nacht erschienen, bei offenen und geschlossenen Augen, wenn er allein oder in Gesellschaft gewesen sei, am häufigsten in seinem Haus, seltener in anderen Wohnungen und kaum auf offener Straße. Stets habe er die »Phantasmen« von wirklichen Personen unterscheiden können, da die Visionen sich fast ohne sinnliche Begleiterscheinungen, etwa Geräusche oder Gerüche, bemerkbar gemacht hätten. Meist seien sie in Lebensgröße umhergewandelt, ohne viel miteinander zu tun zu haben und in erheblicher Anzahl, manchmal zu Pferde oder mit Hunden und Vögeln. Aber es sei ihm so vorgekommen, als ob ihre Farben »etwas blässer als in der Natur« seien. Je länger das Schauspiel angedauert habe, so zahlreicher und häufiger seien sie aufgetreten. Nach vier Wochen hätten einige begonnen, sich zu unterhalten und andere ihn angesprochen:l'

27 Friedrich Nicolai: Beispiel einer Erscheinung mehrerer Phantasmen; nebst einigen erläuternden Anmer­ kungen. Vorgelesen in der K. Akademie der Wissenschaften zu Berlin, d. 28. Hornung 1799. In: Neue Berlinische Monatsschrift, Bd. 1 (1799), S. 32 1-3 59; dort S. 3 2 7. 28 Christian Gottlieb Seile (1748-1800) war seit 1786 ordentliches Mitglied an der Akademie der Wissen- schaften zu Berlin und leitender Arzt an der Berliner Charite. 9 ' Nicolai: Beispiel einer Erscheinung (wie Anm. 27), S. 330. 30 Ebd., S. 331 f. l' Weitere Informationen gab Nicolais Neffe Gustav Friedrich Parthey (1798-1872), der 1825 die Ver­ lagsbuchhandlung erbte. Am Tag der ersten »Erscheinung« sei Nicolai über seinen Sohn Karl erbost gewesen und bei dem ersten Phantom habe es sich um Nicolais verstorbenen Sohn Samuel gehandelt. Vgl. Gustav Friedrich Parthey: Jugenderinnerungen. Berlin 1871, S. 41-43. 32 Nicolai: Beispiel einer Erscheinung (wie Anm. 27), S. 338. Burkhart Brückner

Diese Reden waren meist kurz, und hatten nie etwas Unangenehmes; mehrmal erschienen mir verständige und von mir verehrte Freunde und Freundinnen, deren Reden mich über Gegenstände meines Kummers, der natürlich noch nicht ganz verschwunden sein konnte, trösteten.

Da der Zustand andauerte und Medikamente nicht anschlugen, wurden Nicolai am 20. April wohl auf seinen Wunsch hin um elf Uhr vormittags Blutegel an den Mastdarm gesetzt. Zunächst habe das Zimmer noch vor Gestalten »gewimmelt«. Doch am späten Nachmittag hätten sie sich bereits langsamer bewegt und seien allmählich blasser geworden. Am frühen Abend seien sie »ganz weiß«, starr und schemenhaft gewesen und schließlich »zerflossen sie gleichsam in der Luft«. Nie habe Nicolai wieder Ähnliches gesehen, bestenfalls zwei oder dreimal Anflüge davon. Nach dieser Beschreibung der »krankhaften Erscheinungen« sortierte Nicolai die Möglich• keitsbedingungen. Solche Erscheinungen könnten im Traum, im Wahnsinn, in »hitzigen Fiebern«, durch bloße »Einbildungskraft« oder einen »irre geführten Verstand« auftreten. Letzteres führe zu selbstbezüglichen Zirkelschlüssen, wenn »jemand einen fremdscheinenden Vorfall erzählen will, nimmt er ab und setzt hinzu; ja man bildet sich wohl ein sich etwas eingebildet zu haben, das man doch in dem Augenblicke des Erzählens erst erfindet.»33 Die Irrtümer blieben also durch Vorurteile und Eigensinn unerkannt. Nicolai zählt mehrere Beispiele auf - und an erster Stelle rangiert Swedenborg. Dieser könne Phantasmen erlebt und dann im Sinne seiner »mystischen Theologie« systematisch perpetuiert haben. Die gleiche Wirkung habe eine »verwirrte spinozistische Ontologie im Kopf« eines ihm bekannten »Geistersehers« erzielt und ein anderes Beispiel kenne er von Moses Mendelssohn.34 Was ihn selbst beträfe, besäße er ein höchst lebhafte Einbildungskraft. Ihre bilderreichen Kräfte zeigten sich bei kreativer Arbeit oder im Halbschlaf und einmal auch im Fieber. Die Kombination der natürlichen Einbildungskraft mit einer widernatürlicher Bewegung des Blutes mache auch die Erscheinung seiner »Phantasmen« begreiflicher. Er resümierte:

Hätte ich die Phantasmen von den Phänomenen gar nicht unterscheiden können, so wäre ich wahnsinnig geworden. Wäre ich schwärmerisch und abergläubisch, so würde ich mich vor meinen eigenen Phantasmen entsetzt, und vermuthlich ernsthaft krank geworden sein; liebte ich das Wunderbare, hätte ich gesucht de me fairevaloir (mich wichtig zu machen, B.B.], so hätte ich sagen können: Ich habe Geister gesehen! Und wer hätte es mir abstreiten dürfen? Im Jahre 1791 wäre vielleicht die Zeit gewesen, solche Erscheinungen geltend zu machen. Hier zeigte sich aber der Nutzen einer gesunden Philosophie und einer ruhigen Beobachtung. Beide hinderten, daß ich weder wahnsinnig noch ein Schwärmer ward. Bei so sehr gereizten Nerven und bei so flüchtigem Blute, wäre sonst beides sehr leicht geschehen. Aber ich sehe die mir vorschwebenden Blendwerke für das an, was sie waren, für Krankheit; und nützte sie zur Beobachtung: weil ich Beobachtung, und Reflexion darüber, für den Grund aller vernünftigen Philosophie halte. 35

Daran anknüpfend griffNicolai die »neuere deutsche Philosophie an«, namentlichJohann Gottlieb Fichte (1762-1814), dem er Solipsismus vorwarf. Denn: »Die bloße Vorstellung im Gemüthe, ohne äußere Erfahrung, würde uns aber wohl nie überzeugen können, ob wir Phänomene oder Phantasmen vor uns hätten.»36 Dieses Argument wird auf die Frage der Wahrheitskriterien und der Erkennbarkeit des »Dings an sich« zuspitzt. Der eigene Einzelfall könne zum empirischen Prüfstein von spekulativen Hypothesen werden. Fichte hielte aber die Realität der sinnlichen Erfahrung

33 Ebd., S. 342. 34 Ebd., S. 34 7. Vgl. den Selbstbericht von Moses Mendelssohn: Psychologische Betrachtungen aufVeran­ lassung einer von dem Herrn Oberkonsistorialrath Spalding an sich selbst gemachten Erfahrung. In: Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. 1. Bd. (1783), dort S. 227-228. Sowie Eckart Kleßmann: Die Mendelssohns. Bilder aus einer Familie. Frankfurt/Main, Leipzig 1993, S. 41. 35 Nicolai: Beispiel einer Erscheinung (wie Anm. 27), S. 353. 36 Ebd., S. 354· Eifahrungen des Deliriums 85 für einen bloßen Schein, den das »kh« als evidenten »Wiederschein<< des Göttlichen für sich selbst erzeuge. Nicolai verurteilte dies als »Heilsordnung« einer »übersinnlichen Philosophie«, da Fichte zwar die empirische Realität als eine evidente Folge der metaphysischen Bezüge des Ichs ansehe, aber nicht erklären könne, wie sie daraus folge. Kant habe dieses Problem besser behandelt. 37 Nicolais Gedanke endet jedoch in Polemik:

Ich behaupte nehmlich: diejenigen Geschöpfe meines lch's, welche zwar auch in meiner Vorstellung enthalten sind, so wie die Vorstellung des Hm Prof. Fichte wenn er vor mir steht, die ich aber mit sechs Blutigeln an der meinem Kopfe entgegengesetzten Seite angelegt vertilgen kann; haben nicht die Realität des empirischen lch's dieses izt wegen seiner Träumereien verfolgten Philosophen. Ich schließe dies daraus, weil ich an Hrn Fichte mir auch etwas denken muß, was nicht allein in meiner Vorstellung liegt; und finde den Schluß bündiger, als wenn ich nur von einer Heilsordnung in meinem Inneren auf die Existenz der Phänomene außer mir schließen wollte: welche ich sodann von Phantasmen, deren Realität sechs Blutigel aussaugen können, gar nicht würde zu unterscheiden wissen. 38

Mit diesen Worten schloß Nicolai seinen Bericht. Er verstand das Geschehen als eine vorüber• gehende Krankheit, deren Phänomene mithilfe empirischer Beobachtung und philosophischer Grundsätze sicher erfaßt werden könnten. Vergleichen wir nun seine Argumente mit den von Markus Herz sechzehn Jahre zuvor dargelegten Thesen.

V. Subjektive Forschungsreflexionen Die dargestellten Texte dokumentieren nicht nur persönliche Schicksale, sondern auch aufklä• rerisches Erfahrungswissen. Beide Verfasser erlaubten dem Publikum einen tiefen Blick in ihr Privatleben. Dies zeugt von einem erheblichen Vertrauen in die Kommunikationsgemeinschaft der bürgerlichen Öffentlichkeit. Die Texte können als Selbstverständigungs- und Problemlösungs• versuche angesehen werden, mit denen die Autoren versuchten, ihre Erfahrung kommunikabel zu halten und sie zu bewältigen, um die Beziehung zur Öffentlichkeit in der Verunsicherung nach den KrankheitSerfahrungen durch literarisches Handeln (wieder-)herzustellen. Während die Veröf• fentlichungvon Herz folgenlos blieb, handelte Nicolai sich unangenehme Probleme ein. Zunächst erhielt er zahlreiche Zuschriften und mehrere Zeitungen druckten irritierende Meldungen über die Begebenheit.39 Nicolais Gegner reagierten mit Spott; die bekannteste Verhöhnung ist wohl Goethes Figur des »Proktophantasmisten« in der Walpurgisnachtszene im ersten Teil des Faust. 40 Kann die Feindschaft mit Schiller und Goethe noch auf substantielle Kontroversen über literarische 4 Konzepte zurückgeführt werden, ' so spielten in die philosophischen Meinungsverschiedenheiten auch persönliche Ressentiments hinein.

37 Ebd., S. 359. Nicolai bezieht sich u.a. auf Kants Vorrede zur zweiten Auflage der »Kritik der reinen Vernunft« (B XLI). i• Ebd., S. 359 f. 39 Nicolai: Erscheinung von Phantasmen 1808 (wie Anm. 2 7), S. 91. 40 Der Ausdruck »Proktophantasmist« ist ein Neologismus Goethes (von gr. proktos =>Hintern<). Die Figur taucht in der Walpurgisnacht auf (Faust, 1. Teil, Vers 4134-4175), schimpft über die tanzenden Gestalten, da man doch »aufgeklärt« sei und er jeden »Wahn« ausgekehrt habe, woraufhin Mephisto prophezeit, er sei kuriert, wenn »Blutegel sich an seinem Steß ergetzen«. Vgl. Johann Wolfgang Goethe: Faust. In: Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke Briefe, Tagebücher und Gespräche. Bd. 7, I. Hg. von Wolfgang Schöne. Frankfurt am Main 1994, S. 177-178. 4 ' Vgl. dazu Klaus L. Berghahn: Maßlose Kritik. Friedrich Nicolai als Kritiker und Opfer der Weimarer Klassiker. In: Kontroversen - alte und neue. Akten des VII. internationalen Germanisten-Kongresses in Göttingen. Bd. II. Hg. von A. Schöne. Tübingen 1986, S. 198-200. 86 Burkhart Brückner r. Popularphilosophische Ansichten. - Der philosophische Anspruch im ansonsten sehr persönlich gehaltenen Brief von Markus Herz offenbarte sich in seinem Erstaunen über die Ordnung der deliranten Phänomene: »In der ausschweifendsten Raserei der Fieberhitze, in dem höchsten Grad der Trunkenheit, giebt es so wenig bei den Seelenwirkungen etwas regelloses als in der N eutonschen Seele, da sie sich mit dem Bewegungssystem der Himmelskörper beschäftiget!«4' Der Rekurs auf Isaac Newton, dessen Porträt in der »Lesestube« hing, in die Herz schlußendlich gebettet werden wollte, zeugt zum einen von einer säkularisierten, auf das mechanistische Paradigma bezogenen Seelenlehre. Gleichzeitig verdeutlicht sich· damit das selbstkritische Bewußtsein als eine Folge des cartesianischen Dualismus, der es den Menschen erlaubte, die bekannten Naturgesetze auch auf sich selbst anzuwenden. Obgleich Herz als derjenige gilt, der die Philosophie Kants in Berlin bekannt machte, kam er im Gegensatz zu Nicolai nicht weiter auf philosophische Probleme zu sprechen. Nicolais Respektlosigkeit gegenüber den zeitgenössischen Autoritäten war bekannt; allerdings ebenso, daß er in philosophischer Hinsicht über nur unzureichende Mittel verfügte. Nicoali zitierte Passagen aus Fichtes Appellation an das Publikum von l 799, doch diese zielten weniger auf die empirische Vorstellungswelt, sondern auf eine transzendentale Begründung der sittlichen Pflichten des Menschen.43 In der Tat setzte Fichte eine apriorische »Heilsordnung« voraus und schrieb: »Das Uebersinnliche, dessen Wiederschein in uns unsere Sinnenwelt ist, - dieses ist es, welches uns hält und zwingt, auch seinem Widerscheine Realität beyzumessen«, aber Nicolai unterschlug die Fortsetzung des Satzes: »dies ist das wahre >An sich< das aller Erscheinung zum Grunde liegt; und nicht auf die Erscheinung, sondern nur auf ihren übersinnlichen Grund geht unser Glaube.»44 Die empirische Erscheinungswelt war für Fichte durchaus dem rationalen Zweifel ausgesetzt, nicht jedoch die höhere, gottgegebene Moralität des menschlichen Handelns. Das transzendentalphilosophische Anliegen blieb Nicolai zeitlebens fremd. So blieb er in einer intuitiven Kritik des Stils, der Spekulativität, der Praxisferne und des moralischen Rigorismus der idealistischen Philosophie verhaftet. Nachdem Nicolai Fichtes Vorlesungen in Berlin verhinderte und mit Verbalinjurien nicht sparte, verlor Fichte mit der im Jahre 1801 erschienen Polemik Friedrich Nicolais's Leben und sonderbare Meinungen jedes Augenmaß für die Grenzen der Auseinandersetzung.45 Satirisch stellte er Nicolai als längst toten, selbstgerechten und überheblichen »Narr«, »Verrückten«, als »Stinkthier« und seichten »Stümper« hin, der sich selbst überlebt habe. Tatsächlich zog Nicolai sich erst in der ersten Dekade des 19.Jahrhunderts und damit viel zu spät aus dem literarischen Betrieb zurück. Er

4 ' Herz: Psychologische Beschreibung, wie Anm. 16, S. 1 34. 43 Fichtes Appellation war eine Verteidigungsschrift wider den Atheismusverdacht, der im Zuge eines 1798 durchgeführten Zensurverfahrens gegen ihn erhoben wurde. Vgl.]. G. Fichte:]. G. Fichte's d. Phil. Doctors und ordentlichen Professors in Jena Appellation an das Publikum über die durch ein Kurf. Sächs. Confiscationsrescript ihm beigemessenen atheistischen Aeußerungen. (1799). In: J. G. Fichte: Werke - Gesamtausgabe. Bd. 5/5. Hg. von Reinhard Lauth und Hans Gliwitzky. Stuttgart-Bad Cannstatt 1977, S. 376-453; Nicolai (1799, wie Anm. 27, S. 358 und S. 354) bezieht sich explizit auf dort S. 430, Zeile 3-5 sowie S. 42 7, Z. 7-9 und S. 430, Z. l-3. 44 Fichte, Appellation (wie Anm. 43), S. 430, Z. 3-7. 45 ]. G. Fichte: Friedrich Nicolais Leben und sonderbare Meinungen. Ein Beitrag zur Litterargeschichte des vergangenen und zur Pädagogik des angehenden] ahrhunderts. (1801) In:]. G. Fichte: Werke - Gesamtausgabe. Hg. von Reinhard Lauth und Hans Gliwitzky. Stuttgart-Bad Cannstatt 1988, Bd. 1/7, S. 369-463. Die Auseinandersetzung wurde durch eine Antwort Nicolais, verschiedene Zeitungsartikel sowie Schriften von Fichtes und Nicolais Parteigängern weitergetrieben. Vgl. dazu Lauths und Gliwitzkys Einführung in Fichtes Schrift von 1801 in der Fichte-Gesamtausgabe, sowie allgemeiner Walter Strauss: Friedrich Nicolai und die kritische Philosophie. Ein Beitrag zur Geschichte der Aufklärung. Stuttgart 1927. Wilhelm Schmidt­ Biggemann: Nicolai oder vom Alter der Wahrheit. In: Fabian: Friedrich Nicolai (wie Anm. 24), S. 198-247. Eifahrungen des Deliriums konnte der Wachablösung durch die jüngere Generation nicht mehr folgen und vermochte seine im Zeitalter des aufgeklärten Absolutismus noch konstruktiven Ansichten nach der französischen Revolution nicht mehr weiterzuentwickeln.

2. Medizinische Aspekte. - Bei Markus Herz taucht der Begriff des Deliriums mehrfach als diagno­ stische Kategorie auf. Der ebenfalls gebrauchte Ausdruck »Fieber« war um 1800 die häufigste Krankheitskategorie. Die Spezifizierungen »bösartiges Katarrhalfieber« und »hitziges Nerven­ fieber« sind selbsterklärend, die Bezeichnung »Faulfieber« (Febris putrida) kommt hingegen vom übelriechenden Auswurf, Atem und Schweiß, den man auf »faulende« Körpersäfte zurückführte und insbesondere bei Typhuskranken beobachtet wurde.46 An Medikamenten wurde zunächst ein Abführmittel und der kreislaufanregende »Kampher« (Camphora) verschrieben, in der deliran­ ten Phase auch »Spanische Fliegen« (ein Insektenextrakt mit dem Nervengift Cantharidin, das schmerzhafte Hautentzündungen erzeugt), sowie »Serpentaria« (Schlangenknöterich; adstringie­ rende Wirkung) und große Mengen der fiebersenkenden »Chinarinde«.47 Die Behandlungsme­ thoden bewegten sich im Rahmen des Üblichen; zweifellos sind die von Herz angeführten und bereits besprochenen psychologischen Beobachtungen historisch interessanter. Nicolai sah sich zwar als krank an, spezifizierte den Zustand aber nicht. Als Ursachen gab er »gereizte Nerven«, »flüchtiges Blut«, sowie Verdauungs- und Kreislaufprobleme an. Seine starke Einbildungskraft sei der wichtigste disponierende Faktor gewesen. Die Lösung des Problems durch die Blutegel bestärkte ihn in der subjektiven Krankheitstheorie. Die Phantasmen hielt er für nichts anderes »als die Folge angespannter oder widernatürlich gereizter Nerven und einer unrichtigen Zirkulazion des Bluts«.48 Dieses Konzept läßt sich auf gängige Metaphern und Theoreme aus der zeitgenössischen Physiologie zurückführen. Die Vorstellung, daß ein durch Leidenschaften und Umwelteinflüsse ausgeübter »Druck« auf die Nervenfasern den mentalen Zustand beeinflussen kann, gehörte zum medizinischen Allgemeingut.49 Allerdings fand Nicolai eine medizinhistorisch bemerkenswerte Fährte. In der 1800 veröffent• lichten Nachschrift zu dem Artikel von l 799 zitierte er einen Essay des Genfer Naturphilosophen Charles Bonn et ( r 720-r 793). 50 Bannet erwähnte, daß sein Großvater Karl Lüllin (gest. r 76 l) nach mit 78 Jahren erfolgten beidseitigen Augenoperationen (grauer Star) mit 89Jahren, bei erhaltener Geistesklarheit, ab und an halluzinative Episoden erlebt habe.P Ihm seien bewegte Figuren, Szenen

46 Herz: Psychologische Beschreibung (wie Anm. 16), S. 122. 47 Ebd„ S. 122 u. 137· 48 Nicolai: Beispiel einer Erscheinung (wie Anm. 27), S. 327. 49 Vgl. z. B. die Theorie der »delirösen Effekte« des einflußreichen britischen Mediziners Wilüam Battie: A Treatise on Madness (1758) by William Battie, M. D. and Remarks on Dr. Battie's Treatise on Madness by John Monro, M. D . A Psychiatrie Controversy of the Eighteenth Century. lntroduced and annotated by Richard Hunter and Ida Macalpine. London 1962, S. 4rf. 5° Friedrich Nicolai: Noch einige Anmerkungen über die Erscheinung von Phantasmen. In: Neue Berlinische Monatsschrift, Bd. 3, Juni 1800, S. 4 36--4 5 2, dort. S. 4 38-444. Nicolai bringt eine Übersetzung des relevanten Abschnitts aus Charles Bonner: Essai analytique sur les facultes de l'ame. In: Oeuvres de Charles Bonner. Neuchatei 1762, Teil 14, S. 177 f. Dieses Werk gibt einen ausgezeichneten Überblick zur zeitgenössischen Seelenlehre und Nervenphysiologie. Eine deutsche Übersetzung erschien 1770 unter dem Titel: Herrn Karl Bonnets verschiedener Akademien Mitgliedes Analytischer Versuch über die Seelenkräfte - Aus dem französischen übersetzt und mit einigen Zusätzen vermerkt von M. Christian Gottfried Schütz. Bremen und Leipzig 1770; vgl. dort den Fallbericht über Lüllin im 2. Teil, 23 . Kapitel, Nr. 676, S. 66--70. F Bonnets Bericht ist anonymisiert, die persönlichen Daten wurden der Sekundärliteratur entnommen, vgl. die Titel in Anm. 5 2 sowie die Edition des Textes von Lüllin in T. Fluomy: Le cas de Charles Bonnet. In: Archives de Psychologie de Ja Suisse Romande 1 (1901), S. 7-18. 88 Burkhart Brückner und Landschaften oder im Muster der Tapete seines Zimmers imposante Gemälde erschienen, die er als Trugwahmehmungen durchschaut habe. Es handelt sich dabei um die initiale Darstellung der im 20. Jahrhundert als >Charles Bonner SyndromCharles Bonnet Syndrom< zutreffen, zumal er im Alter nur noch auf einem und zudem stark geschwächten Auge sehen konnte.53 Insofern hat er seine »Phantasmen« zurecht nicht als eine Form des Wahnsinns begriffen. Da auch Hufeland von »Visonen« sprach und Bonnet die Erfahrungen seines Großvaters ebenfalls als »Visionen« bezeichnete, ist es gerechtfertigt, Nicolais Erfahrungen nicht zum Typus der »Delirien« zu rechnen. Fichtes Ausfälle sind als zeitsatirische Positionen zu werten. Damals wie heute nehmen solche Erfahrungen, wie Nicolai sie machte, eine schwer faßbare Grenzposition ein; sie werfen aber aus genau diesem Grund interessante Problemstellungen auf. Dennoch ist Nicolais luzider Erfahrungsbericht heute zumindest im medizinhistorischen Kontext fast vergessen.54

VII. Subjektive Grenzerfahrungen und öffentliche Kritik Sowohl Markus Herz als auch Friedrich Nicolai nutzten Krisenerfahrungen vom Standpunkt von Erfahrungswissenschaftlern in eigener Sache als Erkenntnismittel und als Material für For­ schungshypothesen. Wie die Konjunktur der >Erfahrungsseelenkunde< um 1800 zeigt, lagen sie damit durchaus im Trend der Zeit. Ihre Schriften sind Beispiele einer punktuellen Wissenschafts­ autobiographik, die verdeutlichen, wie große geschichtliche Linien »unten« ankommen und im

P Das >Charles Bonnet Syndrom< gilt nicht als Ausdruck einer psychischen Störung, die auftretenden >positiven visuellen Phänomene