Burkhart Brückner (2004): Erfahrungen Des Deliriums. Autobiographische Reflexionen in Der Popularphilosophie Und Medizin Der De

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Burkhart Brückner (2004): Erfahrungen Des Deliriums. Autobiographische Reflexionen in Der Popularphilosophie Und Medizin Der De Burkhart Brückner (2004): Erfahrungen des Deliriums. Autobiographische Reflexionen in der Popularphilosophie und Medizin der deutschen Spätaufklärung am Beispiel von Friedrich Nicolai und Markus Herz. In: Cardanus – Jahrbuch für Wissenschaftsgeschichte 4, pp. 75-90. Burkhart Brückner (2004): Erfahrungen des Deliriums. Autobiographische Reflexionen in der Popularphilosophie und Medizin der deutschen Spätaufklärung am Beispiel von Friedrich Nicolai und Markus Herz. In: Cardanus – Jahrbuch für Wissenschaftsgeschichte 4, pp. 75-89. Burkhart Brückner Selbstzeugnisse sind in den letzten Jahren zunehmend zum Gegenstand von medizinhistorischen Untersuchungen geworden.4 Sie werden auch als Quellen der Patientengeschichtsschreibung genutzt.5 Zum einen bieten sie die Gelegenheit, einzelne Krankheitserfahrungen und Heilmetho­ den aus der Perspektive eines »Patienten« fallorientiert zu untersuchen. Zum anderen können mehrere Texte verglichen werden, um individuelle und soziale Unterschiede in der Krankheits­ und Heilerfahrung festzustellen oder historische Entwicklungen zu verfolgen. Die Kontroverse über das Verhältnis von Sozial- und Alltagsgeschichte oder von Makro- und Mikrohistorie hat für die Psychiatriegeschichte vor allem in England zu einem tragfähigen Konzept der Patienten­ geschichtsschreibung geführt. Roy Porter untersuchte demgemäß r 987 » What mad people meant to say, what was on their minds. [ ... ] lt is curious how little this had been done; we have been preoccupied with explaining away what they said.«6 Porters deskriptive Methode ist grundlegend, sie umgeht vorschnelle retrospektive Diagnosen und pathographische Absichten. Dennoch ist sein Ansatz im deutschsprachigen Raum kaum aufgegriffen worden. 7 Dabei bieten Selbstzeugnisse zahlreiche Ansatzpunkte: etwa für biographische Fragestellungen (individuelle Krankheitsverar­ beitung, autobiographische Selbstrepräsentation), für inhaltliche Überlegungen (Paläodiagnostik, psychosoziale Ätiologie, subjektive Krankheitstheorie, Sinnzusammenhang der Störung), für literaturwissenschaftliche Problemstellungen (Textsorten, Sprachverhalten, Funktion und Bedin­ gungen des Schreibens) und für kontextorientierte Ansätze (Wirkungsgeschichte, Verhältnis zu zeitgenössischen Krankheitstheorien, intertextuelle Merkmale). Um die Interessen der Autoren transparent zu machen, sind die subjektiven Einflüsse auf Inhalt und Form der Texte im Zuge der Quellenkritik nicht zu eliminieren, sondern zu reflektieren. Dies geschieht mittels einer Kontextualisierung des Materials, welche die Sichtweise des Autors, die Sichtweise seiner Zeitge­ nossen und die fachliche Sichtweise der Forschenden im Sinne qualitativer Forschungsmethoden trianguliert. Um zu erfassen, wovon die Rede ist, sind retrospektive Diagnosen mit heutigen Klassifikationsbegriffen ungeeignet; angemessener ist der Bezug auf die jeweilige zeitgenössische Terminologie. 4 Vera Jung und Otto Ulbricht: Krankheitserfahrungen im Spiegel von Selbstzeugnissen von l 500 bis heute. In: Historische Anthropologie 9 (2001), Heft l, S. 137-148. Jens Lachmund und Gunnar Stollberg: Patientenwelten. Krankheit und Medizin vom späten 18. bis zum frühen 20. Jahrhundert im Spiegel von Autobiographien. Opladen 1995· 5 Vgl. Eberhard Wolff: Perspektiven der Patientengeschichtsschreibung. In: Medizingeschichte: Aufgaben, Probleme, Perspektiven. Hg. von Norbert Paul und Thomas Schlich. Frankfurt am Main, New York 1998, S. 3 l 3. Ich verwende den Terminus >Selbstzeugnis< für Texte, in denen die Autoren explizit als handelnde Subjekte in Erscheinung treten, entsprechend der Definition von Benigna v. Krusenstjem: Was sind Selbstzeugnisse? Begriffskritische und quellenkundliche Überlegungen anhand von Beispielen aus dem 17. Jahrhundert. In: Historische Anthropologie 2 (1994), Heft 3, S. 462-47i. 6 Roy Porter: A social history of madness. The world through the eyes of the insane. London 1987, S. I. Seit Ende des 17.Jahrhunderts wurden in England Autobiographien, Protestschriften und Fachpublikationen veröffentlicht, in denen selbsterlebte Wahnsinnsepisoden zum Thema wurden. Vgl. auch Allen lngram: The Madhouse ofLanguage. Writing and reading madness in the eighteenth century. London, New York 1991; Dale Peterson: A Mad People's History of Madness. Pittsburg, London 1982. 7 Eine Perspektive, die Selbstzeugnisse berücksichtigt, bietet Doris Kauftnann: Aufklärung, bürgerliche Selbsterfahrung und die >Erfindung< der Psychiatrie in Deutschland, 1770-1850. Göttingen 1995· Am konsequentesten sind zur Zeit die Autoren des Sammelbands von Torsten Hahn, Jutta Person und Nicolas Pethes (Hgg.): Grenzgänge zwischen Wahn und Wissen. Zur Koevolution von Experiment und Paranoia 1850-1910. Frankfurt am Main 2002. Erfahrungen des Deliriums 77 Die folgende Darstellung setzt einen anderen Akzent, als es die reine >Patientenperspektive< könnte. Die beiden Autoren der Texte zeigten sich als Patienten und ebenso als Experten, sie traten als Subjekte einer Krankheitserfahrung und zugleich als Subjekte der Analyse dieser Erfah­ rung auf. Markus Herz erlebte 1782 ein mehrwöchiges akutes »Nervenfieber« und hat seine Krankheitsgeschichte 1783 im Magazin zur Erfahrungsseelenkunde veröffentlicht. Und Friedrich Nicolai erlebte 1791 zwei Monate lang Halluzinationen, die er 1799 in dem Artikel Beispiel einer Erscheinung mehrerer Phantasmen in der Neuen Berlinischen Monatsschrift beschrieb. In welchem gesellschaftlichen Kontext agierten die Autoren? II. Bürgerliche Öffentlichkeit, Medizin und Geisterseher In den städtischen Bildungszentren, z.B. in Frankfurt, Leipzig, Hamburg, Breslau und Königsberg, entstanden im Lauf des 18.Jahrhunderts zahlreiche literarische und wissenschaftliche Zirkel, Klubs und Vereine, aber eine bürgerliche Öffentlichkeit, die sich der eigenen politischen Stärke und literarischen Stimme bewußt war, etablierte sich in den deutschen Territorialstaaten bekanntlich erst nach 1775· Die Publikationsorgane, die Nicolai und Herz nutzten, waren Teil des Prozesses, mit dem das Bürgerrum sich selbst zum Thema erhob. Die Neue Berlinische Monatsschrift war das Sprachrohr der Berliner Spätaufklärung und wurde in Nicolais eigenem Verlag produziert. Sie setzte ab l 799 die kurzlebigen Berlinischen Blätter und die Berlinische Monatsschrift fort, in der Kant l 784 seinen Aufsatz Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? publiziert hatte. Das Periodikum sollte die »Kenntnis des Menschen« fördern und enthielt auch Regierungsmitteilungen. Es handelte sich um ein in liberalen, bürgerlich-adeligen Kreisen produziertes und gelesenes Unterhalrungsblatt, das für eine reformbereite, politisch gemäßigte preußische Aufklärung eintrat. Hingegen stand das zwischen l 783 und l 793 erscheinende Gnothi Sauthon - oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde, in dem Markus Herz veröffentlichte, dem frühromantischen Flügel der deutschen Spätaufklärung nahe. Mit dem delphischen Aufruf »Erkenne dich selbst!« war die Erforschung der »Seelenkrankheiten« für den Herausgeber Karl Philipp Moritz ( l 756-1 793) ein Mittel, um allgemeingültige, »empirische Begriffe aus Erfahrungen« zu bilden.8 So erschienen in diesem Magazin zahlreiche Berichte über okkulte Erlebnisse, Träume, Verbrechen, Suizidenten und Kindheitserinnerungen sowie theoretische Artikel über Psychologie, Theologie und Philo­ sophie. Darin äußerte sich das Bedürfnis nach Selbstreflexion einer ganzen Generation, welche die allmähliche Auflösung der ständischen Gesellschaft erlebte, zugleich in der neuen bürgerlichen Ordnung noch nicht angekommen war und sich ihrer kollektiven Identität vergewisserte. Sofern die Menschenkenntnis befördert werden sollte, fügten sich also die von Herz und Nicolai gegebenen Berichte über delirante und halluzinative Erfahrungen in das Programm der Publikationsorgane ein. Auch der weit verbreitete literarische Topos des >lrrenhausbesuches< versinnbildlichte dem Publikum die Folgen eines individuellen Abfalls von der Vernunft.9 Die Institutionen standen gegen Entgelt offen und beherbergten in der Regel Personen, die als gefährlich galten oder deren Familien zu arm waren, um sie privat zu pflegen. Erst Anfang des l 9. Jahrhunderts wurden psychiatrische Reformanstalten gegründet. 8 Karl Philipp Moritz: Grundlinien zu einem ohngefähren Entwurf in Rücksicht auf die Seelenkrankheiten. In: Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde als ein Lesebuch für Gelehrte und Ungelehrte. (1783), Bd. 1, 1. St., S. 33 . Vgl. dazu Sybille Kershner: Karl Philipp Moritz und die »Erfahrungsseelenkunde«. Literatur und Psychologie im 18. Jahrhunden. Herne 1991. 9 Einen Überblick geben Anke Bennholdt-Thomsen und Alfredo Guzzoni: Der Irrenhausbesuch. Ein Topos in der Literatur um 1800. In: Aurora 42 (1982), S. 82-1 IO. 7~ Burkhart Brüclmer Psychische Störungen wurden in der Aufklärungsepoche großenteils noch im Sinne der hippo­ kratischen und galenischen Medizin humoralpathologisch erklärt, also als ein Ungleichgewicht der vier Körpersäfte (Blut, Schleim, gelbe und schwarze Galle) und ihrer Primärqualitäten (warm, kalt, feucht, trocken). Als zentrale Vermittlungsinstanz von Körper, Geist und Seele galten die >Spiritus< oder >Lebensgeister<, die man sich in der Tradition antiker Seelenlehren als eine warme, lichte und luftige Substanz mit Sitz in den Hirnkammern vorstellte. Die seit dem 17. Jahrhundert hinzukommenden zirkulatorischen, mechanistischen und chemischen Konzepte und die seit Mitte des 18. Jahrhunderts anhebende Theorie der Nervenstörungen modifizierten die älteren Theoreme. Der Begriff des Deliriums umfaßte zum einen eine ganze Ordnung
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