BIBLIOTHEK 1800 I Sinclair Erster Band – 1811 Wahrheit undGewissheit Isaac von Sinclair Sinclair Wahrheit und Gewissheit BIBLIOTHEK 1800 Körper – Geist – Bewusstsein

Herausgegeben von Christoph Asmuth, Christoph Binkelmann und Patrick Grüneberg

Band I

frommann-holzboog Isaac von Sinclair Wahrheit und Gewissheit

Erster Band – Berlin 1811

Herausgegeben von Christoph Binkelmann

Stuttgart-Bad Cannstatt 2015 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

ISBN 978-3-7728-2521-7 eISBN 978-3-7728-3027-3

© frommann-holzboog Verlag e.K. · Eckhart Holzboog -Bad Cannstatt 2015

Druck: BBL Media / Strauss Druck, Mörlenbach Einband: Litges & Dopf, Heppenheim Zusammenfassung

Isaac von Sinclair (1775–1815), deutscher Diplomat und Schriftsteller, unternimmt in seinem dreibändigen Hauptwerk Wahrheit und Ge- wissheit (1811) eine systematische Darstellung der menschlichen ‚Er- fahrung‘. Das Feld der Erfahrung reicht dabei für Sinclair von der sinnlichen Erfahrung über die Naturwissenschaften (Bd. 2) bis hin zu praktischen Bereichen wie Sprache, Moral, Religion und Geschichte (Bd. 3). Er nimmt darin Einsichten von Hegels philosophischer Enzy- klopädie vorweg. Der hier edierte erste Band entwickelt die metaphysischen und an- thropologischen Grundlagen der menschlichen Erfahrung. Er hebt an mit der Erörterung des radikalen Zweifels daran, dass der Mensch zum Erreichen von Wahrheit und Gewissheit überhaupt in der Lage ist. „Wie wird unterschieden und nicht-unterschieden?“ drückt für Sin- clair die Grundfrage des Zweifels schlechthin aus. Im Folgenden beweist Sinclair, dass der radikale Zweifel auf Wis- sensvoraussetzungen beruht, die zur wissenschaftlichen Entwicklung von Wahrheit und Gewissheit dienen können. In streng deduktiver Manier entfaltet er aus den impliziten Voraussetzungen des Zweifels in einem ersten Teil zunächst die logischen Begriffe, auf die auch der Zweifel zurückgreifen muss. Analog zu Hegels Logik thematisiert Sin- clair das Entgegensein, die Einigkeit, das Sollen, Werden und Ansich- sein. Im Anschluss daran folgen im zweiten Teil die zentralen Aus- drucksformen menschlichen Wissens wie Bewusstsein, Gottheit, Le- ben, Freiheit und Welt. Im Sinne eines deduktiven Abstiegs vom Ab- strakten zum Konkreten stehen am Ende im dritten Teil des Bandes schließlich Überlegungen zu konkreten menschlichen Erfahrungsfor- men wie Raum und Zeit, Körperlichkeit und Natur. Abstract

In his most important work, the three-volume Wahrheit and Gewiss- heit (“Truth and Certainty”; 1811), the German diplomat and writer Isaac von Sinclair (1775-1815) embarks upon a systematic presentation of human experience. The scope of the subject extends for him from sensation through scientific knowledge (Vol. 2) to the practical provin- ces of, for example, language, ethics, religion, and history (Vol. 3). He accordingly anticipates principal points of Hegel’s philosophical ency- clopaedia. Volume 1 – now edited here – elaborates on the metaphysical and anthropological foundations for human experience. Its point of de- parture is a discussion of radical doubt, which asks whether man is at all capable of attaining truth and certainty. “How is it possible to dis- tinguish and not-distinguish?” – for Sinclair an encapsulation of the fundamental question posed by doubt per se. What then follows is Sinclair’s demonstration that radical doubt is founded upon a prerequisite knowledge which lends itself to the scien- tific development of truth and certainty. In stringently deductive mode, he looks first at the implicit presuppositions of doubting, con- structing from these the logical concepts to which doubt itself must also have recourse. In analogy to Hegel’s logic, Sinclair picks out op- position, unity, obligation, becoming, and being-in-itself. In the second part of the volume he comes to the central forms of human knowledge, such as consciousness, divinity, life, freedom, and the world. In keeping with a deductive descent from the abstract to the concrete, the third and concluding part consists in a consideration of concrete forms of human experience, for instance space and time, cor- poreality and nature. Inhalt

Einleitung des Herausgebers ………………………………………… IX 1. Das Leben des Barons Isaac von Sinclair ……………………… IX 2. Das Denken des Isaac von Sinclair ………………………… XIV 3. Der Inhalt von Wahrheit und Gewissheit …………………… XXI 4. Sinclairs Theorie der Expressivität ………………………… XXVI

Wahrheit und Gewissheit I. Einleitung ………………………………………………………… 3 II. Untersuchung des Zweifels und Aufstellung der Aufgabe … … 6 III. Lösung der Aufgabe …………………………………………… 16 IV. Fortdauer der Aufgabe ………………………………………… 20 V. Möglichkeit des Zweifels ……………………………………… 30 VI. Ausdruck ………………………………………………………… 38 1. Gedanke ……………………………………………………… 42 2. Gedanke des Seins …………………………………………… 50 3. Verschiedenheit des Seins …………………………………… 59 4. Vereinigung des Seins und Gedacht-Seins ………………… 65 5. Bewusstsein ………………………………………………… 68 6. Gottheit ……………………………………………………… 79 7. Leben ………………………………………………………… 87 8. Dinge ……………………………………………………… 107 9. Freiheit ……………………………………………………… 124 10. Welt ………………………………………………………… 133 VII. Von der Erfahrung …………………………………………… 140 1. Vom Gedanken in der Erfahrung und von der Wissenschaft der Dinge …………………………………… 161 Von der Wissenschaft der Dinge ……………………………… 179 a. Unendliche Vielheit der Dinge …………………………… 192 b. Raum ……………………………………………………… 195 c. Zeit ………………………………………………………… 198 d. Vorstellung ………………………………………………… 202 e. Körper ……………………………………………………… 207 f. Mein Körper ……………………………………………… 213 g. Freiheit der Seele …………………………………………… 223 h. Natur ……………………………………………………… 246 i. Sinnliche Erfahrung ……………………………………… 251 k. Schein und Leichtsinn …………………………………… 262

Anmerkungen ………………………………………………………… 267 Literaturverzeichnis ………………………………………………… 275 1. Literatur von und zu Sinclair ……………………………… 275 2. Weitere Literatur …………………………………………… 276

Register ……………………………………………………………… 279 Einleitung des Herausgebers

Der hier vorliegende Band soll einen Text wieder zugänglich machen, der auch in seiner eigenen Zeit nahezu gar nicht von der Öffentlichkeit wahrgenommen wurde. Er stammt von einem Verfasser, der mit den Größen des Deutschen Idealismus regelmäßig verkehrte und philoso- phische Ideen austauschte: Isaac von Sinclair. Um einen totgeschwiegenen Text wieder philosophisch zum Reden zu bringen, wird auf historische und philologische Pedanterie verzich- tet und der Text der ersten und einzigen Druckausgabe (1811) in heuti- ge (konservative neue) Rechtschreibung überführt. Sämtliche Angaben zu Sinclairs Leben und Denken in dieser Einleitung dienen dem Zweck, Interesse und die Bereitschaft beim Leser zu wecken, sich auf einen unbekannten Text eines ebenso unbekannten Verfassers ohne Vorurteile einzulassen. Dafür wird zunächst das Leben Sinclairs im Hinblick auf dessen geistiges Umfeld beleuchtet. Es wird erörtert, mit welchen intellektuellen Personen Sinclair in Kontakt stand und was für Erfahrungen der Verfasser zeit seines Lebens erworben und mögli- cherweise im Text verarbeitet hat (1.). Anschließend kann die Entste- hungsgeschichte aus dem Denken jener Personen rekonstruiert wer- den, die Sinclair maßgeblich beeinflusst haben (2.). Erst dann wenden wir uns dem Text selbst zu, um dessen inhaltlichen Aufbau (3.) und damalige wie aktuelle Bedeutung (4.) herauszuarbeiten.

1. Das Leben des Barons Isaac von Sinclair

Isaac von Sinclair erblickt am 3. Oktober 1775 in Homburg vor der Höhe, der heutigen Kurstadt in unmittelbarer Nähe zu am X Einleitung des Herausgebers

Main, das Licht der Welt.1 Der Vater, Adam Alexander von Sinclaire (gest. 1778), war bis zu seinem Tod Erzieher des Landgrafen von Hes- sen-Homburg Friedrich V. Ludwig. Sinclairs Mutter, Auguste Wilhel- mine geb. von Ende, stammte aus einem alten sächsischen Adelsge- schlecht. Der frühe Tod ihres Mannes ist äußerer Anlass für eine sehr innige Mutter-Sohn-Beziehung, die bis zu deren nahezu zeitgleichen Tod andauern wird. Sinclair beginnt seine Studien in einer philosophisch überaus fruchtbaren Zeit, in einem vielversprechenden Umfeld. So geht er 1792 nach Tübingen in der Absicht, dort neben der Jurisprudenz auch Phi- losophie zu studieren. Es ist jedoch nicht erwiesen, ob und wie sehr Sinclair während dieser Studienzeit Gelegenheit hatte, Vorlesungen zur Philosophie zu besuchen. Auch ein Kontakt zu den im Tübinger Stift weilenden und später führenden Köpfen der deutschen Philosophie – Hölderlin, Schelling und Hegel – ist nicht erwiesen. Doch jedem an Philosophie interessierten jungen Menschen dürfte zu dieser Zeit nicht entgangen sein, dass Immanuel Kant in aller Munde war. Man bedient sich Kantischer Philosopheme in jeglicher Hinsicht – ob zur Unter- stützung der Ideale der Französischen Revolution oder wie die Theo- logen im Tübinger Stift zur Begründung des christlichen Glaubens. Auch Sinclair muss, mag er auch nur flüchtigen Kontakt zu Hegel und Hölderlin gehabt haben, von der aktuellen Brisanz der Kantischen Philosophie gehört haben. Möglicherweise führte ihn dieser Philosoph auf einen anderen Philosophen, den Kant-Exegeten und kreativen Weiterdenker Carl Leonhard Reinhold, Professor in . Sinclairs Umzug nach Jena im Mai 1794 geschah aus dem Verlangen heraus, sich ganz und gar der Philosophie unter Reinholds Anleitung hinzugeben. In diesem Eifer musste ihm wohl entgangen sein, dass Letzterer bereits einen Ruf nach Kiel angenommen hatte. An seiner statt trifft Sinclair einen jungen, energischen Querdenker an. war vor allem durch die Schrift Kritik aller Offenba- rung aufgefallen und hatte dort gezeigt, wie der kantische Geist auch gegen den Buchstaben weitergetrieben werden könne. Die Schrift wurde bekanntlich zunächst für die schon lange erwartete Religions- schrift aus der Feder Kants gehalten; als diese Verwechslung aufge- deckt wurde, fiel der ganze Ruhm auf den noch unbekannten Fichte.

1 Eine ausführliche, jedoch stark psychologisierende Darstellung von Sinclairs Leben gibt Ursula Brauer: Isaac von Sinclair. Eine Biographie. Stuttgart 1993. Einleitung des Herausgebers XI

Die Begegnung mit Fichte war für Sinclair prägend; sein gesamtes Philosophieren bedient sich ständig fichtescher Motive, auch wenn es sich letztlich darüber hinwegsetzt. So hört Sinclair in Jena Fichtes Vor- trag zur Wissenschaftslehre, deren Bedeutung ihm zunächst verschlos- sen bleibt. Weitaus mehr Gehör finden hingegen die Bekenntnisse zu den Idealen der Französischen Revolution, wie Fichte sie in den Revo- lutionsschriften, Zurückforderung der Denkfreiheit von den Fürsten Europens, die sie bislang unterdrückten und dem Beitrag zur Berichti- gung der Urteile des Publikums über die französische Revolution, dar- legte. Den darin verkündeten freigeistigen Ton kann Sinclair in Jena unmittelbar im Studentenleben erfahren. Neben zahlreichen Studen- tenorden bietet insbesondere die sogenannte Gesellschaft der freien Männer Gelegenheit, die fichteschen Ideen zu diskutieren und umzu- setzen. Ohne selbst Mitglied zu werden, steht Sinclair im regen Aus- tausch mit Mitgliedern der Gruppe, darunter u.a. Johann Smidt, Claude-Camille Perret, Johann Friedrich Herbart und Casimir Ulrich Boehlendorff. Eine zentrale Bedeutung nicht nur für Sinclairs Verständnis und Kritik von Fichtes Philosophie, sondern für sein ganzes Leben und Denken erlangt aber die Begegnung mit Friedrich Hölderlin. Zu ihm, der ihm vielleicht auch schon in Tübingen so manches Mal über den Weg gelaufen war, schließt Sinclair Anfang 1795 eine enge Freund- schaft. Beide waren damals von ähnlichen Leidenschaften für Philoso- phie und die Französische Revolution beseelt, wobei Sinclair stets der politischere und radikalere unter beiden war, während Hölderlin der poetisch inspirierten Kontemplation den Vorzug gewährte – literarisch verarbeitet Hölderlin diesen Gegensatz im Charakter der Freunde in der Schilderung der Beziehung des Alabanda (Sinclair) zu Hyperion, der dem Briefroman den Namen gibt. Von philosophischem Interesse sind die in dieser Zeit entstehenden Skizzen Hölderlins (Urteil und Sein) und Sinclairs (Philosophische Raisonnements), die eine Reaktion auf Fichtes Wissenschaftslehre darstellen und zum Teil die weiteren Entwicklungen des Deutschen Idealismus vorwegnehmen. Nach kurzem Zusammenleben in Jena verlässt zunächst Hölderlin im Mai 1795 die Stadt. Kurz nach ihm wird Sinclair angeraten zu ge- hen: Die angebliche Verwicklung in Studententumulte brachte ihm ein consilium abeundi ein. Ohne Abschluss in der Tasche folgt Sinclair dem Drängen seiner Mutter, eine Karriere am Hof von Hessen-Hom- burg einzuschlagen. Im August 1795 kehrt er Jena den Rücken, ver- säumt es aber nicht, das starke Beziehungsgeflecht, über das die Sin- XII Einleitung des Herausgebers clairs in Homburg verfügen, auch für seinen Busenfreund auszunut- zen: Er vermittelt Hölderlin für das folgende Jahr eine Stelle als Hof- meister im Hause Gontard zu Frankfurt am Main. Das Schicksal Höl- derlins in diesem Hause ist bekannt: Er lässt sich auf eine Affäre mit der verheirateten Susette Gontard ein und muss im September 1798 seine Stelle aufgeben. Sinclair nutzt diese Gelegenheit, die Bande zu Hölderlin zu verstärken. Er lädt ihn ein, nach Homburg überzusie- deln, Hölderlin bleibt dort bis Juni 1799; er wiederholt diesen Aufent- halt in den Jahren 1804 bis 1806. Der geistig rege Austausch mit Hölderlin wird in dieser Phase durch die Anwesenheit von G.W.F. Hegel, der in Frankfurt tätig ist, sowie den Homburger Jakob Zwilling, mit dem Sinclair schon in Jena in Kontakt stand, vertieft. Sinclair wird diese Phase später zum „Bund unserer Geister“ stilisieren. Zur gleichen Zeit arbeitet sich Sinclair am Homburger Hof hoch, bis er schließlich zur rechten Hand des Land- grafen avanciert ist. Er gerät in die delikate Situation, als allgemein be- kannter Franzosenfreund gegen die französische Besatzung die Inter- essen Hessen-Homburgs vertreten zu müssen. Gerne wird hierin der Ausgang zur politischen Transformation Sinclairs gesehen: vom revo- lutionären Republikaner zum Anhänger der Restauration, was sich schließlich auch im philosophischen Gedankengut widerspiegelt. Die- se These ist, zumindest was den ideellen Aspekt anbelangt, unhaltbar.2 Zwei biografische Ereignisse haben Sinclair berühmt gemacht: die Freundschaft zu Hölderlin und der Hochverratsprozess. Die Begleit- umstände zu letzterem Ereignis sind gut erforscht.3 Sinclair bemerkte zu spät, dass er den Vorschlag eines gewissen Alexander von Blanken- stein, die finanzielle Situation von Hessen-Homburg durch Einfüh- rung einer Lotterie zu verbessern, nicht hätte annehmen sollen. Der Geschäftspartner ist andernorts als Betrüger bekannt. Als Sinclair den

2 Damit ist die Abwendung von Fichte gemeint, die z.B. Hannelore Hegel vertritt. Über die vorhandenen fichteschen Elemente in Wahrheit und Ge- wissheit schreibt sie, „dass er [Sinclair] diese Elemente aber völlig zufällig und zusammenhanglos verwendet, weil er die Perspektive, aus der sie von Fichte abgeleitet wurden, gar nicht teilt“. Von einer kritischen Erkenntnis- theorie fichtescher Provenienz gelangt Sinclair nach dieser Autorin zu einer Metaphysik à la Spinoza (Isaak von Sinclair zwischen Fichte, Hölderlin und Hegel. Frankfurt a.M. 1971, S. 222f.). 3 Siehe dazu das Standardwerk von Werner Kirchner: Der Hochverrats- prozess gegen Sinclair. Ein Beitrag zum Leben Hölderlins. Frankfurt a. M. 1969. Einleitung des Herausgebers XIII

Deal platzen lässt, rächt sich von Blankenstein, indem er in einem Brief vom 29. Januar 1805 den Kurfürsten von Württemberg, Friedrich II., davon in Kenntnis setzt, dass ein Attentat auf ihn in revolutionärer Absicht geplant sei. Fadenzieher sei ein gewisser Isaac von Sinclair, der ja für seine revolutionären, frankophilen Ideen bekannt war. Der Kur- fürst veranlasst die Verhaftung Sinclairs, die auch prompt erfolgt: Knapp ein halbes Jahr fristet Sinclair im württembergischen Gefäng- nis, bis er schließlich freigelassen wird. Sein Freund Hölderlin, der ebenfalls angeklagt war, entging diesem Prozess aufgrund der sich ver- dichtenden Hinweise auf geistige Umnachtung. Obwohl Sinclair be- reits im Juli 1805 frei gesprochen wurde, wird er erst ein ganzes Jahr später durch ein Rechtsgutachten der Universität Halle rehabilitiert. Kurze Zeit später trennen sich endgültig die Wege von Sinclair und Hölderlin; die durch Hölderlins Anwesenheit verursachte Belastung wird für Sinclair unerträglich, er befürwortet die Übersiedlung des geistig Kranken in das Universitätsklinikum in Tübingen. In der Fol- gezeit erfährt Sinclair die literarisch produktivste Phase seines Lebens. Er verfasst Gedichte, Lieder, eine Dramentrilogie zu den Cevennen- kriegen sowie Wahrheit und Gewissheit. Sein einziger philosophischer Gesprächspartner ist der Frankfurter Philosoph Franz Joseph Molitor, der Sinclair sogar zwei seiner Bücher widmen wird. Diese Muße zur Schriftstellerei erwächst ihm aus der Tatsache der politischen Bedeu- tungslosigkeit Hessen-Homburgs durch die erfolgte Mediatisierung zugunsten Hessen-Darmstadts. Nach der Niederlage Napoleons erhält Sinclair 1814/15 die Gele- genheit, die Belange von Hessen-Homburg auf dem Wiener Kongress zu vertreten. Ein möglicher politischer Aufschwung wird durch eine familiäre Tragödie jäh unterbunden. In Wien erfährt Sinclair vom Tod seiner Mutter und unterliegt nur neun Tage später am 29. April 1815 den Folgen eines Schlaganfalles. Die enge Mutter-Sohn-Beziehung und die plötzliche Todesnachricht während der sicherlich anstrengenden Verhandlungen werden gerne als Grund für den frühen Tod Sinclairs angeführt. Doch auch das unmittelbare Umfeld des Ablebens bietet Raum für Spekulationen: Sinclair starb in einem Wiener Bordell.4

4 Zu „Sinclair in Wien“ vgl. den gleichnamigen Aufsatz von Volker Schupp in: Ch. Jamme – O. Pöggeler (Hg.): Homburg vor der Höhe in der deut- schen Geistesgeschichte. Stuttgart 1981, S. 231–244. XIV Einleitung des Herausgebers

2. Das Denken des Isaac von Sinclair

Die Niederschrift von Wahrheit und Gewissheit erfolgte wohl in den Jahren 1807 bis 1809. Um den reinen Gang der Sache darzustellen, ver- mied Sinclair jegliche Verweise auf andere Denker oder auf die Tradi- tionen, in denen er sich bewegte. Einflüsse und Entwicklungen von Sinclairs philosophischem Denken lassen sich dennoch aus anderen Schriftstücken rekonstruieren, auch wenn manchmal nur Mutmaßun- gen anzustellen sind. Drei entstehungsgeschichtlich relevante Aspekte werden im Folgenden vorgestellt, die einen entscheidenden Einfluss auf Sinclairs Philosophie ausgeübt haben und von Denkern herrühren, mit denen – wie im vorherigen Kapitel dargestellt – Sinclair regen Kontakt pflegte: – Hölderlin und seine Fichte-Kritik, wie sie im Dokument Urteil und Sein dargelegt wird und in Sinclairs Philosophischen Raisonne- ments ihren Nachhall (und ihre Modifikation) findet. – Zwei weniger bekannte Denker aus der Philosophiegeschichte wa- ren vermutlich zu jeweils verschiedenen Zeiten prägend für Sin- clairs Denken: Jakob Zwilling und Franz Joseph Molitor. Die Be- deutung Zwillings im Deutschen Idealismus findet in der For- schung noch eher Erwähnung.5 Die Gemeinsamkeit Zwillings mit dem für die deutsche Denkgeschichte eher unbedeutenden Molitor besteht in der Betonung der Beziehung (Relation) und somit der Differenz als des die Wirklichkeit konstituierenden Prinzips. – Am wichtigsten für ein Verständnis von Sinclairs Philosophie im Allgemeinen und von Wahrheit und Gewissheit im Besonderen ist sicherlich der Briefwechsel zwischen Sinclair und Hegel, wie er sich von 1810 bis 1813 zutrug. Darin findet eine ausgiebige Diskussion um Anfang und Gestalt der Philosophie statt: Gegen Hegels Phä- nomenologie des Geistes und Wissenschaft der Logik stellt Sinclair sein eigenes Werk.

5So widmen sich die Hegel-Studien Beiheft 28 dem Thema Jakob Zwillings Nachlass. Eine Rekonstruktion. Hrsg. v. D. Henrich – Ch. Jamme. Bonn 1986. Einleitung des Herausgebers XV

Fichte vs. Hölderlin: Ich oder Sein?

Die „Wissenschaftslehre“ genannte Philosophie, die der junge Fichte in Anwesenheit Sinclairs und Hölderlins an der Jenaer Universität vor- trägt, sorgt für gewaltigen geistigen Zündstoff. Vor allem die darin ver- körperte politisch-revolutionäre Haltung des Professors, aber auch die strenge philosophische Systematik wird zum Fokus der Gespräche un- ter den Studenten. Beide scheinbar nicht zusammenhängenden Aspek- te verbindet eine gemeinsame Stoßrichtung: An die Stelle der bislang vorherrschenden dogmatisch-autoritären oder positivistischen Deu- tung der Wirklichkeit tritt die rationale Begründungsform. Alles muss vor der Vernunft gerechtfertigt und letztlich im soliden, in sich schlüs- sigen Vernunftsystem ausgewiesen werden. In dieser Zeit entstehen zwei intellektuelle Reaktionen auf Fichtes Philosophie, die eine unterschiedliche Karriere gemacht haben: Höl- derlins Urteil und Sein (1794/95) und Sinclairs Philosophische Raison- nements (Ende 1795).6 Dabei ist nicht nur aufgrund der zeitlichen Auf- einanderfolge davon auszugehen, dass Sinclairs philosophisches Ver- ständnis von Anfang an stark unter dem Einfluss Hölderlins stand. Der poetischen Prägnanz und Plastizität von Hölderlins Fichte-Kritik, die er monumental auf knapp zwei Seiten festhält, weiß Sinclair nur eine pedantisch ausgearbeitete, scholastisch anmutende Auseinander- setzung gegenüberzustellen. Die heutige Forschung kapriziert sich aus diesen und anderen Gründen ausschließlich auf Hölderlins Urteil und Sein, um darin den Beginn der (früh-)romantischen Abkehr von Fich- tes „subjektivem Idealismus“ nachzuweisen.7 Dabei ist der Grundtenor beider Schriften der gleiche; sie teilen eine Kritik an Fichte, die sich insbesondere gegen das Prinzip der Wis- senschaftslehre, das Ich, richtet. Fichte zufolge repräsentiere das (abso- lute) Ich die höchste Einheit, hinter welche im Wissen nicht weiter zu- rückzugehen ist und aus welcher alles begründet werden muss. Das sein eigenes Sein setzende Ich steht für die reine Einheit von Subjekt und Objekt, Denken und Sein. Hölderlin bezweifelt diese Engführung

6 Vgl. dazu Christoph Jamme: „Isaak von Sinclairs ‚Philosophische Raison- nements‘. Zur Wiederauffindung ihrer Originale“. In: Hegel-Studien 18, 1983, S. 240–244. 7 Dieter Henrich: „Hölderlin über Urteil und Sein. Eine Studie zur Entste- hungsgeschichte des Idealismus“. In: Hölderlin-Jahrbuch 14, 1965/66, S. 73–96. XVI Einleitung des Herausgebers von Ich und Einheit, das Ich ist nicht reine Einheit, sondern immer schon mit Differenz behaftet. So bedarf es qua Selbstbewusstsein oder Wissen von sich einer Trennung von sich, um sich mit sich zu identifi- zieren. Erst aufgrund dieser Trennung kann sich das Ich als es selbst erkennen und damit seine Identität konstituieren. Die Trennung ge- hört zum Wesen des Ich. Die höchste Einheit von Subjekt und Objekt muss folglich laut Hölderlin woanders zu suchen sein als im Ich: „Wo Subject und Object schlechthin, nicht nur zum Theil vereiniget ist, mithin so vereiniget, daß gar keine Theilung vorgenommen werden kann, ohne das Wesen desjenigen, was getrennt werden soll, zu verle- zen“.8 Die höchste Einheit nennt Hölderlin ‚Sein‘ und setzt sie dem Urteil entgegen, das den durch die Differenz (Ur-teilung) eröffneten Bereich der endlichen Dinge bezeichnet. Fichtes Ich wird in dieser Hierarchie noch selbst in Abhängigkeit vom Sein, mithin als endlich erwiesen und mittels Rückgriff auf Spinozas Substanz überboten: Das Sein, die natura naturans, liegt allem zugrunde; es selbst ist, weil es ist, mithin ohne erst gesetzt werden zu müssen wie Fichtes absolutes Ich. Die so aufgefasste Natur wird in Hölderlins Dichten und Denken eine große Rolle spielen. Der wahre Zugang zu dieser Natur, zum eini- gen Sein schlechthin, kann sich für ihn folgerichtig nicht im Medium des Urteilens, in der Philosophie, sondern rein in einer ästhetischen „intellectualen Anschauung“ ereignen. Auch von dieser Idee finden sich einige Ausläufer in Sinclairs Philosophischen Raisonnements. So gibt Sinclair Spinoza Recht, wenn er das Ich cogitatio nennt und da- durch zu einem der unendlichen Attribute der Substanz macht. Auf diese Weise wird es zu einem Geteilten, das die Einheit der Substanz voraussetzen muss.9 Dennoch fällt auf, dass Sinclair den Naturbegriff anders als Spinoza oder Hölderlin stets im Hinblick auf die Praxis ver- steht. In den Philosophischen Raisonnements erörtert er in mehreren Zusammenhängen die Praxis, so in Bezug auf Theorie und Aisthesis, als Wollen oder in Form des Zweckbegriffs. Trotz vieler direkter Ein- flüsse Hölderlins verfolgt Sinclair eher eine „praktische Tendenz“, die als philosophisch-begriffliches Fundament seiner eigenen politischen Aktivität entspricht und mehr noch: in Zukunft entsprechen wird. Selbst in Sinclairs literarischer Produktion wird diese Naturauffassung

8 Friedrich Hölderlin: Sämtliche Werke. Bd. IV. Hrsg. v. F. Beißner. Stuttgart 1962, S. 226. 9 Der gesamte Text ist nachzulesen bei H. Hegel: A.a.O., S. 247. Einleitung des Herausgebers XVII deutlich.10 Erneut sei an dieser Stelle auf Hölderlins Schilderung von Sinclair im Hyperion verwiesen. Eine geistige Unterstützung in dieser „Natur“-Deutung wird Sinclair nach der endgültigen Trennung von Hölderlin bei seinem Freund und Lehrer Molitor finden.11 Dieser Unterschied zwischen Hölderlin und Sinclair legt nahe, dass Sinclair nicht nur hinsichtlich der politischen, republikanischen Auf- fassung, sondern auch in inhaltlicher, philosophischer Hinsicht eine stärkere Affinität zu Fichte aufweist. Bekanntlich mündet Fichtes Ich- Philosophie in einem Primat des Praktischen, der im Begriff des Sol- lens (der Normativität) das Moment der Trennung höher bewertet, als es einer Philosophie möglich ist, die von Anfang an ihr Augenmerk darauf verlegt, eine absolute, differenzlose Einheit aufzufinden. Dieses Denken der Differenz verbindet Sinclair auf der einen Seite mit Fichte, auf der anderen Seite führt sie ihn über Fichte hinaus zu Hegel. Beides soll an zwei weiteren Weggefährten Sinclairs veranschaulicht werden.

Jakob Zwilling und Franz Joseph Molitor: Denker der Differenz

Ludwig Strauß gebührt das Verdienst, als erster über „Jacob Zwilling und sein[en] Nachlaß“ Forschungen angestellt zu haben. Im Jahre 1928 schrieb er über Zwillings kurze Abhandlung Über das Alles: „Das höchste Prinzip in Zwillings Philosophie ist das der Beziehung. Vereinigung und Trennung, Ich und Nichtich, Individualität und All- gemeinheit, Verwirklichung der Idee und Idealisierung der Wirklich- keit, – kein Pol aus diesen Paaren kann ohne den Gegenpol beste- hen.“12 Auch Dieter Henrich erkennt in diesem Prinzip eine Kritik nicht nur an Fichtes Ich-Prinzip, sondern in erster Linie an Hölderlins Ersetzung des Ich durch das Sein.13 Zugespitzt formuliert, nimmt

10 So bei Christoph Jamme: „Politik und Natur. Zum historischen Kontext und philosophischen Gehalt von Sinclairs Cevennen-Trilogie“. In: Ch. Jam- me – O. Pöggeler (Hg.): A.a.O., S. 194–230. 11 Vgl. Kurt Rainer Meist: „Identität und Entzweiung. Molitors Geschichts- philosophie und der Homburger Kreis“. In: Ch. Jamme – O. Pöggeler (Hg.): A.a.O., S. 275f. 12 Ludwig Strauß: „Jacob Zwilling und sein Nachlaß“. In: Euphorion 29 (1928), S. 385. 13 Dieter Henrich: „Jacob Zwillings Nachlaß“. In: Ch. Jamme – O. Pöggeler XVIII Einleitung des Herausgebers

Zwilling die Einsicht ernst, dass auch der Begriff der Relationslosig- keit, mithin Hölderlins Sein, ein Relationsbegriff ist. Aus diesem Grund ist es unsinnig oder selbstwidersprüchlich, eine Einheit vor jeg- licher Trennung bzw. Reflexion anzusetzen, da diese Maßnahme der Reflexion gerade nicht entkommt. Nun hütet sich Zwilling davor, die eben als Prinzip seines Denkens bezeichnete Beziehung ihrerseits absolut zu setzen. Denn in diesem Falle müsste man einwerfen, dass der Gedanke der absoluten Bezie- hung doch nur im Gegensatz zur Nicht-Beziehung und damit nicht an und für sich, mithin nicht in absoluter Hinsicht, sinnvoll ist. Vielmehr lässt sich hinter der Absolutsetzung der Beziehung das Vergehen Fich- tes entlarven. Beide Alternativen – Hölderlins Sein oder Fichtes Ich – sind nicht nur einseitig, sondern widersprechen sich selbst: „So muß das Bezogene dem Bezogenen als nicht bezogen entgegengesetzt wer- den, oder es muß schlechterdings die Beziehung des Satzes und Ge- gensatzes als absolut gesetzt werden. Solches würde sich der Form selbsten widersprechen und sich mithin aufheben, wenn wir solches der Form nach tun wollten.“ Beide Alternativen sind deshalb aufzuge- ben, „so giebt es schlechterdings der Form nach nichts Absolutes, au- ßer daß wir absolut annehmen können, daß es nicht Absolutes gebe.“14 Mit dieser Betonung der Differenz oder Relativität entwickelt Zwilling einen Gedanken, der weit über Hölderlins Einheitskonzept hinausgeht, der zwar Anleihen aus der Dialektik Fichtes nimmt, aber aufgrund der Eigenständigkeit des Entwurfs doch als Vorläufer der Hegelschen Dialektik gelten muss. Zwillings „Beziehung der Bezie- hung und Nicht-Beziehung“ ähnelt stark späteren hegelschen Formu- lierungen zum Verhältnis von Identität und Nicht-Identität. Aufgrund der wenigen erhaltenen Manuskripte von Zwilling bleibt lediglich eine vage Vermutung, dass dieser die Rolle der Differenz und Relativität höher bewertet und sich daher eher einer Verabsolutierung der Bezie- hung entzieht als Hegel. In diesem Falle läge hierin nicht nur eine star- ke Anschlussfähigkeit an postmoderne Konzeptionen, sondern auch ein kritisches Potenzial dagegen.

(Hg.): A.a.O., S. 252–255. Vgl. auch Violetta Waibel: „Wechselbestimmung. Zum Verhältnis von Hölderlin, Schiller und Fichte in Jena“. In: Fichte-Stu- dien 12 (1997), S. 65–67. 14 Die Zitate stammen aus: Jakob Zwilling: Jakob Zwillings Nachlass. Eine Rekonstruktion. (Hegel-Studien Beiheft 28). Hrsg. v. D. Henrich – Ch. Jamme. Bonn 1986, S. 63–65. Einleitung des Herausgebers XIX

Noch kaum hinterfragt ist die Rolle, die Franz Joseph Molitor im Denken Sinclairs spielte. Gerade als Sinclair in den Jahren 1807 bis 1809 an der Niederschrift von Wahrheit und Gewissheit saß, war Mo- litor sein einziger philosophischer Gesprächspartner vor Ort.15 In Über die Philosophie der modernen Welt (1806), einer an Sinclair ge- richteten „Epistel“, entwickelt Molitor seine begriffslogische Idee des Verhältnisses von Einheit und Dualität. Gegen Schellings Vorstellung des Absoluten aus Philosophie und Religion setzt er die absolute Be- ziehung und Dualität im Sein: „Die Dualität ist ursprünglich; das Seyn muß daher von Ewigkeit her dual seyn, und in seiner Dualität zugleich wieder eine Einheit bilden.“16 Ähnlich wie Zwilling ist auch Molitor der Überzeugung, dass „Beziehung auf sich“ und „Entgegensetzung“ Relationsbegriffe sind, die sich gegenseitig voraussetzen und in ihrer jeweiligen Bestimmung selbst enthalten. Dieses Denken der Differenz zeigt sich insbesondere in Molitors offener Geschichtsphilosophie, die zu seinen originellsten Errungenschaften zählt. Den Band III von Wahrheit und Gewissheit wird Sinclair mit einer Theorie der Ge- schichte abschließen, um anzudeuten, dass jede Wissensbegründung an der Geschichtlichkeit menschlicher Existenz ihre Beschränkung und Relativierung erfährt.

Der Briefwechsel zwischen Sinclair und Hegel über Anfang und Methode der Philosophie

Die philosophischen Gespräche im Homburger Kreis setzte Sinclair in Briefform mit Hegel fort. Nach einer ästhetischen Debatte (1806/07)17 hebt die systematische Kontroverse über Anfang und Methode der Philosophie 1810 an; sie endet 1813.18 Sie ist deswegen so wichtig, weil in diese Zeit die Veröffentlichung von Wahrheit und Gewissheit fällt,

15 Vgl. dazu Meist: A.a.O., S. 270f. Meist macht auf die Parallele im Denken Molitors und Zwillings aufmerksam (S. 290f.). 16 Zitiert nach Meist: A.a.O., S. 289. 17 Siehe Christoph Jamme (Hg.): „Sinclairs Briefe an Hegel 1806/07“. In: He- gel-Studien 13, 1978, S. 17–52. 18 Ausführlicher habe ich diese Thematik in meinem Aufsatz „Leben – Zwei- fel – Wissen. Sinclairs Kontroverse mit Hegel über den Anfang der Philoso- phie“ behandelt (in: E. Ficara (Hg.): Die Begründung der Philosophie im Deutschen Idealismus. Würzburg 2011, S. 285–299). XX Einleitung des Herausgebers auch wenn die Schrift schon früher – wie wir wissen – verfasst wurde. Bereits vor Übersendung der Schrift Sinclairs an Hegel erwartet jener, dass beide Denker hinsichtlich der Resultate ihrer Philosophie über- einstimmen, mögen auch die Wege – bei Hegel handelt es sich um die Phänomenologie des Geistes – unterschiedlich ausfallen.19 Hegel ist da skeptischer und widerspricht dieser Meinung, zumal er in Sinclair noch den „hartnäckigen Fichteaner“, für den „der Progreß ins Unend- liche“ große Bedeutung besitzt, vermutet.20 Hegel erwartet am Ende von Sinclairs Denkweg nur die schlechte Unendlichkeit, nicht wie bei ihm die Affirmation des Unendlichen selbst – er sollte in dieser Hin- sicht Recht behalten. Im April 1811 übersendet Sinclair an Hegel ein Exemplar von Wahrheit und Gewissheit und fügt an, dass diese Schrift das Wissen „directement aus dem Leben deduziere, um am Ende des Beweisgan- ges wieder in das Leben zurückzuführen.“21 Innerhalb des Werkes herrscht eine strenge Methode, die nicht einmal eine Metareflexion über den Gang der Sache erlaubt, da ansonsten die Wissenschaftlich- keit verlassen wird. So bezieht sich Sinclair an keiner Stelle auf die Phi- losophiegeschichte oder andere Philosophen. Bei dieser Strenge wirft er in einem späteren Brief selbst Hegels Wissenschaft der Logik ein zu häufiges Verlassen der wissenschaftlichen Immanenz vor.22 Das Leben nimmt gegenüber der Wissenschaft für Sinclair eine zen- trale Position ein; es steht gleichsam am Anfang und am Ende der Wis- senschaft. Nur innerhalb der Wissenschaft besitzt das Leben keinen konstitutiven Stellenwert; vielmehr muss sich das Wissen selbst be- gründen. Diese Leistungsfähigkeit spricht Sinclair Hegels Phänomeno- logie ab, da sie von Anfang an das Niveau der gewöhnlichen Erfahrung in Form der unterschiedlichen Bewusstseinsgestalten beibehält. Sie ist deshalb noch nicht Wissenschaft – so Sinclairs nicht ganz von der Hand zu weisender Einwurf: „Deine Phänomenologie ist also eigent- lich eine historische Darstellung, wie aus dem Leben die Wissenschaft entsteht.“23 Auch Hegels in einer späteren Sendung nachgereichte Wis- senschaft der Logik befriedigt Sinclairs Anspruch auf Wissensbegrün-

19 Sinclairs Brief vom 16.8.1810 in: Briefe von und an Hegel. Bd. I. Hrsg. v. J. Hoffmeister. Hamburg 31969, S. 322. 20 Ebd., S. 332. 21 Ebd., S. 354. 22 Ebd., S. 417. 23 Ebd., S. 395. Einleitung des Herausgebers XXI dung nicht, da sie die Phänomenologie voraussetzt, wie auch die Phä- nomenologie das absolute Wissen voraussetzt: „Deine Phänomenolo- gie solle bloß als gleichsam historische Einleitung in die Metaphysik gelten […], ich sehe aber, dass Du Dich doch nachher in Deiner Logik darauf als auf ein Selbständiges und Begründendes berufst, und dies scheint mir ein Zirkel.“24 Dennoch will Sinclair das sich begründende Wissen nicht auf Kos- ten der Lebensferne gewinnen. Eine Gemeinsamkeit, die er mit dem frühen Hegel teilt, ist die Vorstellung, dass Philosophie aus einem Be- dürfnis des Lebens entstehe. Hegel hat diese These in seiner Diffe- renzschrift, also um 1801, noch vertreten, indem er zugleich damit betont, dass jede Philosophie in Abhängigkeit von der je eigenen ge- schichtlichen Situation entsteht und zu begreifen ist. Es könnte aber ebenso dem Einfluss Molitors geschuldet sein, dass Sinclair dieses Be- dürfnis besonders hoch einschätzt. So schreibt Molitor: „Das Zeitalter bildet sich in seiner Philosophie, und so umgekehrt die Philosophie in ihrem Zeitalter, und so wie die Philosophie als eine Selbstreflexion des Geistes über sich selbst sich im Anfange von dem Leben entfernt, so muss sie wieder in dasselbe zurückkehren, und das Leben, die Bildung des Zeitgeistes am Ende ihre höchste Aufgabe seyn.“25 Im Übrigen ist diese Figur, vom Leben zum Wissen zum Leben, eine typische Vorstel- lung des fichteschen Denkens.26 Das Verbindungsglied von Leben und Wissen siedelt Sinclair – und darin folgt er Hegel – im Zweifel an. Wir werden im Folgenden diese Beziehung am Anfang von Wahrheit und Gewissheit aufzeigen.

3. Der Inhalt von Wahrheit und Gewissheit

Wahrheit und Gewissheit ist ein äußerst schwer zugängliches Werk. Der Rezensent der Allgemeinen Literaturzeitung moniert im Oktober 1812 die „scholastisch mystische Dunkelheit“ der Schrift. Die betref- fende Rezension bleibt dementsprechend narrativ, ohne Verständnis

24 Ebd., S. 417. 25 Zitiert nach Meist: A.a.O., S. 272. 26 Vgl. dazu Reinhard Lauth: Zur Idee der Transzendentalphilosophie. Mün- chen 1965, S. 123 sowie Christoph Binkelmann: Theorie der praktischen Freiheit. Fichte – Hegel. Berlin/New York 2007, S. 15–49. XXII Einleitung des Herausgebers des argumentativen und systematischen Zusammenhangs des Textes.27 Es ist keineswegs übertrieben zu behaupten, dass sich bis heute nichts an dieser Situation geändert hat. Die einzige nennenswerte Auseinan- dersetzung mit der besagten Schrift Sinclairs von Hannelore Hegel folgt der Überzeugung, dass es sich bei diesem Werk um eine misslun- gene, zum großen Teil konfuse und widersprüchliche philosophische Abhandlung handelt, deren grundlegender Fehler darin besteht, „eine Philosophie des Realismus […] mit idealistischen Systemforderungen zu entwerfen“. So werden Reflexions- und Sachaussagen, mithin idea- listische und realistische Aspekte, nicht ausreichend voneinander getrennt.28 Diese richtige Einsicht Hannelore Hegels bezüglich der Engführung dieser Aspekte mutet dann unverständlich an, wenn man Sinclairs Ausführungen stärker idealistisch, d.h. aus der Perspektive des Namensvetters der Autorin, deutet. Wer Hegel das Versäumnis vorwirft, in seiner Wissenschaft der Logik Denken und Sein nicht aus- reichend voneinander geschieden zu haben, hat die Pointe dieser Phi- losophie verpasst. Eine ähnliche Konzeption findet sich aber auch in Wahrheit und Gewissheit wieder. Die drei Bände von Wahrheit und Gewissheit entfalten eine enzy- klopädische Darstellung des Wissens von der Wirklichkeit; Sinclair nennt sie ein „metaphysisches Cyclum“ (§ 3418), dessen Kreisstruktur nicht nur – wie erwähnt – darin besteht, aus dem Leben heraus ins Le- ben zurückzuführen. Der Gang der Sache ist ebenso ein Gang der Re- flexion, mithin eine zunehmend tiefer greifende Begründung des Wis- sens. Erst am Ende des Werkes ist der anfängliche Zweifel am Wissen restlos getilgt. Dessen Auflösung erfolgt in drei Abschnitten, welche die drei verschiedenen Aspekte „Wahrheit“, „Gewissheit“ sowie „Wahrheit und Gewissheit“ repräsentieren. Der erste Teil liefert die Wahrheit oder das „Ansichsein der Lösung“, der zweite die Gewiss- heit oder das Sein der Lösung in ihren Teilen. Der dritte Teil umfasst Wahrheit und Gewissheit, somit die Synthese des ersten und zweiten Teils. Darin wird der Zweifel der vollständigen Lösung überführt, die ihrerseits die Synthese der vorherigen Lösungsformen darstellt, „ihr Sein an sich und ihr Sein ihres Ganzen in ihren Teilen in einem Sein verbunden“ (§ 3335). Diese stark an Hegels Dialektik gemahnende

27 Siehe http://zs.thulb.uni-jena.de/content/main/journals/jalz.xml (letzter Zugriff: 26.8.2012). 28 H. Hegel: A.a.O., S. 221. Einleitung des Herausgebers XXIII

Dreiteilung fällt indes nicht mit den drei Bänden von Wahrheit und Gewissheit zusammen. Die ersten beiden sowie der Anfang des dritten Teils befinden sich in dem hier vorliegenden ersten Band.29 Über das gesamte Werk hinweg, vor allem aber zu Beginn nimmt der Zweifel eine zentrale Rolle ein: „Wahrheit und Gewissheit sind die Gegenstände der philosophischen Untersuchung. Daher wird sie durch den Zweifel veranlasst und das Bedürfnis des Philosophierens existiert nur für den, der Zweifel annimmt“ (§ 1). Sinclair weist dem Zweifel, dessen inhaltliche Bedeutung er in der Folge entwickeln wird, die Funktion zu, aus dem gewöhnlichen Leben ins Wissen bzw. in die Wissenschaft überzuleiten. Insofern geht es ihm nicht um den ge- wöhnlichen Zweifel, der den Menschen im Leben befällt, sondern um die daraus abstrahierte eine Grundstruktur des Zweifelhaften in allen möglichen Zweifelsfällen, um den Zweifel an sich. In einem Brief an Hegel kritisiert Sinclair diesen dafür, dass er zwar die Bedeutung des Zweifels erkannt habe, in der Phänomenologie des Geistes jedoch je- weils nur die konkreten Arten des Zweifels am natürlichen Bewusst- sein dargestellt habe. Stattdessen wählt Sinclair den direkten Übergang in die Wissenschaft durch Aufstellung des allgemeinen Zweifels.30 Ähnlich wie bei Fichte führt somit der Übergang vom Leben ins Wis- sen über eine Abstraktionsleistung. Der höchste Zweifel kann Sinclair zufolge in einer grundlegenden Frage ausgedrückt werden, nämlich: „Wie wird unterschieden und nicht unterschieden?“ (§ 12). Aus dieser Frage, die der Einwand der skeptischen Reflexion gegen die Möglichkeit von Wissen ist, entwi- ckelt Sinclair alles Folgende – dem Diktum der Philosophischen Rai- sonnements gemäß: „Die natürliche Reflexion fängt vom Bewusstsein an: die skeptische ((krit.)) von den Widersprüchen in unserem Geist: die konstituierende wissenschaftliche Reflexion von dem, was die skeptische ((krit.)) Reflexion zugibt.“31 Der in der Frage ausgedrückte Zweifel markiert den fundamentalen Widerspruch des menschlichen Geistes, der gelöst werden muss, um zu Wissen zu gelangen. Dabei ist es sicherlich nicht falsch zu behaupten, dass sich die Zweifelsfrage im Kontext der Grundlegungsversuche aus der Frühphase des Deutschen

29 Zum kompletten Überblick über den Inhalt der Bände vgl. die Abbildung S. 27. 30 Briefe von und an Hegel. Bd. I. Hrsg. v. J. Hoffmeister. Hamburg 31969, S. 395. 31 H. Hegel: A.a.O., S. 250. XXIV Einleitung des Herausgebers

Idealismus bewegt. Reinholds Satz des Bewusstseins schwingt ebenso mit wie Fichtes dritter Grundsatz des Setzens und Entgegensetzens und Hölderlins Absage an das unterscheidende Urteil und die Hin- wendung zum ununterschiedenen Sein.32 Doch Sinclair benutzt den Zweifel nicht als Deduktionsgrund, sondern als sich langsam selbst zersetzenden Einwand gegen das Wissen, dem die eigenen Vorausset- zungen zum Verhängnis werden – auch darin gleicht dieser Ansatz dem hegelschen eines „sich vollbringenden Skeptizismus“.33 Nicht nur wegen der offensichtlichen Nähe zu Hegels Philosophie- konzeption empfiehlt es sich zunächst, die beiden Momente in der Zweifelsfrage, Unterscheiden und Nicht-Unterscheiden, weder vor- schnell auf Tätigkeiten des menschlichen Bewusstseins noch auf Seins- begebenheiten zurückzuführen; anders gesagt: der formulierte Wider- spruch präsentiert sich nicht allein als ein Problem im menschlichen Geist oder ein opponierendes Kräfteverhältnis in der Wirklichkeit, we- der als ein idealistischer noch ein realistischer Konflikt. Explizit ver- zichtet Sinclair in der Frage auf ein Subjekt, um den Widerspruch jen- seits der Unterscheidung von Denken und Sein anzusiedeln, d.h. um ihn in seiner höchsten Gestalt aufzufinden.34 Denken und Sein werden erst im zweiten Teil („Gewissheit“ bzw. Ausdruck) voneinander ge- schieden, auch sie unterliegen noch den treibenden Kräften der funda- mentalen Widersprüchlichkeit. Sinclair folgt hier Einsichten Zwillings und Hegels, die ein Denken jenseits der Alternative von Realismus und subjektivem Idealismus fordern.35

32 Zum Vergleich: Reinholds Satz des Bewusstseins lautet: „Im Bewußtsein wird die Vorstellung durch das Subjekt vom Subjekt und Objekt unter- schieden und auf beide bezogen“ (Beyträge zur Berichtigung bisheriger Mißverständnisse der Philosophie. Jena 1790, S. 167). Bei Fichte heißt es: „Ich setze im Ich dem teilbaren Ich ein teilbares Nicht-Ich entgegen“ (Fich- te, Johann Gottlieb: Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wis- senschaften. Bd. I, 2. Hrsg. v. R. Lauth u.a. Stuttgart-Bad Cannstatt 1965, S. 271). 33 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Werke in zwanzig Bänden. Bd. III. Hrsg. v. E. Moldenhauer – K.M. Michel. Frankfurt a.M. 1986., S. 72. 34 Hannelore Hegel kritisiert an Sinclair, dass die Zweifelsfrage passivisch ge- stellt ist (a.a.O., S. 204). Dies verdeutlicht erneut das prinzipielle Missver- ständnis in ihrer Sinclair-Interpretation. 35 Daraus erklärt sich auch die konkrete Schwierigkeit, Unterscheiden und Nicht-Unterscheiden eineindeutig mit Sein und Denken zu identifizieren. An einigen Stellen im Werk kennzeichnet Sinclair Denken als Nicht-Unter- Einleitung des Herausgebers XXV

Dementsprechend hat man den ersten Teil von Wahrheit und Ge- wissheit als Logik im antiken Sinne einer Darstellung des Logos aufzu- fassen, innerhalb derer die Differenzierung von Denken und Sein noch keinen Sinn ergibt. Im Ausgang von der Zweifelsfrage entwickelt Sin- clair diejenigen Teilmomente oder Begrifflichkeiten, die zusammenge- nommen den ursprünglichen Widerspruch zu lösen versprechen. Es werden Begriffe wie Entgegensein, Einigkeit, Sollen, Werden und An- sich abgeleitet. Aufgrund des hohen Abstraktionsgrades der Untersu- chung fällt ein Verständnis des ersten Teils besonders schwer. Was die Teilmomente in concreto bedeuten, wird erst mit dem zweiten und dritten Teil klar. Dieser Fortschritt bedeutet indes nicht nur eine Zu- nahme an Erkenntnis beim Leser, sondern eine immer tiefer greifende Begründung und Konkretisierung der Sache. Das später Entwickelte dient insofern als Grund für das Frühere; darin „bewährt“ (bewahrhei- tet) sich das Frühere. Doch ebenso kann das Spätere überhaupt erst aufgrund des Früheren entwickelt werden. Auf diese Weise leistet Sin- clair den Vorgaben einer dialektischen Methode Folge – man denke nur an die Funktion der Logik in Hegels Enzyklopädie oder auch an Fichtes Grundsätze, deren wahre Bedeutung erst im konkreten Be- reich der praktischen Philosophie einsichtig wird. Den konkreteren zweiten Teil könnte man als Onto-logie bezeich- nen, da hier Sein und Denken voneinander unterscheidbar und aufein- ander beziehbar werden. Am Anfang dieses Teils steht die Themati- sierung des Gedankens vom Sein. Sämtliche daraus zu entfaltende Teilmomente werden durch ihre strukturelle Isomorphie zu den Teil- momenten des ersten Teils verifiziert. Erst jetzt wird es sinnvoll, von Begriffen wie Bewusstsein, Gott, Leben, Ding, Freiheit und Welt zu reden. Die abstrakten Momente des ersten Teils erhalten so jeweils eine konkrete Ausprägung in einer diskreten Entität im weitesten Sin- ne, während der erste Teil nur von miteinander verbundenen Teil- schritten in der Lösung des Zweifels ausging. Im dritten Teil erreicht Sinclair die Ebene des Konkreten schlecht- hin: die Erfahrung. Es scheint daher nicht ganz unangebracht zu sein,

scheiden, an manchen auch als Unterscheiden (§ 525). Dieses Problem löst sich, indem man feststellt, dass das Denken beiden Momenten unterliegt, auch wenn es das eine Moment, nämlich Nicht-Unterscheiden, mehr ver- tritt. Diese zwei Aspekte des Denkens übernimmt Sinclair, wenn er vom Denken im analytischen und synthetischen Sinne, als bedingtes und unbe- dingtes spricht (§§ 388; 612). XXVI Einleitung des Herausgebers diesen Teil als eine Art von Phänomenologie zu umschreiben, und zwar in dem weiten Sinn, den ihr Hegel im gleichnamigen Werk von 1807 verleiht: Das Feld der Erfahrung reicht für Sinclair von der sinn- lichen Erfahrung über die Naturwissenschaften bis hin zu praktischen Bereichen wie Moral, Religion und Geschichte. Die hierin entfalteten Teilmomente müssen sich als Synthesen der jeweiligen Teilmomente des ersten und zweiten Abschnitts ausweisen lassen. Konkreter wird die Beziehung der Teile untereinander sowohl in methodischer als auch inhaltlicher Hinsicht, wenn man sich das Grundprinzip von Sinclairs philosophischem Denken vornimmt, näm- lich den Ausdruck. Der Fortschritt der Erkenntnis und der Sache lässt sich im Sinne der Expressivität verstehen – wie das folgende Kapitel ausführen wird. Die eben dargelegte, abstrakt anmutende Unterteilung soll durch die folgende Abbildung schematisch verdeutlicht werden.

4. Sinclairs Theorie der Expressivität

Ein bislang nur am Rande erwähntes Einteilungskriterium von Wahr- heit und Gewissheit liefert Sinclairs Konzept des Ausdrucks: Der erste Teil („Wahrheit“) wird im zweiten Teil („Gewissheit“) in seinen Aus- druck überführt (§ 201), um schließlich im dritten und letzten Teil bei- de im Ausdruck des Ausdrucks, der Erfahrung, zu vereinen („Wahr- heit und Gewissheit“; § 547). Für eine Annäherung an dieses Konzept hilft auch hier ein Blick auf Hegel. In einem Brief an diesen bemerkt Sinclair bezüglich seiner Lektüre der Phänomenologie des Geistes: „Besonders vermißte ich, daß Dein Gang Dich nicht auf die Unter- scheidung des Ausdrucks und des Ausgedrückten führte, die mir der cardo rei scheint, den aber kein Denken noch bisher berührte. Nach Deiner Vorrede […], wo Du vom Verhältnis des raisonnierenden zum spekulativen Satz sprichst, scheinst Du mir in der Anerkenntnis dieses Verhältnisses des Ausdrucks zum Ausgedrückten sehr nahe zu sein.“36 An besagter Stelle der Phänomenologie untersucht Hegel die Taug- lichkeit der Sprache zur Darstellung seines Denkens und kritisiert diesbezüglich das räsonierende oder vorstellende Denken, wie es vor allem der gemeine Menschenverstand praktiziert. Dieses Sprach- und

36 Brief vom 5.2.1812. Einleitung des Herausgebers XXVII

Wahrheit und Gewissheit (Inhaltsübersicht)

Wahrheit Gewissheit Wahrheit und Gewissheit (Bd. I: §§ 1–200) (Ausdruck) (Erfahrung) (§§ 201–546) (§§ 547–Ende) Zweifel Gedanke Vom Gedanken in der (§§ 1–11) (§§ 223–245) Erfahrung und von der Wissenschaft der Dinge (Bd. I: bis § 1020; Bd. II) Wie wird unterschieden und Gedanke des Seins Vom Gedanken des Seins in nicht-unterschieden? (Was ist Sein?) der Erfahrung und von der (§§ 12–20) (§§ 246–272) Sprache (Beginn: Bd. III) Widerstreit des Wie und des Verschiedenheit des Von der Erfahrung der Entgegen-Seins von Seins Verschiedenheit des Seins Unterscheiden und Nicht- (§§ 273–292) vom Sein und vom Unterscheiden Widerspruch (§§ 21–34) (Vom Willen) Einigkeit des Unterscheidens und Vereinigung des Seins Von der Erfahrung der Nicht-Unterscheidens und Gedacht-Seins Vereinigung des Seins und (§§ 35–46) (§§ 293–304) Gedachtseins und von dem Tun Aufgabe/Sein-Sollen der Einigkeit Bewusstsein Von der Erfahrung des (Einigkeit soll sein.) (Ich bin.) Bewusstseins und vom Sein (§§ 47–70) (§§ 305–346) der Menschen Lösung der Aufgabe Gott Von der Erfahrung der (Einigkeit des Unterscheidens und (Gott ist das Sein.) Gottheit und von der Nicht-Unterscheidens ist (§§ 347–382) Religion vermittelst eines Unterscheidens, das dem Nicht-Unterscheiden entgegen ist, ohne es aufzuheben.)

(§§ 71–92) Fortdauer der Aufgabe/Sein- Leben Von der Erfahrung des Werden (Ich bin von Gott Lebens (Einigkeit wird sein.) erschaffen und göttlich und von der Tugend (§§ 93–150) bestimmt.) (Ende der Suche nach (§ 383–447) Wahrheit und Gewissheit) Möglichkeit des Zweifels/An- Dinge Vervollkommnung sich-Sein (Es gibt Dinge.) (§§ 151–175) (§§ 448–498) Aus dem Zweifel entsteht die Freiheit Kunst Lösung oder nicht. (Ich bin frei.) (§§ 176–187) (§§ 499–525) Die Lösung hat ein Sein, das ist, Welt Geschichte ohne zu entstehen, insofern sie aus (Die Welt ist.) dem Zweifel nicht entsteht. (§§ 526–546) (§§ 188–200) XXVIII Einleitung des Herausgebers

Denkverhalten verortet Hegel in einer bestimmten Auffassung der Ur- teilsstruktur: Demnach werden in Urteilen einem festen Subjekt Prädi- kate oder Eigenschaften beigelegt. Das Vorgehen ist äußerlich: Man hat ein Subjekt und eine Menge an Prädikaten, bei denen man sich fragt, welche davon dem Subjekt zukommen. Dieses äußerliche Zu- sammenfügen führt indes nicht zu einer Einheit; die Trennung zwi- schen Subjekt und Prädikat wird fixiert – man erinnert sich unwillkür- lich an Hölderlins Kritik der Urteilsstruktur als Urteilung. Dieser statischen Vorstellung stellt Hegel nun nicht eine ästhetische intellek- tuelle Anschauung zur Erfassung des ungetrennten Seins, sondern die Konzeption des spekulativen Satzes entgegen, worin „die Identität des Subjekts und Prädikats den Unterschied derselben, den die Form des Satzes ausdrückt, nicht vernichten, sondern ihre Einheit als eine Har- monie hervorgehen“ lassen soll.37 Der spekulative Satz bringt folglich die organische Entfaltung des Subjekts in seinen Eigenschaften zum Ausdruck; damit begreift er zugleich, warum diese Eigenschaften dem Subjekt zukommen. In der Philosophie taugen für Hegel nur spekula- tive Sätze, welche die Trennung zwischen Denken und Sein nicht fixie- ren, sondern diese als dynamische Entwicklung des Begriffs, der zu- gleich die Sache selbst ist, auffassen. Ohne hier länger auf Hegels Konzeption eingehen zu können, stellt sich die Frage, inwiefern Sinclair den ersten Teil von Wahrheit und Gewissheit mit dem spekulativen, den zweiten Teil mit dem räsonie- renden Satz in Verbindung bringen kann. Denn er vergleicht in dem Zitat das Verhältnis des räsonierenden zum spekulativen Satz mit demjenigen von Ausdruck (zweiter Teil) und Ausgedrücktem (erster Teil). Zunächst könnte der Verdacht naheliegen, dass in diesem Fall kein Fortschritt auf der Suche nach Wahrheit und Gewissheit erzielt wird. Doch scheint Sinclair im Gegenteil damit einen profunden Ein- blick in das dialektische Denken zu beweisen. Denn auch in Hegels Dialektik, welche die Dynamik des spekulativen Satzes ausdrückt, wird im jeweils zweiten Denkschritt stets das Moment der Verstandes- trennung (Antithese) betont, die ursprüngliche Einheit gelöst, um erst im dritten Schritt eine Versöhnung (Synthese) zu erzielen. Anders for- muliert: Für Sinclair ist das Ausgedrückte (erster Teil) die Bewegung der Sache selbst, des Zweifels „Lösung an sich“. Erst mit dem Aus- druck, der nichts anderes als das gedankliche Aussprechen („Gedanke

37 G.W.F. Hegel: Werke. A.a.O., S. 59. Einleitung des Herausgebers XXIX des Seins“) ist, fallen Denken und Sein auseinander. Das ausgedrückte Sein wird daher im Ausdruck (Urteil) nur recht mangelhaft erfasst; darin besteht die Analogie zum räsonierenden Satz Hegels, für wel- chen die selbst gesetzte Trennung unüberwindlich ist. Auch Hegel räumt dieser Trennung und damit dem räsonierenden Denken eine ge- wisse Berechtigung ein, jedoch keine absolute, d.h. man darf hier nicht stehen bleiben. Der (notwendige) Mangel wird bei Sinclair erst im Ausdruck des Ausdrucks, in der Erfahrung, überwunden, indem ein Zusammenschluss von Sein und Denken, Wahrheit und Gewissheit er- folgt. Man erkennt unweigerlich in Sinclairs Theorie des Ausdrucks eine Affinität zu Hegels Dialektik oder Theorie der Negation.38 Sinclair hat die Idee des Ausdrucks ursprünglich wohl aus der äs- thetischen Diskussion mit Hölderlin übernommen. In seinem Aufsatz „Über dichterische Composition überhaupt, über lyrische insbesonde- re“, der 1806 in der Sammlung Glauben und Poesie erschien, fungiert der Ausdruck, vor allem die dichterische Sprache, als Einheitsband zwischen darzustellendem Gegenstand und dem subjektiven Ideal des Künstlers. In „diesem Begriff soll gerade die unlösliche Verbindung von Bedeutung und Bezeichnetem im Zeichen, von Objektivem und Subjektivem in der Sprache benannt werden.“39 Auch in den Künsten besitzt der Ausdruck die Eigenart, dasjenige zu sein, das Subjekt und Objekt voneinander unterscheidbar macht, dessen Ziel jedoch die Ver- einigung von ihnen ist. Man darf Sinclairs Rede vom Ausdruck indes nicht auf die Sprache als einziges Ausdrucksmittel beschränken. Die Grundstruktur bleibt nämlich dieselbe: Jegliches menschliches Aus- drucksgeschehen, ob es in der Sprache, der Kunst oder im Handeln ge- schieht, gilt erst dann als gelungen, wenn das Innere vollkommen im Äußeren präsent ist, ohne es, und damit den Unterschied beider, zu zerstören. Aus diesem Blick auf die Ästhetik lässt sich vielleicht erahnen, wel- che Dimension der Ausdruck für Sinclair annimmt. Er ist nicht nur Ei-

38 Also entspricht Sinclairs Trias „Ausgedrücktes – Ausdruck – Ausdruck des Ausdrucks“ Hegels Dreischritt „Seinsposition – Negation – Negation der Negation“. Wenn man noch weiter gehen will, könnte man auch Sinclairs Verwendung der zentralen Begriffe „Wahrheit“ und „Gewissheit“ mit de- ren Verwendung in Hegels Phänomenologie in Verbindung bringen: Einmal wird die ontische Seite, das andere Mal die epistemische Seite hervorgeho- ben. 39 Auch dieser Aufsatz ist nachzulesen bei H. Hegel: A.a.O., S. 176f.