Staatspreis des Landes Nordrhein-Westfalen 2007 Professor Dr. Dr. h.c. Wolf Lepenies

Inhalt Der Staatspreis des Landes Nordrhein-Westfalen 4

Die Staatspreisträger des Landes Nordrhein-Westfalen 6

Programm 2007 7

Ansprache des Ministerpräsidenten Dr. Jürgen Rüttgers 8

Laudatio von Klaus Harpprecht 14

Dankesrede von Prof. Dr. Dr. h.c. Wolf Lepenies 22

Vita Wolf Lepenies 32

Giora Feidman Trio 39 4 5

Der Staatspreis Die Landesregierung des Landes Nordrhein-Westfalen hat am des Landes 23. September 1986 für herausragende kulturelle oder wissen- Nordrhein-Westfalen schaftliche Leistungen oder herausragende Leistungen in anderen Lebensbereichen einen Staatspreis des Landes Nordrhein-Westfalen gestiftet. Der Staatspreis wird an Persönlichkeiten verliehen, die dem Land Nordrhein-Westfalen durch Werdegang und Wirken verbunden sind. Ihr Wirken muss wesentlich über den Rahmen örtlicher oder regionaler Bedeutung hinausgehen.

Der Staatspreis des Landes Nordrhein-Westfalen wird in der Regel jährlich verliehen. Die Gesamtsumme des Staatspreises ist auf 25.000 Euro festgesetzt. Der Preis kann geteilt werden.

Der Staatspreis wird durch den Ministerpräsidenten verliehen. Die Trägerinnen und Träger des Staatspreises erhalten neben dem Geldpreis eine Verleihungsurkunde.

Zur Beurteilung der Leistung, deren Anerkennung durch die Verleih- ung des Staatspreises erwogen wird, beruft der Ministerpräsident sachverständige Persönlichkeiten, die ihn beraten. Sie sind unabhän - gig, üben ihre Tätigkeit ehrenamtlich aus und sind zur Verschwiegen - heit verpflichtet.

(Beschluss Landesregierung, Stiftung des Staatspreises am 23.9.1986, Ergänzung am 16.5.2003) 6

Staatspreisträger Frau Professorin Lore Lorentz (1986) des Landes Herr Kay Lorentz (1986) Nordrhein-Westfalen Herr Professor Dr. Walter Dirks (1986) Herr Professor Dr. phil. Dr. theol. h.c. mult. Dr. phil. h.c. Josef Pieper (1987) Herr Professor Günter Wand (1987) Frau Professorin Carola Stern (1988) Herr Prof. Dr. Rudolf Morsey (1988) Herr Prof. Dr. med. Dr. med h.c. mult. Gerhard Meyer-Schwickerath (1989) Herr Professor Georg Meistermann (1989) Frau Professorin Pina Bausch (1990) Herr Adolf Schmidt (1990) Herr Professor Dr. med. Ludwig E. Feinendegen (1991) Herr Professor Dr. h.c. Lew Kopelew (1991) Herr Dr. h.c. mult. Hermann J. Abs (1992) Herr Professor Dr. Christoph Wolff (1992) Herr Professor Dr. Hermann Flohn (1993) Herr Gerd Ruge (1993) Herr Hanns Dieter Hüsch (1994) Herr Staatsminister a.D. Professor Dr. Dr. h.c. mult. Paul Mikat (1994) Herr Professor Dr. Ing. Dr. h.c. mult. Reinhardt Jünemann (1995) Herr Professor Dr. Dr. h.c. Wilhelm Schneemelcher (1995) Frau Professorin Dr. Helga Grebing (1996) Herr Professor Gottfried Böhm (1996) Herr Reinhard Goebel (1997) Herr Professor Dr. Dr. h.c. Bernhard Korte (1997) Frau Rosemarie Trockel (1998) Herr Reinhard Mohn (1998) Frau Professorin h.c. Dr. Hilde Domin (1999) Herr Dr. h.c. Egidius Braun (1999) Herr Professor Dr. Dr. h.c. mult. Reinhard Selten (2000) Herr Professor Gerhard Richter (2000) Frau Hilla Becher (2001) Herr Professor Bernd Becher (2001) Herr Dr. Winfried Materna (2001) Herr Professor Krysztof Penderecki (2002) Herr Paul Spiegel (2002) Herr Professor Dr. Hans-Ulrich Wehler (2003) Herr Professor Dr. Dr. h.c. Karl Ganser (2003) Frau Anneliese Brost (2004) Frau Alice Schwarzer (2004) Herr Professor Dr. h.c. mult. Marcel Reich-Ranicki (2005) Herr Professor Dr. Jürgen Habermas (2006) 7

Programm

Festliche Begleitung Giora Feidman Trio Together (Ora Bat Chaim) Freilach (trad.) Mi Kamocha (J. Sperling)

Ansprache Dr. Jürgen Rüttgers Ministerpräsident des Landes Nordrhein-Westfalen

Laudatio Klaus Harpprecht

Aushändigung des Staatspreises an Professor Dr. Dr. h.c. Wolf Lepenies

Giora Feidman Trio Klarinettenkonzert 2. Satz (Wolfgang Amadeus Mozart) The Entertainer (Scott Joplin)

Dankesrede Professor Dr. Dr. h.c. Wolf Lepenies

Giora Feidman Trio Shalom Haverim (trad.) Song derived from three Anthems (Haydn/Theodorakis/trad.)

Moderation Tom Buhrow 8

Ansprache des Nordrhein-Westfalen verleiht heute den Staatspreis 2007 an Ministerpräsidenten Wolf Lepenies . Wolf Lepenies ist Soziologe. Er ist aber auch Historiker, Dr. Jürgen Rüttgers Literaturwissenschaftler und Philosoph. Er ist ein universal gebildeter Homme de lettres , wie es in Deutschland nur ganz wenige gibt.

Er hat in seinen Werken das Panorama der europäischen Kultur ent- faltet . Er hat uns die europäischen Nationen wie in einem intellektuellen Welttheater vorgeführt – sowohl voneinander angezogen als auch abge - stoßen , lange Zeit verfeindet und doch zugleich so eng verwandt . Er hat uns gelehrt, was es heißt, europäisch zu denken . Er hat uns gezeigt, was es heißt, Europäer zu sein.

Egon Friedell, der bedeutende Wiener Kulturhistoriker, hat einmal fest - gestellt: „Kultur ist Reichtum an Problemen, und wir finden ein Zeitalter umso aufgeklärter, je mehr Rätsel es entdeckt hat .“ Dieser Satz könnte auch von Wolf Lepenies sein. Und er würde wohl noch zuspitzen : Deutsche Kultur ist vor allem Reichtum an Problemen . Von diesem „seltsamen “ Reichtum war Wolf Lepenies von Anfang an fasziniert. Er war schon Thema seiner Dissertation „Melancholie und Gesellschaft“, die er 1967 an der Wilhelms-Universität in Münster eingereicht hat. Und er ist auch das Thema seines jüngsten Buches „Kultur und Politik“ .

Im spannungsgeladenen Verhältnis von Kultur und Politik erkennt Wolf Lepenies ein Grundmuster des deutschen Reichtums an Proble - men. Dieses Verhältnis war häufig produktiv, aber nicht selten auch de - struktiv. Destruktiv dann, wenn die Kultur fast religiös überhöht und das Politische im Gegenzug regelrecht verdammt oder gar verteufelt wurde .

Diese Spaltung von Kultur und Politik hat Deutschlands Weg zur Demo - kratie und Einheit behindert. Deshalb hat Helmuth Plessner Deutsch - land die „verspätete Nation“ genannt. Diese Spaltung von Kultur und Politik hat auch den Boden bereitet für politischen Radikalismus. Aus ihm entsprang die Nazi-Barbarei und damit die totale politische, kulturelle und vor allem moralische Niederlage Deutschlands .

Wolf Lepenies hat die Folgen präzise beschrieben : „Um den Zivilisati - onsbruch, den es über Europa gebracht hatte, zu heilen, musste Deutschland die deutscheste aller Ideologien aufgeben, die Illusion, die Kultur könne eine Kompensation der Politik sein. Der Prozess, der zur Aufgabe dieser Illusion führte, war lang. Der Holocaust, diese Weg - scheide der europäischen Zivilisation, machte es unmöglich, in der Kultur den Trost für eine fehlgegangene Zivilisation zu sehen.“ 9

Diese Analyse ist historisch bestechend. Sie ist es aber auch politisch. Denn sie enthält eine klare Botschaft. Sie lautet: Kultur und Politik dürfen nicht voneinander getrennt werden. Sie gehören zusammen. Sie müssen aufeinander bezogen sein. Humane Politik kann nur gelingen auf der Basis eines Wertefundaments. Dieses Wertefunda - ment hat seine tiefen Wurzeln in der europäischen Kultur, im jüdisch- christlichen Menschenbild und in der Aufklärung.

Die Kultur wiederum braucht Institutionen, die ihre Normen und Ideale in konkretes politisches Handeln übersetzen. Nur dann ist politisches Handeln glaubwürdig. Nur dann ist es im wahrsten Sinne des Wortes human. Nur dann entgeht aber auch die Kultur der Gefahr der lebensfernen Stilisierung und der fatalen Verabsolutierung.

Wenn Politik und Kultur zusammengehören, dann hat Bildung ihren eigenen Wert und darf nicht einem reinen Nützlichkeitsdenken und einer instrumentellen Logik unterworfen werden. Das ist weder welt - fremd noch weltfern. Das Gegenteil ist richtig : Wilhelm von Humboldt hat sein Bildungsideal einmal sehr schön so zusammengefasst : „Wer, wenn er stirbt, von sich sagen kann: ‘Ich habe soviel Welt, als ich konnte, erfasst und in meine Menschheit verwandelt’ – der hat sein Ziel erreicht.“

Das ist ein Grundgedanke der Bildung des Menschen. Im huma- nistischen Ideal verkörpert sich die Idee der ganzheitlichen Selbst- bildung . Erst diese umfassende Bildung von Körper, Geist und Seele ermöglicht individuelle Selbstbestimmung und Selbstverantwortung. Dieses Ideal hat bis heute Gültigkeit. Es ist auch Grundlage der großen nordrhein-westfälischen Bildungsreform unserer Tage .

Gerade in Zeiten der globalisierten Wissensgesellschaft brauchen wir mehr Allgemeinbildung. Denn nur mit Allgemeinbildung lässt sich die steigende Wissens- und Informationsflut bewältigen. Nur dann ist man in der Lage, Wichtiges von Unwichtigem zu unterscheiden. Nur dann können wir verhindern, dass sich die Gesellschaft spaltet in diejenigen, die mit dem neuen Wissen umgehen können und in diejenigen, die damit überfordert sind.

Das kann gelingen, wenn Bildung nicht zu rein funktionaler Aus- bildung verkommt. Deshalb gilt es an der Freiheit und der Einheit von Forschung und Lehre festzuhalten. Auch deshalb wendet sich Wolf Lepenies so vehement gegen eine einseitige Orientierung der Wissenschaften an Nützlichkeit und ökonomischer Verwertbarkeit. 10

Und deshalb plädiert er für eine Stärkung der Werte in den Wissen - schaften. So können sie auch Kompass für politische Entscheidungen sein.

Wenn Politik und Kultur zusammengehören, dann bedeutet das, die Geistes- und Sozialwissenschaften zu stärken und nicht zu schwächen . Das ist nicht selbstverständlich. Im vergangenen Jahr - zehnt wurden über 600 Professuren an den geisteswissenschaftli - chen Fakultäten Deutschlands gestrichen . Diesen Verlust kritisiert Wolf Lepenies zu Recht unermüdlich .

2007 ist zum Jahr der Geisteswissenschaften ausgerufen worden. Aber es war immer wieder von ihrer Krise die Rede. Als Begründung war zu lesen, sie zögen sich zu sehr in den Elfenbeinturm des Spezia - listentums zurück . Sie entbehrten der gesellschaftlichen und politi - schen Relevanz. Sie seien nicht wichtig , anders als zum Beispiel die Natur- und Ingenieurwissenschaften.

Das stimmt – aber nur zum Teil. Was würde es bedeuten, wenn wir keine Geistes- und Sozialwissenschaften mehr hätten? Was würde uns fehlen, wenn wir keine Philologien, keine Religionswissenschaf - ten, keine Geschichtswissenschaften, keine Soziologie, keine Philoso - phie hätten?

Der Grundstock aller Bildung, die elementare Basis im Humboldt - schen Sinne , würde fehlen. Wir wären abgeschnitten von allem, was unsere uralte Kultur ausmacht. Wir hätten unsere grundlegende Orientierung verloren. Wir hätten keine Zukunft.

Die Geistes- und Sozialwissenschaften können Kompass für die Zukunft sein. Aber sie sind es leider häufig nicht mehr. Kompass zu sein heißt Richtung weisen. Das geht nur mit begrifflicher Klarheit. Daran mangelt es im Zeitalter der postmodernen Beliebigkeit. Das zeigt ein kurzer Blick in viele geisteswissenschaftliche Publikationen . So bin ich vor kurzem auf folgenden Satz gestoßen, den ich Ihnen nicht vorenthalten möchte. Dort hieß es über die moderne Gesell - schaft:

„Wenn grundsätzlich für die moderne Gesellschaft gilt, dass von mo - nokontexturaler zu polykontexturaler Beobachtung übergegangen werden muss, (…) dann gilt dies insbesondere bei unscharfen kom - munikativen Ereignissen, die keine eindeutigen Systemreferenzen besitzen.“ 11

Das ist nicht nur unverständlich, das ist schierer Unsinn. Es ist symptomatisch für einen Mangel an Klarheit und Verständlichkeit zentraler Begriffe. Aber wer nicht verständlich machen kann, was er meint, kann auch nicht darüber streiten. Und worüber sich nicht streiten lässt, das findet keine Beachtung.

Deshalb braucht gerade die politische Debatte präzise Begrifflich- keiten , präzise argumentierende Geistes- und Sozialwissenschaften . Und sie braucht große Würfe statt kurzfristiger Projekte . Nicht um - sonst hat übrigens Niklas Luhmann seinerzeit zu seiner Theorie der Gesellschaft lapidar bemerkt: „Dauer: dreißig Jahre. Kosten: keine .“ Wir brauchen also eine Renaissance der Geisteswissenschaften, aber auch mehr Relevanz durch mehr Klarheit und Eindeutigkeit.

Kultur und Politik nicht zu trennen, sondern zu verbinden, erfordert darüber hinaus, dass sich der Staat nicht aus der Förderung der Künste und der künstlerischen Erziehung zurückzieht . Kunst und Kultur sind kein Luxus, auch und gerade nicht in Zeiten knapper Kassen. Sie sind elementar , nicht nur für den Zusammenhalt der Gesellschaft, sondern auch für ihren ökonomischen Erfolg – in der globalisierten Wissensgesellschaft mehr denn je.

Deshalb verdoppeln wir in Nordrhein-Westfalen die Kulturförder- mittel. Deshalb gibt es eine besondere Förderung der Geistes- und Sozialwissenschaften. Deshalb geben wir mit dem Programm „Jedem Kind ein Instrument “ allen Kindern zuerst in der Metropole Ruhr und bald auch im ganzen Land die Möglichkeit, ein Musikinstrument zu erlernen. Deshalb holen wir mit dem Programm „Kultur und Schule“ Künstler in die Schulen, damit sie den Kindern helfen, ihre kreativen Kräfte so früh wie möglich zu entfalten.

Wir in Nordrhein-Westfalen wollen Kunst und Kultur zu unserem Markenzeichen machen . Dass die Metropole Ruhr 2010 Kulturhaupt - stadt Europas wird, ist dafür Symbol und Signal gleichermaßen.

Kultur und Politik eng zu verbinden, heißt aber auch, Vielfalt zu er - möglichen . Wenn heute Menschen aus 140 Nationen und den ver - schiedensten Kulturen bei uns in Nordrhein-Westfalen leben, dann ist das ein Zeichen kultureller Stärke . Aber es ist auch eine Aufgabe. Wir müssen die Menschen mit einer Zuwanderungsgeschichte besser in unsere Gesellschaft integrieren. Das gelingt nur dann, wenn wir unsere Werte nicht relativieren, sondern uns zu ihnen bekennen und sie leben. 12

Nur wer in seiner eigenen Kultur zu Hause ist, kann das Fremde als das Andere verstehen. Wer dagegen seine Kultur verleugnet, wird auch Menschen aus anderen Kulturen nicht verstehen können. Wenn wir unsere Traditionen, unsere Sitten und unsere Geschichte vergäßen, wären wir nicht offener für das Fremde. Wir wären gar nicht in der Lage, das Fremde mit seinen eigenen Traditionen, mit seinen eigenen Sitten, mit seiner eigenen Geschichte zu verstehen.

Ich wünsche mir ein Nordrhein-Westfalen, in dem jeder Respekt erwarten kann. In dem sich jeder verantwortlich fühlt dafür, dass die Gesellschaft nicht auseinanderfällt. In dem jeder Mut und Zivil - courage beweist, wenn es nötig ist, gegen Rechtsradikalismus und Fremdenfeindlichkeit aufzustehen. Aber ich wünsche mir auch ein Nordrhein-Westfalen, in dem es für jeden, der hier lebt, ganz selbst - verständlich ist, unsere Sprache zu beherrschen und sich zu unseren Werten zu bekennen.

Wolf Lepenies hat zu Recht in seiner bedeutenden Friedenspreisrede gemahnt: „Woran es mangelt, ist die Wärme, mit der wir uns zu unse - ren Werten bekennen.“ Und er hat mit Blick auf die globale Entwick - lung ebenfalls daran erinnert, dass die Demokratie nur „ansteckend“ wirken kann, wenn sie nicht routiniert betrieben, sondern mit Enthusi - asmus gelebt wird , freilich mit einem Enthusiasmus ohne Überheb - lichkeit. Wolf Lepenies hat das Ziel klar abgesteckt. Es liegt in einer, wie er sagt, „Kultur der selbstbewussten Freiheit“ .

Die Kultur der selbstbewussten Freiheit ist die Kultur Europas. Wir müssen sie stärken, indem wir Europa stärken. Auch das bedeutet die enge Verbindung von Kultur und Politik. Das Ziel muss heißen: Mehr Europa, nicht weniger.

Wolf Lepenies hat sich um die Integration Europas verdient gemacht. Nach dem Fall der Mauer hat er als Leiter des Wissenschaftskollegs zu eine neue Dimension der wissenschaftlichen Zusammenar - beit mit den Ländern Mittel- und Osteuropas eingeleitet. Ohne ihn gäbe es das Institute for Advanced Study in Budapest oder ähnliche Gründungen in Sofia, Bukarest oder Sankt Petersburg nicht . Das war, wie Ralf Dahrendorf es ausgedrückt hat, eine „einmalige europäische Erfolgsgeschichte“.

Die europäische Erfolgsgeschichte ist aber vor allem auch eine Ge - schichte der deutsch-französischen Freundschaft. Auch dafür hat sich Wolf Lepenies sein Leben lang engagiert, sowohl im Rahmen 13

seiner Studien zur Ideen- und Kulturgeschichte Frankreichs als auch zum Beispiel als Directeur d’études an der Pariser Maison des Sciences de l’Homme oder als Inhaber der Chaire européenne am Collège de France . Nicht umsonst ist er Ehrendoktor der Pariser Sorbonne und Offizier der Französischen Ehrenlegion.

Wer die europäische Integration vertiefen will, muss alles dafür tun, dass Deutschland und Frankreich eng zusammenarbeiten. Beide Nationen haben vorgelebt, wie aus heftigster Feindschaft intensive Freundschaft wird. Sie waren immer der Motor der europäischen Integration. Sie müssen es auch in Zukunft sein.

Frankreich und Deutschland brauchen künftig in allen wesentlichen europa- und außenpolitischen Fragen gemeinsame Positionen. Dazu gehört eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik. Aber auch der Kampf für eine europäische soziale Marktwirtschaft als Angebot Europas an eine globalisierte Welt.

Die enge Freundschaft zwischen Deutschland und Frankreich ist mir ein ganz persönliches Anliegen. Deshalb werden wir in Nordrhein- Westfalen zusammen mit unseren Freunden in Frankreich im näch - sten Jahr eine Vielzahl von kulturellen Veranstaltungen durchführen. Wir müssen Europa im besten Sinne des Wortes „vorleben“.

So wie Wolf Lepenies, der leidenschaftliche Citoyen, der geistreiche Intellektuelle, der brillante Analytiker und der engagierte Moralist . Er verkörpert das humanistische Erbe Europas. Er lebt es im besten Sinne vor.

Ich danke den Mitgliedern des Beratungsgremiums sehr herzlich für ihre Unterstützung bei der Nominierung des heutigen Preisträgers.

Es ist mir eine große Ehre und Freude, Wolf Lepenies mit dem Staatspreis des Landes Nordrhein-Westfalen auszuzeichnen. 14

Laudatio von Herr Ministerpräsent, hochmögende Damen und Herren, Klaus Harpprecht verehrte Frau Lepenies und – last yet first – lieber Herr Lepenies.

Es ist für mich eine hohe Ehre, den festlichen Augenblick Ihrer Auszeichnung mit ein paar Worten einläuten zu dürfen. Freilich, als ich Ministerpräsident Rüttgers Einladung, den Preisträ - ger hier zu würdigen mit einem schallenden „Ja“ und einer telephoni - schen Verbeugung annahm, ahnte ich kaum, worauf ich mich einließ. In meiner Unschuld meinte ich, mit Werk und Wirkung von Wolf Lepenies halbwegs vertraut zu sein, doch als ich seine Vita und sein Opus genauer studierte, überfielen mich Zweifel, wie ich der Vielfalt der Engagements, der Kenntnisse, der Kreationen, der Publikationen, der Errungenschaften, kurzum: der Leistungen dieses Menschen gerecht werden könnte, der – wenn denn einer unserer zeitgenössi - schen Landsleute – Anspruch auf den Titel eines Homo universalis und einer ubiquitären Existenz anmelden dürfte. Ich sah mich, um die Wahrheit zu sagen, in eine Krise gestürzt. Meine Frau verwahrt einen Zettel, auf dem geschrieben steht, ich wünschte mir als Epitaph die simplen Worte „Wenigstens war er fleißig“. Nun bin ich mir, angesichts der Gebirge ihrer Arbeit, Herr Lepenies, keineswegs mehr gewiss, ob jene Grabschrift gerechtfertigt wäre, denn ich fühle mich, im Vergleich, wie ein verlotterter Faulpelz.

Wenn ich recht gezählt habe, sind es elf Gremien, in denen Sie tätig waren und meist noch sind: von der Thyssen-Stiftung über das Aspen-Institute Berlin, die Deutsche National-Stiftung, die Suntory Foundation im japanischen Osaka bis zum Aufsichtsrat der Axel Springer AG. Sie übten – neben den regulären akademischen Ämtern – dreizehn Gastprofessuren aus: von der Wesleyan University in Connecticut über das Collège de France und Princeton bis zum St. Anne’s College in Oxford. Sie sind, wenn ich recht weiß, der ein - zige Mensch, der die Berufung als Permanent Member des Institute for Advanced Study in Princeton abgelehnt hat – immerhin die akademische Heimat von Einstein! –, vermutlich weil der Aufenthalt auf diesem olympischen Gipfel des akademischen Universums die Erfüllung ihrer anderen Pflichten nicht zugelassen hätte. Nebenbei schrieben sie achtzehn Bücher.

Nein, ich wusste nicht, dass ein Wundermann auf so vielen Hochzei - ten zugleich tanzen kann – und das hingegeben und elegant, seiner Schritte und Figuren völlig sicher: ob klassischen Walzer oder dort womöglich Hiphop; dass ein homme d’orchestre, wie unsere anderen Lan dsleute jenseits des Rheines sagen, so viele Instrumente be - 15

herrscht; dass einer auf so vielen Stühlen zu sitzen vermag, keines - wegs kippelig an der Kante, sondern gelassen und aufrecht. Dass er außerdem noch zwischen diesen Stühlen sitzt, weil das der wahrhaft angemessene Aufenthalt für einen Intellektuellen ist. Was er arbeitet, was er darstellt, was er kann, was er ist: dies lässt sich am besten in einer Serie von Verkoppelungen andeuten, mit denen sich die Spann - weite und die Spannkraft dieses Menschen anzeigen, vielleicht auch die Spannungen seiner Existenz, die mitunter ans Paradoxe grenzen (und dennoch keine Verspannungen sind).

Er ist studierter und lehrender Soziologe – und trotzdem ein brillan - ter Schreiber. Er ist ein international hoch respek tierter Gelehrt er, was er in abertausend Vorlesungen, Seminaren, Publikationen nach - gewiesen hat – und er führt trotzdem eine elegante Feder. Er ist ein akademischer Organisator von virtuosem Geschick – und trotzdem ein Autor, der niemals kurzatmig formuliert, sondern, im Gegenteil, mit einem bemerkenswert langen Atem schreibt. Er ist der erfolg - reichste Kultur-Manager, den die Bundesrepublik in die Welt ge - schickt hat – und trotzdem ein Essayist höchsten Niveaus, von denen Deutschland seit dem Tod Friedrich Sieburgs nicht viele vorweisen kann. Er ist, ob er es denn gern hört oder nicht, ein Politiker in Sachen Kultur, aller Vernetzungen kundig und selber tausend Fäden kunst- fertig aneinander knüpfend – und ist trotzdem, auf eher französische Art, ein Literat, dessen Werke jene souveräne Unabhängigkeit annon - cieren, ohne die Literatur nicht denkbar ist. Er ist ein „Macher“ par excellence – und dennoch ein genuiner „homme de lettre“. Er spricht und schreibt das Französische und Englische (fast) so gut wie das Deutsche – und bewahrte im Umgang mit seiner Mutterspra - che trotzdem jene Intimität und Nuanciertheit, die den Stilisten aus - machen. Er ist ein Mann von Welt – und seine Bücher lesen sich trotz- dem, als arbeite er, ganz auf die Sätze konzentriert, die ihm in die Feder, nein, in den Laptop fließen, wie Hieronymus im Gehäuse, weit- ab vom Treiben der Gassen. Was für mich der Generalbass dieser polyphonen Existenz ist, lässt sich nicht überhören: natürlich das geschriebene Wort.

Wolf Lepenies aber ist in der Tat ein Bürger der Welt, ein „Weltbewoh- ner“, wie er den „Weimaraner“ Goethe zitiert – und gerade darum ein guter Europäer. Ein guter, ein selbstverständlicher, gleichsam ein natürlicher Europäer – und eben darum auch ein gelassener Patriot, der Willy Brandts Schlüsselwort nachlebt, dass ein guter Deutscher kein Nationalist sein kann. In den zentralen Essays des Bandes „Kultur und Politik“ spürte Lepenies – unter dem Generaltitel 16

„Deutscher Geist und Deutsches Reich“ – der Unterscheidung von „Kulturnation“ und „Staatsnation“ nach, die mit der Teilung des Rest- Bismarck-Reiches nach 1945 in einen demokratischen Weststaat und einen autoritären Oststaat eine fast gespensterhafte Aktualität zu - rückgewonnen hatte. Unterdessen wuchs zusammen, was vielleicht zusammengehört – und in der Differenz der Mentalitäten doch nicht ganz, nicht immer und nicht überall zusammengehören will, noch nicht, vielleicht auch nie, vielleicht in einer europäischen Zuordnung, in der die Region wichtiger ist als die Renaissance des Nationalstaates.

Lepenies, der Pädagoge – übrigens einer, der nicht schulmeistern kann und nicht schulmeistern will –, er möchte die Deutschen dazu überreden, die „Kultur“ nicht mehr, wie es einer unglückseligen, ja ver - hängnisvollen Gewohnheit entsprach, „durch eine“ – ich zitiere – „bei - nahe natürlich erscheinende Distanz zur „Politik“ zu definieren. Dafür verdient er Applaus. In seinem respekt-, ja liebevollen Gespräch mit Thomas Mann zeichnet er den Abschied des Meisters von den gran - diosen und zugleich so schockierend-absurden, den pathetischen und oft so sumpfig sentimentalen Illusionen der „Betrachtungen eines Un - politischen“ nach: im Erlebnis der amerikanischen Demokratie, von der sich Thomas Mann freilich, nach dem Tod Franklin Roosevelts und in den Konfrontationen des Kalten Krieges wieder entfernte. Ursache war nicht nur seine Verstimmung über die Perversion des McCarthyis - mus: es handelte sich, fürchte ich, um einen Rückfall des Greises in die antiwestlichen Ressentiments, mit denen er während des Ersten Welt - krieges die „unpolitische“ deutsche „Kultur“ gegen die „politisierte Zivilisation“ der Franzosen und Angelsachsen mobilisiert hatte. Uns aber treibt Lepenies mit der sanften Gewalt seiner Überredung ein für allemal die „deutscheste aller Ideologien“ aus, wie er sagt, nämlich die Illusion, dass „die Kultur … eine Kompensation der Politik sein“ könne. Der Zivilisationsbruch des Holocaust mache es unmöglich, „in der Kultur den Trost für eine fehlgegangene Politik zu sehen“.

Das ist wohl wahr. Es fragt sich freilich, ob Nietzsche nicht allzu Recht behielt, als er in der Glorie des Bismarck-Reiches den Untergang der Kultur gewittert hat. Es wäre ferner zu fragen, ob die Hochzeiten unserer Kultur, die Klassik, die frühe Romantik, für die Musik das Hochbarock, denn in Wirklichkeit so „unpolitisch“ waren, wie man es uns eingeredet hat, Generation um Generation. Wurde die Politik da - mals womöglich nur anders definiert und anders gelebt? Nicht unter dem totalen Anspruch des Nationalstaates, der eine Erfindung der zentralistischen Monarchie Frankreichs war und in der Revolution seine Erfüllung fand. Die Macht des Reiches in der Mitte Europas war 17

seit Beginn des Dreißigjährigen Krieges zerschlissen, der lockere Ver - bund behauptete sich dennoch mit ei ner erstaunlichen Widerstands- kraft , mit der und gegen die Großmacht Österreich-Ungarn, mit und gegen Brandenburg-Preußen, das sich (zunächst) als mittlere Macht formierte. Verkümmert, verlacht, doch keineswegs völlig erstarrt existierte dieses seltsame Reich fort und fort im Gesprengsel und Ge - mengsel der Kurfürsten- und Herzogtümer, der Grafschaften, Abteien, Stadtrepubliken. Sie schenkten Deutschland eine kulturelle Vielfalt, die sein eigentlicher Reichtum ist, bis auf den heutigen Tag, damals bitter genug mit dem Schweiß, dem Geld, manchmal dem Blut der Untertanen bezahlt. Hieß dies, dass die bunte deutsche Duodez-Welt unpolitisch war? Blieb Macht nicht auch in der Verkleinerung Macht? Verteilte sich nicht zugleich die Verantwortung (für die Verwaltung, für die Miniatur-Armeen, für den Handel und die Industrie, für die Institu - tionen der Kultur) nicht auf viele Schultern? War Goethes Alltag als Minister seines Klein-Herzogtums nicht immens politisch? Gedieh in Weimar und anderswo dank öffentlicher Tätigkeit nicht auch jener Bürgergeist, der liberal oder konservativ gestimmt sein mochte (wie Goethe es ohne Zweifel war) – unpolitisch oder antipolitisch freilich nicht? Zeugte Goethes Widerwille gegen das Patriotengeschrei des teutonischen Nationalismus nicht von einer politischen Grundver - nunft, die Respekt verdient? In seinem Essay „Deutsche und Jüdische Diaspora“ zitiert Wolf Lepenies, via Thomas Mann, Goethes Bemer - kung zu Wilhelm von Humboldt, 1808 in einem Brief an seine Frau dokumentiert (die übrigens eine geharnischte Antisemitin war): der beste Rat sei, die Deutschen wie die Juden, in alle Welt zu zerstreuen. Darin verbirgt sich, ins Positive gewendet, der Anspruch auf ein Welt - bürgertum, das Goethe in dem leicht vermufften Residenzstädtchen Weimar vorgelebt hat, bis an die Schwelle des Todes mit den Literatu - ren Europas vertraut: er hatte Manzonis „Verlobte“, das Geburtsbuch der italienischen Moderne, mit dem gleichen zustimmenden Interesse gelesen wie Stendhals „Le Rouge et le Noir“ und Balzacs „Peau de Chagrin“. War des Alten Leben mit und in den europäischen Kulturen unpolitisch?

Er hätte gewiss nicht, wie der exzentrische Brentano, von einer „un - sichtbaren Kirche der Kunst“ gesprochen. Er wollte zum andern kei - nesfalls die verpolitisierte Kultur der Radikalen. Den Begriff „Kultur- politik“ hätte er vermutlich gescheut. Aber nichts anderes un ternahm er mit seiner Reform der Universität von Jena und durch die Berufung der produktivsten Köpfe, die er auszuspähen vermochte. Hernach nahm er die Restauration als das kleinere Übel hin. Sie garantierte, man übersieht es zuweilen – wie eineinhalb Jahrhunderte danach die 18

Internationalisierung Deutschlands – eine lange Periode des Friedens. Die Restauration der bürgerfernen Großmächte Preußen und Öster- reich (in der „Heiligen Allianz“ mit Russland) hat die Kultur in ein apolitisches Niemandsland abgedrängt. Indes bot die föderative Struktur des Deutschen Bundes dem Geist, dem notwendig politi - schen Geist der Kultur, Schlupflöcher genug, in denen er zu überle - ben vermochte. Ich stehe nicht an, den Föderalismus einen deut- schen Glücksfall zu nennen: eine umständliche, komplexe, wider- ständige Lebensform, das ist wahr, doch zugleich ein unübertreffli - ches System der Machtkontrolle, ja der Machtbeschränkung, der produktiven Vielfalt, die uns vor den massiven Torheiten der Macht - zentrierung des Nationalstaates schützt. Europa – von mir aus eines „der Vaterländer“, von mir aus eines „der Staaten“, am Ende viel - leicht denn doch ein Europa der Regionen: es wird, wie das alte Reich, eine Föderation sein: umständlich, komplex, widerständig, zu - gleich flexibel, wandlungs- und anpassungsfähig, vital. Es ist überaus sinnvoll, dass sich zu den Auszeichnungen, die Lepenies im Gang der Jahrzehnte zuteil wurden, nun der große Preis eines Bundeslandes fügt: eines, das die Siegermächte auf dem Reisbrett konstruiert haben und dem so oft seine „Künstlichkeit“ vorgehalten worden ist. (Nebenbei: anders entstanden früher die Staatswesen auch nicht.) Dennoch bewies Nordrhein-Westfalen eine erstaunliche Lebenskraft – aus der deutschen, der europäischen Landkarte nicht mehr fort- zudenken.

Wir dürfen frech behaupten, die Ironie – oder Hegels List – der Geschichte füge es, dass auch die Sieger von den Besiegten lernen – und nicht nur umgekehrt: so übersetzt sich die deutsche Föderation langsam, unendlich langsam in einen europäischen Bund. Es brauch- te diesen doppelten Lernprozess, um der Union auf den Weg zu hel - fen. Es brauchte einen anderen dazu: den konstruktiven Willen der amerikanischen Nachkriegspolitik, Europa ein zweites Versailles zu ersparen – indem sie die Europäer zwang, Europa zu schaffen. Es ist kein Zufall, sondern wiederum ein Beweis für die List der Geschichte, dass der große Jean Monnet seine europäischen Kon- struktionen in Washington entwarf, unterstützt von einem kleinen Sta b amerikanischer Intellektueller, unter ihnen George Ball, hernach der bedeutendste Kopf unter den außenpolitischen Beratern von John F. Kennedy. 19

Wolf Lepenies, der in Washington genauso Zuhause ist wie in , wird mir vermutlich zustimmen, wenn ich behaupte, dass eine ge - wisse Amerikanisierung – auch in der Zivilisation des Alltags – die Voraussetzung für die Europäisierung Europas war. Nicht zu verges - sen: die Vereinigten Staaten sind eine Föderation – der Zusammen - schluss von Staaten, die ihre Eigenart und ihr spezifisches Gewicht im Zeichen der Union keineswegs eingebüßt haben. Wer sich drüben ein bisschen auskennt, weiß gut genug, mit welcher Beharrlichkeit die Regionen des Halbkontinentes ihr kulturelles Gepräge, ihre Akzente, ihre Traditionen behaupten.

Verheißt die vorsichtige, doch unaufhaltsame Regionalisierung Frankreichs – man mag sie eine stille Revolution nennen – nicht die Rückkehr der Politik und der Kultur in die Provinzen? Ist dies nicht die unausweichliche Konsequenz der Europäisierung des Landes: die letztlich unaufhaltsame Entmachtung des Nationalstaates zu - gunsten der Regionen? Und zugunsten der gemeinsamen Institutio - nen der Union, die man ein Zwitterwesen von Elementen einer Föderation und einer klassischen Konföderation nennen mag. Eine Kreation sui generis. Eine, die es im Staats- und Völkerrecht zuvor nicht gab. Die sich, gottlob, einer exakten Definition bis heute ent - zieht. Soll sie in der Schwebe bleiben: ein willkommener Hinweis, dass der schöpferische Prozess nicht abgeschlossen ist – wenn er denn je ein Ende findet, was wir nicht hoffen wollen .

Wolf Lepenies kennt wie jeder von uns den posthumen Seufzer von Jean Monnet, wenn er mit dem Aufbau Europas noch einmal begin - nen könne, würde er mit der Kultur anfangen. Für diese Äußerung unseres Gründervaters fand sich nirgendwo ein Beleg. Es wäre auf- schlussreich, wenn sich ein fleißiger Forscher fände, der dem Ur- sprung jener nicht allzu schlauen Fälschung nachspürte. Der geniale Pragmatiker Monnet zerbrach sich noch nicht einmal den Kopf über die erstaunliche und zugleich so deprimierende Feststellung, dass sich die Intellektuellen, zumal die deutschen – anders als die verach - teten Politiker, die Leute der Wirtschaft, partiell auch die Akademiker – kaum für die Einheit Europas engagierten. Unsere literarische Pro - minenz nahm die bedeutendste Entwicklung der Nachkriegsepoche mit völliger Gleichgültigkeit zur Kenntnis: ob Grass oder Böll oder Walser oder Kempowski oder Härtling oder Handke (trotz dessen Nähe zu Frankreich), die DDR-Garde sowieso – die große Ausnahme der hellwache Enzensberger, den man einen „Weltbewohner“ nennen könnte wie Wolf Lepenies, der sich niemals in das dunkelfeuchte Schneckenhaus der deutschen „Innerlichkeit“ verkroch, sondern 20

nicht nur im Wort, sondern in der kulturpolitischen Tat europäische Realitäten geschaffen hat, durch die Amerikanisierung seines Bildungsprozesses gestärkt. Er hatte, seit 1986 Rektor des Wissen - schaftskollegs in Berlin, mit einer „community of eccentrics“ aus vielen Kulturkreisen (nach der Formulierung von Henry James), Erfahrungen genug gesammelt, vorwiegend positive, um „nach dem Fall des Kommunismus“ für den „Ausgleich der Mentalitätsdifferen - zen“ in Ost und West gerüstet zu sein: „die größte Herausforderung für die europäische Politik“, wie er schrieb, aber auch für ihn selber. Sein Wissenschaftskolleg wirkte, dank seiner Initiative und seiner Kunst der Kulturdiplomatie, entscheidend am Aufbau des Collegiums Budapest, des New Europe College in Bukarest, der Bibliotheca Classica in Sankt Petersburg, der Graduate School of Social Sciences in Warschau und schließlich dem Centre for Advanced Studies in Sofia entscheidend mit. Seine „Politik der Mentalitäten“, die man auch als die Bereitschaft zum Zuhören beschreiben könnte, hat den osteuropäischen Eliten den Übergang in die Europäische Union er - leichtert. Er selber bezeichnete es als seinen „größten wissenschafts- politischen Erfolg“, dass im Rahmenplan für das Budget der Europäi - schen Kommission in Brüssel ein Posten für „Centers of Excellence in Central and Eastern Europe“ fixiert wurde. Dafür allein hätte Wolf Lepenies den Preis verdient, der ihm heute verliehen wird. Seine Energien hielten an den Grenzen Europas nicht ein: 1993 wurde mit seiner Hilfe in Jerusalem ein israelisch-palästinensisches Gemeinschaftsprojekt etabliert, das sich mit den „Wirkungen der europäischen Aufklärung im arabischen und jüdischen Kulturraum“ beschäftigt. Projekte in Afrika fügten sich dazu, die laut Lepenies die Ablösung der westlichen „Belehrungskultur“ des Kolonialismus durch die Kultur des Dialogs, durch die schon apostrophierte Bereit- schaft zum Zuhören verlangten.

Der Schlüsselsatz: „Wir brauchen einander“. Das gilt erst recht für das Forschungsprojekt „Moderne und Islam“, das Lepenies 1994, weit vorausschauend, auf den Weg gebracht hat. Es besteht unter dem weiter ausholenden Titel „Europa im Nahen Osten – Der Nahe Osten in Europa“ in einer Kooperation mit der Berliner Akademie der Wissenschaften fort.

In seiner liebevollen und zugleich kritisch-kühlen Studie über den Literatur-Arbeiter Saint-Beuve, wie er seinen schwierigen Helden in einer Kapitelüberschrift nennt, sagt er summierend, der Autor sei vor allem ein großer Leser gewesen. Das gilt für den Wirker, den Beweger, den Institutsgründer, den intellektuellen Pragmatiker, 21

den Autor Lepenies in gleicher Weise. Weiß der Teufel, woher er die Zeit nimmt. Ich habe bisher nur zwei Menschen geglaubt, dass sie die Bücher gelesen hatten, von denen sie sprachen: Richard Löwenthal, der Willy Brandts Sozialdemokratie um Jahrzehnte vorausgedacht hat, und François Bondy, dem Schweizer Essayisten und Redakteur, von dem ich vermutete, dass er sich Inhalt und Stil der Bücher durch intensives Einatmen anzueignen wisse. Ich habe keine Ahnung, über welch magische Techniken der begnadete Leser Lepenies verfügt – und ich fürchte, er wird sie uns nicht verraten. Wichtiger ist: ich glaube ihm die tausendfältige Lektüre, die seine Arbeit anzeigt.

Vielleicht ist die Glaubwürdigkeit das Grundgeheimnis der erstaun- lichen Wirkung dieses Mannes, der uns die ironische Maxime eines amerikanischen Weisen vorlebt: „There is no history“, sagte jener geniale Kauz: „there is only biography“. Voilà. Lepenies bestätigt nicht nur diese Einsicht, er weiß auch, von wem sie stammt.

Gratulation dem Preisträger. Gratulation dem Land Nordrhein- Westfalen und seinem Regierungschef zu der Wahl des Geehrten. Eines hätte ich fast vergessen: Lepenies ist als Offizier der Légion d’honneur gleichsam mein Vorgesetzter. Ich salutiere. 22

Dankesrede von Den Staatspreis des Landes Nordrhein-Westfalen zu erhalten, Prof. Dr. Dr. h.c. ist für mich Grund zur Freude und eine große Ehre. Die Reihe Wolf Lepenies der bisherigen Preisträger ist lang und eindrucksvoll – Ihnen, Herr Ministerpräsident, danke ich für die Auszeichnung, mich in diese Tradition einreihen zu dürfen.

Klaus Harpprecht, einem deutschen homme de lettres , der zugleich ein homme politique ist, danke ich für seine Laudatio. Sie alle, meine Damen und Herren, kennen den politischen Publizisten Klaus Harpprecht zu gut, Sie sind mit dem Chronisten und Mitgestalter der Bonner Republik zu vertraut, als dass ich nun meinerseits die Laudatio auf ihn halten müsste. Was mich mit Ihnen, lieber Herr Harpprecht, besonders verbindet, ist die Bewunderung für einen frühen deutschen Republikaner, für Georg Forster. Ihm haben Sie nicht nur eine große Biographie ge - widmet – zum Auftakt der neuen Folge der „Anderen Bibliothek“, die Sie zusammen mit Michael Naumann herausgeben, haben Sie ein wunderbares Buch publiziert, Georg Forsters Reise um die Welt - versehen, und dies ist eine Sensation, mit Forsters eigenhändigen Illustrationen. Ich wiederhole einen Rat Georg Christoph Lichtenbergs: Sind, meine Damen und Herrn, zwei Paar Hosen in Ihrem Besitz, so machen Sie eines davon unverzüglich zu Geld und kaufen Sie sich dieses Buch!

Meine Dankesrede hat jetzt noch drei Teile: Im ersten Teil geht es um Deutschland, im letzten Teil um Afghanistan. In der Mitte soll von Köln-Nippes die Rede sein. Probleme der Integration bilden dabei ein Leitmotiv.

Mein Motto lautet: „Nicht alles ist möglich, aber es ist immer mehr möglich als man glaubt.“

Zu den Klassikern deutscher Selbstbefragung zählt Helmuth Plessners Buch Die verspätete Nation . Es erschien 1959 als zweite Auflage einer Schrift, die der Autor 1935 unter dem Titel Das Schicksal deutschen Geistes im Ausgang seiner bürgerlichen Epoche veröffentlicht hatte. Plessner hatte sich 1920 in Köln habilitiert und war zum Privatdozenten und Titularprofessor ernannt worden. Köln war die vielleicht wichtigste Neugründung einer deutschen Universität nach dem Ersten Weltkrieg; in den Sozialwissenschaften war sie führend. Plessner schätzte das weltoffene Milieu der Domstadt, das vom rheinischen Katholizis - mus geprägt wurde – und von einem jährlich wiederkehrenden Ausnahmezustand, genannt Karneval. 23

1933 aber war es auch in Köln mit der Weltoffenheit und dem Spaß vorbei – die Universität jagte Plessner, den Sohn eines protestantisch getauften Juden, aus dem Amt. Auf einmal schien es, die Integration der Juden in die deutsche Mehrheitsgesell - schaft sei in unserem Land nicht mehr gewesen als eine Episode. Vor den Nazis floh Plessner nach Holland. Dort wirkte er – während der deutschen Besatzung unterbrochen von Zeiten im Untergrundversteck – bis 1946 als Hochschullehrer, zuletzt als Professor für Philosophie und Soziologie an der Universität Groningen. Aus Vorlesungen in Groningen ging schließlich Die verspätete Nation hervor. Plessner lernte Niederländisch und fand seinen Platz in einem fremden Sozialmilieu; die nüchterne Sensibilität des Sozialwissenschaftlers bewahrte ihn vor dem Kardinalfehler vieler Deutscher, in Unkenntnis der Nachbarn in den Niederländern nichts anderes als einen niederdeutschen Stamm zu sehen, dessen Mitglieder sich seltsamerweise weigerten, „richtig deutsch“ zu sein.

Ein Jahr nach der Kapitulation veröffentlichte Plessner in der holländischen Zeitschrift Active Democratie einen Aufsatz mit dem Titel „Deutschlands Zukunft“. Helmuth Plessner, dem, wie ein Biograph schrieb, der Tod im Gas bestimmt gewesen war, hätte allen Grund gehabt, mit Gefühlen der Rache in Deutsch - lands Zukunft zu blicken. Seine Vision aber wurde nicht vom Rückblick auf das Unrecht bestimmt, das ihm angetan worden war. Er wollte einen Zukunftsentwurf vorlegen, der vor allem die deutsche Jugend überzeugen konnte. Dem zweigeteilten „vorläu - figen Deutschland “ drohte die Einverleibung hier in den westli - chen, dort in den östlichen Machtblock. Um dies zu verhindern, schlug Plessner – statt der Bildung zweier Teil-Nationalstaaten – eine Föderation aller deutschen Länder vor.

Dabei ging es ihm nicht um eine nachholende Korrektur des nationalstaatlichen Irrwegs. Vielmehr dachte Plessner – den Blick in die Zukunft gerichtet – an die Kooperation der einzelnen deutschen Länder mit ihren europäischen Nachbarn. Das deut - sche Beispiel sollte wegweisend sein; es würde in ganz Europa den Anstoß für ein „System regionaler Zollunionen“ und die „teil - weise Internationalisierung bestimmter Dienstzweige “ geben. Die lokale Zusammenarbeit über Landesgrenzen hinweg würde den Deutschen nicht nur einen Ausgleich für Vertreibungsfolgen und Gebietsverluste bieten – sie würde den Aufbau einer „regional gegliederten europäischen Gemeinschaft vorwegnehmen“ . „ Ich kann mir vorstellen “, schrieb Plessner, „dass Frankreich leichter 24

mit einem verhältnismäßig selbstständigen Rheinland, Hessen und Württemberg-Baden, dass die Benelux-Staaten leichter mit einem Westfalen-Oldenburg zusammenarbeiten werden als mit einem großen Staat, der bei ihnen immer wieder Misstrauen er - weckt.“ Das demokratische Deutschland würde an die Stelle des anachronistischen Reichsgedankens seine Zukunftshoffnung auf ein Europa der Regionen setzen. Dem Vorwurf der Utopie begeg - nete Plessner mit einem entwaffnenden Satz: „Ich behaupte nicht, es sei alles möglich, aber es ist immer mehr möglich als man glaubt.“

Plessner war von Fehleinschätzungen nicht frei. Im Rückblick wirkt sein Vorschlag, die Westzonen sollten der Versuchung widerstehen, sich der „atlantischen Interessengemeinschaft “ anzuschließen, um den Weg zur Gründung „eines deutschen Staatenbundes zwischen den sozialistischen und kapitalistischen Mächten “ frei zu machen, wie die Aufforderung zur politischen Selbstaufgabe. Ein sogenannter deutscher „Pufferstaat “ hätte keine Mittlerstellung eingenommen und dadurch am Ende zu einer Annäherung der Machtblöcke geführt – in ihm wäre viel - mehr die junge deutsche Demokratie erdrückt worden. Der Realist Adenauer hat dies gesehen. In einem entscheidenden Punkt aber nahm Plessner die künftige Entwicklung in Europa vorweg. Es war die auf gute Nachbarschaft abzielende „Außen- politik “ der einzelnen deutschen Bundesländer, die das Europa der Regionen entscheidend beförderte und damit die Grundlagen der späteren Union legte.

In der auswärtigen Kultur- und Wissenschaftspolitik habe ich er - fahren können, welche zukunftsweisende Rolle der europäische Enthusiasmus der einzelnen deutschen Länder mit seinen regio - nalen Schwerpunktsetzungen spielte. Ohne eine die nationalen Grenzen überschreitende Regionalpolitik hätte sich manches europäische Projekt nicht verwirklichen lassen. Ich nehme auch aus diesem Grund den Staatspreis eines deutschen Bundeslan - des, des Landes Nordrhein-Westfalen, mit besonderer Freude und Dankbarkeit entgegen.

Ihnen, Herr Ministerpräsident, gilt meine dankende Erinnerung nicht zuletzt mit Rückblick auf die Zeit, da ich als Rektor des Wissenschaftskollegs zu Berlin auf Ihre Unterstützung als Bundesminister für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Tech - nologie zählen durfte. 1994 - 1998 – die Periode Ihrer Amtszeit – waren für mich entscheidende Jahre. Damals konnte man in Mit - tel- und Osteuropa mit Hilfe von Ideen neue Institutionen bauen. 25

Bei der Errichtung des Collegium Budapest, des ersten Institutes for Advanced Study in den Ländern des ehemaligen Warschauer Paktes, war Ihr Engagement mitentscheidend. Sie waren aber nicht nur engagiert, Sie hatten auch Geduld. Unvergessen ist mir ein Abendessen zu Dritt im Budapester Restaurant Gundel, bei dem wir fast eine halbe Stunde lang das volle Weinglas in der Hand balancieren mussten, weil Ihr ungarischer Amtskollege zwar das Glas zu unserem Wohl erhoben, dann aber auf halber Strecke das Trinken vergessen hatte, um schnellstmöglich eine umfas - sende Grundsatzerklärung abzugeben. Ihre Grundsatzerklärung gaben Sie mit einer Rede vor der Ungarischen Handelskammer ab – in einem beeindruckenden Bekenntnis zum Zusammen- spiel von Staat und Bürgergesellschaft.

1996 entstand auf Initiative des Wissenschaftskollegs der For- schungsverbund „Moderne und Islam “, der heute – finanziert von der Kölner Fritz Thyssen-Stiftung – unter dem Namen „Europa im Nahen Osten / Der Nahe Osten in Europa“ weiterbesteht. Ziel ist nicht zuletzt eine stärkere Kooperation deutscher Wissenschaft - ler mit Kollegen aus muslimisch geprägten Ländern. Sie kamen eigens nach Berlin, um die Gründung des Forschungsverbundes öffentlich bekannt zu geben. Es war ein Glücksfall, dass mit dem Wissenschaftssenator Manfred Erhardt in Berlin und mit Ihnen als Bundesminister zwei Politiker mit erheblichen Finanzzusagen vor elf Jahren ein Projekt unterstützten, dessen Aktualität immer noch zunimmt.

Damit komme ich zum II. Teil.

In seiner Zukunftsskizze ermutigte Helmuth Plessner die Deut- schen, ihre Fähigkeit, sich auf dramatisch veränderte Zeitum - stände einzustellen, nicht zu unterschätzen. Er vertraute der Elastizität und dem Anpassungsvermögen von Industrie und Landwirtschaft und war fest davon überzeugt, dass die Folgen von Flucht und Vertreibung zu bewältigen waren. Schon bald, so Plessners kühne Vision, würde man auch auf den Straßen von Köln den Ostpreußen begegnen, als sei dies die normalste Sache von der Welt. Das klang nun, als hätte er meinen Vater und meine Mutter vor Augen gehabt.

1947 kamen meine ostpreußischen Eltern mit meiner Schwester und mir über Schleswig-Holstein in das heutige Nordrhein-West - falen. In Thorr, dem inzwischen längst in Bergheim eingemein- deten Dorf, fand mein Vater Arbeit als Bierfahrer bei der Römer- brauerei. Bei der Ankunft stellte uns die Haushälterin des 26

Brauereidirektors, zusammen mit einem großen Glas Rüben - kraut, ein ganzes Weißbrot auf den Tisch – und brachte nach einer halben Stunde, nur die Krümel waren noch zu sehen, unge - fragt noch ein zweites Brot. Als „Eingeborene von Trizonesien“, wie Karl Berbuer 1948 in einem Karnevalsschlager die Bewohner der drei Westzonen besang, fühlten sich meine Eltern ausgespro - chen wohl. Sie hatten den Krieg überlebt; sie setzten große Hoff - nung in eine friedliche Zukunft.

Mit meinem Vater befuhr ich auf dem Kutschbock seines Pferde - wagens die Dörfer der Ville; unterwegs wurde bei Metzgern und Bäckern das Deputat an Starkbier in Wurst und Brot umge - tauscht. Eine Woche lang konnten die Brauereiarbeiter Zucker- rüben, die auf den Feldern von Bergheim bis hinauf nach Düren und Bedburg wuchsen, zu Rübenkraut einkochen. Es blieb jahre - lang unser Brotaufstrich.

Als Schulanfänger besuchte ich, das protestantische, in Ost- preußen geborene Flüchtlingskind, die katholische Volksschule in Thorr. Ich übersprang eine Klasse, aber das hatte seinen Grund wohl darin, dass die Volksschule einklassig war und ich mich eines Morgens in die falsche Bank setzte.

Als Protestant musste ich am katholischen Religionsunterricht teilnehmen – einen anderen gab es nicht – und an Fronleichnam durfte ich den Blumenteppich mit auslegen, der die ganze Länge der Dorfstrasse von Thorr durchzog. Es wurde mir aber nicht er - laubt, in der Prozession mitzugehen – in einer Mischung aus Neid und Erschrecken sah ich meinen Mitschülern dabei zu. Früh habe ich in der Wahrnehmung des rheinischen Katholizismus erlebt, wie geschickt große Institutionen Rituale zur Stabilisierung der Grundüberzeugung bei ihren Gläubigen nutzen. Auch das Schul - kind spürte, dass die Aufnahme der protestantischen Flüchtlinge in ein überwiegend katholisches Milieu nicht ohne Konflikte vor sich ging. Heute sind diese Konflikte kaum mehr nachzuvollzie - hen – im Zeichen ökumenischer Annäherung sind die konfessio - nellen Differenzen schwächer geworden, ohne dass sich damit die Chancen zu einer christlichen Sinnstiftung erhöht hätten.

Noch fremdartiger als der Katholizismus erschien meinen Eltern anfangs der Karneval. Im Köllschen Fastelovend sollten sie erfah - ren, was es heißt, ein „Imi “ zu sein, ein nichtgebürtiger Kölner, der in Köln wohnt oder sich dort aufhält und notgedrungen die einhei - mischen Kölner imitiert. Neugierig machten sich mein Vater und meine Mutter in die Domstadt auf, zu ihrem ersten Rosenmon - 27

tagszug – natürlich, soviel wussten sie schon, mit einem Regen - schirm, um darin möglichst viele Kamelle auffangen zu können. Sie fanden am Ring einen guten Platz, doch hatte sich eine um - fangreiche Dame auf einen großen Persilkarton gestellt, so dass meine Mutter vom Zug kaum etwas sehen konnte. Da nahm mein Vater allen Mut zusammen, tippte dem Gatten der Persilkarton - dame auf die Schulter und sagte zu ihm, es ließ sich ja nicht ver - hindern, in seinem breitesten Ostpreußisch: „Mannche, kennen Se Ihrer Frau nich sajen, dass sie von dem Karton runterjeht, meine Frau kann ja rein gar nuscht sehen! “ Da drehte der Kölner sich um, sah meinen Vater an, tippte seiner Frau auf dem Persil - karton auf die Schulter und sagte zu ihr: „Lurens, det kütt us Nippes!“

Die Ostpreußen in Köln – Helmuth Plessner hatte seine Normali - tätserwartung an die frühe Nachkriegszeit wohl doch ein wenig übertrieben. Andererseits: Der Spruch des Kölners war typisch für eine bewundernswerte Nachkriegsleistung der Deutschen: die Integration der Millionen von Flüchtlingen und Vertriebenen. Sie ging in Etappen vor sich, machte aber von Jahr zu Jahr Fort - schritte. Jemanden, der offensichtlich von weit aus dem Osten, aus der „kalten Heimat“ stammte, in Nippes anzusiedeln, hieß noch längst nicht, ihn als vollwertigen Einheimischen zu akzeptie - ren. Ein Fremder aber war er damit auch nicht mehr. „Nicht alles ist (sofort) möglich, aber es ist immer mehr möglich, als man glaubt. “

Das in Deutschland geplante Zentrum gegen Vertreibungen bringt die Gefahr mit sich, als Ort einer Aufrechnung wechselseitiger Verbrechen in Europa missverstanden zu werden. Ich hielte es für wichtiger, in unserem Land die Erinnerung daran wach zu halten, welche große innere Integrationsleistung die Deutschen – Einhei - mische ebenso wie „Imis “ – nach dem Krieg mit der Eingliederung der Flüchtlinge und Vertriebenen vollbracht haben. Der abwie - gelnde Hinweis darauf, Deutsche hätten sich ja nur in Deutsch- land wieder anpassen müssen, führt in die Irre – ebenso wie die Behauptung, nach 1989 hätten die Deutschen in Ost und West das postkommunistische Trauma der Mittel- und Osteuropäer verhält - nismäßig leicht bewältigen können, schließlich sei nur wieder zu - sammengewachsen, was zusammen gehörte.

Wer so argumentiert, verkennt, welch besonders hohes Konflikt - potential kulturellen Minimaldifferenzen innewohnt. Die aggressiv - sten Kulturkriege führen in der Regel Nachbarn gegeneinander. 28

Die Erinnerung an die gelingende Eingliederung der Vertriebenen und Flüchtlinge in die deutsche Nachkriegsgesellschaft sollte uns Mut machen, die Integrationsaufgaben, die vor uns liegen, mit größerem Selbstvertrauen anzugehen.

Damit komme ich zum dritten und letzten Teil.

Der Staatspreis des Landes Nordrhein-Westfalen ist ein besonde - rer Preis. Und der Petersberg ist ein herausgehobener Ort. Hier war der Sitz der von den drei westlichen Besatzungsmächten gebildeten Alliierten Hohen Kommission, die der rheinische Volks - mund die „Unheilige Dreifaltigkeit “ taufte. Nach seinem Amtsan - tritt fuhr Bundeskanzler Adenauer regelmäßig den „Monte Veto “ hinauf, um mit den Kommissaren zu verhandeln. Vor 58 Jahren, am 22. November 1949, schloss Konrad Adenauer mit den Alliier - ten das sogenannte Petersberger Abkommen, das einen ersten, wichtigen Schritt auf dem Weg zur Aufhebung des Besatzungs - statuts darstellte. Adenauer hatte das Abkommen geschlossen, ohne den Bundestag zu konsultieren – was ihm von Kurt Schu - macher bekanntlich den Vorwurf einbrachte, als „Bundeskanzler der Alliierten “ gehandelt zu haben. Das Petersberger Abkommen war die Voraussetzung, damit aus einer Zukunftsvision wie derje - nigen, die Helmuth Plessner drei Jahre zuvor formuliert hatte, Wirklichkeit werden konnte.

Heute ist für den Petersberg ein besonderer Tag. Genau vor sechs Jahren, am 27. November 2001, begann hier die Afghanistan- Konferenz – der erste weltweit koordinierte Versuch, auf die Terrorakte des 11. September 2001 nicht nur militärisch, sondern auch mit zivilgesellschaftlichen Mitteln zu reagieren. Der Peters - berg-Prozess führte zur Festlegung der Maßnahmen, die einen Wiederaufbau Afghanistans und die Beförderung demokratischer Strukturen zum Ziel hatten. Nach sechs Jahren sind wir von Wiederaufbau und Demokratie noch weit entfernt. Art und Reich - weite der deutschen Mission in Kabul sind umstrittener denn je. Ich nutze die Gelegenheit der Preisverleihung am heutigen Tage, um an einen Text zu erinnern, der viele Jahrzehnte alt und den - noch mit Blick auf Afghanistan und die damit verbundenen Pro - bleme von unverminderter Aktualität ist.

In den neunzehnhundertsechziger und siebziger Jahren errich - tete die Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Fakultät der Kölner Universität eine Partnerschaftsfakultät in der afghani - schen Hauptstadt. Der Kölner Soziologe René König – wie Plessner ein von den Nazis Vertriebener, der am Wiederaufbau 29

der deutschen Soziologie nach dem Krieg großen Anteil hatte – wirkte von 1962 bis 1978 als Verbindungsdozent zwischen Köln und Kabul. Von seiner Tätigkeit berichtete er im Kapitel „Afghani - stan: Ein Experiment in Ausbildungshilfe für die Dritte Welt “, das er 1980 in seine intellektuelle Autobiographie mit dem Titel Leben im Widerspruch aufnahm.

Der Aufbau einer Wirtschaftsfakultät stieß in Kabul auf große Schwierigkeiten. Ohne Rücksicht auf politische Korrektheit machte René König dafür Einheimische und Fremde im gleichen Maße verantwortlich. Der Soziologe lernte in Afghanistan eine Welt kennen, die auf aggressive Weise das Individuum in Familien-, Gruppen- und Stammesverbände zwang. Jede Form der Selbstbe - sinnung in Einsamkeit war zum Scheitern verurteilt. Der Zwang zum individuellen Lernen nach westlichem Vorbild war afghani - schen Stipendiaten so fremd, dass er bei ihnen zu ausgeprägten Persönlichkeitsstörungen führte. Verstärkt wurden diese durch eine von dem französischen Ethno-Soziologen Georges Balandier als „Psittacosis “ bezeichnete Krankheit. Durch die Koranschulen seit der Kindheit darin trainiert, lernten die Studenten wie Papa - geien große Stoffmassen auswendig – und konnten kein einziges eigenes Argument formulieren.

Den verhaltensgestörten afghanischen Studenten, so König, standen neurotische Dozenten aus dem Westen gegenüber. Die meisten von ihnen hatten sich anscheinend für den Entwicklungs- dienst beworben, weil sie zu Hause mit ihren Persönlichkeitspro - blemen nicht fertig wurden. Noch mehr als die neurotischen Do - zenten aber ärgerten König deren arrogante Theorieprogramme. Ohne die Bereitschaft, Geschichte und Gegenwart des Landes in ihren Besonderheiten zu verstehen, verstellten sie sich den Blick auf seine Wirklichkeit. Die Frage Königs, ob von diesen Experten in Afghanistan nicht eine Wirtschafts theorie verbreitet wurde, die für ein adäquates Wirtschafts handeln geradezu schädlich war, ist heute aktueller denn je.

René Königs Beschreibung des „kompliziertesten Landes des Mittleren Orients“ ist nicht überholt. Der Soziologe gab sich keinen Illusionen hin: Der afghanische Staat war „ein äußerst delikates Gebilde mit einem sehr fragwürdigen Gleichgewicht“. Man musste in naher Zukunft nicht nur auf einen lokalen Bürger - krieg, sondern auf einen großen Konflikt gefasst sein, der die ganze Region in Mitleidenschaft ziehen würde. 1963 bauten die Russen eine Autostraße von der sowjetischen Grenze über den Salangpaß nach Kabul: so massiv waren die Tunnel und Galerien 30

dieses Verbindungsweges über den Hindukusch angelegt, dass sie nicht für Kamelkarawanen, sondern nur für schweres Kriegs - fahrzeug gedacht sein konnten. Zugleich bauten die Amerikaner eine kühne Straße durch die Tang-e-Garu-Schlucht. Gemeinsam öffneten Russen und Amerikaner damit den direkten Zugang nach Pakistan. Der Ausbruch des Konflikts, mit dessen Folgen wir heute versuchen, fertig zu werden, war vorprogrammiert. Der Petersberg ist ein passender Ort, um am Jahrestag der Afghanistan-Konferenz daran zu erinnern.

Aus heutiger Sicht ist am Text René Königs besonders bemer - kenswert, dass darin ein Hauptwort nur am Rande vorkommt und leicht komplett überlesen werden kann: es ist das Wort „Islam“. Vor Jahrzehnten konnte der Soziologe auf dieses Wort verzichten, als er die Probleme der afghanischen Gesellschaft analysierte. Heute ist dies nicht mehr möglich: Der Terror verändert nicht nur das Gefüge ganzer Gesellschaften, sondern auch das Vokabular, in dem man über sie spricht. Die Folgegefahr für uns liegt darin, dadurch in die Exotismusfalle zu tappen, die militante Islamisten aufgestellt haben. Dies geschieht beispielsweise, wenn wir den Islam zur Grundursache fremder und heimischer Konflikte erklä - ren. Für das Verständnis der Konflikte in Afghanistan ist dies ebenso unzureichend wie für unsere Probleme im Umgang mit muslimischen Minderheiten im eigenen Land. Zu schnell muss eine fremde und fremdartige Religion als einziger Erklärungsfak - tor unzureichender oder abgewehrter Integration herhalten, wo es geboten wäre, auch an die Versäumnisse der uns vertrauten Sozial- und Bildungspolitik zu denken.

Stichworte meiner Dankesrede haben mir Helmuth Plessner und René König geliefert – Philosophen und Soziologen, deren Lebensweg von Vertreibung, Exil und Emigration bestimmt war. Ihr Werk zeigt, wie die Geistes- und Sozialwissenschaften unsere Sensibilität erhöhen und uns zu einem besseren Verständnis un - serer Geschichte und Gegenwart verhelfen können. Im nun zu Ende gehenden „Jahr der Geisteswissenschaften “ nutze ich die Zuerkennung des Staatspreises des Landes Nordrhein-Westfalen, um daran zu erinnern. 31

Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluss. In der Wissenschaftsforschung spricht man von „trading zones “. Es sind die Grenzgebiete, in denen sich die Disziplinen überlappen. Fächerübergreifend werden in diesen Kontaktzonen neue Per - spektiven und neuartige Problemlösungen entwickelt. „Trading zones “ gibt es auch in der politischen Geographie. Sie haben im zusammenwachsenden Europa nichts von ihrer Bedeutung verlo - ren. In Europa gehört Deutschland zu den Ländern mit den mei - sten Nachbarn. Genauer gesagt: europäische Nachbarn haben einzelne Bundesländer. Auch nach dem Fall der Grenzkontrollen bieten die Kontaktzonen der Bundesländer zu den europäischen Nachbarn, von denen fast alle einmal unsere Gegner oder Feinde waren, besondere Chancen, historisch gewachsene und kulturell überformte Differenzen in Projekten gelingender Integration und als Ansporn zur Innovation zu nutzen. Die politische Geographie ist doppeldeutig: Im föderalen Deutschland liegen die Bundeslän - der, die europäische Nachbarn haben, an der Peripherie, in Europa liegen sie im Zentrum. Ich komme aus Berlin – und ich bin der Auffassung, dass wir uns in vielen Bereichen unseres politischen und kulturellen Lebens noch den einen oder anderen Zentralisierungsschub zutrauen soll - ten. Sinnvoll kann dies aber nur geschehen, wenn wir darüber die große Bedeutung nicht vergessen, die im zusammenwachsenden Europa die Kontaktzonen, in unserem Land also die Bundesländer spielen. In Deutschland muss der Elan des Zentrums wirkungslos bleiben, wenn er nicht vom Enthusiasmus der Peripherie begleitet und gestützt wird.

Im Rheinland bin ich in die Volksschule gegangen, in Westfalen habe ich den Doktor gemacht, im benachbarten Groningen wäre ich beinahe Professor geworden, aber nie hätte ich mir träumen lassen, einmal den Staatspreis des Landes Nordrhein-Westfalen zu erhalten.

Es ist eben nicht alles möglich, aber es ist immer mehr möglich, als man glaubt. 32

Wolf Lepenies Curriculum Vitae

Geburtsdatum 11. Januar 1941 in Deuthen (Ostpreußen) Staatsangehörigkeit Deutsch Familienstand verheiratet mit Dr. Annette Lepenies, geb. Hieronimi drei Kinder (geb. 1969, 1971, 1984)

Dienstadresse Wissenschaftskolleg zu Berlin Institute for Advanced Study Wallotstraße 19 14193 Berlin Telefon +49 30 / 89 001 277 Telefax +49 30 / 89 001 2 00 E-Mail [email protected]

Schule NRW 1947 Katholische Volksschule in Thorr (Bergheim)

Schulabschluss 1960 Abitur, Neusprachliches Gymnasium Koblenz

Wehrdienst 1960-1962 Leutnant der Reserve

Studium 1962-1964 München (Soziologie, Philosophie, Zeitungswissenschaften) 1964-1966 Münster (Soziologie, Philosophie, Publizistik) 1966-1967 FU Berlin (Soziologie, Philosophie, Publizistik) 1967 Dr. phil. in Soziologie (summa cum laude), Universität Münster

Berufliche Laufbahn 1971-1984 Professor für Soziologie; FU Berlin 1982-1984 Long Term Member; School of Social Science, The Institute for Advanced Study, Princeton, N.J. 1984 Permanent Member; The Institute for Advanced Study, Princeton, N.J. (Ruf abgelehnt) 1984-2006 o. Professor für Soziologie, FU Berlin 1984-1986 Ständiges Wissenschaftliches Mitglied (Permanent Fellow), Wissenschaftskolleg zu Berlin 1986-2001 Rektor; Wissenschaftskolleg zu Berlin 2001-2006 Ständiges Wissenschaftliches Mitglied; Wissenschaftskolleg zu Berlin 2006- Ständiges Wissenschaftliches Mitglied (em.), Wissenschaftskolleg zu Berlin 33

Gastprofessuren 1973 Center for the Humanities, Wesleyan University, Middletown, Conn. 1974 University of Texas (Austin) 1975 Center for Advanced Studies, Wien 1977 ff. Directeur d’études associé; Maison des Sciences de l’Homme, Paris 1979-1980 Member; School of Social Science, The Institute for Advanced Study, Princeton, N.J. 1988 Gastvorlesungen; Collège de France, Paris 1990 Distinguished Scholar; Commonwealth Center for Literary and Cultural Change, University of Virginia (Charlottesville) 1990 Gastvorlesung; Collège de France, Paris 1991-1992 Chaire Européenne; Collège de France, Paris 1999 Visiting Member; School of Social Science, Institute for Advanced Study, Princeton, N.J. 2002-2004 Visiting Member, School of Social Science, Institute for Advanced Study, Princeton, N.J. (Fall Term) 2006 Weidenfeld Professorship, St. Anne’s College, University of Oxford 2007 Warburg Professor, Universität Hamburg

Gremientätigkeit 1985- Fritz Thyssen-Stiftung, Köln (Beirat; seit 1996 Vorsitzender) 1991-1994 The Van Leer Jerusalem Institute (Trustee) 1991-2001 Collegium Budapest (Vorsitzender des Kuratoriums) 1993- Aspen Institute Berlin (Kuratorium) 1993- Deutsche Nationalstiftung, Weimar (Senator) 1994- Deutsch-Japanisches Dialog-Forum 1994-2003 Central European University, Budapest (Trustee) 1995 Commission Fauroux, Paris 1999 Suntory Foundation, Osaka (Councillor) 2001-2004 Theodor-Heuss-Stiftung, Stuttgart (Vorstand) 2004- Axel Springer AG (Aufsichtsrat)

Auszeichnungen 1984 Alexander von Humboldt-Preis für französisch-deutsche wissenschaftliche Zusammenarbeit, Französisches Ministerium für Wissenschaft und Forschung 1986 Kulturpreis der Stadt Koblenz 1988 Karl Vossler-Preis des Bayerischen Ministeriums für Kultur und Erziehung, München 1994 Doktor honoris causa der Sorbonne, Paris 1994 Offizier der Französischen Ehrenlegion 1998 Leibniz-Ring, Hannover 1998 Premio Capo Circeo, Assoziazione Italia-Germania 34

Auszeichnungen 1998 Forschungspreis für Romanistische Literaturwissen- schaft der Albert-Ludwigs Universität Freiburg 1999 Joseph Breitbach-Preis der Akademie der Wissenschaften und der Literatur, Mainz 2000 Offizierskreuz des Verdienstordens der Republik Ungarn 2000 Theodor-Heuss-Preis 2002 Kommandeur des Königlichen Nordsternordens, Schweden 2003 Leibniz-Medaille der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften 2003 Prix Chartier 2003 der Société Littéraire du Prix Chartier, Paris 2006 Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 2007 Berlinpolis-Redenpreis (Beste Rede 2006) Akademische Mitgliedschaften 1986 Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung, Darmstadt 1987 Akademie der Wissenschaften zu Berlin (Gründungsmitglied) 1989 Academia Europaea, London 1989 Königlich-Schwedische Akademie der Wissenschaften, Stockholm 1990 Königlich-Schwedische Akademie der Literatur, der Geschichte und der Altertümer, Stockholm 1992 American Academy of Arts and Sciences, Cambridge, Mass. 1993 Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften (Gründungsmitglied; seit 2003 Rat und Vorstand) 1994 Académie Universelle des Cultures, Paris 1994 Internationaler P.E.N. 2003 Akademie der Künste, Berlin 2004 Deutsche Akademie der Naturforscher Leopoldina, Halle/Saale

Namens- und 1991 Sigma-Tau-Laterza Vorlesungen; Rom Gedenkvorlesungen 1993 Uhlenbeck-Lecture, Netherlands Institute for Advanced Study in the Humanities and Social Sciences, Wassenaar 1999 The Tanner Lectures on Human Values; Harvard University 2002 Isaiah Berlin Lecture 2002; The British Academy, London 2003 Karl Jaspers Vorlesung; Carl von Ossietzky-Universität , Oldenburg 2007 Fritz Stern-Lecture, American Academy, Berlin 35

PUBLIKATIONEN Melancholie und Gesellschaft, Frankfurt/M. (Suhrkamp), 1969; Frankfurt/M. (Suhrkamp Taschenbuch Verlag), 1972; mit einer Bücher neuen Einleitung 1998 Übers.: Malinconia e società, Neapel (Guida), 1985; Melancholy to Shakai, Tokio (Hosei University Press), 1987; Melancholy and Society, Cambridge, Mass./London (Harvard University Press) 1992

Ästhetik und Gewalt (Mitverfasser), Gütersloh (Bertelsmann Kunstverlag), 1970

Soziologische Anthropologie, München (Hanser), 1971; erw. Ausgabe, Frankfurt/M. (Ullstein) 1977

Kritik der Anthropologie (m. Helmut Nolte), München (Hanser), 1971 Übers.: Critica dell’Anthropologia, Mailand (Feltrinelli) 1978; Ningengaku Hihan, Tokio (Hosei University Press), 1991

Das Ende der Naturgeschichte, München (Hanser), 1976; Frankfurt/M. (Suhrkamp Taschenbuch Verlag), 1987 Übers.: La fine della storia naturale, Bologna (Il Mulino), 1991; Shizenshi no Shûen. Jûhasseiki to jûkyûseiki no shokagaku ni okeru bunkatek i jimeigaine nnohensen ,Tokio (Hosei University Press), 1992

Zwei Reden (zusammen mit Norbert Elias) Zur Verleihung des Theodor W. Adorno-Preises an Norbert Elias, Frankfurt/M. (Suhrkamp), 1977

Die drei Kulturen. Soziologie zwischen Literatur und Wissenschaft, München (Hanser), 1985; Reinbek (Rowohlt Taschenbuch Verlag), 1988 Übers.: Le tre culture. Sociologia tra letteratura e scienza, Bologna (Il Mulino), 1987; Between Literature and Science: The Rise of Sociology, Cambridge (Cambridge University Press)/Paris (Éditions de la Maison des Sciences de l’Homme), 1988; Les trois cultures. Entre science et littérature. L’avènement de la sociologie, Paris (Éditions de la Maison des Sciences de l’Homme), 1990; Las tres culturas. La sociología entre la literatura y la ciencia, Mexiko, (Fondo de Cultura Económica), 1994; Trzy Kultury. Sociologia miedzy literatura a nauka, Poznán (Wyadawnictwo Poznanskje), 1997; Mitsuno Bunka. Futsu Ei Doku no hikaku bunkagaku, Tokio (Hosei University Press), 2002 36

Bücher Autoren und Wissenschaftler im achtzehnten Jahrhundert, München (Hanser), 1988 Übers.: Natura e scrittura. Autori e scienziati nel XVIII secolo, Bologna (Il Mulino), 1992; Johassêki no Bunjinkagakusha-tachi, Tokio (Hosei University Press), 1992

Gefährliche Wahlverwandtschaften. Essays zur Wissenschaftsgeschichte, Stuttgart (Reclam), 1989 Übers.: Risei no Yume, Tokio (Koron Sha), 1992; Niebezpieczne powinowactwa z wyboru, Warschau (Oficyna Naukowa), 1996

Folgen einer unerhörten Begebenheit. Die Deutschen nach der Vereinigung, Berlin (Siedler), 1992 Übers.: Conseguenze di un evento inaudito. I tedeschi dopo l’unificazione, Bologna (Il Mulino), 1993; Följderna av en oerhörd händelse. Tyskarna efter återföreningen, Ord & Bild, Göteborg, 1993

Aufstieg und Fall der Intellektuellen in Europa, Frankfurt/M. (Campus), 1992 Übers.: Ascensaõ e Declínio dos Intelectuais na Europa, Lissabon (edições 70), 1995; Ascesa e declino degli intellettuali in Europa, Rom (Laterza), 1992; Ascensiunea si declinul intelectualilor în Europa, Cluj-Napoca (Casa Cârtii de Stiintâ), 2005

La Fin de l’Utopie et le retour de la Mélancolie. Regards sur les Intellectuels d’un vieux continent. Leçon inaugurale, Collège de France, Paris, 1992

Sainte-Beuve. Auf der Schwelle zur Moderne, München (Hanser), 1997; Taschenbuchausgabe München (dtv), 2000 Übers.: Sainte-Beuve. Au seuil de la modernité, Paris (Gallimard), 2002

Benimm und Erkenntnis, Frankfurt/M. (edition suhrkamp), 1997

The Seduction of Culture in German History, Princeton (Princeton University Press), 2006

Kultur und Politik. Deutsche Geschichten, München (Hanser), 2006

Qu’est-ce qu’un intellectuel européen? Les intellectuels et la politique de l’esprit dans l’histoire européenne, Paris (Editions du Seuil), 2007

Warum war Henry James so schlechter Laune? Geistesarbeiter und ihre Freunde, Berlin (Berlin University Press), 2007 37

Herausgeber Mitherausgeber (mit Henning Ritter): Orte des Wilden Denkens. Zur Anthropologie von Claude Lévi-Strauss, Frankfurt/M. (Suhrkamp), 1970

Mitherausgeber (mit Mario v. Cranach, Klaus Foppa u. Detlev Ploog): Human ethology. Claims and limits of a new discipline, Cambridge (Cambridge University Press)/Paris (Éditions de la Maison des Sciences de l’Homme), 1979

Georges Canguilhem. Wissenschaftsgeschichte und Epistemologie. Gesammelte Aufsätze, Frankfurt/M. (Suhrkamp), 1979

Mitherausgeber (mit Lars Gustafsson): Carl von Linné, Nemesis Divina, München (Hanser), 1981 Übers.: Shinbatsu, Tokio (Hosei University Press), 1995

Geschichte der Soziologie. Studien zur kognitiven, sozialen und historischen Identität einer Disziplin, 4 Bände, Frankfurt/M. (Suhrkamp), 1981, Bulgarische Übersetzung in Vorbereitung

Mitherausgeber (mit Loren Graham und Peter Weingart): Functions and Uses of Disciplinary Histories (Sociology of the Sciences Yearbook VII), Dordrecht (Reidel), 1983

Mitherausgeber (mit Daniel Bell und Masakazu Yamazaki): Newsletter Correspondence , New York/Berlin/Osaka, 1997/98 ff.

Entangled Histories and Negotiated Universals. Centers and Peripheries in a Changing World, Frankfurt/M. (Campus), 2003 38 39

Giora Feidman Trio Giora Feidman wurde 1936 als Sohn jüdischer Einwanderer in Buenos Aires geboren. Diese Konstellation und sein großes Talent Giora Feidman haben ihn zu einem universellen Künstler gemacht, dessen aus - Klarinette drucksvolles Klarinettenspiel ein Publikum rund um die Welt berührt Guido Jäger und verbindet. Bereits im Alter von 18 wurde der junge Klarinettist in Kontrabass das Orchester des weltbekannten Teatro Colon in Buenos Aires auf - Jens-Uwe Popp genommen, um nur zwei Jahre später der Berufung in das Israel Gitarre Philharmonic Orchestra zu folgen, wo er zwei Jahrzehnte blieb und die bedeutenden Dirigenten seiner Zeit kennenlernte. In dieser Zeit entwickelte er sein Verständnis von Musik als die „Sprache der innersten Seele“, als ein Mittel der Verständigung, das alle Grenzen überwindet.

Anfang der siebziger Jahre verlässt Feidman das Israel Philharmonic Orchestra und startet mit seiner musikalischen Botschaft die welt - weite Renaissance der alten Klezmer-Tradition, bereichert um die vielfältigen Stile klassischer und moderner Musik. Von New York aus, wo er als „King of Klezmer“ gefeiert wird, ebnet er dem „jewish soul“ den Weg auf die klassische Konzertbühne.

Der Traum von der Umsetzung einer Musik jenseits aller Schranken ist für Giora Feidman längst Wirklichkeit geworden. Über das rein musikalische Erlebnis hinaus wurden seine Konzerte und Auftritte zum Medium eines neuen Dialogs. 2001 wird er in Berlin aufgrund seiner besonderen Verdienste um die Aussöhnung zwischen Deutschen und Juden mit dem Großen Bundesverdienstkreuz am Bande geehrt. Sein Auftritt beim Vigil anlässlich des Besuchs von Papst Benedikt XVI. im Rahmen des Weltjugendtags 2005 faszinierte live mehr als 800.000 Zuhörer und Millionen an den Fernsehschir - men. Im gleichen Jahr wurde Feidman der Internationale Brückepreis der Stadt Görlitz für seinen Beitrag zur internationalen Verständi - gung verliehen. Herausgegeben von der Staatskanzlei Nordrhein-Westfalen Stadttor 1 40219 Düsseldorf www.nrw.de

November 2007

Fotos Bernd Hegert Ralph Sondermann