Taz. Die Tageszeitung Vom 21.06.2021
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taz die tageszeitung montag 21. juni 2021 mit 8 seiten dossier zum überfall auf die sowjetunion vor 80 jahren Editorial m 22. Juni 1941 überfallen 3,2 Mil- lionen deutsche Soldaten auf ei- ner Frontlänge, die etwa der Ent- fernung Hamburg–Neapel ent- Aspricht, die Sowjetunion. Es ist der Auftakt des „Unternehmens Barbarossa“. Hundert- tausende sowjetische Soldaten geraten in den ersten Wochen in Gefangenschaft. Etwa drei Millionen werden bis 1945 in deutschem Gewahrsam umkommen. Im deutschen Gedächtnis ist dieser Tag aber kaum präsent. Zuvor hatten Hitler und Stalin 1939 ei- nen Pakt geschlossen, gemeinsam Polen überfallen und zielgerichtet Angehörige der Intelligenz, Offiziere, Frauen und Kin- der deportiert und ermordet. Für Hitler ist dieser Terror die Vorlage für einen nie dage- wesenen, ideologisch begründeten Krieg, dem in der Sowjetunion etwa 27 Millio- nen Menschen zum Opfer fielen – durch Erschießungen, Aushungern, Zwangsar- beit, Gaswagen, Kälte. Der Massenmord Erinnert euch! hatte viele Facetten. Welche Folgen hat dieser von Deutsch- land angezettelte Krieg heute? Wie be- stimmt er unser Verhältnis zu den Völkern Russlands, Weißrusslands, der Ukraine? Wie bestimmt er unser Verhältnis zu den Regierungen dieser Länder? Die Beziehun- gen Deutschlands zu Russland sind, nach der Euphorie der deutschen Einheit, zer- rüttet. Wladimir Putin versucht, ein neues Imperium zu formen und begründet seine Pläne mit Rückgriff auf 1941, dass man den „westlichen Partnern“ nie ganz trauen dürfe und auf Angriffe der Nato vorberei- tet sein müsse. Und mit dem Verweis auf „ausländische Agenten“ erstickt er jeden Anflug von Opposition. Stärker noch hat sein belarussischer Vasall Alexander Luka- schenko den Faschismus-Begriff für seine Diktatur instrumentalisiert. Und in der Ukraine gärt im Osten ein Krieg, während Kiew den Weg in die EU sucht. Haben wir als Deutsche dem Land gegenüber eine be- sondere Verpflichtung? Wladimir Putin rüstet auch geschichts- politisch auf. Was auf uns oft wie in Bronze gegossene Ideologie wirkt, hat für Einhei- mische eine persönliche Bedeutung. In na- hezu jeder Familie sind Angehörige durch NS-Wahn ums Leben gekommen. Wer kann die Bedeutung des Wortes „Vernichtungs- krieg“ wirklich ermessen? Und wie gehen wir selbst mit diesem Erbe um? Dass es Mas- senmord nicht nur in Auschwitz und Babyn Jar gab, sondern auch in Gefangenenlagern der deutschen Provinz – diese Erkenntnis rückt erst jetzt ins öffentliche Bewusstsein. Höchste Zeit, dass Staatsanwälte auch gegen diese Wachmänner ermitteln. Es gibt viele Konflikte mit dem Kreml. Man sollte ihnen nicht ausweichen, schon gar nicht mit dem Hinweis auf den deut- schen Überfall. Im Gegenteil. Könnte es nicht sein, dass die Erinnerung an diesen Was der 22. Juni 1941 für uns heute bedeutet: Krieg ein Fundament legt, das nicht von Beiträge von Sasha Filipenko, Freya Klier, Sergey Gasrohren bestimmt wird, sondern von der gemeinsamen Verantwortung? Es wäre uns Lagodinsky, Karl Schlögel, Ingo Schulze, Thomas allen zu wünschen. Will und den deutschen KanzlerkandidatInnen Sabine Seifert, Thomas Gerlach 2–9 Im deutschen Geschichtsbewusstsein bisher unterbelichtet: NS-Kriegsgefangenenlager wie hier in Sandbostel, in denen 3 Millionen sowjetische Soldaten umkamen € 2,20 Deutschland 2,20 € €2,80 Ausland 12568 Nr. AusgabeBerlin Die taz wird ermöglicht durch Foto: Kay Michalak/fotoetage 21.467 Eher tastend als laut Bitte recht freundlich GenossInnen, die Wie Nava Ebrahimi VERBOTEN in die Pressevielfalt investieren. Neue Umgangstöne: Linke Infos unter [email protected] den Bachmannpreis oder 030 | 25 90 22 13 zeigen sich beim Parteitag Guten Tag, meine Damen und Herren! 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Kalendarium: 1939 bis 1945 9. Mai 2021, Kranzlegung 23. August 1939: Abschluss des deutsch- und Gedenk- sowjetischen Nichtangrifspakts. Im geheimen feier zum „Tag des Sieges“ Zusatzabkommen werden die gegenseitigen über den Interessensphären festgelegt. Polen wird Faschismus geteilt, die baltischen Staaten und Teile am Sowjeti- Rumäniens fallen der Sowjetunion zu. schen 1. September 1939: Mit dem Überfall der Ehrenmal im deutschen Wehrmacht auf Polen beginnt der Treptower Park Zweite Weltkrieg. Die polnische Armee kann in Berlin Foto: dem deutschen Druck nicht standhalten. Toni Petraschk/ Beginn der Morde an polnischen Intellektuellen Ostkreuz und Juden durch die SS. 17. September 1939: Die Rote Armee marschiert in Ostpolen ein. Das Land wird zwischen Deutschland und der UdSSR aufgeteilt. Ab 28.September 1939: Die UdSSR zwingt Litauen, Lettland und Estland „Freundschafts- verträge“ auf. Sie werden zu Sowjetrepubliken. 18. Dezember 1940: Hitler unterzeichnet die Weisung „Barbarossa“ zum Angrif auf die Sowjetunion. 22. Juni 1941: 3,2 Millionen deutsche und verbündete Soldaten greifen an. Der Wehr- macht gelingt ein rascher Vorstoß. Sowjetische Funktionäre werden systematisch ermordet. 3. Juli 1941: Stalin proklamiert den „Großen Vaterländischen Krieg“. Er ruft zum Einsatz von Partisanen auf. Doch noch im Juli fallen Minsk und Smolensk, im September wird Kiew, im Oktober Odessa von der Wehrmacht erobert. August 1941: Spätestens zu diesem Zeitpunkt dehnen die Einsatzgruppen der SS, der auch Polizeibeamte angehören, ihre Morde an sowjetischen Funktionären auf Zivilisten, ins besondere auf Jüdinnen und Juden aus. Die Menschen werden meist an vorbereiteten Massengräbern hinter der Front erschossen. 8. September 1941: Beginn der Blockade von Leningrad. Bis 1944 sterben etwa 1,1 Millionen Menschen. 29./30. September 1939: In der Schlucht von Babi Jar bei Kiew ermordet die SS etwa 33.000 Jüdinnen und Juden. November 1941: Deportation und Ermordung deutscher Juden in Riga und Minsk. In Minsk entsteht ein deutsch-jüdisches Ghetto. 1. Dezember 1941: Die Wehrmacht bricht Der Treptower Park und ich ihren Angrif auf Moskau ab. Gegenangrif der Roten Armee. Die Wehrmacht hat inzwischen Das Sowjetische Ehrenmal, errichtet 1949, ist Soldatenfriedhof und Gedenkstätte zugleich. etwa 3 Millionen sowjetische Soldaten Jährlich werden hier am 9. Mai Kränze niedergelegt. Was sagt es einem Jugendlichen heute? gefangen genommen. Bis 1945 sterben mehr als 3 Millionen der insgesamt 5,7 Millionen Von Ilja Gerlach Kriegsgefangenen in deutschem Gewahrsam. 20. Januar 1942: Wannseekonferenz zur 1946 suchten die Sowjets einen Platz, dings steht das ganze Ehrenmal unter ner Verwandten aus Russland bedau- Ich glaube, dass mein Stiefopa Organisation der Ermordung der europäischen um ihre gefallenen Kameraden zu Denkmalschutz, weshalb es nicht ein- ern noch heute den Verlust von vie- deutlich glücklicher wäre, wenn Juden. Bis zu diesem Zeit hatten die Nazis beerdigen und an sie zu denken. Der fach wäre, diese Sätze zu entfernen. len lieben Menschen aus ihrer Fami- sein Vater nicht in einem Panzer im etwa 900.000 Jüdinnen und Juden in Deutsch- Treptower Park in Berlin schien da- Das Ehrenmal wirkt auf mich mit lie oder der Nachbarschaft. Zweiten Weltkrieg so verbrannt wor- land, Polen und der UdSSR getötet. für geeignet zu sein, also fing man großer Ruhe und Stille. Alles ist über- Meiner Meinung nach ist Krieg den wäre, dass er sein Leben lang an 28. Juni 1942: Beginn der deutschen Ofen- an, eines der bedeutsamsten Ehren- dimensional und man erkennt an eine Ideologie. So viele Menschen Albträumen litt. Viele Soldaten, die sive im Kaukasus. Im August erreicht die mäler für den Zweiten Weltkrieg zu vielen Stellen Details. Es ist zu mer- eines Landes zu töten, bis sich das überlebt haben, kamen zwar kör- Wehr macht die Wolga. bauen. An den Seiten stehen viele ken, dass man sich bei seinem Auf- Land ergibt, klingt für mich wie ein perlich gesund, aber seelisch krank August 1942: Die Vernichtungsstätte Maly rechteckige Steine, die Sarkophage bau viel Mühe gegeben hat. Es sind schlechtes Computerspiel, in dem aus dem Krieg zurück. Diese ganzen Trostinez bei Minsk geht in Betrieb. Mindestens symbolisieren sollen. Etwas proble- etwa 27 Millionen Menschen allein man den Bezug zur Realität kom- schreckliche Erlebnisse begleiteten 60.000 Menschen, vor allem Jüdinnen und matisch ist aber, dass diese „Särge“ in der Sowjetunion durch den Krieg plett verloren hat. Das ist schlimmer sie noch ein Leben lang. Juden, werden dort ermordet. mit Zitaten von Josef Stalin versehen gestorben, allerdings hätte man das als die Fünfjährigen, die sich um ein Die Erinnerung an den Krieg ist 2. September 1942: Beginn der Belagerung sind, weil er damals der Herrscher Ehrenmal auch generell für alle er- Eis streiten. Und das soll was heißen. für mich sehr wichtig, und ich hoffe, Stalingrads. Größte Ausdehnung des deut- der Sowjetunion