Programmheft 13.11.2015

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Programmheft 13.11.2015 Wider das Vergessen Freitag, 13. November 2015, 20 Uhr Spätgotische Stadtkirche Stuttgart-Bad Cannstatt 418. Konzert der MUSIK AM 13. 2 Am Ausgang erbitten wir Ihre Spende (empfohlener Betrag 10,- ¤). Herzlichen Dank dafür! Die MUSIK AM 13. wird wohlwollend unterstützt durch die Stadt- und Luthergemeinde, die Gesamtkirchengemeinde Bad Cannstatt, den Evangelischen Oberkirchenrat, die Jörg-Wolff-Stiftung, die Martin Schmälzle-Stiftung, die Stadt Stuttgart und das Land Baden-Württemberg. Allen Förderern gilt unser herzlicher Dank. 3 Programm Wider das Vergessen Anton Bruckner 1824-1896 Locus iste WAB 23 Os justi WAB 30 Christus factus est WAB 11 Motetten für vierstimmigen Chor a capella Luigi Nono 1924-1990 Ricorda cosa ti hanno fatto in Auschwitz (1966) (Erinnere dich, was sie dir in Auschwitz angetan haben) für Magnettonband Anton Bruckner Libera me für fünfstimmigen Chor und Orgel WAB 22 Totenlied »O ihr, die ihr heut mit mir zum Grabe geht« WAB 47,1 Iam lucis orto sidere für vierstimmigen Männerchor WAB 18 Tantum ergo für vierstimmigen Chor und Orgel WAB 42 Choral »Dir Herr, dir will ich mich ergeben« für vierstimmigen Chor WAB 12 Karlheinz Stockhausen 1928-2007 Gesang der Jünglinge im Feuerofen (1955) für Vierkanal-Elektronik Anton Bruckner Virga jesse für vierstimmigen Chor a cappella WAB 52 Tota pulchra es für vierstimmigen Chor und Orgel WAB 46 Ave Maria für siebenstimmigen Chor a cappella WAB 6 Ioanna Solomonidou Orgel Otto Kränzler Elektronik Cantus Stuttgart Jörg-Hannes Hahn Leitung 19.15 Uhr Einführung Prof. Dr. Rudolf Frisius 4 Zum Programm Größer könnten die Gegensätze kaum sein. Auf der einen Seite die Motetten Anton Bruckners, reduziert auf die menschliche Stimme und die physische Präsenz der Sänger im Raum. Auf der anderen Seite zwei Klassiker der frühen Elektronik. Als Karlheinz Stockhaus- en seinen Gesang der Jünglinge am 30. Mai 1956 im Großen Sendesaal des Westdeutschen Rundfunks uraufführte, war die Bühne bis auf zwei Lautsprecher leer. Das Publikum reagier- te entsprechend verstört. Wo keine Menschen aus Fleisch und Blut musizierten und sich stattdessen eine verzerrte, von elektronischen Klängen bedrohte, Knabenstimme durch den Raum bewegte, wurden Erinnerungen an die Vernichtungsmaschinerie des Zweiten Welt- kriegs wach, zumal die Vorstellung singender Jünglinge im Feuerofen den Zeitgenossen auch kaum Interpretationsspielraum ließ. Das sei »Gotteslästerung«, empörte sich einer der An- wesenden. Der junge Komponist hätte die Lautsprecher dieser ersten, vokal-elektronischen Raummusik allerdings am liebsten im benachbarten Kölner Dom aufgestellt. Dort jedoch hatte man den Wunsch des überzeugten Katholiken erschrocken abgelehnt. Ein ähnlich kühnes Ansinnen hatte die Kirche von Luigi Nono nicht zu befürchten. Der Kommunist nahm zehn Jahre später keinen Umweg über die Bibel, um an die Gräuel der noch immer jungen Geschichte zu erinnern. Auch in Ricorda cosa ti hanno fatto in Auschwitz sind die Sänger phy- sisch abwesend. Das Tonbandstück lebt von der Konfrontation der menschlichen Stimme mit den Mitteln des elektronischen Studios. Und gerade hier berühren sich die Werke von Nono und Stockhausen mit Anton Bruckners Motetten. Im Mittelpunkt steht der Gesang. Ob lebendige Menschen diese Klänge live im Raum hervorbringen oder ihre Stimmen zer- stückelt und transformiert aus den Lautsprechern klingen, ist zwar ein fundamentaler Un- terschied, ändert aber nichts an der möglichen Intensität des ästhetischen Erlebnisses. Die Abwesenheit der Sänger macht ihre Ferne umso eindringlicher erfahrbar. Anton Bruckner Locus iste / Os justi / Christus factus est 15 Jahre trennen die drei gemeinsam veröffentlichten Graduale, die Anton Bruckner in seiner Wiener Zeit komponierte. Zwischen 1886 bis zu seinem Lebensende 1896 widmete er sich vor allem der Arbeit an seinen Sinfonien und dem großbesetzten Te Deum, das er im selben Jahr wie Christus factus est herausgab. Locus iste entstand als jüngstes der drei Graduale be- reits 1869 für die Einweihung einer Votivkapelle im Mariä-Empfängnis-Dom in Linz. Die drei kurzen Zeilen dieser Motette erinnern an die alttestamentarischen Geschichten vom bren- nenden Dornbusch und der Jakobsleiter. »Locus iste« ist ein heiliger Ort, an dem Gott sich dem Menschen offenbart. Wie der Text gliedert sich auch die Musik in drei Teile, der Bruck- ner eine Coda anschließt. Die ruhige Symmetrie der Gesamtanlage und die ruhige Abfolge der einzelnen Blöcke schaffen den Eindruck einer festgefügten Architektur. Os justi verdankt seine Entstehung - und zum Teil auch seinen Charakter - dem Auftrag von Ignaz Traumihler, dem Chordirektor des Stifts St. Florian, dem Bruckner zuerst als Sänger- knabe und später als Stiftsorganist angehört hatte. Ignaz Traumihler war als Cäcilianer ein Anhänger der vorbarocken Vokalpolyphonie. Bei der Komposition dieses Graduale war sich Bruckner der engen, ästhetischen Grenzen dieser Restaurationsbewegung bewusst. 5 Er entschied sich für die lydische Kirchentonart und schickte dem Chordirektor die Noten mit den Worten: »Sehr würde ich mich freuen, wenn E. H. ein Vergnügen daran finden woll- ten. Ohne Kreuz und b, ohne Dreiklang der 7. Stufe, ohne 6/4 Akkord, ohne Vier- und Fünf- klänge.« In den Ohren des Cäcilianers muss diese bewusst schlicht gehaltene Musik aber dennoch zu modern geklungen haben. Erst mit der zweiten, überarbeiteten Fassung, in der Bruckner die weit aufgefächerte Mehrstimmigkeit am Schluss auf ein einstimmiges »Alleluja« reduziert, zeigte sich Traumihler zufrieden. Ohne an die stilistischen Zwänge und harmonischen Fesseln der katholischen Reforma- tionsbewegung gebunden zu sein, nutzt Bruckner in Christus factus est die Freiheit zu weiten Intervallsprüngen und chromatischen Schärfungen, letztere vor allem im Dienst der Textaus- deutung. Interessant ist hier aber auch – wie in seinem gesamten Motettenwerk – die In- szenierung des Tonraums, der sich wie eine bewegte Architektur ausdehnt, zusammenzieht, verdichtet und auffächert. Luigi Nono Ricorda cosa ti hanno fatto in Auschwitz Dass die menschliche Stimme den Nukleus dieses Ton- bandstücks bildet, ist bei Luigi Nono nicht ungewöhnlich. Im Gesang, vor allem in Frauenstimmen, offenbart sich seine Identifikation mit den Opfern von Kriegen, Koloni- alismus und Kapitalismus. Ausgangspunkt und Basis von Ricorda cosa to hanno fatto in Auschwitz (Erinnere dich, was sie dir in Auschwitz angetan haben) sind Chöre aus seiner Bühnenmusik zu Die Ermittlung von Peter Weiss, die 1966, also im Jahr zuvor, an der Berliner Volksbühne uraufgeführt worden war. Aus dieser Theater- musik wählt er für die Produktion im Studio für elektronische Musik des italienischen Rund- funks drei Gesänge, die von der allgemeinen Beschreibung des Lagers über ein individuelles Schicksal zum »Gesang von der Möglichkeit des Überlebens« führen. Dieser Struktur folgt die musikalische Dramaturgie, die mit der Exposition kurzer Motive und Materialbruchstücke beginnt, anschließend den Solosopran in den Mittelpunkt rückt, um sich im dritten Teil der Gemeinschaft der Opfer zu widmen. Die Stimmen der Sopranistin, eines Kinderchors, aber auch Material aus eigenen Werken verschmelzen zu einer Musik, die zugleich Anklage, Trauer und Utopie sein will, aber keine Geschichten erzählt. Luigi Nono nutzt den Kontrast zwi- schen Stimme und Elektronik, um die tödliche Gewalt der Vernichtungsmaschinerie mit den ihm zur Verfügung stehenden Mitteln zu erfassen. Der Gefahr, den Gräueln von Auschwitz mit der »Möglichkeit des Überlebens« ein falsches, gutes Ende anzudichten, erliegt er in keinem Augenblick. Der Schluss öffnet bestenfalls Räume, in denen sich in lyrischen Mo- menten eine Utopie andeutet. »Überleben« bedeutet hier, sich der Frage zu stellen, ob es überhaupt möglich ist, nach Auschwitz noch Lieder zu singen. Paul Celans Gedicht Faden- sonnen war 1965 gerade erst erschienen, als Nono mit der Arbeit an den Chören zur Ermitt- lung begann. »Es sind noch Lieder zu singen«, schrieb der Dichter damals, doch nur »..jenseits der Menschen.« 6 Anton Bruckner Libera me / Totenlied / Iam lucis / Tantum ergo / Dir, Herr, dir will ich mich ergeben Vom Sterben, dem Jüngsten Gericht und der Auferstehung handeln diese fünf Motetten. Libera me ist die zweite Vertonung dieses Textes von Bruckner. Sie entstand 1854 während seines Aufenthaltes im Chorherrenstift Sankt Florian für die Beisetzungsfeier von Prälat Michael Arneth. Wie das lateinische Libera me steht auch der Text des ersten von zwei Toten- liedern in der unmittelbaren Ich-Form. Während sich das Flehen um Gnade beim Jüngsten Gericht an Gott wendet, richtet sich der Text des ersten Totenlieds an die Gemeinde. In dieser Motette in Es-Dur, die 1852 in St. Florian entstand, spendet der Tote selbst seinen letzten Begleitern Trost. Vom Tag bis in die Nacht und damit vom Leben bis in den Tod soll in Iam lucis der Schutz-engel den Menschen beistehen. Diese Motette auf den Text eines Ordensbruders des Zisterzienserstifts Wilhering existiert in zwei Fassungen. Für die erste wählte Bruckner die phrygische Kirchentonart, bei der zweiten, hymnisch schlichten Ver- sion für Männerstimmen von 1886 entschied er sich für g-Moll. Bruckner hat viele Texte in mehreren Fassungen vertont, dazu gehört auch Tantum ergo aus dem Pange Lingua des Thomas von Aquin. Hier steht der Kern des christlichen Glaubens - Tod und Auferstehung - im Mittelpunkt. Tantum ergo be-singt das Sakrament der Eucharistie und damit die Feier des letzten Abendmahls. Dir, Herr, dir will ich mich ergeben bildet den Abschluss dieser kleinen Motettenfolge. Bruckner hat den
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