Der Musikerdiskurs: Zwischen Image, Kunst und Konventionen
Eine diskursanalytische Untersuchung des Künstlers am Beispiel von Boards of Canada
Lukas Schreder, 01415952
MASTERARBEIT
eingereicht an der
FAKULTÄT FÜR BILDUNGSWISSENSCHAFTEN LEOPOLD-FRANZENS-UNIVERSITÄT INNSBRUCK
zur Erlangung des akademischen Grades Master of Arts
MASTERSTUDIUM ERZIEHUNGS- UND BILDUNGSWISSENSCHAFT
Betreuungsperson: assoz. Prof. Mag. Dr. phil. Hermann Mitterhofer
Institut für Erziehungswissenschaften Fakultät für Bildungswissenschaften
Innsbruck, Februar 2021 1.1 Abstract
Diese Arbeit verfolgt das Ziel einen Künstlerdiskurs im Bereich der Intelligent Dance Music sichtbar werden zu lassen. Dafür werden folgende Forschungsfragen gestellt: Was zeichnet einen Künstlerdiskurs aus und in welchem Verhältnis stehen Image und Künstlerdiskurs? Um den Künstlerdiskurs an die Oberfläche treten zu lassen, werden Zeitungsartikel zwischen 1997 und 2005, die das schottische Duo Boards of Canada abdruckten, untersucht. Die Berichterstattung über diese Band statuiert ein Exempel, das zeigt, wie der Künstlerdiskurs in Erscheinung treten kann. Die theoretische Rahmung bilden Michel Foucault, Rainer Diaz-Bone und Silke Borgstedt. Für diese Arbeit wird die Methode der Diskursanalyse nach Jäger hinzugezogen, die sich an Äußerungen der Band sowie Aussagen über das Duo orientiert. Der Interpretationsteil zeigt, dass in den untersuchten Special-Interest-Zeitschriften ein Künstlerdiskurs in Erscheinung tritt. Abschließend werden Kriterien eines Künstlerdiskurs aufgelistet, wodurch die Komplexität zu anderen Diskurssträngen sichtbar wird. Künstlerdiskurs und Image bedingen sich gegenseitig und stehen damit in Zusammenhang.
This Master thesis aims to discover an artist-discourse in Intelligent Dance Music. Therefore following questions will be answered: What does an artist-discourse involve and how does it connect to the image-discourse? To show the existence of an artist-discourse, special-interest- newspapers between 1997 and 2005, which portray the scottish Duo Boards of Canada, are examined. The band’s media coverage shows an example of how this discourse can become visible. Michel Foucault, Silke Borgstedt and Rainer Diaz-Bone set the theoretical background and Jäger’s discourse-analysis, which focuses on the band’s statements, is used as a method. Results show, that the artist-discourse as well as the artist-dispositive can be found in the examined newspaper-articles. In the last chapter criteria of an artist-discourse are listed, where the complexity and the interconnectedness can be seen. This certain discourse as well as the image are mutually dependent and therefore connected.
2 Inhaltsverzeichnis 1.1 ABSTRACT ...... 2
2 EINLEITUNG ...... 6
3 DER DISKURS ...... 8
4 MICHEL FOUCAULT ...... 9
4.1 DIE ORDNUNG DES DISKURSES ...... 9
4.2 DIE WAHRHEITEN IM DISKURS ...... 11
4.3 DER DISKURS UND DESSEN MACHT ...... 11
4.4 DIE EPISTEME ...... 12
5 DER KUNSTDISKURS ...... 12
6 DAS DISPOSITIV ...... 14
6.1 DIE SOZIALE KLASSE ...... 16
7 KUNSTWELTEN ...... 17
7.1 KONVENTIONEN ...... 17
7.2 DAS PUBLIKUM ...... 18
7.3 STANDARDISIERUNGEN IN DER KUNST ...... 19
7.4 DIE HELFER IN DEN KUNSTWELTEN ...... 20
8 DIE GESCHLECHTERDEBATTE IN DER KUNST ...... 22
9 GENREKONSTRUKTION ...... 24
10 DIE AUTONOMIE ...... 26
10.1 DAS AUTONOME KUNSTWERK ...... 26
10.2 AUTONOMIE ALS SOZIALES POSTULAT ...... 27
10.3 AUTONOMIE ALS ÄSTHETISCHES POSTULAT ...... 27
10.4 AUTONOMIE ALS MEDIENONTOLOGISCHES APRIORI ...... 27
11 ÄSTHETISCHE URTEILE ...... 28
11.1 WAS IST KUNST? ...... 31
11.2 WAS IST GELUNGENE KUNST/MUSIK? ...... 31
12 HISTORISCHE SKIZZE DER PROMINENZ ...... 34
13 DER STAR UND DAS IMAGE ...... 36
13.1 GESCHICHTLICHER UMRISS DER MUSIKER_INNEN ...... 36
13.2 DAS VERHÄLTNIS VON STAR UND IMAGE ...... 36
13.3 DAS VERHÄLTNIS ZUM PUBLIKUM ...... 38
13.4 HOCHKULTUR VS. POPKULTUR ...... 38
3 13.5 EIGENSCHAFTEN DES STARTUMS ...... 39 1. Leistung und Erfolg ...... 40 2. Bekanntheit ...... 40 3. Feste Anhängerschaft ...... 41 4. Image ...... 41
13.6 DEFINITION DES IMAGE ...... 42
14 BOARDS OF CANADA ...... 47
14.1 DER CLOU VON TOMORROW’S HARVEST ...... 48 14.2 IDM ...... 49
14.3 DIE MUSIKINDUSTRIE ...... 50
15 METHODE ...... 51
15.1 WICHTIGE BEGRIFFE ...... 53 15.1.1 Der gesamtgesellschaftliche Diskurs in seiner Komplexität ...... 54 15.1.2 Geschichte, Gegenwart und Zukunft der Diskursstränge ...... 54 15.1.3 Das Sysykoll ...... 54
15.2 VORGEHENSWEISE ...... 55 15.2.1 Analyse von Dispositiven ...... 55 15.2.2 Analyseleitfaden ...... 55
16 DATENERHEBUNG ...... 56
16.1 ERKLÄRUNG DES UNTERSUCHUNGSGEGENSTANDES ...... 58
16.2 VORARBEIT ...... 58
16.3 ZEITSCHRIFT NR.1: DE:BUG (1997) ...... 59 1) Institutioneller Rahmen ...... 59 2) Text-Oberfläche ...... 61 3) Sprachlich-rhetorische Mittel ...... 63 4) Inhaltlich-ideologische Aussagen ...... 65
16.4 ZEITSCHRIFT NR.2: JOCKEY SLUT (2000) ...... 68 1) Institutioneller Rahmen ...... 68 2) Text Oberfläche ...... 70 3) Sprachlich-rhetorische Mittel ...... 73 4) Inhaltlich-ideologische Aussagen ...... 76
16.5 ZEITSCHRIFT NR. 3: DE:BUG (2005) ...... 80 1) Institutioneller Rahmen ...... 80 2) Text Oberfläche ...... 81 3) Sprachlich-rhetorische Mittel ...... 83 4) Inhaltlich-ideologische Aussagen ...... 85
17 INTERPRETATION – DER ERSTE EINDRUCK ...... 86 4 17.1 VERGLEICH DER INTERVIEWS ...... 87
17.2 INTERPRETATION DER DISKURSANALYSE ...... 88 17.2.1 Soziale Höherstellung ...... 88 17.2.2 Equipment ...... 89 17.2.3 Die Bedeutung des Studios ...... 90 17.2.4 Vielfältige Interessen ...... 91 17.2.5 Abgrenzung und Distanzierung zu anderen ...... 91 17.2.6 Vergleich mit anderen ...... 94 17.2.7 Lebensführung ...... 94 17.2.8 Bandname ...... 94 17.2.9 Die Interview-Situation ...... 95 17.2.10 Heilige Kunstwerke ...... 96 17.2.11 Kritiken ...... 97 17.2.12 Neue Veröffentlichungen ...... 97 17.2.13 Genre ...... 98 17.2.14 Konzerte ...... 98 17.2.15 Der Mythos ...... 99 17.2.16 Das Image ...... 99 17.2.17 Der Musikerdiskurs ...... 101 17.2.18 Berichterstattung über Boards of Canada ...... 104 17.2.19 Imagebildung und Musikerdiskurs ...... 105
18 BILDLICHE DARSTELLUNGEN DER BAND ...... 106
19 CONCLUSIO ...... 108
20 WEITERFÜHRENDE ANSÄTZE ...... 112
21 LITERATURVERZEICHNIS ...... 113
22 INTERNETQUELLEN ...... 116
23 ABBILDUNGSVERZEICHNIS ...... 118
24 ANHANG ...... 119
25 EIDESTAATLICHE ERKLÄRUNG ...... 147
5 2 Einleitung
Da ein Star nur leuchten kann, wenn alles um ihn herum dunkel ist, geht dies auch mit einer Isolierung des Musikers einher, der sich immer in Relation zu anderen Menschen (vor allem anderen Musikern und dem Publikum) bewegt und sich entsprechend abgrenzen muss. (vgl. Borgstedt 2008, 18)
Dieses Zitat thematisiert die Abgrenzungsarbeit, die Musiker_Innen und Künstler_Innen verfolgen, um sich Gehör zu verschaffen. Doch der Prozess der Abgrenzung ist nicht die einzige Bedingung, um sich als Star zu etablieren, denn wie diese Arbeit zeigen wird, sind weitere Kräfteverhältnisse notwendig, um „leuchten“ zu können. Diese Kräfteverhältnisse werden in einem Künstlerdiskurs ausgearbeitet. Für die Darstellung dieses besonderen Diskurses, werden die Strukturen in dem Feld des künstlerischen Bildungsprozess aufgezeigt, Konventionen hinterfragt und der Image- und Kunstbegriff erläutert. Der Arbeit liegen zwei Thesen zugrunde. Die Hauptthese lautet: Es existiert neben einer Imagebildung bzw. neben diskursiven Imageprozessen ein Künstlerdiskurs. Dieser – und dies ist die zweite These – folgt Regeln und bildet den Grundstein für die jeweilige individuelle Imagebildung.
Sobald es scheint, dass in einer bestimmten Thematik vorgegeben wird, wie über etwas gesprochen werden soll bzw. kann, welcher Terminus verwendet wird und welche Positionen in diesem Bereich an die einzelnen Teilnehmer_Innen vergeben werden, so ist ein bestimmtes Regelsystem am Werk, welches zentraler Bestandteil des Diskurses ist (siehe Kapitel 4.2). Mit Rückgriff auf Arbeiten Michel Foucaults wird für die Beantwortung der Thesen die Diskursanalyse als Methodenwerkzeug angewendet, da sie Regelsysteme und Diskursfragmente sichtbar werden lässt.
In Kapitel 17, dem Interpretationsteil, wird ein Ansatz verfolgt, der Parallelen und Diskursstrang-Verschränkungen zu anderen Themen, die am selben Diskurs angrenzen, sichtbar macht. Aus diesem Grund bilden Kunstwelten, Konventionen, Autonomie und Image die theoretische Rahmung, da die Literatur den zu untersuchenden Künstlerdiskurs kaum thematisiert. Diese unterschiedlichen Themenbereiche bilden eine Überlappung, von der sich der Künstlerdiskurs nährt.
Die Arbeiten und Ansichten Michel Foucaults sind insbesondere für die Erziehungswissenschaft von großem Interesse. Mit Hilfe seiner Methoden werden „die komplizierten Verflechtungen von Machttechniken, Wissensformen und Subjektivitätstypen,
6 die pädagogische Handlungsfelder charakterisieren“ sichtbar und man läuft nicht in Gefahr sich in „dichotomen Beschreibungsmustern“ zu flüchten (Ricken/Rieger-Ladich 2004, 9). Mittels dieser Denkformen können Übergänge und Verflechtungen auch in der deutschsprachigen Pädagogik aufgezeigt werden (vgl. ebd.). In dieser dienen jene Konzepte auch als Anregung für deren Theoriebildung (vgl. Koller/Lüders 2004, 57). Der erziehungswissenschaftliche Mehrwert einer Diskursanalyse liegt beispielsweise darin, die in einem Diskurs beteiligten Akteure nach den unbewussten Regeln zu fragen und somit das konstitutive Element eines Diskurses ausfindig zu machen (vgl. ebd., 70).
Wie in dem Kapitel „Der Kunstdiskurs“ auch angesprochen wird, so hat sich nicht nur Bourdieu, sondern auch Immanuel Kant, der für die Erziehungswissenschaft allzu wichtige Beiträge geleistet hat, für das Ästhetische interessiert. In seinem Werk „Kritik der Urteilskraft“ stellt sich Kant die Frage, wie man aus eigenen Empfindungen ein allgemeingültiges Urteil ableiten kann. Den eigenen Empfindungen liegt ein Geschmack zugrunde, der über das Schöne ausgedrückt wird. Doch was ist das Schöne? Das Schöne ist etwas, das allgemein gefällt, ohne, dass man selbst weiß, warum (vgl. Casale 2004, 233). Darüber hinaus ist Kant der Ansicht, dass es keine allgemeingültigen Prinzipien des Geschmacks gibt, die das Schöne definieren, denn dies würde sich klar widersprechen (vgl. ebd., 234). Auch Schiller hat hierzu Ideen über Kunst, Erziehung und Ästhetik entwickelt. „Der Mensch wird erst glücklich, wenn er dank der Kunst des Scheins in der Nachahmung der Natur sie selbst überwindet“ (ebd., 236). Für ihn existieren zwei Arten der Natur, wobei die zweite vollkommener ist als die erste. Die zweite Natur gilt es sich anzueignen, um in einem Prozess schließlich über diese zu wachsen (vgl. ebd.). Das vierte und sechste Kapitel dieser Arbeit bauen auf diese Ideen auf und geben Aufschluss, wie sich sowohl Konventionen als auch der Geschmack zusammensetzt und welche Rolle dabei dem Publikum zukommt.
Wichtig zu erwähnen ist es, dass folgend vorwiegend das männliche Nomen des Musikers paraphrasiert beziehungsweise zitiert wird. Dies liegt ausschließlich daran, dass die für diese Arbeit hinzugezogene Literatur die weibliche Person nicht erwähnt. Die Erwähnung beider Geschlechter im Fließtext halte ich in dieser Masterarbeit mit deren poststrukturalistischen Methoden insofern für sinnvoll, da die Sprache die Realität mitkonstruiert, wobei sie diese nicht einfach nur abbildet, wie im Methodenteil zu sehen (vgl. Foucault 1971, 76f). In Textabschnitten, die nicht direkt den zu untersuchenden Musiker- bzw. Künstlerdiskurs fokussieren, wird daher bewusst eine geschlechtersensible Sprache verwendet.
7 Für die einheitliche Verwendung des Begriffes eines Künstlerdiskurses, ergibt sich für mich folgende Problematik: Einerseits ist dieser Begriff zu unspezifisch und spiegelt nicht den Diskurs wider, der in dieser Arbeit untersucht wird. Weicht man auf die Bezeichnung des Musikerdiskurses aus, so deckt dieser andererseits nicht die Tätigkeiten des Musikers in seiner vollen Bandbreite ab, da – wie auch im Falle der vorliegende Untersuchung – Musiker nicht nur Musiker, sondern zugleich auch Filmemacher, Produzenten und Künstler sind und demnach auch Unterschiede in verschiedenen Genres zu finden sind.
3 Der Diskurs
Um den Begriff des Diskurses zu definieren, wird zuerst die Bedeutung der Disziplin umrissen, da diese dem Diskurs innewohnt und diesen gleichzeitig auch hervorbringt: Die Disziplin meint ein bestimmtes „Fachgebiet“. Wer also in einem Fachgebiet Fuß fassen will, muss sich der Modi der Aussagenproduktion bedienen. Dies können (1) Methoden, die auf die Disziplin bezogen sind, (2) eine spezifische Art und Weise der Argumentation oder (3) die Unterteilung in vorausgesetzte und untersuchende Wissensbestände sein (vgl. Diaz-Bone 2010, 89). Foucault definiert die Disziplin als „ein Kontrollprinzip der Produktion des Diskurses“ (Foucault 2019, 25). Der Diskurs meint – vereinfacht gesagt – eine Zirkulation von Gegenständen, Aussagen, Argumenten oder Personen untereinander (vgl. Lavagno 2011, 47). Eine Disziplin „definiert sich durch den Bereich von Gegenständen, ein Bündel von Methoden, ein Korpus von als wahr angesehenen Sätzen, ein Spiel von Regeln und Definitionen, von Techniken und Instrumenten: das alles kontrolliert ein anonymes System, das jedem zur Verfügung steht, der sich seiner bedienen will oder kann, ohne daß sein Sinn oder sein Wert von seinem Erfinder abhängen“ (Foucault 2016, 22). Die Disziplin hängt insofern mit dem Diskurs zusammen, da sie diesen kontrolliert und produziert (vgl. ebd., 25).
Doch nicht jeder hat Zugang zu Disziplinen und Diskursen, denn durch Strategien, wie beispielsweise der Verknappung von Subjektpositionen, wird dies sichergestellt. Daraus resultierend gibt es Bedingungen, die nötig sind, um den Einsatz des Diskurses zu bestimmen und Regeln, die den Individuen auferlegt werden, um so einen niederschwelligen Zugang zu Diskursen zu verhindern (vgl. Diaz-Bone 2010, 89). Das Ritual spielt hier eine wichtige Rolle, denn es bestimmt welche Qualifikation und Verhaltensweisen mitgebracht werden müssen, um bestimmte Rollen ausführen zu dürfen. Neben dem Ritual gibt es notwendige
8 Zugangsvoraussetzungen, um an Disziplinen und Diskursen partizipieren zu können. Sie beruhen auf dem symbolischen Kapital. Zu diesem zählen beispielsweise „Wertschätzung, Status, Hervorhebung und eben Anerkennung“ (Fröhlich und Rehbein 2009, 138).
Ein weiterer Mechanismus der Verknappung, also dem Verhindern, dass jede_r die gleichen Chancen hat an einer Disziplin und/oder einem Diskurs zu partizipieren, ist die Diskursgesellschaft. Sie basiert hingegen nicht auf der Logik des symbolischen, sondern auf der Logik des sozialen Kapitals (vgl. Diaz-Bone 2010, 89). Damit sind „Ressourcen, die auf der Zugehörigkeit zu einer Gruppe [Herv. i. Org.] beruhen“, gemeint (Fröhlich und Rehbein 2009, 138). Demnach werden die Regeln, die einem den Zugang zum Diskurs verschaffen, von einer (virtuellen) Gemeinschaft, also der Zugehörigkeit zu einer Gruppe, bestimmt. Neben der Diskursgesellschaft ist auch die Doktrin ein Ausschlussmechanismus. Die Partizipation an einem Diskurs ist laut ihr nur gewährt, wenn man dieselben Wahrheiten und Regeln anerkennt beziehungsweise akzeptiert. Auch der/die Sprecher_In wird mittels der Doktrin von Sprecher_Innen, welche die Doktrin nicht anerkennen, abgegrenzt. Demnach hat eine Doktrin sowohl Distinktionspotenzial als auch inklusiven Charakter, da sie soziale Gruppen mit inhaltlichen Aussagen miteinander verbindet oder voneinander abgrenzt (vgl. Diaz-Bone 2010, 89). Für eine konkrete Darstellung des Diskurses siehe Kapitel 17.2.17. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Partizipation an einem Diskurs zum einen durch das symbolische und soziale Kapital und zum anderen durch das Anerkennen derselben Wahrheiten reglementiert wird.
4 Michel Foucault
Den größten Teil der theoretischen Rahmung dieser Arbeit bilden die Werke Michel Foucaults. Im folgenden Kapitel werden seine Konzepte und Überlegungen über den Diskurs, die Disziplin und das Dispositiv dargestellt.
4.1 Die Ordnung des Diskurses
Foucault spricht in seiner Inauguralvorlesung, dass „in jeder Gesellschaft die Produktion des Diskurses zugleich kontrolliert, selektiert, organisiert und kanalisiert wird – und zwar durch gewisse Prozeduren, deren Aufgabe es ist, die Kräfte und die Gefahren des Diskurses zu bändigen, sein unberechenbar Ereignishaftes zu bannen, seine schwere und bedrohliche 9 Materialität zu umgehen“ (Foucault 2016, 10f). Ein Faktor, der die Produktion des Diskurses vorantreibt, ist eine Prozedur der Ausschließung: das Verbot. Dieses gibt in seiner Definition bereits vor, dass nicht jede_r im Stande ist, alles zu sagen und über alles zu sprechen. Hierzu können drei Typen von Verboten, die sich in diesem Zusammenhang einander summieren, ausschließen oder überschneiden, genannt werden: Das Tabu des Gegenstandes, das Ritual der Umstände und das bevorzugte oder ausschließliche Recht des sprechenden Subjektes (vgl. ebd., 11). Besonders im Bereich der Sexualität oder der Politik werden, laut Foucault, Verbote immer zahlreicher. Den Diskurs beschreibt er als, dasjenige, „worum und womit man kämpft; er ist die Macht, deren man sich zu bemächtigen sucht“ (ebd.). Ein konkretes Beispiel gibt Aufschluss, wie der Diskurs arbeitet und wie Macht und Disziplin in diesem eingeschlossen sein können: Der Diskurs über die Vernunft und den Wahnsinn. Er kann als Grenzziehung bzw. auch als Entgegensetzung von dieser hervorgebrachten Opposition gesehen werden. Die besondere Rolle der/des Wahnsinnigen, welche dieser Diskurs erst hervorgebracht hat, erlangte sie im Mittelalter.
sein [der Wahnsinnige Anm. L.S.] Wort gilt für null und nichtig, es hat weder Wahrheit noch Bedeutung, kann vor Gericht nichts bezeugen, kein Rechtsgeschäft und keinen Vertrag beglaubigen, kann nicht einmal im Meßopfer die Transsubstantiation sich vollziehen lassen und aus dem Brot einen Leib machen; andererseits kann es aber auch geschehen, daß man dem Wort des Wahnsinnigen im Gegensatz zu jedem andern eigenartige Kräfte zutraut: die Macht, eine verborgene Wahrheit zu sagen oder die Zukunft vorauszukünden oder in aller Naivität das zu sehen, was die Weisheit der andern nicht wahrzunehmen vermag. (Foucault 2019, 12)
Die beschriebene Wahrheit stellt keinen Wert an sich dar, sondern hat lediglich eine Funktion im Diskurs – quasi als „Einsatz im Spielt des Diskurses“ (Lavagno 2011, 50).
Ein Faktor, der den Willen zum Wissen und somit auch den Willen zu Wahrheit beeinflusst, ist ein historisch veränderbares und institutionell zwingendes Ausschließungssystem; also eine Grenzziehung; (vgl. Foucault 2016, 14). Der Wille zum Wissen scheint zunächst etwas diffus zu sein, doch meint Foucault damit eine Art mit der man das erkennende Subjekt in einer bestimmten Position, in einem bestimmten Blick oder in einer bestimmten Funktion sieht. Demnach ist es der Wille zum Wissen, der ein gewisses Niveau vorschreibt (vgl. ebd., 15). Der Wille zur Wahrheit ist auf institutioneller Ebene verankert, wodurch er mittels einem Konstrukt von Praktiken jeweils immer erneuert und bestärkt wird. Stärker manifestiert sich der Wille zur Wahrheit jedoch in der Art und Weise, wie Wissen in der Gesellschaft eingesetzt, gewertet, sortiert, verteilt und zugewiesen wird (vgl. ebd.).
10 4.2 Die Wahrheiten im Diskurs
Im wirklich Wahren befindet man sich nur, „wenn man den Regeln einer diskursiven ‚Polizei‘ gehorcht, die man in jedem seiner Diskurse reaktivieren muß“ (Foucault 2016, 25.).
Eine weiterer Kontrollmechanismus, der den Diskursen innewohnt, sind die auf die Individuen bezogenen Regeln, die verhindern, dass jeder und jede Zugang zu einem Diskurs hat. Foucault bezeichnet dies als „Verknappung der sprechenden Subjekte“ (Foucault 2016, 26). Niemand kann in der zuvor beschriebenen Ordnung des Diskurses eintreten, wenn er oder sie nicht die notwendigen Anforderungen mit sich bringt oder ähnliche Wahrheiten anerkennt (vgl. ebd.). Der medizinische Diskurs und das Sprechen, Denken und Handeln mit und über Krankheiten, die Zuschreibung einer Anomalie und deren Bestimmung lassen sich hier als Beispiele nennen, die Foucault in seinem Werk Wahnsinn und Gesellschaft beschreibt. Die notwendigen Anforderungen, um in einem Diskurs partizipieren zu können, sind demnach vorgegeben und fester Teil unserer Gesellschaft. Der Begriff der „Diskursgesellschaft“ bezieht sich genau auf diese Anforderungen (vgl. ebd., 28), wie es vorher bereits auch bei Diaz-Bone (2010) beschrieben wurde. Ein Diskurs stellt nämlich eine gemeinsame Verbindlichkeit und Zusammengehörigkeit zwischen Individuen her, die an diesem partizipieren (vgl. ebd.). Durch Anerkennung derselben Wahrheiten und Akzeptanz gewisser Regeln wird die Bedingung einer Partizipation zum Diskurs geschaffen (vgl. ebd., 29). Wie diese konkrete Anerkennung von gemeinsamen Wahrheiten in Erscheinung treten kann, wird im Kapitel 17.2 gezeigt.
4.3 Der Diskurs und dessen Macht
Foucault führt in den 60er Jahren den Begriff der Archäologie ein. Mit dessen Hilfe versucht er den Ursprung und das erstmalige Auftreten eines Diskurses ausfindig zu machen. Hierbei geht er im wahrsten Sinne wie ein Archäologe vor. Er interessiert sich für die Funktionsweise eines Diskurses, d.h. wie die einzelnen Gegenstände miteinander zirkulieren und vor allem für das Prinzip, das diese Zirkulation steuert (vgl. Lavagno 2011, 47 ff).
Christian Lavagno hat sich mit dem Denken Foucaults auseinandergesetzt und zeigt eine interessante Veränderung auf: In den 70er Jahren verschiebt sich der Blick Foucaults vom Diskurs als autonome Einheit hin zu gesellschaftlichen und kulturellen Bedingungen der Entstehung (Lavagno 2011, 49). Also werden nicht mehr nur Diskurse allein, sondern auch auf
11 die Kultur bezogene Praktiken untersucht. Sowohl diese als auch der Diskurs selbst, versteht Foucault als jene, die das Funktionieren der Macht sicherstellen. Macht meint hier im Gegensatz zur Frankfurter Schule nichts Repressives, sondern etwas Produktives (vgl. ebd., 50). Produktiv im Sinne einer Hervorbringung – der Hervorbringung von Wissen. Demzufolge sind Wissen und Macht ineinander verschränkt. Foucault fokussiert im Begriff der Macht den relationalen Charakter der Machtverhältnisse, deshalb ist eine Befreiung nur innerhalb dieser Machtverhältnisse möglich (vgl. ebd., 52).
4.4 Die Episteme
Unter den Epistemai versteht Foucault die „spezifische vorreflexive Geordnetheit von Wissen.“ (Diaz-Bone 2010, 76). Damit sind Strukturen gemeint, die zu unterschiedlichen Epochen, unterschiedlich geordnet werden können (vgl. ebd.). Foucault konzentriert sich dabei auf die Bedeutung dieser unbewussten Ordnung von Wissen (vgl. ebd., 77), denn die Erfahrung wird vorgeprägt durch diese Episteme.
Nichts ist tastender, nichts ist empirischer (wenigstens dem Anschein nach) als die Einrichtung einer Ordnung unter den Dingen. [...] Tatsächlich gibt es selbst für die naivste Erfahrung keine Ähnlichkeit, keine Trennung, die nicht aus einer präzisen Operation und der Anwendung eines im voraus bestehenden Kriteriums resultiert. [...] Die Ordnung ist zugleich das, was sich in den Dingen als ihr inneres Gesetz, als ihr geheimes Netz ausgibt, nach dem sie sich in gewisser Weise alle betrachten, und das, was nur durch den Raster eines Blicks, einer Aufmerksamkeit, einer Sprache existiert. [...] Die fundamentalen Codes einer Kultur, die ihre Sprache, ihre Wahrnehmungsschemata, ihren Austausch, ihre Techniken, ihre Werte, die Hierarchie ihrer Praktiken beherrschen, fixieren gleich zu Anfang für jeden Menschen die empirischen Ordnungen, mit denen er zu tun haben und in denen er sich wiederfinden wird (Foucault 1971, 22 zit. n. Diaz- Bone 2010, 78).
5 Der Kunstdiskurs
Für den Kunstdiskurs werden Theorien Bourdieus und Diaz-Bone (2010) hinzugezogen, um diesen zu skizzieren.
Allgemein bringen Diskurse bei Pierre Bourdieu sowohl eine Bedeutung von Sprechakten im Feld mit sich als auch einen distinktionspotenziellen Sinn kultureller Werke (vgl. Diaz-Bone 2010, 57). Der Kunstdiskurs ist nicht einfach nur ein Kommentar, der für sich alleine stehen kann, sondern ein „Produktionsfaktor für die Herstellung der Qualität ‚Kunst‘ und ‚wertvoller kultureller Werke‘“ (ebd.). Die Diskurse der Kunst bringen eine Vielfalt an
12 Interpretationsmöglichkeiten hervor und hier betont Diaz-Bone – beziehend auf Bourdieu – das Distinktionspotenzial des Kunstdiskurses, welches als Klassifikation, als Kommentar oder als Ablehnung in Erscheinung treten kann (vgl. ebd.). Als Beispiel gibt Bourdieu einen Kunstkritiker an, der sich das Recht nimmt sowohl über ein Kunstwerk zu sprechen als dieses auch zu kritisieren (vgl. Diaz-Bone 2010, 57.). Der Wert eines Kunstwerkes kommt erst durch eine Hervorbringung des Wissens, also durch verschiedene, teils sich auch widersprechende Diskurse, zustande. „Es ist der im Feld hervorgebrachte Diskurs, der als ein Faktor das Kunstwerk erschafft. Dieser Diskurs ist ein kollektives Produkt, auch ein von Kollektiven umkämpftes“ (Diaz-Bone 2010, 57).
Auch den Begriff des Werks analysiert Diaz-Bone genauer und zeigt, dass dieser im Kunst- und Kulturbereich eine besondere Qualität mit sich bringt, da er sich nämlich „auf ein Netz anderer diskursiver Fakten stützt“ und im Zusammenhang mit der „im Diskurs erstellte Qualität ‚Autor‘“ steht (Diaz-Bone 2010, 88). Das Hervorbringen von Kunstwerken, sei es das Schreiben eines Textes, das Komponieren eines Stückes oder das Malen eines Bildes, erzeugt einen geheiligten Charakter des Hervorgebrachten. Konkret geht es um die Fähigkeit eines Autors/einer Autorin etwas Besonderes entstehen zu lassen, um von Kunst zu sprechen (vgl. ebd.). Dadurch wird die Kategorie „Werk“ erzeugt. Was aber meint ein/e Autor_In? Hierzu ein kleiner Exkurs zu den Ansichten Foucaults, der den/die Autor_In als Folgendes beschreibt: Laut ihm macht ein Autorenname „das Ereignis eines gewissen Diskurses sichtbar, und er bezieht sich auf das Statut dieses Diskurses in einer Gesellschaft und in einer Kultur“ (Foucault 2000, 211). Der Autorenname befindet sich an einem besonderen Ort, also nicht im Personenstand der Menschen oder in der Werkfiktion, sondern in einem Bruch, nämlich jenem, der einer Gruppe von Diskursen und deren einmalige Seinsweise hervorbringt (vgl. ebd.). Demnach gibt es in einer Kultur eine bestimmte Anzahl von Diskursen, die der Funktion „Autor_In“ zuzuschreiben sind. „Ein Privatbrief kann einen Schreiber haben, er hat aber keinen Autor; ein Vertrag kann wohl einen Bürgen haben, aber keinen Autor. Ein anonymer Text, den man an einer Hauswand liest, wird einen Verfasser haben, aber keinen Autor. Die Funktion Autor ist also charakteristisch für Existenz-, Verbreitungs- und Funktionsweise bestimmter Diskurse in einer Gesellschaft“ (ebd.). Foucault macht auf den interessanten Fakt aufmerksam, dass es eine Zeit gab, in der Texte, die wir heute als literarisch bezeichnen würden, verbreitet wurden, ohne den konkreten Hinweis auf einen Autorennamen. Im Gegensatz dazu wurden Texte über den Himmel, die Krankheiten oder die Medizin im Mittelalter nur akzeptiert bzw. hatten nur einen Wahrheitswert, wenn sie auf eine/n Autor_In zurückzuführen waren (vgl.
13 Foucault 2000, 212). Erst im 17. Und 18. Jahrhundert kam es zu der kurz davor angesprochenen Umkehrung: wissenschaftliche Texte wurden auch mit anonymen Autorennamen akzeptiert (vgl. ebd.). Grund dafür war die Zugehörigkeit des Textes zu einem wissenschaftlichen Diskurs. Der Text gehörte demnach zu einem systematischen Ganzen. Literarische Texte hingegen waren auf die Funktion des/der Autor_In angewiesen (vgl. ebd., 213). „Und wenn infolge eines Mißgeschicks oder des ausdrücklichen Autorwillens uns der Text anonym erreicht, spielt man sofort das Spiel der Autorsuche. Literarische Anonymität ist uns unerträglich; wir akzeptieren sie nur als Rätsel“ (ebd.). Foucault zeigt, dass ein Text eine Reihe von Zeichen in sich trägt, die auf den/die Autor_In verweisen – also eine häufige Verwendung von bestimmten Wörtern, Grammatiken oder Personalpronomen (vgl. Foucault 2000, 216). Foucault ist sich der Thematik bewusst, dass die besondere Funktion der Autorenschaft auch interessant in Bezug auf die Musik, die Malerei oder die Technik wäre und er das Thema der Autorenschaft bislang ungerechtfertigt eng gehalten habe (vgl. ebd. 218). Das letzte interessante Faktum betreffend die Autorenschaft, ist die Zuschreibung einer „transdiskursiven Position“ (ebd.). Damit meint Foucault die Möglichkeit der Autoren Bildungsgesetze für andere Texte zu schaffen – also einen Diskurs an dem andere Autor_Innen partizipieren können (vgl. ebd. 219).
6 Das Dispositiv
Auch dieser Begriff wurde maßgeblich von Michel Foucault geprägt. Er beschreibt das Dispositiv als ein heterogenes Gebilde bestehend aus Diskursen, Gesetzen, (wissenschaftliche) Aussagen, (philosophische) Lehrsätzen, Institutionen, etc. Damit ist auch alles Gesagtes sowie Ungesagtes inbegriffen (vgl. Foucault 1978, 119f). „Das Dispositiv selbst ist das Netz, das zwischen diesen Elementen geknüpft werden kann“ (ebd., 120). Es besteht die Option, dass sich zwischen jenen einzelnen Elementen eine gewisse Natur herstellen kann, die das Potenzial hat sich jederzeit neu zu organisieren. Ein Diskurs kann beispielsweise zu jeder Zeit als Programm einer Institution erscheinen und im nächsten Moment als Gegenteil, um eine Praktik zu rechtfertigen. Foucault beschreibt dieses ständige Readjustierungspotenzial als einen Positionswechsel mit der Möglichkeit zu Funktionsveränderung (vgl. ebd.). Die Hauptfunktion eines Dispositivs (also dieser Formation) ist es auf einen Notstand zu antworten. Demnach besitzt das Dispositiv strategischen Charakter, da es in der Lage ist zu einer gewissen Zeit auf einen gewissen Notstand zu antworten. Das von Foucault angeführte Beispiel der Neurose, gibt Aufschluss: Durch einen strategischen Imperativ, der die Struktur für ein Dispositiv vorgab,
14 konnte sich das „Dispositiv der Unterwerfung/Kontrolle des Wahnsinns, dann der Geisteskrankheit, schließlich der Neurose“ entwickeln (ebd.). Zusammenfassend lässt sich sagen, dass hier also drei Elemente wesentlich für die Herstellung eines Dispositivs beitragen: (1) Das Umfassen von Quellen, von denen sich das Dispositiv nährt; also auch alles Gesagtes und Ungesagtes; (2) die Verbindungen, die dabei entstehen, aber jederzeit neu organisiert werden können; (3) das Hinweisen auf einen Notstand mittels strategischer Funktion (vgl. Foucault 1978, 119f). In dem Gespräch zwischen Michel Foucault und Gerard Wajeman in „Dispositive der Macht“, zeigt Wajeman, dass das Dispositiv sich durch die Struktur heterogener Elemente auszeichnet (vgl. ebd., 121). Foucault weißt auf zwei Prozesse hin, die dem Dispositiv innewohnen: Zum einen eine „funktionelle Überdeterminierung“, zum anderen eine „strategische Wiederauffüllung“ (ebd.). Erstere meint, dass jede Wirkung – sei sie positiv oder negativ, gewollt oder ungewollt – in Einklang (oder Widerspruch), also in einem Verhältnis, mit anderen Elementen treten muss. Das Eingehen dieser Verbindung, fordert eine Neuorganisation der heterogenen Elemente (vgl. ebd.) Die „strategische Wiederauffüllung“ meint das Umkehren eines negativen Effektes ins Positive (Foucault 1978, 122). Foucault gibt Aufschluss und nennt hier ein Beispiel, das diese zwei Prozesse deutlicher werden lässt: Das Dispositiv der Inhaftierung. Die Haft gilt als wirksames Instrument, um der Kriminalität entgegen zu wirken (vgl. ebd., 121). Doch was hat das Phänomen der Haft und damit einhergehende Strukturen produziert? Einen nicht vorhersehbaren Effekt, nämlich die Entstehung eines neuen Milieus: Das Milieu der Delinquenz. Wurde dieser negative Effekt erkannt, so wurde er nutzbar gemacht und gleich in eine Strategie eingewoben. Das neuentstandene Milieu der Delinquenz wurde für diverse politische und positive Zwecke ausgenutzt. Diese sich dahinter befindende Strategie nennt Foucault „strategische Wiederauffüllung des Dispositivs“ (ebd., 122). An diesem Beispiel wird deutlich, dass sich durch das Dispositiv der Inhaftierung die neue (negative) Wirkung auf einzelne Elemente auswirkt (er spricht von einer „funktionellen Überdeterminierung“). Die einzelnen Elemente mussten neu organisiert werden und kehrten das Negative ins Positive (die meint die „strategische Wiederauffüllung“) (vgl. ebd.).
Foucault hebt die strategische Natur, die dem Dispositiv innewohnt, hervor, denn in die Kräfteverhältnisse, die Teil eines Dispositivs sind, kann eingegriffen werden, wodurch es bewusst manipuliert werden kann (vgl. Foucault 1978, 123). Die Option zum Eingreifen zeigt, dass das Dispositiv immer auch ein Spiel der Macht ist (ebd.). Macht beschreibt Foucault – wie vorher bereits kurz umrissen – als Beziehungen; also als ein organisiertes Bündel von
15 Beziehungen (vgl. ebd., 126). Das Dispositiv besteht aus: „Strategien von Kräfteverhältnissen, die Typen von Wissen stützen und von diesen gestützt werden“ (ebd., 123). Ein weiteres Beispiel ist die Erkenntnis, das Wissen bzw. die Wissenschaft als strategisches Dispositiv gesehen werden kann. Es geht darum mit Hilfe ihrer herauszufiltern, was in der Wissenschaftlichkeit akzeptabel sein könnte. Sie ist demnach ein Dispositiv, das „das wissenschaftlich Qualifizierbare vom Nicht-Qualifizierbaren“ unterscheiden kann (ebd., 124).
Die vorher erwähnten Strategien können auch ohne Subjekt verstanden werden. Als Beispiel gibt Foucault Arbeiter_Innen in der Zeit der ersten Schwerindustriezentren (also um 1830) an, die mittels dieser Strategien, möglichst lange am Arbeitsplatz bzw. unmittelbar um ihn herum gehalten werden konnten (vgl. Foucault 1978, 132). In Mulhouse oder im Norden Frankreichs übte man „Druck auf die Leute aus, sich zu verheiraten, man stellte Wohnungen zur Verfügung, baute Arbeitersiedlungen, man praktizierte jenes hinterhältige System der Verschuldung, von dem Marx spricht, und das darin besteht, die Miete im Voraus zu kassieren, während der Lohn erst am Ende des Monats ausgezahlt wird“ (ebd.). Langsam bildet sich um all dem herum ein „Diskurs der Moralisierung der Arbeiterklasse“, wo nicht mehr zuzuordnen ist, wer ihn entworfen hat (ebd., 133).
6.1 Die soziale Klasse
Das eine Klasse zur Herrschenden wird und diese Herrschaft sich verewigt, unterliegt einer Reihe von durchdachten, wirksamen Taktiken, die mittels diverser Strategien funktionieren und die Herrschaft durch diese sicherstellen (vgl. ebd., 133f). Konkret bedeutet das, „daß die Strategie der Moralisierung der Arbeiterklasse eine Strategie der Bourgeoisie ist“ (Foucault 1978, 134). Nicht jedoch, dass die bürgerliche Klasse Strategien erfunden hätte, um die Moralisierung der Arbeiterklasse zu sichern. Hinter der Antwort auf vagabundierende Arbeiter_Innen, steht jedoch kein Subjekt, dem die Gesetzgebung innewohnt, sondern eine breitgefächerte Strategie (vgl. ebd., 134f).
Jäger beschreibt das Dispositiv als ein „Zusammenspiel diskursiver Praxen (=Sprechen und Denken auf der Grundlage von Wissen), nichtdiskursiver Praxen (=Handeln auf der Grundlage von Wissen) und 'Sichtbarkeiten' bzw. 'Vergegenständlichungen' (von Wissen durch Handeln/Tätigkeit)“ (Jäger 2001, 82).
16 In den vorherigen Kapitel wurden Arbeiten Diaz-Bones, Bourdieus, Foucaults und Jägers hinzugezogen, um die theoretische Rahmung zu geben. Die Funktionsprinzipien der Disziplin, des Diskurses und des Dispositivs dienen als Hintergrundwissen für die nun folgenden Felder, die dem Künstler- beziehungsweise dem Musikerdiskurs innewohnen und diesen auch mitformen.
7 Kunstwelten
In den Kunstwelten werden Kunstschaffende mit einer gewissen Genialität assoziiert, die sie erst zu Künstler werden lässt. Demnach ist ihr Status abhängig von diesen Welten (vgl. Diaz- Bone 2010, 144). Deutlich wird dies im besonderen Falle Duchamps: er signierte Gegenstände (Kamm, Flaschentrockner, etc.) und stellte diese aus. Er bediente sich dabei der Objekt- Kunstwelt Relation, wodurch das Objekt in der Kunstwelt an Status gewinnt. Auch, wenn Duchamp offen zugab diese Absicht nicht zu verfolgen, so ist es dennoch ein kollektiver Definitionsprozess, der im Institutionalismus „Kunst“ sichtbar wird (ebd.). Diaz-Bone fasst dies treffend zusammen: „Die Tätigkeit desjenigen, der in der Kunstwelt als eigentlicher ‚Künstler‘ gilt, erscheint nun in der Kunstwelt als die ‚künstlerische Tätigkeit‘, die dem Werk den Kunststatus verleiht“ (ebd.). Die Kunstwelt hat demnach eigenen Charakter, doch wer ist ihr zugehörig? Becker zeigt, dass alle, die durch ihre Arbeitsteilung am Kunstschaffen beteiligt sind, Teil der Kunstwelt sind. Also Galeristen, Museumsdirektoren, Kritiker oder auch Handwerker, die Vorprodukte erstellen und an der Herstellung ästhetischer Standards beteiligt sind (Diaz-Bone 2010, 144). 1
7.1 Konventionen
Einleitend gibt Becker ein Beispiel, um musikalische Tonfolgen von ihrer vermeintlichen Autonomie zu befreien. Er stellt dem/der Leser_In die Frage, welche Note einer selbst ausgedachten Melodie als Nächstes kommt, wenn die Erste ein C ist. Nach Aufführen diverser Möglichkeiten, verrät er schließlich die zweite Note: D. Nun beginnt das Spiel von Vorne und man sollte die dritte Note erraten. Die Tatsache, dass E, also genau die dritte weiße Taste der Klaviatur, sehr wahrscheinlich ist, zeigt die soziale Organisation der Kunstwelten auf (vgl.
1Hier wurde bewusst der maskuline Plural verwendet, da Frauen immer noch ungleich behandelt werden, in Hinblick auf die künstlerische Genialität. Die Kritik an vorwiegend männlichen Gatekeeperpositionen wird in dem Kapitel 8 diskutiert. 17 Becker 2008, 40ff). Durch Erkennen eines Musters sind wir in der Lage, die dritte Note zu erraten. Der Autor weist darauf hin, dass jede Kunstwelt Konventionen besitzt. Sei es Geschlechterrollen im Tanz, die Spieldauer eines Films, die Struktur eines Gedichts, die häufige Annahme des traurigen Charakters von Moll-Akkorden bzw. den fröhlichen Charakter von Dur-Akkorden oder rhythmische Muster, um etwas als lateinamerikanisch zu definieren (vgl. ebd.). Demnach sind Konventionen in der Kunstwelt sozialer Natur.
7.2 Das Publikum
Diese erkenntlichen Muster beziehungsweise diese Konventionen erlauben es Menschen mit weniger Wissen über Kunst, auch Teil eines Publikum zu sein und an der Kunst zu partizipieren. „Knowledge of these conventions defines the outer perimeter of an art world, indicating potential audience members, of whom no special knowledge can be expected“ (Becker 2008, 46). Andere Konventionen jedoch sind nur für Menschen erkennbar, die sich in der Kunstwelt stärker bewegen und dementsprechend mehr Erfahrungen mit den Arbeiten und Genres haben (vgl. Becker 2008, 47). Menschen, die sich oft in dieser Materie bewegen, haben demnach mehr Bewusstsein welche konventionellen Bezeichnungen in einem Bereich vorliegen. Diese Menschen beschreibt Becker im Bereich der Musik als „serious listener“ bzw. „serious and experienced audience members“ (Becker 2008, 48). Wenig stark involvierte Publika hingegen legen ihr Augenmerk mehr auf konventionell, formale Elemente, um Kunst von Nichtkunst zu unterscheiden (vgl. ebd., 50). Zusammenfassend unterscheidet Becker also drei Gruppen von Publika: a) gut sozialisierte Menschen, die nur wenig bis keinen Umgang in und mit der Kunstwelt haben und als Publikumsmitglieder fungieren. b) „Serious and experienced audience members“, die im Stande sind emotional und kognitiv auf die Manipulation bestimmter Elemente zu reagieren (48 ff.). c) Die Gruppe, die noch nicht angesprochen wurde: Studierende der Künste, die somit im kollegialen Verhältnis stehen (vgl. Becker 2008, 52). Diese Gruppe überlappt sich auch mit den „serious audience members“ (ebd., 54). Laut Becker ist sie in der Kunstwelt die entgegenkommendste Gruppe, da sie äußerst tolerant und verzeihend ist. Zudem verortet sie sich zwischen den Künstler_Innen und den Konsument_Innen und ist in der Lage auf Werke mit einem größeren Verständnis zu antworten.
18 7.3 Standardisierungen in der Kunst
Den Standardisierungen spricht Becker große Relevanz zu, da sie ein geordnetes Handeln innerhalb von Kunstschaffenden strukturieren und ein Zusammenarbeiten möglich machen: „Many of the production conventions which make cooperation possible are simple forms of standardization which exemplify the philosophical notion of convention analysed by David K. Lewis (1969)“ (Becker 2008, 55). Kommt es jedoch zu einem Problem, so wird auf vergangene Lösungen verwiesen, da sich diese bereits etabliert haben (vgl. ebd., 56). Becker bezieht sich nochmals auf Lewis: „The means everyone adopted to solve the problem of coordination is what Lewis means by a ‚convention,‘ and it aptly describes those standardized means of doing things characteristics of all the arts“ (ebd.). Konkret macht Becker dies am Beispiel von 440 Hz (Kammerton) als Bezugspunkt für das Stimmen der Instrumente fest oder das Benennen von A anstatt Z (vgl. ebd.). Auch die Länge eines Popsongs in der Zeit von 1900–1950 folgte einem gewissen Muster: Der Song dauerte 32 Takte, wurde in jeweils acht Takten gesplittet und folgte dem Muster A-A-B-A, beinhaltete also ca. zwei bis drei Refrains (vgl. ebd., 57). Becker beschreibt eine interessante Auswirkung der Standardisierung: „the number of choruses reflected what could be contained on the standard ten-inch seventy-eight-rpm record [rpm = Rounds Per Minute Anm. L.S.]“ (Becker 2008, 58). Die Standardisierung beginnt bereits in jungen Jahren. Zu sehen ist dies an jungen Jazz-Musiker_Innen, die sich beispielsweise einer acht taktigen Bridge in der Mitte eine Jazzstandards bewusst sind (vgl. ebd., 60). Becker betont, wie wichtig es ist, sich auf diese Standardisierungen in der Kunstwelt zu berufen, da Kunst sonst unmöglich wäre (vgl. ebd., 63). Das Hervorbringen von Standardisierungen und Konventionen, beschreibt der Autor wie folgt: „Artists usually develop their own innovative materials over a period of time, creating a body of convention peculiar to their own work“ (Becker 2008, 64). Demnach lädt uns eine künstlerische Arbeit in eine Welt ein, die anfangs womöglich nicht ganz verständlich ist, da sie Materialien benutzt, die bisher nicht bekannt sind. „Audiences learn unfamiliar conventions by experiencing them, by interacting with the work and, frequently, with other people in relation to the work“ (ebd.). Das Publikum lernt durch Erfahrung oder Interaktion unbekannte Konventionen kennen bzw. ein Element in einer Vielzahl von Kontexten. Der/Die Künstler_In selbst lehrt ihnen, wie ein neues Element gesehen werden kann, was es tun kann und wie es erfahren werden kann (vgl. ebd.). Ein Kunstwerk hat, laut Becker, die Fähigkeit, dem Publikum etwas Neues zu zeigen: ein neues Symbol, eine neue Form oder eine neue Art der Präsentation. Deutlich wird dies am Beispiel Debussys, der seinen Publika neue Arten der Harmonie lehrte. In diesem Prozess wissen die Publika auch, wie sie
19 auf die bekannten Konventionen antworten sollen (vgl. ebd., 66). Becker fasst zusammen: verschiedene (Sub-)Gruppen teilen ein Wissen über Konventionen, das sie sich auf verschiedene Weisen angeeignet haben. Sie haben die Möglichkeit mittels dieses Wissen in dem kooperativen Netz zusammen zu handeln, diese Welt erst zu ermöglichen und ihre Existenz zu charakterisieren (vgl. Becker 2008, 67).
In Kunstwelten ziehen sowohl Akteur_Innen als auch der kollektive Definitionsprozess im Institutionalismus die Grenzen zwischen Kunst und Nicht-Kunst. Doch auch diskursive Prozesse sind zentral für ästhetische Bewertungen (vgl. Diaz-Bone 2010, 146). „Kunstwelten sind Interpretationswelten, in denen Objekte und Praktiken als ‚Kunst‘ interpretiert werden können. In diesem Moment entsteht ihre besondere Qualität und Existenz als ‚Kunstwerk‘“ (Diaz-Bone 2010, 146). Akteure_Innen der Kunstwelten sind der Ausbildung von (institutionalisierten) Ästhetiken und dementsprechenden Diskurspositionen ausgesetzt, die sie auch immer wieder reproduzieren. Durch Ästhetisierung mittels Interpretationen haben sie die Fähigkeit Kunstwerken den Kunststatus zu verleihen (vgl. ebd.). Becker zeigt auch, dass die Äshtetiker_Innen (Kritiker_Innen, Philosoph_Innen, Kulturwissenschaftler_Innen, etc.) Einfluss auf die Definition von Kunst ausüben. Mit dieser sichern sie die Anerkennung durch die Kunstwelt und wirken auf weitere Arbeiten der Künstler_Innen ein (vgl. ebd.).
„Der kollektive ästhetische Diskurs der Kunstwelten ist mehr als die Bewertung, Klassifikation der künstlerischen Objekte und Praktiken. Der Diskurs legitimiert in der Kunstwelt die Existenz des Kunstwerks und liefert seine ‚Begründung‘ (rationale) [Herv. i. Org.]“ (Becker 1982, 4/13 zit. n. Diaz-Bone 2010, 148). Der Prozess des Kunstschaffens gleicht einem Diskurs. Aufgrund der in der Kunstwelt geltenden Regeln, ist er in der Lage, Objekten und Praktiken den Status „Kunst“ zu verleihen (Diaz-Bone 2010, 149).
7.4 Die Helfer in den Kunstwelten
Cranes‘ (1992a, 1992b) Begriff der Kulturwelten kann gewisse Positionierungen in den vorher beschriebenen Kunstwelten sichtbar machen. Sieht man Kunstwelten als besondere Fälle von sozialen Welten an, so ist womöglich der Begriff der Kulturwelten treffender (vgl. Diaz-Bone 2010, 149). Folgende Bestandteile liegen Kulturwelten zu Grunde: a) Kulturschaffende und deren Unterstützer; b) Konventionen und Standards; c) Personen in „Gatekeeper“ Positionen, wie beispielsweise Kritiker, Kuratoren und DJs; d) Organisationen (Museen, Kunstgalerien,
20 Theater und Clubs, aber auch Verlage und Magazine); e) zuletzt auch die Publika, die entscheidend sind, welche (kulturelle) Produkte gezeigt, aufgeführt oder verkauft werden sollen bzw. können (vgl. Diaz-Bone 2010, 149). Neben den anerkannten Künsten, treffen auch populäre Kulturformen oder Sport auf die Theorie der Kulturwelten nach Crane zu. „Aber auch besondere Gegenstände, besondere Konsumgüter wie die Mode (insbesondere die Haute Couture), hochwertige Automobile, teure Uhren, erlesene Weine und ähnliche ‚kultivierbare‘ Objekte sind eingebettet in eine sie umgebende Kulturwelt.“ Sie „werden in Diskursen auf ästhetische Kategorien bezogen, erhalten einen kollektiv anerkannten Wert, werden in eine Art Genrewissen einbezogen, werden von Sammlern gesammelt“ (Diaz-Bone 2010, 150).
21 8 Die Geschlechterdebatte in der Kunst
Dieses Kapitel ist für diese Arbeit besonders interessant, da die Frage, wie sich ein Künstlerdiskurs zusammensetzt, meines Erachtens nach nicht ohne den Verweis auf das Geschlecht beantwortet werden kann.
Die Malerin Hilma af Klingt (1862-1944) ist ein deutliches Beispiel für die Unterpräsentierung von Frauen in der Kunstwelt. Annika Öhrner zeigt in ihrer Rezension, dass die Werke der Schwedin im New Yorker Guggenheim Museum ausgestellt wurden und sie sich in diesem Kanon etablieren konnte bzw. aufgenommen wurde. Öhrner verweist auf die Kunsthistorikerin Åke Fant, die als erste die Werke der schwedischen Malerin untersuchte. Sie fand heraus, dass af Klingt Pionierarbeit im Bereich der abstrakten Kunst leistete, noch bevor dies berühmte Persönlichkeiten, wie Malevich, Mondrian und Kandinsky taten (vgl. Öhrner 2019, 46).
Auch Linda Nochlin verweist auf die weibliche Positionierung in der Kunstgeschichte und stellte sich 1971 die Frage: „Why have there been no great women artists?“ (Nochlin 1971, zit. n. Hassler 2017, 49). Sie analysierte in ihrem Buch, die gesellschaftlichen und institutionellen Verwaltungsapparate, die wesentlichen Beitrag zur Minderung der weiblichen Kunst leisteten (ebd.). In ihrem Essay spricht sie über den Erfolg von Frauen in Kunstwelten. Sie verweist darauf, dass ein Großteil der Frauen einen Künstler als Vater hatten oder in enger Verbindung mit männlichen Persönlichkeiten standen (vgl. Nochlin 1988, 168f.).
Auch Gabriele Klein zeigt auf, dass Künstlerinnen immer noch ungleich behandelt werden (vgl. Klein 2019, 1364). Nordamerikanische und europäische Studien zeigen, dass Frauen keinesfalls gleichgestellt sind. Vielmehr setzt sich das patriarchale Bild des Kunstgenies durch. Dies zeigt sich in Berufspositionen, Einkommen und Ansehen (vgl. ebd.). Die Machtpositionen in der Kunst werden grundsätzlich von Männern besetzt, wie beispielsweise Museumsdirektoren, Theaterintendanten, Kunstkritiker oder Chefredakteure von Kunstmagazinen. Durch diesen Fakt lässt sich von einer Marginalisierung von Frauen sprechen (vgl. Klein 2019, 1360). Bis heute sieht man sowohl einen quantitativen als auch einen qualitativen Unterschied. Männer sind in der Kunstwelt quantitativ überrepräsentiert und auch deren Kunst wird qualitativ höher bewertet. Klein betrachtet Theorien, die eine vorherrschende Rolle im Kunstdiskurs besitzen, äußerst kritisch, da sie hauptsächlich von Männern verfasst wurden. Sie gibt als Beispiele Theodor W. Adorno, Norbert Elias, Pierre Bourdieu oder Jacques Rancière an. „Ihre Arbeiten
22 beziehen sich entsprechend implizit und explizit auf die Kunst von Männern oder gendertheoretisch unreflektiert auf ‚die Kunst‘“ (Klein 2019, 1362).
Für diese Arbeit wird bewusst die männliche Form beibehalten, um gleichzeitig auch darauf aufmerksam zu machen, dass Frauen in diesem Feld unterrepräsentiert sind und hier der hegemoniale Männerdiskurs, also ein Musikerdiskurs, thematisiert wird. Künstlerische Strategien und Ästhetiken, die Frauen einst dazu dienten sich von diesem hegemonialen Männerdiskurs zu befreien, werden „in den Kontext der Medien- und Kulturindustrie überführt und hier von Künstlerinnen wie Madonna, Lady Gaga oder Beyoncé im Kontext des Pop ästhetisch aufbereitet und vermarket“ (Klein 2019, 1365).
Pierre Bourdieu macht auch auf diese männliche Herrschaft aufmerksam: „Ich glaube, dass nichts den Machtverhältnissen im künstlerischen und literarischen Feld mehr ähnelt, als das Verhältnis der Geschlechter: ein Verhältnis, das von symbolischer Herrschaft gekennzeichnet ist“ (vgl. Bourdieu in Bourdieu/Graw, 1996 zit. n. Hassler 2017, 69). Er begreift das Geschlechterverhältnis sowohl als Relationsprinzip als „auch als ein Herrschafts- und Differenzierungsprinzip, das in die reproduktiven Prozesse der Gesellschaftsordnung ein- gelassen ist“ (Hassler 2017, 72).
23 9 Genrekonstruktion
Genres werden durch die Organisation von (nicht-)diskursiven Prozessen in einer Kulturwelt gebildet (vgl. Diaz-Bone 2010, 159). In Diskursen werden sie als kollektive Wissensstrukturen sichtbar. Rainer Diaz-Bone verweist auf die Komplexität des Genrebegriffes hin, wobei eine einfache Art der Relation als entscheidend gesehen werden kann: die Relation von makrosoziologischen und mikrosoziologischen Prozessen (vgl. ebd.). Arbeitet man sich weiter in die Materie vor, so lässt sich – laut Genretheorien – zwischen drei Klassifikationsdimensionen unterscheiden: „der (literarischen) Form, dem thematischen Gegenstand und dem Publikum“ (ebd., 160). Genres sind jedoch kein monolithischer Block und lassen sich leicht voneinander abgrenzen, sondern „sind unscharfe Gebilde, deren Unschärfe zurückzuführen ist auf die Unschärfe der diskursiven und nicht-diskursiven Prozesse, die der Genrebildung selbst unterliegen“ (ebd.). Die Definition eines Genres ist sowohl diskursiv als auch immer unterschiedlich ausdifferenziert, weshalb man sich der Ernennung von Subgenres bedient (vgl. ebd.). Diaz-Bone bezieht sich auf DiMaggio, der einen sozialstrukturellen Ansatz in der Genredifferenzierung verfolgt: „Genres werden definiert als Sets kultureller Objekte, die von sozialen Gruppen als ähnliche wahrgenommen werden“ (ebd.). Die Kultursoziologie beschäftigt sich mit der Frage, wie Genres mittels der „artistic classification systems (ACSs), hervorgebracht werden“ (DiMaggio 1987, 441 zit. n. Diaz-Bone 2010, 160). DiMaggio sieht einen Zusammenhang zwischen der soziokognitiven Komponente der Genre-Generierung und der „institutionellen Organisation der Herstellung, Distribution und Konsumption / Rezeption von kulturellen Objekten“ (ebd.). DiMaggio fasst zusammen: Die ACSs spiegeln sowohl die Geschmacksstrukturen einer Population als auch die Produktion und Verbreitung kultureller Güter wider. Laut eines makrosoziologischen Ansatzes wird also die Geschmacksstruktur sowie die Genre-Klassifikationen institutionell vermittelt (vgl. ebd., 161). Doch wie gelingt diese Vermittlung (ebd.); also wie werden bestimmte Genres geschätzt und rezipiert? Auf Basis dieser Frage ist der deutsche Soziologe Diaz-Bone der Meinung, dass die Theorie durch „eine ‚Werttheorie‘ der Genres“ erweitert werden soll (ebd.).
Cranes hingegen verfolgt eine mikrosoziologische Perspektive auf die Kulturwelt und äußert sich hierzu mit zwei beachtenswerten Punkten: Erstens integriert die mikrosoziologische Perspektive „Techniken, soziale Rollen in der Kunstschaffung, besondere Qualitäten u.a., die im Diskurs als Genrewissen hervorgebracht und in Beziehung gesetzt werden“ (Diaz-Bone
24 2010, 161). Zweitens unterscheidet diese Art der Perspektive zwei Konventionen: stilistische und evaluative Konventionen.
Auch Negus hat sich mit Strukturen der Musikindustrie beschäftigt und gezeigt „,dass Genres als soziale Wissens- und Handlungsprogramme in Kulturwelten die Unternehmen der Musikindustrie (wie Schallplattenfirmen, Werbeagenturen, usw.) einbetten [Herv. i. Org.]“ (Negus 1998 zit. n. Diaz-Bone 2010, 162). Demnach beeinflussen Genres Budgeteinteilungen oder Märkte. Negus spricht von einer wechselseitigen „Beeinflussung von Genres und Kulturindustrie“ (ebd.). Die Wechselseitigkeit wird in Gatekeeper-Positionen, die wesentlich bei der Konstruktion von Genregrenzen beteiligt sind, deutlich, da sie entscheiden, was in einer Kulturwelt den Status „Kunst“ bzw. „Kultur“ verliehen bekommt. Dies beeinflusst demnach die Qualität der „Authentizität“ (vgl. Diaz-Bone 2010,162).
Fasst man dieses Kapitel zusammen so zeigt sich einerseits, dass makrosoziologische Ansätze für die Entstehung des Genrewissen hinzugezogen werden, welche besagen, dass Genres institutionell vermittelt werden, andererseits beruft man sich auf mikrosoziologische Ansätze, die besagen, dass Techniken oder soziale Rollen, als Genrewissen im Diskurs hervor gebracht werden.
25 10 Die Autonomie
Nach Kapiteln über Konventionen, Standardisierungen in Kunstwelten und Strukturen, die sich als relevant für Genres erweisen, stellt sich die Frage, wie groß der Handlungsspielraum der Autonomie insgesamt ist und wie sich dieser Begriff strukturiert.
10.1 Das autonome Kunstwerk
Wolfgang Fuhrman bezieht sich auf Hanns-Werner Heisters, welcher das Konzert als einzigen „Realisierungsort autonomer Musik“ definiert (Heisters 1983 zit. n. Fuhrmann 2018, 139). Für ihn ist das Konzert als eigenständiges Kunstwerk eine Versinnbildlichung des Autonomiegedankens. Auch die Musikwissenschaft erachtet das Konzert als wichtigen Einfluss mit direktem Bezug auf den Autonomiegedanken (vgl. Fuhrmann 2018, 139). Kunst als autonomen Gegenstand zu identifizieren macht in Anbetracht der Verfolgung ihrer eigenen Gesetze insofern Sinn. Aus diesem Grund ist es auch so interessant sie als „Gegenstand eigenen Rechts zu untersuchen, ihre Geschichte zu erforschen und ihre Ästhetik darzulegen“ (ebd., 139). Die Tatsache Musik als autonom zu beschreiben birgt jedoch einige Widersprüche mit sich, da auch keine Eindeutigkeit darüber besteht, ob es sich um ein deskriptives oder präskriptives Verständnis handelt (vgl. ebd., 140). Durchdenkt man die Idee hinter dem Autonomiebegriff, ist diese im 19. und 20. Jahrhundert besonders zu hinterfragen, denn sowohl der Musik- und Kunstmarkt als auch die Kunst per se waren politisch beziehungsweise religiös motiviert. Richtet man den Fokus auf das Hauptkriterium von Kunst, nämlich der Selbstgesetzgebung, so wird die Frage aufgeworfen, wo dieser Begriff überhaupt Anwendung findet. Hierzu definiert Fuhrmann allein den jüdisch-christlichen Schöpfer als autonom, da er keinen Gesetzen unterliegt. Der Mensch als soziales Wesen kann – genau ausgehend von dieser Tatsache – kein vollkommen autonomes Wesen sein. Auch die Musik gibt sich nicht selbst ihre Gesetze, da diese durch soziale Übereinkunft entstehen. Auch die intern-musikalischen Gesetze, wie die westlich-europäisch neuzeitliche Kunst mit ihrer Harmonielehre zeigt, lassen den Autonomiebegriff vager erscheinen (vgl. ebd.).
Fuhrmann unterscheidet drei Arten von Autonomie: Die Autonomie als soziales, als ästhetisches oder als medienontologisches Postulat. Erstere versteht sich als eine, die um ihrer selbst willen in eigens dafür vorgesehenen Institutionen betrieben werden muss (Fuhrmann 2019, 144). Zweitere sieht vor sich durch ihre eigene Einheit selbst zu rechtfertigen.
26 Künstlerische Autonomie muss sich durch Herstellung von Einheit demnach selbst beweisen. Die dritte Art der Autonomie, die Fuhrmann hervorhebt, ist die Tatsache, dass Autonomie medienontologisch ist und demnach immer auch als eine Art der Kommunikation begriffen werden kann (vgl. ebd., 145).
10.2 Autonomie als soziales Postulat
Seit dem 18. Jahrhundert hat sich die Kunst neu strukturiert. Künstler_Innen sowie deren Musik lösten sich von Bindungen, wie Hof, Kirche oder der städtischen Kommune. „Eigene Institutionen (Konzerthäuser, Museen, Galerien, Verlage, Theater ...) und Diskurse (die im selben historischen Prozess entstehende Ästhetik und Kritik der Kunst) etablierten sich“ (Fuhrmann 2019, 146). Zwar gibt es Unterschiede in der Beschreibung von sozialer Autonomie zwischen Künstler_Innen, Kunst, Kunstsparten oder dem einzelnen Kunstwerk, doch Fuhrmann zeigt, dass diese Bereiche systematisch miteinander zusammenhängen (ebd.).
10.3 Autonomie als ästhetisches Postulat
Kunst, die nicht auf einer Funktionalität beruht, kann diesen Halt von außen „durch eine umso rigidere Konstruktion von innen heraus“ ersetzen (Fuhrmann 2019, 148). Damit ist gemeint, dass der/die Künstler_In selbst dem Kunstwerk einen inneren Zusammenhang verleiht (ebd.). Aus Sicht dieses ästhetischen Postulats sieht Fuhrmann – neben der Relevanz der Vielfalt und Diversität eines Kunstwerkes – nicht nur die „In-sich-Geschlossenheit des Kunstwerks“, sondern die investierte Arbeit des/der Komponisten_In (Fuhrmann 2019, 151).
10.4 Autonomie als medienontologisches Apriori
Fuhrmann macht darauf aufmerksam, dass es fragwürdig ist, bei bloßer medialer Eigenständigkeit der Kunstformen von Autonomie zu sprechen. Allenfalls lässt sich sagen, dass das Ordnungs- und Regelsystem in der Musik autonom ist, insofern dieses Phänomen nirgendwo sonst zu finden ist. „Musik ist auf dieser basalen Beschreibungsebene tatsächlich autonom“ (ebd., 152). Hierzu gibt Fuhrmann ein Beispiel an und zeigt, dass C-Dur an sich keineswegs antisemitisch, rassistisch oder sexistisch ist. Doch Texte und Kontexte gehören „zu ihrer als lebendige soziale Praxis betriebenen Sachen“ (ebd.).
27 11 Ästhetische Urteile
Georg W. Betram (2018) zeigt auf, dass Kunst in sich nicht gelingt oder misslingt, sondern nur in den Augen der Rezipierenden. Diese tragen eine entscheidende Rolle, da sie das Ästhetische evaluieren, diskutieren und den Anspruch der Kunstwerke miteinbeziehen. Dieser vielfältige Austausch hat normativ-evaluativen Charakter und fließt in den Wettstreit der Kunstwerke mit ein. Dieser Prozess, der in der Interaktion mit Kunstwerken entsteht, beruht auf einer Selbstbestimmung basierenden Reflexion. Beurteilende Aktivitäten, sei es im Privaten in der Kunstkritik oder Blogeinträgen, so Bertram, spielen für den Wettstreit der Kunstwerke eine entscheidende Rolle (vgl. Betram 2018, 192). Diese beurteilenden Aktivitäten bringen normativ-evaluative Äußerungen mit sich, die in Diskussionen von Rezipierenden als auch Produzierenden hervor gebracht werden. Ein Beispiel für eine solche Äußerung der Rezipierenden könnte lauten: „Das Werk überzeugt aufgrund der großen Gegensätze, die es zwischen seinen unterschiedlichen Teilen aufbaut“ (ebd.). Kunst mit seinem umstrittenen Charakter, führt diesen nicht nur im Kunstwerk selbst, sondern auch in Äußerungen weiter (vgl. ebd.). Der Begriff des Geschmacks und die Frage nach dessen Entwicklung, den auch Diaz- Bone kritisch hinterfragt und aus diesem Grund seine Theorie mit denen Bourdieus synthetisiert, geht auf das 17. und 18. Jahrhundert zurück. Auch Kant hat hierzu in „Kritik der Urteilskraft“ eine Analyse des Geschmacksurteils durchgeführt (vgl. ebd., 193). Diese Tradition, also den Geschmack, der stiller Teilhaber in Diskussionen über Kunst ist, als Kriterium zu definieren, wurde von Noël Carroll kritisiert. Er zeigt, dass Evaluation ein wesentliches Element der Kunstkritik ist und darüber hinaus eine objektive Basis besitzt und sich dadurch von einem Begriff des Geschmacks abgrenzt (vgl. Bertram 2018, 193). Die Evaluation setzt sich aus dem Gelungenheitswert „success value [Herv. i. Org.]“ des Kunstwerks, der im Vordergrund steht, und dem Rezeptionswert „recpeption value [Herv. i. Org.]“ zusammen (ebd.). Um dieses Wechselspiel zu verdeutlichen – und hier bleibt Carroll auch bei der Metapher des Spiels – setzt er dieses in Analogie mit einem Baseball- bzw. Fußballspiel. Er stellt sich die Frage, welchen Unterschied es macht, ob ein Publikum anwesend ist oder nicht (also ein Geisterspiel). Keinen. Das Gelingen misst sich nicht an dem Wert des Publikums. Problematisch in dieser Analogie ist jedoch die Herstellung. Ein Kunstwerk ist nicht dort, wo es hergestellt wird – ein Fußballspiel jedoch schon (vgl. Bertram 2018, 194). Stellt man sich ein Orchester vor, das in der Generalprobe ohne Publikum spielt, so liegt der Wert – laut Carroll – in dem was die Musiker_Innen tun (vgl. Bertram 2018, 194). Somit sind sie ihr eigenes Publikum und zugleich auch Rezipierende und Produzierende in einem.
28 Demnach kann man hier nicht von einem Gelingen einer Aufführung sprechen, wenn Rezipierende und Produzierende sich in einer Doppelrolle befinden, da die Unterscheidung hinfällig ist (vgl. Bertram 2018, 195). Bertram zeigt ein besonderes Beispiel auf, das die Doppelrolle verdeutlicht: das Jazzquintett. Die Musiker_Innen müssen wechselseitig aufeinander hören, um dies in der Rolle der Rezipierende wahrzunehmen. Demnach sind sie Produzierende und Rezipierende zugleich.
Im Gegensatz zur Carroll spricht sich Bertram sehr wohl für einen Gelungenheitswert aus, der nicht ohne Abhängigkeit des Rezeptionswert gesehen werden kann (vgl. ebd.). Was mit einem Kunstwerk erreicht wird, hängt unweigerlich mit der Rezeption zusammen. „Kunstwerke sind gelungen, wenn sie Bestimmungen von Praktiken anstoßen. Dies ist in der Improvisation paradigmatischer Weise der Fall“ (Bertram 2018, 196). Die Instrumente beziehen sich somit aufeinander und reagieren in ihrem Spiel zueinander. Dadurch „trägt eine ästhetische Praktik [...] zur Neuaushandlung von Praktiken bei. Das Gelingen von Kunstwerken lässt sich nur unter Rekurs auf ein solches Aushandlungsgeschehen beurteilen“ (ebd.). Daraus resultiert, dass ein Kunstwerk immer die Perspektive der Rezeption miteinbezieht. Carroll schließt den rezeptiven Wert eines Kunstwerkes aus und fasst Evaluation nur sehr verkürzt. Wer ein Kunstwerk kritisiert, hat, laut Bertram, den Zusammenhang von Kunst und menschlicher Praxis im Blick. Die auf ein Kunstwerk bezogene Stellungnahme beurteilt, ob und inwiefern das Werk menschliche Aktivitäten miteinbezieht. Trotzdem stellt sich laut Caroll weiterhin die Frage, ob ästhetische Urteile, als objektiv zu begreifen sind und worauf diese basieren? Ein dem zugrunde liegender Gedanke ist folgender: Wenn man weiß, welcher Gattung bzw. welchem Genre ein Kunstwerk angehört, dann könnte man laut Carroll beurteilen, ob es sein Ziel erreicht hat (vgl. ebd.). Dies wiederrum impliziert, dass Ziele eines Kunstwerks sich durch dieses Muster erschließen lassen – dies jedoch ist nicht zutreffend, da jedes Kunstwerk auch auf sich selbst bezogen ist (vgl. Bertram 2018, 197). Natürlich gibt es Gattungskonventionen, Stilmerkmale, oder Ähnliches, doch setzt sich das Kunstwerk seine Ziele intern selbst und „verhandelt damit auch seine Klassifikation in je eigener Weise“ (ebd.). Als aufschlussreiches Beispiel gibt Bertram hier ein Stillleben an, das auch gesellschaftliche Verhältnisse realisieren kann, oder einen Text, der eigentlich als Bildungsroman gedacht ist und sich jedoch als Novelle liest (vgl. ebd.). Bertram formuliert diesen Prozess treffend: „In dieser Weise entwickeln Kunstwerke alle Klassifikationen immer aufs Neue weiter. Eine Klassifikation, die von mehr oder weniger stabilen Gattungsmerkmalen ausgeht, kann aus diesem Grund nicht die Grundlage dafür abgegeben, die Ziele eines Kunstwerks zu klären“ (ebd.). Kunstwerke und deren Ziele stehen
29 demnach in Zusammenhang mit sich selbst und sonstigen menschlichen Praktiken (vgl. Bertram 2018, 198).
Menke hingegen stellt die Spezifik der Kunst in den Vordergrund (vgl. Bertram 2018, 26). Kunst wird als Anderes den alltäglichen Erfahrungen gegenübergestellt. Durch die Konfrontation mit einem Kunstwerk wird nicht einfach nur eine Erfahrung gemacht, sondern „der Erfahrungsprozess als solcher“ tritt in den Vordergrund (ebd.). Demnach zeichnet sich diese Art von Erfahrungen durch eine gewisse Reibung aus. Normale Alltagserfahrungen hingegen funktionieren reibungslos. Demnach werden Routinen in und durch die Kunst hinterfragt. Auch Adorno vertritt die Meinung, dass Kunstwerke sich der Kommunikation verschließen. Menke führt diesen Gedanken weiter und sieht Kunstwerke als Gegenstände, „die eine von Irritation geprägte Kommunikation initiieren“ (ebd., 27). Menkes eingeführter Begriff der „Kraft“ ist hier aufschlussreich, da der Ausstieg aus alltäglichen Automatismen und die daraus resultierende ästhetische Praxis durch Lebendigkeit, also durch Kraft gekennzeichnet ist. Nicht nur die Bedeutung der Kraft gibt Aufschluss über Menkes Position, sondern auch die des „Nichtkönnens“ (Bertram 2018, 29). Ihm zufolge wird der Bruch der alltäglichen Automatismen durch ein Nichtkönnen hervorgerufen. Hierzu definiert er „eine Praxis des Nichtbeherrschens von Praxis, als eine Praxis des Nichtkönnens. Die Künstler können das Nichtkönnen“ (Menke 2008, 127 zit. n. Bertram 2018, 29). Genau dies meint auch die Ästhetisierung: eine Darstellung in nicht routinierter Art. „Deutlich werde dadurch, dass die Gewohnheiten und Routinen einen falschen Schein von Selbstbestimmung und Bestimmung der Welt produzieren“ (Bertram 2018, 30).
Zwei Thesen sind bei Menke zentral: die Spezifik-These und die Wert-These (vgl. Bertram 2018, 30). Erstere versteht Kunst als Ausstieg der alltäglichen Routinen mit Hilfe des Nichtkönnens. Zweitere spielt auf den Wert des Nichtkönnens per se an. Dieses Nichtkönnen macht menschliche Praxis überhaupt zugänglich, da Kunst die Unbestimmtheit realisiert, „in der alle menschliche Praxis gründet“ (ebd., 31). Zusammenfassend lässt sich sagen: Die Konfrontation mit Kunstwerken ruft Erfahrungen hervor, sogenannte ästhetische Erfahrungen, die das Subjekt verändern (vgl. ebd., 33).
30 11.1 Was ist Kunst?
Um das Feld zu untersuchen, in der sich auch der Künstlerdiskurs bewegt, halte ich es für sinnvoll die Frage zu stellen, was denn überhaupt Kunst ist, denn schließlich wird der Künstler und Musiker erst mittels Kunst zum Künstler (siehe Kapitel 7).
Zwei interessante Zugänge, die sich mit der Frage, „Was ist Kunst?“ beschäftigen, wurden von Bertram – mit Bezug auf Danto und Menke – beschrieben:
1) Nicht die Spezifik der Kunst gibt Aufschluss darüber, was Kunst ist, sondern der Zusammenhang zwischen Kunst und menschlicher Praxis (vgl. Bertram 2018, 51). Menke sieht Kunst, wie auch Adorno, als metaphysischen Zusammenhang. „Es geht in der Kunst um ein besonderes Sein (in diesem Fall: das Sein des Lebendigen) – um eine Unbestimmtheit, die aller menschlichen Praxis zugrunde liegt. Dieses Sein wird durch Kunst erfahrbar“ (ebd.). Demnach können mit Hilfe der Kunst metaphysische Erfahrungen hervorgerufen werden. Danto hingegen sieht Kunstwerke als verkörperte Sichtweisen, die auf etwas Bedeutsames hinweisen und historisch-kulturell eingebettet sind (vgl. ebd.).
2) Der zweite Zugang fokussiert Praktiken, die von Kunstrezipierenden ausgeführt werden und die es zu bestimmen gilt. Durch das Fokussieren auf solche Praktiken soll gezeigt werden, „worin der Beitrag der Kunst zu sonstigen Praxis liegt“ (Betram 2018, 51). Problematisch hierbei ist Folgendes: Unterscheidet man nur zwischen Kunst und sonstigen menschlichen Praktiken, dann geht die Pluralität der Kunstwerke verloren und diese Definition gebe dahingehend zu wenig Aufschluss darüber, was Kunst eigentlich ist (vgl. ebd. 53).
Unter menschlicher Praxis versteht Bertram eine Traditionsgebundenheit, die dieser innewohnt (vgl. Bertram 2018, 54). Essenspraktiken, Sprachen, etc. des (nicht-)alltäglichen Lebens können als Traditionen bezeichnet werden. Diese Tradition gilt in struktureller Weise auch für die Kunst (vgl. ebd., 55).
11.2 Was ist gelungene Kunst/Musik?
Von Appen zeigt die Problematik auf, die sich über diesen musikphilosophischen Diskurs legt: Das Konzentrieren auf Kunstmusik und dem Außen-vor-Lassen von Volksmusik, Jazz oder
31 Musik nicht-westlicher Kulturen. Das Tragische dabei ist die vermeintliche Vielfalt, die in musikphilosophischen Büchern beschrieben wird, es jedoch ein subtiles Ausschlussverfahren gibt. Dies kann – so von Appen – mit der Sozialisation der Autor_Innen zusammenhängen. Mit dem Ausschluss und der Abwertung „bestimmter Musik als >Trivial-< oder >Unterhaltungsmusik< wird schließlich immer auch das Publikum dieser Musik abgewertet“ (von Appen 2018, 49).
Von Appen bezieht sich auf Wellmer (2009) und zeigt, dass gelungene Kunstwerke mit Bedeutungen spielen. Darüber hinaus provozieren sie „eine Verstehensbemühung, suggerieren dazu Zusammenhänge und Sinnhaftigkeit, lassen sich jedoch nicht widerspruchsfrei und >endgültig< verstehen“ (von Appen 2018, 51). Sie regen zu Interpretationen an, die aber das Objekt nicht in seiner Gänze beschreiben könnten. Unsere Aufmerksamkeit schwankt zwischen Sinnlichkeit, formal-struktureller Sinnkonstruktion und einer Deutung des Weltbezugs. Diese drei Ebenen stehen zueinander in Beziehung, können sich widersprechen oder vereinigen. Kunstwerke sind demnach Prozesse „und immer >in Bewegung< zwischen Sinn und sinnferner Sinnlichkeit“ (ebd.).
Das Hinterfragen des Welt- und Selbstverständnisses kann durch bedeutsame außerästhetische Gehalte, die im Mittelpunkt der Bedeutungen stehen, hervorgerufen werden und dadurch bisherige Grundvorstellungen und Überzeugungen brüchig werden lassen (vgl. ebd.). Darin liegt das Potenzial der Kunst. Für Wellmer sind Kunstwerke nicht gelungen, wenn keine Bedeutungen in Gang gesetzt werden und nur Bekanntes geboten wird oder auch keine Reflexion über außerästhetische Inhalte entsteht (von Appen 2018, 52). In Bezug auf Kunst sind Popsongs nicht auf diese angewiesen, „sie haben ja noch mehr zu bieten“ (ebd.). Der Kunstbegriff in der Popmusik ist allenfalls notwendig, da damit ein Potenzial der Musik beschrieben werden kann. Das Potenzial im Gelingen oder Nichtgelingen der Rezeption, der einer Sinnkonstruktion innewohnt, ist charakteristisch für den Kunstbegriff (vgl. ebd.).
„Wie Wellmer richtig feststellt, zeigt sich der Kunstcharakter im Gelingen einer bestimmten Form der Rezeption, für die das Bemühen zum Zusammenhangsbildung und Sinnkonstruktion typisch ist“ (von Appen 2018, 52). Das Hören eines Stückes als ein Kunstwerk, beschreibt von Appen treffend: „Hat man erst einmal angefangen, Details nachzuspüren, Beziehungen zu suchen, Zusammenhänge zu vermuten, über zugrundeliegende Ideen zu spekulieren; verwirft man dann doch alles wieder, weil einige Puzzleteile einfach nicht passen wollen, und beginnt
32 man wieder von vorn, weil einen das Stück nicht loslässt: dann hört man es als Kunst. Oder frei nach Hindrichs: Man sucht den Geist, dem sich die Formung des Stückes verdankt“ (ebd.). Jede Musik kann mit oder ohne Intention unter Beachtung eines Zeichencharakters und gewissem Weltbezug gehört werden. Die Einschließung des Weltbezugs ist insofern interessant, da Wellmer (2009) nur dann von einem gelungenen Kunstwerk spricht, wenn zwar die interessante Erfahrung im Objekt der Wahrnehmung liegt, doch der eigentliche Ort des Kunstwerks zwischen Subjekt und Objekt liegt (von Appen 2018, 53). Doch von wem wird dieser Mehrwert bestimmt? Von den Rezipient_Innen selbst, dem öffentlichen Diskurs oder der Musikwissenschaft? Eine weitere äußerst interessant Frage, die er sich dabei stellt: „Wie viel Sachverstand ist Voraussetzung, um das Kunst-Prädikat verleihen zu dürfen?“ (ebd.). Der Autor bezieht sich auf Wellmer, der die Komplexität darstellt: Es wäre äußerst problematisch, wenn die Philosophie der Kunst oder irgendeine andere Institution darüber bestimmt, welche Werke der Kunst zuzuordnen sind oder man am Ende nur sagen könnte „anything goes [Herv. i. Org.]“ (Wellmer, 2016 zit. n. ebd.). Auf diese Problematik gibt Wellmer eine beeindruckende Antwort: Über die Tatsache, ein Werk bzw. einen Song als gelungene Kunst zu sehen, muss und darf gestritten werden. Eine allgemeingültige wissenschaftliche Aussage wäre kontraproduktiv, da jede Hörerin und jeder Hörer andere Erfahrungen und Grundkenntnisse mitbringt. Es ist nicht das Ziel öffentlich aus einer Machtposition Urteile zu fällen, wenn es gerade doch der Anspruch ist, andere dabei zu befähigen eigene Bedeutungen, Interpretationen und Zugänge zu finden (vgl. von Appen 2018, 53). Voraussetzung ist eine sensible Wahrnehmung der Kunst, welche wiederum durch eigene Zugänge (Erfahrung oder Ausbildung) ein verfeinertes Aufnehmen ermöglichen (vgl. ebd., 54). Die zweite Voraussetzung Wellmers, um von gelungener Kunst zu sprechen, ist das Vorhandensein relevanter Inhalte. Gelungene Kunstwerke setzen auf existentieller Ebene an, weil außerästhetische Gehalte thematisiert werden und dadurch das „Welt- und Selbstverhältnis der Rezipienten ins Spiel“ gebracht wird (vgl. ebd.). Dieser Prozess kann nur über ästhetische Erfahrung vorgeführt werden, da andere Aussagen darüber nicht in der Lage wären den vollen Gehalt zu beschreiben. Kunstwerke zeigen etwas bzw. führen etwas vor, das uns bewegt. Dies geschieht, wenn uns Augen und Ohren geöffnet werden und sich neue Sichtweisen erschließen, für die uns schlicht die Worte fehlen (vgl. von Appen 2018, 54).
33 12 Historische Skizze der Prominenz
In diesem Kapitel werden nun weniger die Umstände und die Kunstwelten, sondern das Kunstschaffende Subjekt fokussiert, weshalb folgend Begriffe, wie der der Prominenz, des Startums und des Image erläutert werden.
Ursprünglich waren Leistungen das zugrunde liegende Prinzip von Prominenz, welche über einen längeren Zeitraum andauerten. Politische oder religiöse Eliten können hier als Beispiele genannt werden. Der Ursprung der Verehrung von Musiker_Innen jedoch war ein religiös motivierter (vgl. Borgstedt 2008, 18). Beispielsweise lag der Gesang relativ nahe an der Zauberei und zählte bei vielen Völkern als „göttlich-übernatürliche Eingebung, die durch Schamanen, Medizinmänner und Priester kultiviert wurde“ (Salmen 1997, 15ff zit. n. ebd.). Den Musiker_Innen in Tempeln oder Palästen kam ein hohes Ansehen zu, wobei sich die Erfolgreichsten zu dieser Zeit bereits abhoben (vgl. Borgstedt 2008, 18.). Mit der Zeit entwickelten sich die Musiker_Innen zu Berufsmusiker_Innen, da sich Feste zunehmend in den Alltag integrierten. Das Interessante: Ein Rest von Göttlichkeit blieb immer noch vorhanden. Borgstedt verweist auf einen Prozess der Säkularisierungskompensation hin, der als das öffentliche Präsentieren prunkvoller Darstellung und äußert betonter Schönheit des/der Musikers_In interpretiert werden kann und demnach das Göttliche zumindest in der äußeren Darstellungsweise in Erscheinung tritt. Diese Kombination von prachtvoller Visualisierung und gewaltigen Leistungen ließ die Musiker_Innen zu gefeierten Persönlichkeiten werden. Die gefeierten Persönlichkeiten, also die soziale Rangordnung, war abhängig von der Relation zu anderen Berufskolleg_Innen. Aus diesem Grund variierten auch Musikerlöhne. Eine zusätzliche Komponente, die Einfluss auf Ruhm und Reichtum hatte, war das soziale Ansehen der Person, der man aufspielen durfte. Demnach gab es einen Unterschied, ob man für den/die König_In oder den Bauern/die Bäuerin aufspielen durfte (vgl. ebd., 19). Musiker_Innen „wurden also nicht per se verehrt, sondern im Hinblick auf den Dienst, den sie verrichteten, den Beitrag, den sie zur Erhöhung des jeweiligen Dienstherrn bzw. des Herrschers leisteten. Sie waren daher Verkörperung und Schmuck einer höher stehenden Macht, nicht von vornherein eine Repräsentation ihrer selbst “ (ebd.). Die Repräsentation ihrer Selbst und das Verständnis von Prominenz entstand erst im 17. und 18. Jahrhundert. Es baut auf den Vorstellungen von Individualität auf. Soziale Veränderungen und neue Erfahrungen des Selbst begünstigen diesen Prozess (vgl. Borgstedt 2008, 21). Wichtig hierbei zu erwähnen ist es, dass Prominenz als eine Errungenschaft eines ehrenhaften Individuums gesehen wird. Zusätzlich begünstigt die
34 Entstehung des bürgerlichen Konzerts diesen Ablauf, wodurch eine kommerzielle Richtung eingeschlagen wird, die eine zunehmende Trennung von Musiker_Innen und Publikum mit sich bringt (vgl. ebd., 22). Auch eine steigende Spezialisierung und technische Perfektion seitens der Musikschaffenden treiben diesen Trennungsprozess zwischen Musikproduzierenden und Publikum immer weiter voran (vgl. ebd.). Beim Konzertbesuch entsteht ein „Gefühl von scheinbarer Mittätigkeit, das durchaus eine Parallele zum mitvollziehenden Anschauen eines Fußballspiels aufweist, bei dem man sich ebenfalls nicht selbst anstrengen muss, aber später stellvertretend für den Sieger feiern kann“ (ebd.). Dieses Geschehen treibt die affektive Erhöhung von Kunst voran. Das Publikum erscheint zunächst als passiv, wobei es aktiv am Gelingen des Konzerts und damit verbundenen Profit für Veranstalter_In wesentlich beteiligt ist (vgl. ebd., 23). Natürlich waren auch ca. 100 Jahre später – in Zeiten der Industrialisierung – Faktoren verantwortlich, die diesen Prozesse vorantrieben. Man denke hier an Vervielfältigung von Notenblättern, Zeitungen, Fotos, etc. (vgl. ebd., 27). Ab 1950 gewannen Tonträger (besonders Vinyl) immer mehr an Bedeutung und repräsentierten Inhalte auf authentische Weise (vgl. Borgstedt 2008, 45). Der Tonträger selbst wird „damit zum Symbol für den jeweiligen Musiker, Song und Star werden zu einer Einheit musikbezogener Wissens- und Erfahrungsbestände“ (ebd.). Auch Plattenfirmen, Rundfunk oder Musikfernsehen grenzten Musikproduzierende zu anderen Diskursen ab. Auf Seite der Musikkonsumierenden sind es vor allem Jugendliche, die sich sowohl zu Jugendkulturen und Jugendszenen zugehörig fühlen als auch mit dem Konsum von Musik ihre Identität konstruieren können (vgl. ebd.). „Mit Hilfe von Marketing, Promotion und Werbung wird dabei nicht nur Musik selbst, sondern ein umfassendes Lebensgefühl verkauft, indem das auditive Material in vielschichtige Bilderwelten integriert und durch den exponierten Star verkörpert wird“ (ebd., 46). Hier zeigt sich, wie komplex und profitorientiert der Prozess der Stargenese bzw. Starvermittlung ist. Die Entstehung von Marktnischen und Zielgruppen bilden Voraussetzung für gelungenes wirtschaftliches Handeln (ebd.).
35 13 Der Star und das Image
Dieser Teil der Arbeit bildet die theoretische Rahmung für die Beantwortung der zweiten Forschungsfrage. Die Ergebnisse über das Image und dessen Konstruktion der Band werden im Kapitel 17.2.16 näher erläutert.
13.1 Geschichtlicher Umriss der Musiker_Innen
Ein kurzer Blick zur altgriechischen Musik zeigt, dass diese sowohl starken Lebensbezug aufwies als auch direkte Beziehung zur Gottheit hatte (vgl. Scheithauer 1996, 1). Sie war der Grundstein für Kult, diverse Feste, Geselligkeit, Sport, Arbeit oder Kriegsführung (ebd.) Die Wahl des Instrumentes war ausschlaggebender Faktor für das soziale Ansehen (vgl. ebd., 18). Durch die starke Trennung der gesellschaftlichen Schichten, konnte man in der Regel nur in der eigenen sozialen Gruppe aufsteigen und in der Regel nicht von einer niedrigen in eine höhere (vgl. ebd., 20).
Frauen waren unter den Musikschaffenden nur wenige, da sie von Auftritten und der Öffentlichkeit ausgeschlossen wurden und es ihnen nicht erlaubt war daran teilzunehmen. Nur bei privaten Veranstaltungen konnten Frauen ihr Talent zeigen (vgl. Scheithauer 1996, 15). Frauen von freier bzw. vornehmer Herkunft konnten in seltenen Fällen nur in Chören vor Publikum auftreten (vgl. ebd., 18).
13.2 Das Verhältnis von Star und Image
Borgstedt zeigt gleich zu Beginn auf, wie wichtig Massenmedien für die Entstehung der Starsysteme sind und – nach näherer historischer Untersuchung – diese nicht getrennt gedacht werden können (vgl. Borgstedt 2008, 53). Auch eine zentrale Widersprüchlichkeit, die sich erst durch die Massenmedien konstituiert, ist der Dualismus von öffentlicher und privater Person. Dies wiederum bringt eine andere interessante Tatsache mit sich: „ein permanentes Informations-Defizit und ein entsprechendes Kontaktbedürfnis zur ‚wahren‘ Persönlichkeit“, welches durch diesen Dualismus entsteht (ebd.). Über die wahre Persönlichkeit können nur Vermutungen angestellt werden. Borgstedt spricht von der Generierung „einer attraktiven Persönlichkeitskonstruktion, die den tatsächlichen Eigenschaften des Stars nicht widersprechen muss, die geglaubt wird oder nicht, über deren Wahrheitsgehalt jedoch immer nur spekuliert
36 werden kann“ (ebd.). Diese Ambivalenz bzw. dieses Spannungsfeld, das durch Massenmedien vorangetrieben wird, lässt sich unter dem Begriff des Image zusammenfassen und bildet somit ein zentrales Konzept im wissenschaftlichen Diskurs (vgl. ebd.).
Diverse Medien bieten Kurzinformationen über eine/n Interpreten_In, wobei es eine Vielzahl an verschiedenartigen Informationen braucht, um ein ansatzweise ein homogenes Bild entstehen zu lassen (vgl. Borgstedt 2008, 55). Borgstedt nutzt die Metapher des Puzzles, um das Image zu veranschaulichen. Ein Puzzle, bei dem das letzte Teil fehlt. Ein Image besteht aus vielen einzelnen Informationen, die getrennt voneinander nur wenig Sinn ergeben bzw. sich durch ihren großen Interpretationsspielraum auszeichnen. Das fehlende Teil brauchen wir nicht zwingend, da wir auch ohne ihm in der Lage sind, ein Bild zu erschaffen. Diese Metapher soll das Gefühl des Unvollständigen aufzeigen, weshalb man auch jederzeit Ausschau nach dem fehlenden Teil hält. Dies erklärt auch das für Fans typische Sammelverhalten von Informationen. Auch dies hat sich die profitmotivierte Industrie zu Nutzen gemacht und bietet eine Antwort auf Erwartungshaltungen, die zu diesem Erwerb der Produkte führen (vgl. ebd.). Auch ein Konzert kann die Erwartungshaltungen befriedigen, indem durch Eigenpräsenz das Starimage überprüft werden kann (vgl. ebd., 56). Borgstedt zeigt in ihrer Interviewauswertung, „dass das Live-Konzert ein herausragendes Ereignis ist, das häufig einen Wendepunkt in der Imagekonstruktion markiert, indem die Beschreibung Konzerterlebnisses mit wesentlichen Umdeutungen und Ergänzungen zu den Vorstellungen über den Star einher geht, die zur Glorifizierung oder Korrektur des aufgebauten Images beitragen“ (ebd.).
Borgstedt bezieht sich auf Dyer, der bereits 1979 Stars als nicht reale Personen definiert hat, da sie uns hauptsächlich in Form medialer Texte und somit als Image begegnen. Zwar wird über Stars als Personen berichtet, doch sind wir auch immer mit der Konstruktion von Persönlichkeit konfrontiert (vgl. Borgstedt 2008, 57).
Biografie ist „in sich [Herv. i. Org.] narrativ und besteht in der öffentlichen Konstruktion glaubwürdiger Privatheit“ (Dyer 1987, 11 zit. n. Borgstedt 2008, 59). Obwohl sie sich auf das- im-Rampenlicht-Stehen bezieht, will uns eine erzählte Biografie auch immer zugleich hinter die Kulissen, vorbei am Image führen (vgl. ebd.). Neben der Wiederholung zentraler Botschaften, spielen auch soziale Typen und damit einhergehenden narrativen Archetypen eine wichtige Rolle (vgl. Borgstedt 2008, 59). Ein bestimmter sozialer Typ, lässt uns stereotype Vorstellungen über eine mögliche Sozialisation anstellen (vgl. ebd., 60). „Soziale Typen dienen
37 also der narrativen Parallelisierung verschiedener Präsentationsebenen bzw. Image- Komponenten. [...] So gibt es ein klares, schematisches Vorstellungsbild des ‚klassischen Pianisten‘ oder des ‚Popstars‘. [...] Solche sozialen Typen sind die notwendige Bedingung für Wiedererkennung und glaubwürdige Persönlichkeitskonstruktion“ (ebd.).
Eine Staranalyse meint immer auch eine Imageanalyse, da beiden eine Herstellung von Persönlichkeit zugrunde liegt. Imageanalyse ist auch zugleich Textanalyse, da sich – wie vorher bereits erwähnt – ein Image aus verschiedenen Quellen bzw. Puzzleteilen (v.a. aus audiovisuellem Material) zusammensetzt. Borgstedt definiert Musikstars als „individualisierte bzw. idealisierte soziale Typen, die durch musikbezogene Repräsentationssysteme intertextuell erzeugt und in Form medialer Images distribuiert und rezipiert werden“ (Borgstedt 2008, 63). Das Image ist ein polysemer Begriff, der ein mehrdimensionales Netzwerk aus Einzelbotschaften darstellt (vgl. ebd.).
13.3 Das Verhältnis zum Publikum
Die nötigen Puzzleteile, die der Generierung eines Images dienen, sind als Produkt der Verarbeitung durch das Publikum zu verstehen (vgl. Borgstedt 2008, 64). Zwar ist der Begriff des Fans besonders konnotiert, da er meist mit einer bestimmten Kulturform und Altersgruppe, nämlich der Popkultur und der Adoleszenz assoziiert wird, man aber auch in anderen Bereichen, zum Beispiel der Klassik, von Fans sprechen kann. Zwar ist dies eher unüblich, doch nur eine Frage des „Labeling“. Die Autorin stützt sich auf Grossberg (1992) der aufzeigt, dass genau dieses strukturelle Merkmal auch in anderen Kulturformen existent ist (vgl. Borgstedt 2008, 64). „Fantum ist also die Artikulation einer notwendigen Beziehung, die eine erfolgreich Kulturform erst als solche konstituiert und etabliert. Fantum existiert daher zu allen Zeiten als eine spezifische Art und Weise, sich einer Kultur gegenüber zu verhalten“ (Borgstedt 2008, 64).
13.4 Hochkultur vs. Popkultur
Borgstedt verweist auf Fiske, der vermutet, dass das textuelle Wissen in einer Hochkultur eher dem Zelebrieren eines Werkes dient, als es in der Popkultur der Fall ist (vgl. Borgstedt 2008, 65). Auch die Distanz zum/zur Rezipient_In sei in der Hochkultur größer. In einer Popkultur hingegen fungiere das textuelle Wissen als Partizipation und „Empowering“ (ebd.). Zudem
38 kommt den Fans in dieser Kultur einer partizipierendere Bedeutung zu, da sie beispielsweise bei Konzertbesuchen mit ihrer bestimmten Kleidung und spezifischen Verhalten mitbeteiligt sind, „da ein Pop- oder Rockkonzert gerade von der performativen Interaktion zwischen Star und Fan lebt“ (Borgstedt 2008, 65). Populäre Texte sind wie geschaffen für eine Mitnutzung durch Rezipierende, da – durch oft widersprüchliche Inhalte – Fans diese mittels aktiver Bedeutungskonstruktion in kulturelles Kapital umwandeln. Hochkulturelle Texte hingegen sind durch ihre Etablierung meist „relativ geschlossene und zufriedenstellende Produkte, die als perfekte Kreationen einzigartiger Individuen bewertet werden“ (ebd.). Borgstedt ist der Ansicht, dass diese These jedoch noch einer genaueren Prüfung bedarf (vgl. ebd., 66). Von dieser Frage her ableitend lässt sich sagen, dass sich Musiker_Innen verschiedener Genres, durch die Nähe und Distanz zu ihren Fans unterscheiden. Nach Fiske sind Fans der Populärkultur in der Bedeutungskonstruktion aktiver. Dies zeigt auch das „active-audience“ Konzept, das besagt, dass Kultur durch Menschen erzeugt wird, indem die Produkte der Kulturindustrie benutzt werden (Fiske 1987, 1989, 1990, 1992 zit. n. Borgstedt 2008, 66).
Laut Bourdieu und Fiske ist es Berühmtheiten im Bereich der Klassik nicht erlaubt selbstbezogene Bedürfnisse zu befriedigen, da deren „Werke autonom für sich stehen, der Interpret lediglich Ausführender ist und nicht als Repräsentant eines konkreten Wertesystems für den eigenen Lebensentwurf herangezogen“ wird (Borgstedt 2008, 67).
13.5 Eigenschaften des Startums
Sowohl Leistung als auch Bekanntheit können als zwei von vier Aspekten gezählt werden, die Startum bedingen. Sind diese beiden Faktoren in einer Person vereint, kann man von einer prominenten Person sprechen (vgl. Borgstedt 2008, 127). Eine „feste Anhängerschaft“ und eine „faszinierende oder als faszinierend inszenierte und wahrgenommene Persönlichkeit“ bilden die anderen zwei Aspekte (ebd.). Zentral hierbei sind genau diese Hintergründe, die als Resultat verschiedener Diskurse in verschiedenen Kommunikationssystemen wahrgenommen werden können und dynamisches Verhältnis besitzen (vgl. ebd.). Die Dynamik meint eine Verselbstständigung (auch von Images), die auch jederzeit verfestigt werden kann. Nicht zu verwechseln ist die Bekanntheit mit dem Prestige, da diese mehr Zustimmung seitens der Rezipient_Innen fordert (ebd.).
39 1. Leistung und Erfolg
Zwar sind Leistungen Bedingung für Aufmerksamkeit, doch müssen diese auch wahrgenommen werden. Im Gegensatz zu anderen Bereichen, wie beispielsweise der Wirtschaft, in der Profit als Merkmal für besondere Leistung gilt, mangelt es im Kunstbereich an jenen deutlichen Kriterien (vgl. Borgstedt 2008, 128). Durch eine Vielzahl an Genres und damit unterschiedlich einhergehenden Qualitätskriterien, wird ein übereinstimmendes Verständnis von Leistung erschwert. „Dennoch ist der Aspekt des ‚Herausragens‘ für einen Musiker unabdingbar“ (ebd., 129). Um die Leistung in den Vordergrund zu rücken und ihr einen Platz zu geben, haben fast „alle gesellschaftlichen Bereiche komplexe Systeme der Leistungsprämierung ausgebildet“ (ebd.). Diesen Prozess der Prämierung von Leistung beschreibt Borgstedt als öffentlichkeitswirksam. Besonders im 19. Jahrhundert dienten Auszeichnungen und Wettbewerbe als Ausdifferenzierung, die ein Ranking schafften. Der damit einhergehende und oft verwendete Begriff des Durchbruchs verweist auf den Wert eines/einer Interpret_In (vgl. ebd.). Auch die Verleihung von Auszeichnungen hat sich verselbstständigt. Dies wird durch die „Symbolisierung [Herv. i. Org.] von Leistung“, der eine besonders hohe Aufmerksamkeit geschenkt wird, ersichtlich (ebd.). C. Wright Mills zeigte bereits 1957, dass es nicht entscheidend ist, mit welchem Einsatz jemand eine Disziplin gewinnt, sondern, dass man gewinnt (vgl. Borgstedt 2008, 129). Als Pendant können hierzu Verkaufszahlen genannt werden, die in der Lage sind Prestige zu suggerieren. Leistungen werden demnach erst wahrgenommen, wenn sie als öffentlicher Erfolg in Erscheinung treten (vgl. ebd., 130).
2. Bekanntheit
Bekanntheit spielt für den Star eine zentrale Rolle, denn durch diese wird das ungleiche Verhältnis zwischen Star und Fan erzeugt. Darüber hinaus ist diese Bedingung für Startum im Gegensatz zu Leistung nicht einmalig, sondern permanent (vgl. ebd.). Diese Prominenz ist so tiefgreifend, dass beim Anhören eines Tonträgers der Musiker/ die Musikerin imaginär präsent ist (vgl. Borgstedt 2008, 130). Dies wird durch das Faktum unterstützt, dass Stars das Produkt selbst darstellen, da sie in ihm direkt eingeschrieben sind und die „medial repräsentierte oder aktuell präsente Persönlichkeit Grundlage der entsprechenden Berufsausübung ist“ (vgl. Borgstedt 2008, 131). Bekanntheit ist nicht nur Resultat einer erreichten Leistung, sondern steht in direktem Zusammenhang mit der öffentlichen Wirksamkeit dieser Leistung (vgl. ebd.).
40 3. Feste Anhängerschaft
Ein Star ohne Publikum wäre undenkbar (vgl. ebd., 133). Wurde die Bekanntheit einmal erreicht, so bringt diese ein „Beziehungskapital“ mit sich, das einen weiteren Zugang zu Massenmedien und Publikum ermöglicht (ebd., 132). Mit Hilfe von Massenmedien können Fangemeinden gebildet werden. Rezipierende betrachten deren Medium als verlässliche Quelle für Information, Unterhaltung, etc. und werden an dieses gebunden. Diese Sichtbarkeit von Stars in dem jeweiligen Medium der Rezipierenden übt Einfluss auf die Beziehung zwischen diesen und Stars aus (vgl. Borgstedt 2008, 132f).
4. Image
Dieser Punkt ist wohl der Umfassendste und Zentralste für die Arbeiten Borgstedts. Sie zeigt, dass Stars imaginative Welten generieren, die sich als Schemata verfestigen (vgl. Borgstedt 2008, 133). Diese Muster (Schemata) sind hierarchisch gegliedert. Die Autorin spricht von einem Mehr-Ebenen-Modell, wodurch Stars jeweils eine besondere und eigene Ästhetik repräsentieren „und als Projektionsflächen für professionsinternen Erfolg agieren, den sie an ihren Namen koppeln“ (vgl. ebd., 134). Zudem besitzen jene Schemata ein Distinktionspotenzial. Durch die Einführung neuer Differenzierungen seitens der Stars, können sie sich von anderen Genres oder Stars unterscheiden, wodurch neue Stile und Kategorien gebildet werden können (vgl. ebd.). Demnach sind Stars in integrierende und differenzierende Produktionsprozesse von Kultur miteingebunden. Im differenzierenden Produktionsprozess suggerieren sie Individualität in der Öffentlichkeit. Demnach grenzen sie sich mittels dieser Differenzierung zu anderen Individuen ab. Dieser Individualität liegt eine Exponierung und eine Intimisierung zugrunde. „Ersteres soll die Kultivierung des Herausgehobenen umschreiben, die sich sowohl auf die Betonung außergewöhnlicher Leistungen als auch auf die Beschreibung charismatischer oder provokativer Eigenschaften und Erscheinungsweisen zur Fokussierung des Anders-Sein beziehen kann“ (ebd.). Dadurch wird ein Schein von Außeralltäglichkeit vermittelt. Diese Vermittlung – unter anderem auch von Persönlichkeitsbildern – ist an mediale System gekoppelt. „Persönlichkeit ist also nicht direkt erfahrbar, sondern – wie anhand der Ansätze aus Marketing und Personenwahrnehmung und Medienwissenschaft gezeigt –, stets vermittelt und daher immer Konstruktion“ (ebd.).
41 Für das Image-Konzept ergeben sich drei zentrale Fragen (ebd.):
Was verkörpern Star-Musiker_Innen? Wie verkörpern sie Bedeutungen? Warum verkörpern sie Bedeutungen?
13.6 Definition des Image
Das Image eines Musikers repräsentiert die Gesamtheit der Vorstellungs- und Bewertungsinhalte, die als spezifisches Arrangement von Wertemustern, Persönlichkeitseigenschaften und emotionalen Anmutungen mit einem bestimmten Musiker verknüpft sind. Ein Image besitzt hinsichtlich seiner Grundstruktur stereotypen Charakter im Sinne einer schematisierten Vorstellung bzw. eines vereinfachten, unveränderlichen Bildes einer Person. Gleichzeitig ist es aber ein dynamisch organisiertes, hierarchisches System, das als Effekt kumulativer Botschaften entsteht und sich durch neue Informationen verändern kann. (Borgstedt 2008, 135)
Borgstedt stellt sich die berechtigte Frage, wo sich ein Image konstruiert. Grundsätzlich lässt sich sagen, dass sie als kommunikative Konstrukte betrachtet werden können, die sich sowohl aus Darstellungsmustern des Interpreten/der Interpretin, die mittels Medien verteilen werden, als auch aus den Vorstellungen der Rezipierenden zusammensetzen (vgl. ebd., 136).
Zu unterscheiden sind hierbei:
Primäre Texte: CDs, Bilder, audiovisuelle Darstellungen, performativ-interaktive Angebote. Sekundäre Texte: vor allem im Bereich der Printmedien (Zeitschriftenartikel). Tertiäre Texte: Wissensbestände, Meinungen und Bedeutungszuschreibungen, die das Fremdbild des/der Musikers_In beschreiben. (wobei in tertiären Texten nicht nur ein Image vorhanden ist) (vgl. Borgstedt 2008, 137).
Zwar herrscht der Eindruck, dass sekundäre Texte von der Produktionsseite gesteuert werden könnten, jedoch die „Implementierung der Informationen aber in die Hände der Medien selbst gegeben und damit bereits eine rezeptive Ebene beschritten wird“ (ebd., 136). Demnach üben Medien großen Einfluss auf die Imagekonstruktionen der Rezipierenden aus. Das Bild wird nicht nur von den Rezipient_Innen wahrgenommen, sondern auch weitergeleitet und reproduziert, das sich auch im Verfassen eigener Texte (beispielsweise auf Fanwebseiten) wiederfindet (ebd.).
42 Aufgebaut wird dieses Musiker_Innenbild bzw. Künstler_Innenbild „durch die gezielte Auswahl und Kombination von Symbolen, die sich in unterschiedlichen Gestaltungskategorien innerhalb verschiedener medialer Texte konkretisiert“ (ebd., 136). Als wichtige Kategorien in der Gestaltung des Bildes von Musikschaffenden beschreibt Borgstedt: „die Beschreibung von Musik, professioneller Stil, Interpretation, Bühnenverhalten, das Verhältnis zum Publikum, die Charakterisierung eines Typs, das Privatleben und weitere Themen“ (Borgstedt 2008, 137). Dadurch kann der Star mit seinem individuellen Lebensstil wahrgenommen werden.
Folgt man dem Konzept der Cultural Studies, werden eigene Bedeutungen der aktiven Zuhörerschaft auf das Image projiziert. Demnach kann man hierbei von einem dynamischen Prozess sprechen. Die Einstellungen und Urteile seitens der Rezipient_Innen wirken sich demgegenüber erneut auf die Darstellung in medialen Texten aus.
Die Produktionsseite und die Rezeptionsseite lassen sich nicht eindeutig voneinander trennen, denn es sind lediglich zwei verschiedene Sichtweisen von Images der Musikschaffenden (vgl. ebd.). Zwar spricht Borgstedt von verschiedenen Sichtweisen, eines Images, doch lassen sich auch Gemeinsamkeiten aus Rezeptionsseite und Produktionsseite finden. Diese Gemeinsamkeiten bilden den Kern des Images. Dieser Kern ist ständiger Wiederholung des wesentlichen Images ausgesetzt und gilt als Grundstein „für Wiedererkennung und narrative Weiterentwicklung [...] und Kommunikation damit überhaupt erst ermöglicht“ (vgl. Borgstedt 2008, 138). Der Name eines Stars und die zugeordneten Eigenschaften bilden „Schlüsselreize, die mit einem bestimmten Emotionsschwerpunkt verbunden sind und die Wahrnehmung anderer Komponenten beeinflussen“ (Kroeber-Riehl 2003, 280 zit. n. ebd.). Das Image eines Musikers/einer Musikerin besteht aus einem Werte-Pool, das von jedem/r Rezipient_In individuell aufgefasst wird. Jede/r greift ein unterschiedliches Set an Werten auf und setzt es in eigenen Strukturen in gewissen Kontext.
43 Borgstedt fasst abschließend ihre Thesen zusammen:
1) Images von Starmusiker_Innen sind relational und hierarchisch 2) Images von Starmusiker_Innen sind ambipolar 3) Images von Starmusiker_Innen sind diskursiv
Ad 1): Images bestehen aus inhaltlichen und strukturellen Relationen. Inhaltliche Relationen bezeichnen die semantische Struktur. In dieser Struktur stehen die einzelnen Komponenten in einem speziellen Verhältnis zueinander (vgl. Borgstedt 2008, 139). Einzelne Prozesse, wie beispielsweise die Stereotypenbildung, sind in der Lage diese Verhältnisse zu formieren. Strukturelle Relationen beschreiben das Verhältnis der einzelnen Texte untereinander, welche wiederrum den Gesamteindruck formen (vgl. ebd.). Diese beschriebenen Relationen sind in der Lage im Image eine hierarchische Wissens- und Bewertungsstruktur zu erzeugen. Deutlich wird dies, wenn man den/die Musiker_In als „Meta-Produkt“ beleuchtet, nämlich als Produkt, das sich aus CDs oder Auftritten zusammenfügt (ebd.). Aber zugleich wohnt dem/der Musiker_In auch ein übergeordnetes Image inne, nämlich jenes verschiedener Genres, einer Berufsgruppe oder einer Nation (vgl. ebd., 140).
Ad 2): Dichotomien und Polaritäten sind notwendig für den Erhalt und Herstellung von Popularität. Drei Dichotomien erwähnt Borgstedt hier besonders: a) Das präzise Verhältnis von Gewöhnlichkeit und Außergewöhnlichkeit, denn einerseits führen Stars ein „normales“ Leben, andererseits heben sie sich von der Masse ab und leben außergewöhnlich. Demnach ist ein Star ein (un)erreichbares Objekt der Begierde (vgl. ebd.). b) Die Beziehung von Nähe und Distanz; also zwischen medialer Vermittlung und Wahrnehmung der Rezipient_Innen (vgl. Borgstedt 2008, 141). Gemeint ist hier nicht direkt eine räumliche Distanz, wie sie auf Konzerten beispielsweise deutlich wird, sondern eine durch Massenmedien hergestellte. Technische Hilfsmittel können diese Thematik zusätzlich unterstützen (Kameraperspektiven, Schnitt, Zoom; also eine bewusste Gestaltung von Nähe und Distanz). „Nähe und Distanz, Verheißung und Zurückweisung sind grundlegende Pole im Spannungsfeld zwischen Star und Publikum“ (Thiele 1997, 137 zit. n. Borgstedt 2008, 141). Bewunderung entsteht demnach nicht allein durch umfassende Verfügbarkeit eines Stars, sondern aus Versprechungen und distanziertem Rückzug, wie dies bereits Mills konstatierte: „For the crowd to admire, it [the celebrity, S.B.] must be kept at a distance“ (Mills 1956, 89 zit. n. Borgstedt 2008, 141).
44 Die dritte Dichotomie, die sich auf das Image einer/s Starmusikers_In auswirkt, ist das Spannungsfeld zwischen c) Realität und Fiktion. Dadurch zeichnet sich eine „Unsicherheit bzgl. Vorstellung und Wahrheit in Kombination systematischer und heuristischer Verarbeitungsprozesse ab, indem auf der einen Seite Belege für eine Vorstellung gesucht werden, die sie als real qualifizieren würde (Bottom-Up), und auf der anderen Seite ein verallgemeinernder, idealisierender oder entstellender Gesamteindruck die Wahrnehmung einzelner Informationen einfärbt (Top-Down)“ (Borgstedt 2008, 141). Mediale Techniken unterstützen diesen Eindruck: durch sogenannte „Close-Ups“. Dadurch wird das Gefühl vermittelt, eine Person wirklich zu kennen (ebd.). Nicht außer Acht gelassen werden dürfen hier Methoden, wie Beispielsweise Lichtverhältnisse, die Darstellungsweisen der Stars beeinflussen: hierbei kann es zu einer Überhöhung bzw. Idealisierung bestimmter Eigenschaften kommen, um die Person wie aus einer anderen Welt erscheinen zu lassen (vgl. ebd.).
Ad 3) Wie Ausführungen über das Image bereits nahelegen, besitzen sie diskursiven Charakter (vgl. Borgstedt 2008, 142). Das heißt, dass Images nie komplett abgeschlossen sind, da sie sich ständig in Bewegung befinden. Sie sind Resultat einer Rezeption vorheriger Rezeptionen. Sie sind auch „nicht konkret greifbar, sondern eher als Überschneidungspunkte verschiedener intertextueller, kultureller und semiotischer Prozesse zu fassen“ (ebd.). Einen für diese Arbeit zentralen Punkt stellt das von Borgstedt erwähnte Faktum der Relevanz von Konnotationen dar, denn Starimages bauen auf diese auf. Demnach stellt eine Konnotation kein klares Verhältnis zwischen Bezeichnendem und Bezeichnetem dar. Zwar bedienen sich Medien oder Personen den gleichen Zuschreibungen von Stars, doch ist dies mit dem Konzept der Codes zu erklären. Codes sind „shared frames of reference“, die im Stande sind Zeichen/Zuschreibungen als „Strukturen und Prozesse kulturspezifischer Bedeutungen“ zu deuten (Lowry 1997, 313ff zit. n. Borgstedt 2008, 142). Vereinfacht gesagt meint dies: Schreibt ein Fan dem Star gewisse Eigenschaften zu, ist dies eine Interpretation, die durch Codes beeinflusst wird (vgl. Borgstedt 2008, 142). Codes bestehen demnach aus kollektiven Mustern. Sie sind sozusagen ein Angebot, die Kluft zwischen Bezeichnendem und Bezeichnetem zu verbinden, wobei dieses Angebot nicht endgültig ist und demnach auch Widersprüche entstehen können (vgl. ebd.). Demnach lassen sich vielfältige Bedeutungen zu einer bestimmten Thematik finden. Borgstedt bezieht sich auf Hall und zeigt, dass die Enkodierungsebene und die Dekodierungsebene nicht symmetrisch sein müssen (vgl. ebd.). Daraus ergeben sich vielfältige Bedeutungen durch die Kombination und Verknüpfung von Codes und Zeichen (vgl. Borgstedt 2008, 142f). Die
45 stattfindende Diskursivität gelingt nur, wenn eine Invariantenbildung stattfindet. Allein die Tatsache, dass der Prozess einer Invariantenbildung stattfindet, zeigt, dass es sich hierbei um eine ständige Art der Kommunikation handelt. Demnach sind Images kommunikative Konstrukte. Dass diese diskursive Abfolge in der Lage ist Begriffe hervorzubringen, die einen Eindruck objektiver Zuschreibung erzeugt, ist das Beeindruckende, das dabei entstehen kann. „Entsprechend ist ein Star auch nur der, der als solcher bezeichnet wird. Ein verkaufsförderndes Image besitzt der, dessen attribuierte Eigenschaften und Fähigkeiten als verkaufsfördernd herausgestellt und medial verbreitet werden“ (vgl. Borgstedt 2008, 143). Demzufolge besitzen Medien eine Definitionsmacht.
46 14 Boards of Canada
Nach dem theoretischen Teil dieser Arbeit möchte ich nun gerne näher auf die untersuchte Band eingehen. Um das Image und den damit verbundenen Diskurs zu untersuchen, wird folglich das Duo unter Berücksichtigung auf deren Individualität charakterisiert.
Boards of Canada wurde 1986 von den zwei Brüdern Michael Sandison (* 1. Juni 1970) und Marcus Eoin Sandison (* 21. Juli 1971) gegründet. Das erste Album, dem die Öffentlichkeit viel Aufmerksamkeit schenkte, war „Music Has The Right To Children“.2 Davor gab es weitere Veröffentlichungen, wie „Twosim“ (1995) oder „Hi Scores“ (1996), die jedoch erst Jahre später an Bekanntheit und Status gewannen.3 Die allererste Kassette „Acid Memories“ (1989) ist sehr rar und war nur für Familie und Freunde des Duos bestimmt. Nicht nur als Boards of Canada, sondern auch unter dem Namen Hell Interface, veröffentlichten die beiden Brüder Musik.4
Im Laufe der Recherche können zwei Ereignisse, die immer wiederkehrend in den Zeitschriften erwähnt und beschrieben werden, als konstitutiv für das Image und die Karriere der Band festgehalten werden: Die Veröffentlichung des Albums „Music Has The Right to Children“ sowie die Bekanntgabe, dass Marcus Eoin und Michael Sandison Brüder sind.
Den ersten Punkt betreffend zeigt das Magazin „Pitchfork“, warum dieses Album in den späten 1990er Jahren großen Erfolg feierte. Bereits in der Einleitung des Artikels wird erwähnt, dass manche Musiker_Innen bestimmte Strategien wählen – so auch Boards of Canada: Das Zeitliche zu vermeiden, um das Zeitlose zu erreichen („Some musicians opt for a similar strategy: Avoiding the timely, they aim to achieve the timeless“).5 In den 90er Jahren war der gängige Stil im Bereich der elektronischen Musik meist digital, äußerst rhythmisch und futuristisch. Das schottische Duo allerdings verzichtete auf diese herkömmliche Art des Klangs. Das Genre bzw. der Stil wird von „Pitchfork“ als verschwommener Sound schmieriger Synthesizerklänge und analog-verfallener Produktion, getragen von Geduld und schlafwandelnden Beats, beschrieben. Dies alles wird zu guter Letzt mit dem Schmerz von
2 https://bocpages.org/wiki/Music_Has_the_Right_to_Children (17.12.2020) 3 vgl. Jockey Slut 2000, 12, S.34 4 https://www.discogs.com/de/artist/3603-Hell-Interface (17.12.2020) 5 https://pitchfork.com/features/article/why-boards-of-canadas-music-has-the-right-to-children-is-the-greatest-psychedelic- album-of-the-90s/ (31.03.2020)
47 Nostalgie abgerundet („a hazy sound of smeared synth-tones and analog-decayed production, carried by patient, sleepwalking beats, and aching with nostalgia“).6
Das zweite einschneidende Ereignis in der Karriere der Band, ist die Erwähnung der Beziehung zueinander. Auch hier wird das Magazin Pitchfork herangezogen.7 In der 2005 erschienen Ausgabe der Special-Interest-Zeitschrift sprechen die beiden Schotten das erste Mal im Interview mit Heiko Hoffmann darüber. Dieses beginnt mit Fragen über die Anfänge des Musik-Machens, wie alt die beiden waren als sie sich kennen gelernt haben, wann sie begonnen haben Musik zu produzieren und, ob ihre Familien musikalisch sind. Nach der letzten Frage bat Michael das Aufnahmegerät auszuschalten. Er fragte Marcus, ob es in Ordnung wäre über das zu sprechen. Dieser willigte ein und Michael erzählte Hoffmann, dass sie eigentlich Brüder sind. Nach kurzer Zeit, erwähnte Michael dies nochmals vor laufendem Aufnahmegerät. Die Geheimhaltung dieses Verwandtschaftsverhältnis wird darin begründet, nicht ständig mit der Band Orbital, die 1987 auch elektronische Musik produzierten, verglichen zu werden, da diese auch Brüder sind. Der bis dahin verwendete Nachname Eoin ist eigentlich Marcus‘ zweiter Vorname.8
14.1 Der Clou von Tomorrow’s Harvest
Für die Promotion eines neuen Albums eröffnete die Band eine Schnitzeljagd. Um herauszufinden, wann die genaue Veröffentlichung des neuen Albums stattfindet, musste ein 36-stelliger Code gefunden werden, den man anschließend auf einer inoffiziellen Webseite der Band eingeben musste. Sowohl Hinweise für Codes als auch den Code selbst, der aus jeweils sechs Sechsergruppen an Zahlen bestand, konnte man in YouTube-Videos, weiteren Webseiten (beispielsweise von Radiostationen), Platten oder Auktionen finden. Laut dem Blog „2020k“ konnten Boards-of-Canada-Fans diese Schnitzeljagd lösen und das Veröffentlichungsdatum herausfinden.9
6 Ebd.
7 https://pitchfork.com/features/interview/6151-boards-of-canada/ (17.12.2020) 8 vgl. ebd. 9https://blog.twenty20k.com/2013/04/20/boards-of-canada-distribute-new-vinyl-releases-out-for-national- records-day/ (12.01.2021) 48 Eine Sechsergruppe des Codes befand sich auf einer Platte, die nur diesen Code in einer verzerrten Stimme abspielte. Diese Platte gilt in der Szene als sehr rar und wertvoll.10
14.2 IDM
Die Abkürzung IDM steht für „Intelligent Dance Music“ und meint das Genre bzw. die dazugehörige Musik, die nicht nur den Körper, sondern auch den Geist bewegen lässt. Eine genaue Definition, was denn das Intelligente in der Musik sei, gibt es nicht. Parry nennt diverse Künstler des Labels Warp-Records, deren Musik für diesen Begriff als angemessen erscheint. Mit in die Diskussion, wird der Begriff der künstlichen Intelligenz-Serie geworfen, deren Kriterium die Künstler_Innen offenbar erfüllen (vgl. Alwakeel 2009, 2). Die „artificial intelligence“ wird durch acht LPs, die zwischen 1992 und 1994 auf Warp Records veröffentlicht wurden, definiert. Klar jedoch ist nicht, wer den Begriff der Intelligenz in die Diskussion gebracht hat. Warp Records‘ Aussage, dass die Musik für den Geist und nicht zum Tanzen sei (vgl. Alwakeel 2009, 2), rechtfertigt nicht den Versuch, der angestellt wurde, um der Musik einen Intellekt zu verleihen. Das Label zeigt, dass der Begriff der (künstlichen) Intelligenz ironischerweise verwendet wurde, um sich von den Aussagen, wie beispielsweise das Fehlen von Menschlichkeit in der Musik, zu distanzieren (vgl. Alwakeel 2009, 2).
Boards of Canada hingegen sprach sich in dem 2005 erschienenen Interview, klar gegen die Bezeichnung einer IDM-Band aus: „We're just a band. Not an IDM band, not an electronic band, and not a dance band.“11
10 https://bocpages.org/wiki/Tomorrow%27s_Harvest_Viral_Marketing_Campaign (12.01.2021) 11 https://pitchfork.com/features/interview/6151-boards-of-canada/ (17.12.2020) 49 14.3 Die Musikindustrie
Über die Musikindustrie zu jener Zeit konnten – aufgrund mangelnder Literatur – nur wenige Informationen gefunden werden. Alwakeel zeigt, dass in der Musikindustrie bestimmte Konventionen erwartet werden (vgl. Alwakeel 2009, 10). Katalognummern beispielsweise geben bereits an, ob es sich um ein Album, eine Single oder ein anderes physische Format handelt. Bestimmte Regeln in der Industrie erlauben es nicht aus dem Raster bzw. diesen Konventionen auszubrechen. Ist eine Single zu lange, eignet sie sich nicht für die Platzierung in den Single-Charts. Das Duo Autechre beispielsweise war sich diesen Konventionen bewusst, weshalb sie ihre im Jahr 1999 erschienene EP „EP7“ nannten, um auch auf die Problematik aufmerksam zu machen (vgl. ebd.).
Das Kapitel des IDMs und der Musikindustrie lassen sich auch vereinen, denn Daniel Silver, et al. (2016) fanden heraus, dass die Kategorien der Genres immer mehr an Bedeutung verlieren. Deren Analyse zeigt auch, dass die Bandbreite an Musik aus unterschiedlichen Welten besteht, die unterschiedlich organisiert sind: „uncentered, single-centered, and multi-centered“ (ebd. 1). Auch die Erwartungen an die einzelnen Genres, strukturieren die Musikindustrie. Etwa, wie sich Bandmitglieder treffen, Produzent_Innen gewählt werden oder welche Bands für welchen Anlass gebucht werden, wie Radiostationen darüber entscheiden, was gespielt werden soll, wie über die Neuigkeiten im Musikbusiness berichtet wird und auch wie Fans Musik konsumieren. Zudem zeigen Untersuchungen, dass Genrebezeichnungen und -erwartungen Referenzpunkte sind, die in direktem Zusammenhang mit den Selbstdarstellungen von Musiker_Innen stehen. Andere Untersuchungen zeigen jedoch auch, dass keine starren Erwartungen an Genres gesetzt werden. Das Multimediaverwaltungsprogramm iTunes erwähnt Genres kaum (vgl. ebd.). Genres haben nämlich die Fähigkeit, über Zeit zu entstehen, sich zu entwickeln und sich zu vermischen.
50 15 Methode
Wie Borgstedt (2008) bereits herausgefunden hat, haben Massenmedien direkten Einfluss auf die Entstehung der Starsysteme (vgl. ebd., 53). Aus diesem Grund wurde in dieser Arbeit der Fokus auf das Medium der Special-Interest-Zeitschrift gelegt. Um den Künstlerdiskurs im Bereich der Musik aufzuschlüsseln und den impliziten Kanon an Regeln deutlicher werden zu lassen, wurde die Diskursanalyse als methodisches Werkzeug verwendet. Hierfür wurde Jäger (2001;2009) herangezogen.
Jäger bezieht sich auf Michel Foucault und verweist auf kritische Fragen, die für eine Diskursanalyse zentral sind: Was ist das jeweilig gültige Wissen? Wie kommt dieses Wissen zustande? Wie wird es weitergegeben? Welche Funktion hat es für die Entstehung von Subjekten? Welche Einflüsse hat dieses Wissen für die gesamte Gesellschaft? (vgl. Jäger 2001, 81).
Eine Diskursanalyse hat den Anspruch das Wissen der Diskurse bzw. Dispositive zu analysieren, sowie die Wechselseitigkeit zwischen Wissen und Macht deutlich werden zu lassen (vgl. ebd.). Eine Diskursanalyse hat den Anspruch das jeweilig Sagbare in einer bestimmten Gesellschaft, zu einer bestimmten Zeit zu erfassen. Auch Verleugnungsstrategien, Strategien, die einer Enttabuisierung oder Relativierung dienen, fallen in das Feld der Diskursanalyse (vgl. ebd., 83 f). Den Begriff des Dispositiv und des Diskurses definiert Jäger wie folgt: „Dispositive kann man sich insofern auch als eine Art ‚Gesamtkunstwerke‘ vorstellen, die – vielfältig miteinander verzahnt und verwoben – ein gesamtgesellschaftliches Dispositiv ausmachen“ (Jäger 2001, 82).
„Diskurs ist ‚ein institutionell verfestigte Redeweise, insofern eine solche Redeweise schon Handeln bestimmt und verfestigt und also auch schon Macht ausübt‘“ (Link 1983, 60 zit. n. ebd.). Jäger verweist auf Link, der bereits die Bedeutung der Kollektivsymbolik hervorhob, da diese „zur Vernetzung der verschiedenen Diskursstränge beitragt“ (Jäger 2001, 82). Er verweist auf die Machtwirkung der Diskurse: Diskurse dienen bestimmten Zwecken. Diese Zwecke üben aufgrund ihrer Institutionalisierung oder Ankopplung an Handlungen Macht aus. Zusammengehalten werden sie mittels einer Kollektivsymbolik (vgl. ebd., 84). „Kollektivsymbole sind ‘kulturelle Stereotypen (häufig Topoi genannt), die kollektiv tradiert [Herv. i. Org.] und benutzt werden‘“ (Drews/Gerhard/Link 1985, 265 zit. n. ebd.). Das
51 Interessante dabei ist die Generierung von Bildern, die durch diese Kollektivsymbolik entsteht. Medien bedienen sich diesen Bildern, wodurch ein Abbild gesellschaftlicher Realität entsteht (vgl. ebd.). Schlussfolgernd lässt sich sagen, dass Diskurse gesellschaftliche Wirklichkeit nicht einfach widerspiegeln, sondern Diskurse ein „‘Eigenleben‘“ besitzen, obwohl sie diese gesellschaftliche Realität erst ermöglichen und determinieren (Drews/Gerhard/Link 1985, 265 zit. n. Jäger 2001, 84). Doch nicht nur Diskurse formen die Realität, sondern auch Subjekte im Vollzug (nicht-)diskursiver Handlungen (vgl. ebd., 85).
Jäger stellt sich die berechtigte Frage, wer Diskurse kreiert und welchen Status sie besitzen. Er zeigt, dass sie überindividuell sind; beispielsweise sind Diskurse Resultate geschichtlicher Prozesse. Sie besitzen einen gewissen Mehrwert, der auf ersten Blick nicht erkennbar ist. Um diesen Mehrwert, also das zusätzliche Wissen einer Gesellschaft zu untersuchen, muss man die Entstehungsgeschichte dieses Wissens rekonstruieren. Er zeigt auch, dass der Status, der Diskursen innewohnt, eine große Wirkung besitzt, denn Diskurse üben Macht aus, da sie in der Lage sind Verhalten zu induzieren (vgl. Jäger 2001, 86).
Abschließend fasst Jäger seinen ersten Teil über Diskurse zusammen: „Diskurse üben Macht aus, da sie Wissen transportieren, das kollektives und individuelles Bewusstsein speist. Dieses zustandekommende Wissen ist die Grundlage für individuelles und kollektives Handeln und die Gestaltung von Wirklichkeit [Herv. i. Org.]“ (Jäger 2001, 87).
Doch wie kann dieses Wissen und die damit verbundene Macht transportiert werden? Jäger greift auf Foucault zurück und zeigt auf, dass das Subjekt das Bindeglied zwischen den Diskursen und der Wirklichkeit ist (vgl. Jäger 2001, 95). Die Rekonstruktion von Wissen, die faktisch immer in Texte resultiert, umfasst auch immer die Form, in der Wissen auftritt, also wie es sich präsentiert, ob dieses Wissen offen zu Tage tritt, ob es sich – etwa in Gestalt von Implikaten – verkleidet oder wie es argumentativ verpackt ist etc. (vgl. Jäger 2001, 108).
Hierzu zwei interessante Beispiele von Jäger, die Diskurse und deren Kollektivsymbolik deutlicher machen:
1) Sternenbilder kann man nur wahrnehmen, weil man gelernt hat sie zu sehen. 2) Ausländer werden von Menschen als Fluten empfunden, die man abwehren muss, da sie derartige Bedeutungen gelernt haben. (vgl. ebd., 94).
52 15.1 Wichtige Begriffe
Die folgenden Begriffe tragen zur einheitlichen Aufschlüsselung und Deutlichkeit der Diskursanalyse bei, weshalb diese nun erläutert werden:
Diskursfragmente können Textteile oder Texte sein, die um eine bestimmte Thematik kreisen bzw. ein bestimmtes Thema behandeln. Mehrere Diskursfragmente bilden einen Diskursstrang (Jäger 2009, 97).
Diskursstränge werden als einheitliche Diskursverläufe verstanden, die der gleichen Thematik zugehören (ebd.). Themen bilden Diskursstränge (Jäger 2009, 159). Diese Diskursstränge wiederrum bestehen aus Diskursfragmenten (vgl. ebd., 160). Zu unterscheiden ist eine synchrone und diachrone Dimension. Ein synchroner Schnitt durch einen Diskursstrang untersucht, was zu einer bestimmten Zeit gesagt wurde, bzw. (nicht) sagbar war/ist (ebd.). Nicht außer Acht zu lassen, ist die Verschränkung von Diskurssträngen, das heißt, die gegenseitige Steuerung und Beeinflussung. Beispielsweise kann eine rassistische Argumentation zugleich auch nationalsozialistischen Argumentationszusammenhängen dienen. Diese gegenseitige Steuerung beschreibt Jäger als Diskursstrang-Verschränkungen. Sie meinen ein Thema, das Bezüge zu anderen Themen aufweist. Wenn also ein Text klar verschiedene Themen anspricht, aber auch, wenn ein Hauptthema angesprochen wird und damit Bezüge zu anderen Themen aufweist (vgl. Jäger 2001, 97). Diskursive Ereignisse meinen die Heraushebung/Betonung mittels Medien und beeinflussen demnach die Qualität des Diskursstrangs. Als Beispiel gibt Jäger den Atomunfall von Harrisbourg und Tschernobyl an, wobei Letzterem medial mehr Aufmerksamkeit geschenkt wurde und daraus schließlich ein diskursives Ereignis entstand (vgl. ebd., 98). „Diskursanalysen können ermitteln, ob solche zu erwartenden Ereignisse zu diskursiven Ereignissen werden oder nicht“ (ebd.). Eine Diskursebene meint das Arbeiten der Diskursstränge auf verschiedenen Ebenen, also Politik, Erziehung, Verwaltung, etc. Diskursebenen könnte man als „die sozialen Orte bezeichnen, von denen aus jeweils ‚gesprochen‘ wird [Herv. i. Org.]“ (Jäger 2001, 99). Auch diese Diskursebenen sind miteinander verflochten (Jäger 2009, 163). Eine Diskursposition meint einen Ort von dem aus die Partizipation am Diskurs erfolgt (vgl. Jäger 2001, 99). Margret Jäger beschreibt diese Diskursposition treffend: „Die Diskursposition ist also das Resultat der Verstricktheiten in diverse Diskurse, denen das Individuum ausgesetzt
53 war und die es im Verlauf seines Lebens zu einer bestimmten ideologischen bzw. weltanschaulichen Position (...) verarbeitet hat“ (M. Jäger 1996, 47 zit. n. Jäger S. 2009, 164f). Diskurspositionen sind innerhalb eines vorherrschenden Diskurses einander ähnlich. Diese Ähnlichkeita kann zugleich auch Wirkung eines hegemonialen Diskurses sein (vgl. ebd., 165).
15.1.1 Der gesamtgesellschaftliche Diskurs in seiner Komplexität
Diskursstränge bilden in einer Gesellschaft den gesamtgesellschaftlichen Diskurs. Gesellschaft meint jedoch keine homogene Masse, sondern lässt sich in Untergruppierungen aufgliedern. Der gesamtgesellschaftliche Diskurs ist äußerst komplex und besteht aus einem Netz einzelner Diskursstränge (vgl. Jäger 2009, 166).
15.1.2 Geschichte, Gegenwart und Zukunft der Diskursstränge
Jäger zeigt, dass man oftmals nur einen Teilsektor einer Diskursebene untersuchen kann. Warum man sich genau für diesen entscheidet, muss man begründen können (Jäger 2001, 103). Wenn beispielsweise ein anderer Sektor untersucht worden ist, der jedoch dem gleichen Diskurs angehört, dann sollte dieser näher untersucht werden, denn Unterthemen eines Diskursstranges sollen Oberthemen zugeordnet werden (ebd.). Nicht nur Diskurse prägen in unserer Gesellschaft die Realität, sondern auch der von Jäger geprägte Begriff des Sysykoll.
15.1.3 Das Sysykoll
„Das sysykoll ist ... kitt der gesellschaft, es suggeriert eine imaginäre gesellschaftliche und subjektive totalität für die phantasie. während wir in der realen gesellschaft und bei unserem realen subjekt nur sehr beschränkten durchblick haben, fühlen wir uns dank der symbolischen sinnbildungsgitter in unserer kultur stets zuhause. wir wissen nichts über krebs, aber wir verstehen sofort, inwiefern der terror krebs der gesellschaft ist. wir wissen nichts über die wirklichen ursachen von wirtschaftskrisen, begreifen aber sofort, daß die regierung notbremsen mußte“ (Link 1982, 11 zit. n. Jäger 2009, 138). In Hinblick auf die Analyse von Artikeln in Special-Interest-Zeitschriften ist dieses Hintergrundwissen interessant, da man sich in diesem Diskurs Metaphern bedient, die sich mit dem Sysykoll erklären lassen können.
54 15.2 Vorgehensweise
Zuerst sollte die Diskursebene charakterisiert werden (Printmedien, TV, etc.) und anschließend ein Analyseleitfaden zurechtgelegt werden. Als nächsten Schritt soll eine Strukturanalyse vorgenommen werden, denn sie ist die „Auswertung der Materialaufbereitung in Hinblick auf den zu analysierenden Diskursstrang“ (Jäger 2001, 103). Anschließend werden in der Feinanalyse bestimmte Teile ausfindig gemacht, die einem Oberthema zuzuweisen sind (ebd.). Danach wird der Diskursstrang einer Gesamtanalyse unterzogen. Alle bisher erzielten Ergebnisse werden reflektiert. Die Materialaufbereitungen bilden die Grundlage jeder Diskursanalyse (vgl. ebd., 104).
15.2.1 Analyse von Dispositiven
Das Dispositiv lässt sich in drei Teilen vereinfachen:
1. „Diskursive Praxen, in denen primär Wissen transportiert wird. 2. Handlungen als nichtdiskursive Praxen, in denen aber Wissen transportiert wird, denen Wissen vorausgeht bzw. das ständig von Wissen begleitet wird. 3. Sichtbarkeiten/Vergegenständlichungen, die Vergegenständlichungen diskursiver Wissens-Praxen durch nichtdiskursive Praxen darstellen, wobei die Existenz der Sichtbarkeiten ('Gegenstände') nur durch diskursive und nichtdiskursive Praxen aufrechterhalten bleibt“ (Jäger 2001, 107).
Das Musikerdispositiv wird im letzten Kapitel der Arbeit, der Conclusio, – unter Berücksichtigung dieser Aufschlüsselung – beschrieben. In Bezug auf den Untersuchungsgegenstand lässt sich folgender Analyseleitfaden erschließen:
15.2.2 Analyseleitfaden
Die zu untersuchende Ebene ist die mediale Darstellung der Band in Special-Interest- Zeitschriften zwischen 1997 - 2005. Es gilt das implizite Wissen über den Künstlerdiskurs an den Tag treten zu lassen und zu untersuchen, wie das Wissen argumentativ verpackt ist beziehungsweise, wie es in Erscheinung tritt. Besonderer Fokus gilt drei Zeitschriften mit dem Hauptaugenmerk auf die gestellten Fragen der Zeitschrift und direkte Zitate seitens der Band.
55 16 Datenerhebung
De:Bug Jockey Slut De:Bug