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Kulturspaziergang um und Gstadt am

Kirchen – Elementarmusik – Fotografie – Literatur – Freilichtmalerei

Von Birgit Ziegler-Stryczek

Blick von der Aischinger Höhe

Aisching hat ohne Frage die herrlichste Lage am See: die Kulturweg mit Erholungspotenzial Fraueninsel, gerade gegenüber, bildet den lieblichsten, reizvollsten Vordergrund: – bei ruhigem Wetter schien sie Die Bayerische Staatsbibliothek betreibt in Kooperation auf der spiegelglatten Fläche zu schwimmen, einer Seerose mit der Monacensia das Literaturportal Bayern. Zu dessen gleich! – die Wasserfläche gen Süden hin wird durch die Angeboten zählen Spaziergänge auf den Spuren von Dich- kleine Krautinsel und die dunklen Waldwipfel von Herren- tern und Künstlern. Sie sind in der Rubrik „Literaturland“ wörth unterbrochen: über dem Frauenkloster, im Osten, zu finden (Kulturspaziergang um Breitbrunn und Gstadt: und jenseits der ragen die Berge: zwar fern, www.literaturportal-bayern.de/literaturland?type=trip aber desto wirkungsvoller in der Beleuchtung: welch wun- &id=163). dervolle Sommerabende hab‘ ich hier erlebt… (F. Dahn, Er- innerungen, Bd. 2, Leipzig 1891). Im Vorfeld zu diesem Kulturspaziergang entstanden für das Autorenlexikon des Literaturportals einige Beiträge zu So Felix Dahn, Autor des Bestsellers Ein Kampf um Rom. Schriftstellern, die am Chiemsee gelebt haben. Bei der Re- Seine Familie zieht es immer wieder in die Sommerfrische cherche halfen ortsansässige Experten mit freundlichem am Chiemsee, zunächst auf die Fraueninsel und, „als der Rat, insbesondere Franz Burghardt, Heimatforscher in civis Monacensis vulgaris mit Weib und Kind in ungezähl- Breitbrunn, sowie Verwandte und Nachfahren von Litera- ten Stücken auf und über das schmale Eiland“ (ebd.) he- ten und Künstlern. Aus der Beschäftigung mit dem Genius reinbricht, nach Aisching ans Nordwestufer. Auf viele Lite- Loci erwuchs fast zwangsläufig die Idee zu einem Kultur- raten und Künstler übt der Chiemsee eine magische Anzie- spaziergang, zumal der buchtenreiche Uferabschnitt um hungskraft aus. Man trifft sich, und es bilden sich Netz- Breitbrunn und Gstadt als einer der schönsten am Chiem- werke. Als prominenteste Beispiele dieser Region sind die see gilt und zu Spaziergängen und Radtouren einlädt. literarische Gruppe 47 und die Malerkolonie um Breit- brunn und Gstadt zu nennen. In Zusammenarbeit mit den Gemeinden wurde ein Rundweg konzipiert. Er beginnt bei der idyllisch am Orts-

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die Sommerfrischler aus den Städten an. Nicht nur gutsi- tuierte Bürger reisen ans bayerische Meer, auch unterneh- mungslustige Studenten und Maler nehmen den noch be- schwerlichen Weg auf sich. Der Rechtsstudent Felix Dahn startet einmal um zwei Uhr morgens zu Fuß von der Ro- senheimer Landstraße in München und erreicht nachts gegen elf Uhr den See. Freizeitsportarten kommen in Mode. Man besteigt die Kampenwand, badet und segelt. In Hans Leips Chiemseeroman Die Sonnenflöte segeln die Protagonisten gerne und ständig in der chiemseetypi- schen „Plette“ (Plätte).

Der Bau der Eisenbahnlinie von München nach Salzburg vertreibt manch alteingesessenen Sommergast, der sich vom ungewohnten Tourismusboom bedrängt fühlt. Der Besucherstrom verstärkt sich noch, als nach dem Ertrin- kungstod von Ludwig II. Schloss zur Be- sichtigung freigegeben wird.

Einige Sommerfrischler weichen auf das Ufer um Breit- brunn und Gstadt aus, wenn sie sich nicht vorher schon dort angesiedelt haben. So entwickelt sich an diesem Ufer- abschnitt eine Filiation zur Malerkolonie auf der Frauenin- Flyer weiher gelegenen Kirche von Breitbrunn, führt hinab ans sel mit einer besonders hohen Künstlerdichte. Eugen Chiemseeufer, passiert das naturnahe Strandbad Stadl, Croissant (1898 –1976), Maler und Karikaturist, fertigt ei- schlängelt sich um die Halbinsel Urfahrn und steigt an zur nen „Kunstverseuchungs-Lageplan“ an, in dem er insge- aussichtsreichen Aischinger Höhe, von wo es wieder zu- samt 37 dort ansässige malende Zeitgenossen lokalisiert. rückgeht. Die Institution der Sommerfrische erfährt durch die Weltkriege eine jähe Umdeutung. Die Bankiersfamilie Ein Flyer für die Gemeinden Keetman aus dem Rheinland hat ihre Liebe zur oberbaye- und Führungen vor Ort rischen Landschaft zunächst für die Sommeraufenthalte entdeckt und erwirbt 1936 einen Müllerhof in Breitbrunn. Auf Wunsch der Gemeinden wurde zusätzlich zum On- Im Zweiten Weltkrieg erweist sich das geräumige Anwesen line-Beitrag im Literaturportal Bayern ein Flyer gedruckt. als Zuflucht für die heimatlos gewordenen Familienmit- Er liegt in den Tourismusinformationen und bei den Zim- glieder. Die Komponistin Gunild Keetman und ihr Bruder, mervermietern aus. Der Flyer bietet eine Kartenansicht der Fotograf Peter Keetman, wirken in der Nachkriegszeit und Einblick in die insgesamt fünf Themenstationen. Per viele Jahre vom Chiemgau aus, der auch ihr Werk inspi- QR-Code können Interessierte auf den ausführlichen Bei- riert. trag im Literaturportal zugreifen. Außerdem bietet die Ge- meinde Breitbrunn den Rundweg als geführte Tour im Aus Deutschlands Norden spült der Krieg gleich mehrere Rahmen ihres touristischen Programms an. Literaten an. Hans Leip, Textautor des Liedes Lili Marleen, ist einer der ersten. Kaum bekannt ist, dass sich einige Au- toren der Gruppe 47 in Breitbrunn und Gstadt niederge- Breitbrunn und – traditionsreiche Orte

Alte Postkarte mit Motiv Der Kulturspaziergang richtet sich an eine breite Öffent- Herrenchiemsee lichkeit und beschränkt sich nicht allein auf literarische Themen, zumal Breitbrunn und Gstadt mit vielen kulturel- len Highlights und einer langen Geschichte punkten kön- nen. Während der Römerzeit gehört der Chiemsee zur Pro- vinz Noricum. Bei Breitbrunn befand sich eine römische Villa mit Badehaus, die als Versorgungsstation für die Rei- senden diente. Die weitere Geschichte der beiden Orte ist eng mit den Klöstern und Herrenchiem- see verknüpft. Ab dem 19. Jahrhundert lockt der Chiemsee

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St. Johannes in Breitbrunn

lassen haben. Auch der Organisator der Gruppe, Hans weist. So löst das Öffnen der Türe einen Mechanismus aus, Werner Richter, mietet sich dort im Sommer ein. Die Grup- der die Figuren der Darstellungsgruppe Christus nimmt pe 47 gehört zu den wirkmächtigsten Schriftstellerorgani- Abschied von seiner Mutter in Bewegung setzt. sationen der Nachkriegszeit. Ein vielzitiertes Gedicht von Ilse Aichinger, einer ihrer bedeutendsten Autorinnen, trägt den Titel Breitbrunn. Station 2: Elementarmusik und Fotografie – Gunild und Peter Keetman

Fünf Themenstationen Folgt man dem Mühlbach, erreicht man das Anwesen der Familie Keetman. Die Mu- Bei der Konzeption des Spaziergangs sollte die Vielfalt sikerin und Komponistin des Kulturlebens eingefangen, aber trotzdem die Privat- Gunild Keetman (1904– sphäre der jetzigen Bewohner geschützt werden. Nach- 1990) zieht 1944 in die dem vorerst keine Hinweistafeln in den beiden Gemeinden kleine Mahlmühle, nach- existieren, fokussiert sich der Rundweg auf fünf breiter dem ihre Münchner Woh- gefasste Themenstationen. Wer genauer wissen will, wo nung durch Bombenan- die Künstler wohnten, kann dies im Literaturportal Bayern griffe zerstört worden ist. nachlesen. Allerdings sind die früheren Wohnstätten oft Sie ist eine enge Mitarbei- umgebaut. Das ein oder andere Kuriosum hat jedoch im terin von Carl Orff und gibt Original überlebt, so die aus königlich bayerischen Militär- zusammen mit ihm das beständen stammende Feldkanone des Arztes und Schrift- Orff-Schulwerk heraus. Es stellers Felix Schlagintweit, mit der er seine Gäste zu be- basiert auf einer neuarti- grüßen pflegte. Heute versteckt sie sich hinter einer ausla- gen Kombination von Mu- denden Thujenhecke. sik mit „Elementarinstru- menten“ (Glockenspiel, Xy- lophon, Pauken etc.) und Bewegung. 1949 beruft man Gu- Gunild Keetman Station 1: Breitbrunns Kirchen – St. Johannes nild Keetman als Lehrbeauftragte an das Mozarteum in und die Malerkapelle Salzburg, wo sie wesentlich zum Aufbau des dortigen Orff- Instituts beiträgt. Die dem Hl. Johannes geweihte Pfarrkirche verdankt ihr Fundament einem Steinbruch auf der Herreninsel. Seit Ihr Bruder, der Fotograf Peter Keetman (1916–2005), dem Tod von König Ludwig II. steht dort Baumaterial zur zieht wegen einer Kriegsverletzung ebenfalls in das Mühl- Verfügung, das für das unvollendet gebliebene Schloss anwesen. Er ist ein Vertreter der sogenannten Subjektiven vorgesehen war. Der Innenraum der Kirche ist reich deko- Fotografie. Seine Schwarzweiß-Fotografien durchzieht bei riert. Mehrere Skulpturen gehen auf den Straubinger Bild- allen Sujets eine innovative Sicht auf technische wie na- hauer Franz Mozart zurück, einen Großonkel des Kompo- turgegebene Details. Sie sind oft stark abstrahiert und gra- nisten W. A. Mozart. fisch prägnant in Szene gesetzt. In seiner bekanntesten Fotostrecke dokumentiert er das neue Volkswagenwerk Unterhalb der Pfarrkirche erbaut der Maler und Vergol- am Mittellandkanal, insbesondere Bau und technische De- der Josef Thalhauser „für alle Verehrer Mariens“ 1889 eine tails des mythischen Käfers. Lourdeskapelle, die einige originelle Besonderheiten auf-

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v. l. n. r.: Peter Keetman, Horst Mönnich, Ilse Aichinger und Günter Eich lässt, um den Baufortschritt seines Schlosses zu begutach- ten. Ein Gedenkstein erinnert daran.

Station 3: Nordlichter und „abgelegene“ Häuser – Schriftsteller der Gruppe 47 Station 5: Aischinger Höhe – Freilichtmalerei und Malervillen Horst Mönnich (1918–2014), Autor der Gruppe 47, über- nimmt das Haus des Schriftstellers Hans Leip. Der Erfolg Das erste „bayerische Barbizon“ (Barbizon – ein Ort süd- seines Industrieromans über das VW-Werk in Wolfsburg lich von Paris, der als erste europäische Künstlerkolonie ermöglicht ihm den Hauskauf und die Gründung einer Fa- gilt) entsteht in den Dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts milie. Seine akribisch recherchierten Werke über VW, BMW auf der Fraueninsel. Im Chiemgau bilden sich weitere Filia- und Thyssen dokumentieren die Entwicklung der wichtigs- tionen. ten Unternehmen der Wirtschaftswunderzeit. Der Landschaftsmaler und studierte Pharmazeut Wil- Das Schriftstellerpaar Ilse Aichinger (1921–2016) und helm Boshart (1815–1878) ist der erste, der sich in Ai- Günter Eich (1907–1972) verschlägt es ebenfalls nach sching ein Sommerhaus baut. Dessen Panoramalage er- Breitbrunn. Eich bekennt sich zu seiner „Vorliebe für abge- möglicht ihm die intensive Auseinandersetzung mit den legene Dörfer“ und bleibt auch nach der Breitbrunner Zeit wechselnden Stimmungen und Szenerien des Chiemsees. dem Landleben treu. Er gilt als Vertreter der sogenannten Kahlschlagliteratur, dem radikalen literarischen Neube- Alfred Zimmermann (1854–1910), eine schillernde ginn nach Kriegsende. 1950 erhält er den erstmals ausge- Künstlerpersönlichkeit, folgt ihm in Aisching nach. Er stu- schriebenen Preis der Gruppe 47. Aichinger, Tochter einer diert zunächst an der Münchner Kunstakademie, brilliert jüdischen Mutter, die dank glücklicher Umstände die NS- dann aber als Tenor. Nach langjährigem Aufenthalt auf Zeit überlebt, kämpft gegen Verdrängung und Vergessen. Capri lässt er sich in Aisching nieder und bleibt bis zu ei- nem tödlichen Segelunfall der Malerei treu.

Station 4: Halbinsel Urfahrn – Wohnort 1908 bezieht der Maler Heinrich Heidner (1876–1974) von Schlagintweit und Landeplatz von König die heute denkmalgeschützte Heidner-Villa. Den Ersten Ludwig II. Weltkrieg erlebt er an der Westfront in den Vogesen. Seine expressiven Kriegsbilder faszinieren die Kunstkritik und 1905 erwirbt der Arzt und Schriftsteller Felix Schlagint- sorgen für zahlreiche Museumsankäufe. „Es war der Welt- weit einen Hof auf der Landzunge Urfahrn. Gerne emp- krieg, der mir merkwürdigerweise die Erfolge in künstleri- fängt er dort Gäste wie den Maler Olaf Gulbransson, den scher Hinsicht bringen sollte, die ich mir von meinen Frie- Architekten Emanuel von Seidl oder den Komponisten densbildern erwartet hatte“, schreibt er in seiner Autobio- Hermann Zilcher. Während er in Deutschland der Urologie grafie. Als einer der letzten Vertreter der Münchner Schule als neuer medizinischer Disziplin zum Durchbruch verhilft, der Chiemseemaler gilt Willibald Demmel (1914–1989). schreibt er sich als Schriftsteller mit seinen Memoiren Ein Der gelernte Goldschmied findet nach einem Wanderun- verliebtes Leben ins kulturelle Gedächtnis ein. Sie sind ein fall auf der Kampenwand durch einen Mitpatienten zur Zeitdokument für die quirlige Münchner Künstlerszene Malerei. Bald baut er sich ein eigenes Haus mit Atelier auf und das Kurleben um 1900 in Bad Brückenau, wo auch der Aischinger Höhe. 1951 eröffnet er dort die Weinstube Kaiserin Sissi für einige Wochen weilt. Schlagintweit cha- „Palette“, in der er als Wirt persönlich seine Gäste versorgt. rakterisiert sie als „blutarm, menschenscheu und gemüts- Besucher aus der ganzen Welt tragen sich in sein Gäste- krank“. Nicht zuletzt ist Urfahrn der Ort, von dem aus sich buch ein, darunter auch der Kabarettist Werner Finck, of- König Ludwig II. nachts auf die Herreninsel übersetzen fensichtlich gerade mit Segelkommandos befasst:

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Wenn ich Zeit und Muße hätte – Literatur:

nur Palette, nur Palette – ! F.C. Gundlach (Hg.) (2016): Peter Keetman. Gestaltete Welt. Museum Folkwang. Stiftung F.C. Gundlach. Steidl, momentan in einem Team segeln Göttingen.

lernend auf dem Chiem → ↓see Fischer, Cornelia (2009): Gunild Keetman und das Orff-Schulwerk. Elementare Musik zwischen künstleri- Werner Finck, Kaberetist schem und didaktischem Anspruch. Schott, Mainz u.a.

Reich-Ranicki, Marcel (2017): Die Gruppe 47. Berichte, Aufsätze und Erinnerungen 1958 bis 2003. Hg. von Thomas Anz. Verlag LiteraturWissenschaft.de, Marburg.

Hans Leip: Das Tanzrad oder die Lust und Mühe eines Daseins. Ullstein, Berlin u.a. 1979.

Felix Schlagintweit: Ein verliebtes Leben. Süddeut- scher Verlag, München 1981.

Negendanck, Ruth (2008): Künstlerlandschaft Chiem- see. Verlag Atelier im Bauernhaus, Fischerhude.

Tipp: Heimatmuseum , Historische Galerie der Chiemseemaler Alfred Zimmermann, Feldkreuz bei Gstadt, 1904

Willibald Demmel, Selbstporträt

DIE AUTORIN: Dr. Birgit Ziegler-Stryczek ist Mitarbeiterin der Abteilung Bestands- entwicklung und Erschließung 1 der Bayerischen Staatsbibliothek.

Heinrich Heidner, Blumen Bildrechte: Aischinger Höhe, privat (1); Bayerische Staatsbibliothek, Bildarchiv Johann Zimmermann, Pfarrei St. Johannes, Peter Keetman, Familienbesitz (2); Andreas Mönnich (1); Felicitas Timpe, Bayerische Staatsbibliothek, Bildarchiv Heimatmus eum Prien, Historische Galerie der Chiemseemaler (3)

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