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Karl-Heinz Ohlig Struktur gegeben. Die Kirche trat ohne Weisungen Jesu ins Dasein und entwickelte ihre Gestalt im Lauf der Zeit. Relativ früh Am Scheideweg wurden, hierfür ist Paulus Zeuge, verschie- dene Dienste in den Gemeinden für ihr ______Funktionieren notwendig. Aber ein Amt

zur Leitung der Gemeinden wurde erst Es gibt noch einige Länder, die zureichen- notwendig, als diese größer wurden und den Priesternachwuchs haben. Meistens sich auf eine längere Zeit einrichteten. dort, wo mit diesem Beruf auch ein sozialer Hierfür griff man auf ein Modell zurück, Aufstieg verbunden ist. Dies gilt für weite das die aus dem Judentum kommenden Teile der Kirche nicht mehr. In ihnen ist Christen kannten: die Leitungsstrukturen der Priesternachwuchs zahlenmäßig so ge- der Synagogengemeinden, mit Presbytern ring, dass schon jetzt und vor allem in der („Ältesten“ oder „Älteren“), also angesehe- absehbaren Zukunft eine Seelsorge im her- nen Männern an der Spitze. kömmlichen Sinn, getragen vom Klerus, Um das Jahr einhundert wurden Presbyter nicht mehr aufrecht erhalten werden kann. auch in der Kirche tätig. Da die „Heiden- Das gilt nicht nur, wie die in Rom durchge- christen“ mit diesem Ausdruck nichts an- führte Amazonaskonferenz gezeigt hat, für fangen konnten, nannten sie die Presbyter, die dortigen Länder, sondern mittlerweile mit einem Begriff aus der Verwaltung der auch hierzulande, z.B. in Deutschland oder hellenistischen Städte, Episkopen („Aufse- Frankreich. Es ist offensichtlich, dass et- her“); beide Begriffe waren, wie die Deu- was geschehen muss, wenn die Kirche teropaulinischen Briefe zeigen, gleichbe- nicht radikal schrumpfen will – so wie etwa deutend. Erst im zweiten Jahrhundert im ehemals „katholischen“ Lateinamerika, wurden die beiden Begriffe unterschiedli- wo die Zahl der Katholiken in beträchtli- chen Amtsträgern zugedacht: der Episko- cher Weise zurückgeht und evangelikale pos war dann der verantwortliche Gemein- Gruppen und Gemeinden wachsen. deleiter, die Presbyter halfen ihm – der monarchische Episkopat war entstanden. Die Richtung der notwendigen Verände- rungen ist offensichtlich: die Kirche muss Diese Geschichte, die man noch weiter dif- Abschied nehmen vom traditionellen Pries- ferenzieren könnte, zeigt, dass die Kirche termodell. Das fällt nicht leicht, weil dieses bei der Gestaltung ihrer Strukturen auto- seit dem zweiten Jahrhundert, in wech- nom entschieden hat – gemäß den jeweili- selnder Ausgestaltung, seit dem 11. Jahr- gen pastoralen Anforderungen. Abgesehen hundert in zölibatärer Form, Verkündi- von der Macht tradierter Strukturen wäre gung, Sakramentenspendung, Pastoral, sie theologisch frei, entsprechend zu neuen Gemeinde- und Kirchenleitung effektiv be- Situationen, diese zu ändern. wältigt hat. Wenn auch mit Kollateralschä- Was sie jetzt ändern müsste, liegt auf der den, wie der Aufteilung der Gläubigen in Hand, wenn sie nicht einen schlimmen allzuständigen Klerus und unzuständige Schrumpfungsprozess erleiden will: sie Laien, der Herrschaft des Klerus, der min- muss engagierte „Laien“ mit der Seelsorge derbewerteten Rolle der Frauen usw. Aber und der Gemeindeleitung beauftragen (d.h. Kirche funktionierte und konnte eine zent- sie „ordinieren“). Dies forderten viele Teil- rale gesellschaftliche und politische Rolle nehmer der Amazonassynode, dies ist auch spielen. Und diese Kirchenstruktur wurde hierzulande notwendig, wenn man nicht dann auch theologisch begründet, im Rück- unter Beibehaltung des klerikalen Den- griff auf oder gleich Gott, so dass sie kens, wie im Bistum Trier und anderswo, angeblich nicht veränderbar ist. die Strukturen schlicht der verringerten Dabei zeigt die wissenschaftliche Theologie Zahl von Priestern anpassen will und riesi- schon seit längerem, dass das nicht richtig ge Großgemeinden schafft – ein Prozess, ist. Zwar ist die Kirche im Gefolge der Ver- der im Bistum Trier anscheinend von Rom kündigung und des Lebens Jesu entstan- gestoppt wurde. den – und kann insofern Kirche Jesu Unter dem Begriff Laien sind – gemäß den Christi genannt werden -, aber Jesus selbst gesellschaftlichen emanzipatorischen Um- hat die Kirche nicht gegründet und deswe- brüchen – auch die Frauen zu subsumie- gen auch keine Anweisungen für ihre ren, die faktisch schon jetzt in vielen Ge- imprimatur, Heft 4, 2019 Introitus / Theologie 208

meinden kirchliches Leben aufrechterhal- ‚Dubia‘ Papst Franziskus vorgeworfen ha- ten. Mit anderen Worten: Die Kirche muss ben, er habe in der Frage der Zulassung jetzt die Konsequenzen aus der neuen glo- von Geschiedenen und Wiederverheirateten balen Situation ziehen. Besser: sie müsste zu den Sakramenten die immerwährende es tun. Wie es aber aussieht, wird sie hier- Lehre der Kirche preisgegeben“ (S. 10). für noch viel Zeit brauchen. Ob die dadurch Zum anderen nennt er jene „Kreise unter in der Zwischenzeit entstehenden Schäden den Kardinälen, die „kaum verdeckt (…) später wieder rückgängig gemacht werden dem Papst vor(warfen), der verbindlichen können, ist noch unklar. Lehre der Kirche zu widersprechen“ (S. 189) und die wie Erzbischof Marcel Lefebv- re den Papst bezichtigen, dass „die Kirche *** des II. Vatikanums die rechte Lehre nicht mehr gewährleistet“ (S. 10). Neuner greift die Grundlagen und Entwick- Rudolf Uertz lung der Dogmen und theologischen Leit- bilder des Vatikanum I auf, die schließlich zum Beschluss der Unfehlbarkeit des Paps- Der lange Schatten des Ersten tes und des Jurisdiktionsprimats durch die Vatikanums Mehrheit der Bischofssynode von 1869/70 geführt haben. Er verfolgt die Wirkungen der Konzilsbeschlüsse in den kirchlichen (Mehr als eine) Rezension zu dem Verlautbarungen der Folgezeit und zeigt gleichnamigen Buch von Peter auf, wie diese nach dem „Aufbruch“ der 1960er Jahre die „konservative Wende“ in Neuner: Der lange Schatten des I. Gang setzten und die wichtigsten Reform- Vatikanums – Wie das Konzil die beschlüsse des II. Vatikanischen Konzils Kirche noch heute blockiert, Frei- revidierten. burg i. Br. 2019, 240 S Zur Lage des Glaubens ______So konnte Kardinal Joseph Ratzinger als Präfekt der Glaubenskongregation in sei- Peter Neuner zeigt, wie das I. Vatikanische nem Buch Zur Lage des Glaubens (Mün- Konzil noch heute die Kirche blockiert. Vor chen 1985, S. 26) feststellen: „Es ist un- 150 Jahren, am 8. Dezember 1869, eröffne- möglich (‚für einen Katholiken‘) sich für te Papst Pius IX. das I. Vatikanische Kon- oder gegen Trient und Vatikanum I zu ent- zil. Aus diesem Anlass hat Peter Neuner, scheiden. Wer das II. Vatikanum bejaht, so emeritierter Professor für Dogmatik, Dog- wie es sich selbst eindeutig geäußert und mengeschichte und Ökumenische Theologie verstanden hat, der bejaht damit die ge- an der Universität München, es unter- samte verbindliche Tradition der katholi- nommen, den Dogmen und dogmatischen schen Kirche, insonderheit auch die beiden Konstitutionen nachzuspüren. Dabei will er vorangegangenen Konzilien. (…) Jede die „Wurzeln in den Konflikten und den Auswahl zerstört hier das Ganze (eben die Einseitigkeiten rund um das I. Vatikanum“ Geschichte der Kirche), das nur als unteil- genauer in den Blick nehmen und die bare Einheit zu haben ist.“ Wirkweisen des Konzils von 1869/70 in den Neuner sieht es als seine Aufgabe an, die Dokumenten des II. Vatikanischen Konzils äußerst komplizierte und vertrackte Glau- (1962–1965) verfolgen. benslehre und theologische Denkweise des Aber wer beruft sich eigentlich heute noch 19. Jahrhunderts in dem bereits in Agonie auf das I. Vatikanum, das in eigenartiger liegenden Kirchenstaat für seine Leser Weise mit dem Zusammenbruch des Kir- plausibel zu machen. Im ersten Kapitel (A) chenstaates (754–1870) zusammenfällt? Herausforderungen des 19. Jahrhunderts Neuner verweist zum einen auf die vier zeigt er, was sich als Tradition der Kirche Kardinäle Walter Brandmüller, Joachim und ihres Lehramts herausgebildet hat. Es Meisner, Raymond Leo Burke und Carlo ist zum einen die Abwehr der Ideen der Caffara, die im September 2016 „in ihren Französischen Revolution, zum anderen

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der Kampf gegen die im Juli 1789 von der gisch-philosophischen System der Neuscho- Französischen Nationalversammlung an- lastik niederschlug, die an der mittelalterli- genommene Erklärung der Rechte des chen und frühneuzeitlichen Barockscholas- Menschen und des Bürgers. Diese waren tik anknüpfte. Ihre Leitideen als „der Ge- schon in dem Breve Pius VI. Quod aliquan- schichte enthobene(s) Wahrheitsverständ- tum (1791) und im gleichen Jahr in dem nis“ sollten „auch für die Gegenwart als Breve Caritas verurteilt worden, da die verbindlich erachtet werden“. Das wichtigs- Prinzipien der Menschenrechte „im Wider- te Kennzeichen der Neuscholastik ist der spruch zur Lehre über den Ursprung der Umstand, dass die Philosophie (d.h. die na- Staatsgewalt, die Religionsfreiheit und die türliche Erkenntnisfähigkeit und Sittlich- gesellschaftlichen Ungleichheiten stünden“ keit des Menschen) als integraler Bestand- (Roger Aubert). Nicht minder basieren die teil der Dogmatik fungierte. Die der Neu- antiliberalen Grundsätze und die Verdam- scholastik zuzurechnenden Theologen und mung der religiösen und politischen Frei- Philosophen standen in wesentlichem Ge- heiten, insbesondere die Subjektorientie- gensatz etwa zu den liberalen katholischen rung des Menschen auf den Beschlüssen Theologen der sogenannten Tübinger Schu- des Trienter Konzils (1545–1563) und sei- le (von Drey, Möhler, Staudenmaier, Hir- ner Abwehrhaltung gegenüber dem Protes- scher, Kuhn u.a.) und nicht zuletzt zu Ig- tantismus. naz von Döllinger (+1890) in München, dem entschiedensten Kritiker des Unfehl- Luthers Aufstand gegen die Auto- barkeitsdogmas. Die der Neuscholastik ver- bundenen Theologen ignorierten in ihrem rität scholastischen Renaissanceprogramm die Zum protestantischen Verständnis seitens bereits in der mittel- und spätmittelalterli- der katholischen Theologie im 19. Jahr- chen Theologie und Philosophie erreichten hundert bemerkt Neuer: „Luthers Aufstand Freiheitsideale und deuteten die unhisto- gegen die Autorität, so die vorherrschende risch interpretierten Normen und Leitli- katholische Deutung der Reformation, nien der Scholastiker (Thomas von Aquin) führte dazu, dass nun jeder seiner eigenen als „Wahrheit“, die zeitlos und unveränder- Vorstellung folgte, jeder wurde sein eigener lich gültig ist. Kirchenlehrer und Priester und Papst. Die „Als Partei schreckte die Neuscholastik vor Aufspaltung des Protestantismus in immer problematischen Aktionen nicht zurück. neue Freiheiten und Sekten war die unab- Man hat Krawalle gegen missliebige Profes- weisbare Folge“ der Reformation (S. 19). soren inszeniert“ und damit Bischöfen ei- Die Konsequenzen reichten weiter: Ratio- nen Vorwand geliefert, diese abzusetzen nalismus, Individualismus und Subjekti- und durch Vertreter der eigenen Disziplin vismus fungierten als Deutung der gesam- zu ersetzen. In diesem Klima entstanden ten neuzeitlichen Entwicklungen, die jede die Dogmen, Dekrete und Kirchengesetze Ordnung, sei sie kirchlicher, sei sie weltli- der katholischen Kirche, die für ein rundes cher Art, in Frage stellten. Die Päpste wa- Jahrhundert und darüber hinaus die Leit- ren bei ihren Bemühungen über die Wie- ideen für den Katholizismus, auch in sei- derherstellung der alten Ordnung nicht al- nen kulturellen und kirchlich-politischen leine. Von besonderem Einfluss waren die Ausprägungen sein sollten. politischen Entscheidungen des Fürsten Klemens von Metternich und des Wiener Das Dogma als Verteidigungslinie Kongresses (1814/15), dessen Restaurati- onsprogramm auch der Kirchenstaat (754– des Glaubens 1870) seine Wiederherstellung verdankte. Eine entscheidende Rolle bei der Durchset- zung der Neuscholastik und ihres Einflus- Die Neuscholastik: Neubetonung ses auf die Formulierungen der Konzilsde- krete und Konstitutionen spielte der Jesuit von Autorität und Gehorsam Josef Kleutgen (1811–1983), Professor für Seit etwa Mitte des 19. Jahrhunderts kam Rhetorik am Germanikum in Rom und es politisch wie kirchlich zur Neubetonung Konsultor der Index-Kongregation. „In sei- von Autorität und Gehorsam, ein geistiger ner ‚Theologie der Vorzeit‘ (1853–70) stell- Umschwung also, der sich in dem theolo- te er ein überzeitliches, ewiges und norma-

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tives Lehrsystem vor, von dem ausgehend Das im Gegensatz zur kirchlich-morali- er alle neuen theologischen Entwürfe als schen Fremdbestimmung stehende „Selbst- dem Zeitgeist verfallen bekämpfte.“ Trotz denkertum“ meint entsprechend jene frei- seiner „nach Kirchenrecht höchst schwer- heitlichen Werte, die mit der Personwürde wiegenden Verfehlung“ – er war in „einem umschrieben werden – Werte also, die mit Inquisitionsprozess (…) in Rom 1862 als dem Ende der Neuscholastik und dem tur- Häretiker verurteilt, nachdem er vielfach bulenten Aufbruch in den 1960er Jahren das Beichtgeheimnis gebrochen und Or- in Kirche und Gesellschaft entsprechend densschwestern in der Beichte sexuell auch in weiten Teilen des katholischen Kle- missbraucht hatte“ – wurde er im Vatikani- rus und insbesondere des Kirchenvolkes, schen Konzil als Berater der Glaubensdepu- Verbreitung fanden. tation herangezogen und hat einen ent- scheidenden Beitrag zur Formulierung der Enzyklika Humani generis (1950) Dogmatischen Konstitutionen Dei Filius ge- leistet, darunter die Unterscheidung von postuliert Unfehlbarkeit ordentlichem und außerordentlichem Abgeschlossen wird das Kapitel (B) mit Be- Lehramt“ (33f.). Beachtlich ist dabei, dass trachtungen zum Pontifikat Papst Pius Kleutgen sich bei seinen Vorlagen für die XII., der konsequent den „im I. Vatikanum Konzilskonstitutionen, näherhin dem Un- vorgezeichneten Weg weiter verfolgt“. Auch fehlbarkeitsdogma auf den savoyardischen diesem Papst erschien wie seinen Vorgän- Juristen und Laientheologen Joseph de gern im Amt die glaubensmäßige „Einheit“ Maistre und dessen Buch Vom Papst (frz. im Sinne „innerer Geschlossenheit“ als Paris 1819) stützte, der das theologisch be- wichtigstes Anliegen der Kirche. In seiner gründete System des Traditionalismus kon- Enzyklika Humani generis (1950) verur- zipiert hat, das auch in kirchlichen und teilt Pius XII. in Übereinstimmung mit dem kurialen Kreisen rezipiert wurde. Syllabus (1864) Pius‘ IX. (ein Verzeichnis Das Verhältnis von Offenbarung, Glauben von 80 Irrtümern, zu denen neben wirkli- und Vernunft sowie Natur und Übernatur chen Häresien wie Pantheismus, Natura- war im 19. Jahrhundert das große Thema lismus u.a. auch sogenannte Zeitirrtümer der Neuscholastik und der vornehmlich auf gehörten) auch zeitgemäße Forderungen der Basis ihrer Theologie definierten Dog- wie die Trennung von Kirche und Staat, men. „Den Rahmen für alle Aussagen des das Ende der weltlichen Herrschaft des Konzils bilden die Begriffe Autorität, Ge- Papstes im Kirchenstaat sowie die Presse- horsam, Souveränität (gemeint: des Paps- und Meinungsfreiheit. tes). Sie umgrenzen den Raum innerhalb Humani generis postuliert den päpstlichen dessen das I. Vatikanum dachte. Begriffe Anspruch auf „Unfehlbarkeit“. Neuner wie Freiheit, Autonomie, Selbstdenkertum kann den Ansprüchen Pius XII. nicht fol- und damit auch Personalität waren von gen und spricht von „Quasi-Unfehlbarkeit“. vornherein negativ besetzt.“ Diese Begriff- Der Dogmatiker sieht in dieser Konstrukti- lichkeiten und die von ihnen geprägten he- on des ordentlichen Lehramtes „ein sehr teronomen Normen und bindenden Geset- problematisches kirchliches Lenkungs- ze, stellen, so Neuner, „eine Grenze dar für instrument“, das dazu verleiten mag, dass eine heutige Rezeption und für die Verbind- Päpste gemäß den Konstitutionen des I. Va- lichkeit der Aussagen für die Gegenwart.“ tikanischen Konzils persönliche theolo- Neuner versteht die Gegenüberstellung der gisch-religiöse Vorlieben zu Dogmen bzw. konträren Wertebenen, die (päpstliche) Au- zu dogmatisch imprägnierten Glaubenssät- torität und Souveränität einschließlich des zen dekretieren. dem Papst und der Kirche geschuldeten Mit Humani generis war eben die von J. Gehorsams einerseits und die persönliche Kleutgen formulierte zweite Variante päpst- Freiheit, Autonomie und das Selbstdenker- licher Unfehlbarkeit gemäß den Kriterien tum (Personalität) andererseits als didakti- des „ordentlichen Lehramtes“, das keines sche Hinweise. Sie sollen dem Leser den Konzils- oder Synodenbeschlusses bedurfte, Zugang zum Verständnishorizont des neu- erstmals von Pius XII. praktiziert worden, scholastisch-dogmatisch perfektionierten mit der schlichten biblischen Begründung: Glaubens-, Kirchen-, Moral- und Pastoral- „Wer euch hört, hört mich (Lk 10,16)“. systems des 19. Jahrhunderts erleichtern. Meistens gehöre auch das, so der Papst wei-

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ter, „was in Enzykliken vorgelegt und ein- absetzen lassen. Die von ihm eingesetzte geschärft wird, schon anderweitig zur ka- gemischte Kommission wurde von den tholischen Lehre“. Und so rechnet Neuner Kardinälen Ottaviani und Bea geleitet. So Pius XII. noch ungeschmälert der Lehre kann Neuner zeigen, dass bei aller Bemü- des Vatikanum I zu. Denn „die dort pro- hung um eine Kontinuität mit dem I. Vati- klamierte Autorität der Hierarchie wird kanum das II. Vatikanum „eine deutlich nun konkret im kirchlichen Lehramt“. Al- veränderte Konzeption vorgetragen hat. Of- lein das Lehramt „hat die Vollmacht, die fenbarung und Glaube erscheinen nicht Rechtgläubigkeit einer Lehre zu beurteilen mehr als Vermittlung von übernatürlichem (…). Die theologischen Positionen des Ers- Wissen, das dem Menschen als solchen ten Vatikanums sind damit zu einem Ab- nicht oder nur schwer zugänglich wäre, schluss gekommen.“ sondern sie werden dargestellt als dialo- gisch-personales Geschehen.“ So sieht Wal- Karl Rahner: Unbrauchbarkeit ter Kasper in der „Konstitution über die Of- fenbarung ‚im Grunde eine neue Theologie‘, der Konzilsvorlagen der Kurie die anderen Regeln folgt als die überkom- Das dritte Kapitel (C) Das II. Vatikanum im mene Neuscholastik“ (116 f.). Schatten des Vatikanum I und die konser- vative Wende beginnt mit Abschnitt (a) Ein Theologische Neuansätze des turbulenter Aufbruch. Von einem Aufbruch ist dann aber im Text keine Rede, sieht Konzils man von einem Hinweis auf Hans Küngs Neuansätze sieht Neuner auch in den Vor- euphorische Konzilsstimmung ab. Hier ist stellungen des Konzils vom Bild von der Neuner in einer Verlegenheit, insofern er, Kirche, der Kirche als Mysterium, der Kir- wie im Vorwort angekündigt, eigentlich che als Volk Gottes. Neu ist der Blick auf nichts zum Aufbruch der 1960er Jahre bei- ihre Ämter, ferner das Verhältnis von Pri- tragen möchte, weil er dazu ein eigenes mat und Kollegialität der Bischöfe sowie Buch geschrieben hat. das Verhältnis von Ortskirche und Univer- Dieser Abschnitt beginnt eigentlich erst mit salkirche. In der Lehre von der Unfehlbar- dem Hinweis auf die Mitglieder der vorbe- keit sieht der Dogmatiker „nicht ein per- reitenden Kommissionen, „die aus aller sönliches Prärogativ des Papstes“, vielmehr Welt eingegangenen Vorschläge in ihr neu- sieht er diese Lehre im „im Glaubenssinn scholastisches System einbezogen“ (108). der Kirche“ gründen (S. 118 ff.). Wesentli- Der zum Konzilsberater berufene Karl che Neuansätze finden sich in der Erklä- Rahner hielt die von der Kurie vorbereite- rung der Religionsfreiheit Dignitatis hu- ten Texte für „unbrauchbar“. In einem manae und nicht zuletzt in der Pastoral- Brief an Kardinal Franz König schrieb er: konstitution Gaudium et spes. „Ergebnisse einer dürftigen Schultheologie: Ein neuer Klerikalismus zeigt sich für richtig, ausgewiesen mit genügend vielen Neuner in der Diskussion über Fragen des Zitaten aus päpstlichen Erklärungen der priesterlichen Zölibats und der Geburten- letzten Jahrhunderte, die vermutlich von kontrolle. Beide Diskussionsfelder wurden denselben Männern verfasst waren, aber in der Konzilsaula nur andiskutiert – mit bar jedes Charismas einer hellen, siegrei- heftiger Kritik des belgischen Kardinals chen, Geist und Herz der Menschen von Léon-Joseph Suenens und weiterer Bischö- heute gewinnenden Verkündigung. (…) fe an der Rückständigkeit der Kirche in se- Nein, diese Schemata (…) sind Elaborate xual- und beziehungsethischen Fragen. der gemächlich Selbstsicheren, die ihre Beide Themen wurden von Papst Paul VI. Selbstsicherheit mit der Festigkeit des daraufhin abgesetzt. Zum Zölibat bemerkte Glaubens verwechseln (…)“ (S. 108f.). der Papst: „Eine öffentliche Diskussion Johannes XXIII. hat denn auch den Text- über dieses Thema, das höchste Klugheit entwurf Über das Verständnis von Offenba- erfordert und von so großer Wichtigkeit ist, rung und Glaube, der „die Irrtumslosigkeit ist durchaus nicht opportun. Es ist unsere der Heiligen Schrift in allen geistlichen und Absicht, dieses alte, heilige und providenti- weltlichen Dingen (behauptete) und (…) elle Gesetz (…) mit allen unseren Kräften die Methoden der historisch-kritischen zu bewahren.“ Exegese“ verwarf, noch im November 1962

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Päpstliches und bischöfliches La- sächliche Ehezweck, mit dem die Verwen- vieren in der Zölibatsfrage dung empfängnisverhütender Mittel unver- einbar ist“ (S. 147f.). Die Pastoralkonstitu- Allen Erwartungen, die sich an eine Locke- tion Gaudium et spes des II. Vatikanums rung der Zölibatspflicht knüpften, „setzte „vertrat eine personale Sicht der Ehe und Papst Paul VI. in der Enzyklika Sacerdota- der menschlichen Sexualität (GS Nr. 47– lis caelibatus (1967) ein Ende“ (S. 144f.). 52). Entsprechend erschien hier die Ehe Das päpstliche Rundschreiben beginn mit als Liebesgemeinschaft „nicht mehr allein den programmatischen Worten, „der pries- als Institution zur Zeugung der Nachkom- terliche Zölibat, den die Kirche wie einen men. Folglich sprach das II. Vatikanum strahlenden Edelstein in ihrer Krone hütet, von verantworteter Elternschaft und bejah- steht auch in unserer Zeit in hohem, eh- te dabei auch die Familienplanung: Ehe- renvollen Ansehen“, er ist eine der Kirche paare sollen „auf ihr eigenes Wohl wie auf Christi „wesensgemäße Einrichtung“ (Nr. das ihrer Kinder … achten“. „Doch die 1). Aussage bezüglich der Methoden der Ge- Immerhin: Anträge auf „Rückversetzung in burtenregelung behielt sich der Papst vor den Laienstand“ hat Paul VI. „verhältnis- und untersagte dem Konzil eine Diskussion mäßig großzügig gehandhabt“. In der Bi- hierüber.“ schofssynode 1971 zum Thema „Der pries- Im Juli 1968 erschien die Enzyklika Hu- terliche Dienst und die Gerechtigkeit in der manae vitae. Mit ihrer Verurteilung der Welt“ wurde, herausgefordert durch sicht- künstlichen Geburtenregelung bedeutete bar zunehmenden Priestermangel, die Zöli- sie „einen Einschnitt von kirchengeschicht- batsverpflichtung dann doch thematisiert. lichem Ausmaß. Nicht nur, dass sich die Der Papst war nun bereit, Veränderungen Betroffenen fast durchwegs nicht an die vorzunehmen. Doch scheiterte diese Ab- Anweisungen des Papstes hielten, viele Ka- sicht nunmehr an den Bischöfen, die mehr- tholiken, die die Forderungen der Enzykli- heitlich gegen den Papst votierten. Kardi- ka nicht erfüllen konnten oder wollten, nal Suenens kommentierte: Das „Verbot ei- fühlen sich von der Kirche nicht ernst ge- ner Diskussion über den Zölibat sei ‚reich- nommen und haben diese offen oder de fac- lich spät, fünf Jahre zu spät‘ aufgehoben to verlassen. Kardinal Martini, der ehema- worden“. Der Kardinal war überzeugt, „die lige Erzbischof von Mailand klagte: ‚Das Weihevollmacht lege den Bischöfen auch Traurige ist, dass die Enzyklika Mitschuld eine ‚Weihepflicht‘ auf. Diese sei theolo- daran trägt, wie viele die Kirche als Ge- gisch höher zu werten als die Rechtsvor- sprächspartnerin oder Lehrerin gar nicht schrift des Zölibats. Weihepflicht bestehe mehr ernst nehmen (…). Viele Menschen für die Bischöfe dort, wo der Priesterman- haben sich von der Kirche entfernt und die gel sie einfordert“ (S. 147). Kirche von den Menschen. Es ist großer Neuner merkt an, dass bei dieser Bischofs- Schaden entstanden‘“ (S. 150). synode von 1971 noch nicht abzusehen Bemerkenswert ist, dass Paul VI. (1963– war, dass mit dem Beginn des Pontifikats 1978), wiewohl er sich für die Argumente von Papst Johannes Paul II. (seit 1978) Kardinal Ottavianis innerhalb der noch von „dieses Thema kirchenoffiziell nicht mehr Johannes XXIII. eingesetzten Bischofs- angesprochen werden durfte und auch die kommission entschied, eine wesentlich li- Dispenspraxis wurde seitdem sehr restrik- beralere bzw. pragmatischere Haltung in tiv gehandhabt“ (S. 147). der Frage der Empfängnisverhütung ver- trat, als seine Nachfolger im Papstamt. Die Enzyklika Humanae vitae Papst Pauls VI. (1968) Rückbesinnung auf das I. Vatika- Die traditionelle Ehelehre „erachtete die num Zeugung gleichsam als Pflicht, die in dem Im Kapitel (D) Eine erneute Rückbesin- ältesten, bei der Erschaffung des Menschen nung auf das I. Vatikanum in den Pontifi- gegebenen, göttlichen Gebot gründet, ‚seid katen von Johannes Paul II. und Benedikt fruchtbar und mehret euch‘. In der Enzyk- XVI. konstatiert Neuner trotz aller Proble- lika Casti connubii (1930) von Papst Pius‘ me in der Rezeption des II. Vatikanums die XI. erschien sie als der erste und haupt- „Kirche als communio deutlich verändert“.

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„Austausch, Dialog, und Bemühung um ei- valenzen und Widersprüche im Pontifikat nen Konsens sind in breitem Umfang an Johannes Pauls II. Da ist zunächst positiv die Stelle der Betonung gottgegebener Auto- zu nennen sein intensives Engagement für rität und der Forderung nach Gehorsam die Welt, das zeige, dass er „Anstöße aus getreten. Insbesondere auf der Ebene der der Pastoralkonstitution: Gaudium et spes Pfarreien sind Laien aktive Glieder der Ge- des II. Vatikanums uneingeschränkt auf- meinden geworden, die das Glaubensleben genommen hat“. Weiterhin zu nennen sind am Ort in wesentlicher Weise mitttragen seine vorbehaltlose Ablehnung des Kom- und gestalten. Sie verstehen sich in aller munismus. Durch seine Unterstützung der Regel nicht mehr als unmündige Schafe, die Bewegung bzw. Gewerkschaft Solidarność den Weisungen ihrer Hirten und Oberhir- und seine besonnene politische Haltung ten zu folgen hätten. Dialog ist zum Schlüs- habe wesentlich dazu beigetragen, dass „die selbegriff in der Kirche geworden, die Frei- Auseinandersetzungen in Polen ohne Blut- heit eines Christenmenschen haben auch vergießen verlaufen sind“ (S. 166). Katholiken für sich entdeckt und fordern So kann Neuner Michail Gorbatschow, den sie ein“ (S. 163). ehemaligen Generalsekretär der kommu- Doch in den Themenkreisen, die das I. Va- nistischen Partei der Sowjetunion zitieren, tikanum dominierten, „also in den Proble- nach dessen Urteil „der Zusammenbruch men von Offenbarung und Glaube, sowie in der kommunistischen Hemisphäre nicht den Papstdogmen“ sieht Neuner „in den zuletzt auch dem Engagement des Papstes kirchenoffiziellen Dokumenten die Neube- zuzuschreiben ist“ (S. 166). Aber dieser sinnung des II. Vatikanums nur sehr par- positiven Bilanz, der weitere Leistungen tiell rezipiert“. Doch sind im Kodex (CIC) des polnischen Papstes anzuführen wären, von 1983 und im Katechismus der Katholi- stehen die negativen Seiten seines Pontifi- schen Kirche (1993) an zentralen Stellen kats gegenüber: die Haltung des Papstes in genau jene Passagen festgehalten, „die das der Schwangerenkonfliktberatung und der II. Vatikanum unverändert vom I. Vatika- Druck auf die deutschen Bischöfe, aus die- num übernommen hat“ (S. 163). Eine wis- ser auszusteigen. senschaftliche Arbeitsgruppe kommt zu Im Kapitel das Amt und die Laien schildert dem Urteil: „Die Gesetzestexte selbst wie- der Dogmatiker die Auseinandersetzung derholen im Großen und Ganzen die For- um die Formen des Priestertums, die prob- mulierungen aus (der dogmatischen Kon- lematische Verhältnisbestimmung von stitution über die Kirche) Lumen gentium, Priestern und Laien (der Priester in per- die im I. Vaticanum und dessen maximalis- sona Christi steht mit seiner Autorität den tischer Lesart ihren Ursprung haben.“ Laien in den Gemeinden gegenüber) und Als weiteres Beispiel für den Einfluss des I. schließlich die Maßnahmen und Vorschrif- Vatikanums bezeichnet Neuner die „Fest- ten im Zusammenhang mit der Stärkung schreibungen der päpstlichen Vollmacht im des klerikalen Priesterbildes. CIC“ von 1983; diese habe in der kirchen- „Besonders einschneidend und folgenreich rechtlichen Diskussion bis zu der These ge- war die Veränderung der Vorschriften zur führt, dass die Aussagen des II. Vatika- Berufung von Theologieprofessor/innen/en.“ nums ausgehend vom Jurisdiktionsprimat Denn oft genug haben Bischöfe hinsichtlich interpretiert werden müssten. Danach sei der Lehre und des Lebenswandels der Kan- es nicht statthaft, die Festlegungen des Ko- didaten Einwände erhoben und das Nihil dex daraufhin zu befragen, ob sie mit den obstat verweigert. Aussagen und dem Geist des II. Vatika- „Das römische ‚Akkomodationsdekret‘ von nums übereinstimmten. Vielmehr sei es 1983 hat vorgeschrieben, dass der Bischof dem kirchlichen Gesetzgeber darum gegan- bei Professoren, die erstmals auf Lebens- gen, die unbeschränkte Jurisdiktionsvoll- zeitstellen berufen werden sollen, die Zu- macht des Papstes auch weiterhin rechtlich stimmung Roms einholen muss.“ Die Ver- festzuschreiben (S. 163ff.). änderung der Rechtslage erfolgte entgegen dem ausdrücklichen Wunsch der deutschen Johannes Paul II. Weltauftrag o- Bischofskonferenz“. Inzwischen hat Papst der Weltbischof? Franziskus, so ergänzt Neuner, das massi- ve Zentralisierungsbestreben der vatikani- In diesem Abschnitt zeigt Neuner die Ambi schen Kongregation teilweise korrigiert

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und den Bischofskonferenzen größeres Ge- aber nicht durch die Offenbarung gedeckt wicht zuerkannt“ (S. 180). Auch häuften sein müssen. Im Blick waren moralische sich die Fälle, in denen die römische Zu- Vorschriften, insbesondere solche zur Ge- stimmung ohne nachvollziehbare Gründe burtenkontrolle (181f.). Auf das Motu verweigert wurde, nicht selten offensicht- proprio Ad tuendam fidem (1998) Johan- lich aufgrund von Denunziation. Die Bi- nes Pauls II. und den lehrmäßigen Kom- schöfe waren ebenso machtlos wie die Kan- mentar dazu von Kardinal Ratzinger geht didaten. Neuner nicht ein.

Die „Kölner Erklärung“ – Für eine Weiterführung durch Benedikt offene Katholizität (1989) Einen gewissen Abschluss im Prozess der Die „Kölner Erklärung“ vom Frühjahr zunehmenden Ausdehnung und Intensivie- 1989 von über 220 katholischen Theologie- rung des Anspruchs des hierarchischen professor/inn/en richtete sich gegen die Lehramtes brachte die römische „Instruk- Praktiken in der Erteilung des Nihil Obstat, tion über die kirchliche Berufung des Theo- gegen vatikanische Äußerungen zu den logen“, vom 24.05.1990. Darin heißt es: Vollmachten des kirchlichen Lehramts, „Als Nachfolger der Apostel empfangen die auch bezüglich der Sexuallehre der Kirche, Hirten der Kirche vom Herrn (…) die Sen- sowie einige Bischofsernennungen, die un- dung, alle Völker zu lehren und das Evan- ter offener Missachtung der Ortskirchen er- gelium jedwedem Geschöpf zu verkünden folgten. „Dieser Protest wurde von den rö- (…). Ihnen ist damit die Aufgabe anver- mischen Behörden als Ungehorsam und traut, das Wort Gottes zu bewahren, darzu- Verstoß gegen die Grundlage der Theologie legen und zu verbreiten“. Weiter heißt es: als Glaubenswissenschaft gewertet“ (S. Das Lehramt muss das Volk Gottes „vor 181). Abweichungen und Verirrungen schützen Der frühere Papst Benedikt XVI. bezeichne- und ihm die objektive Möglichkeit garantie- te noch im April 2019 in einem Aufsatz im ren, den echten Glauben jederzeit und in „Klerusblatt“ zum Missbrauchskandal diese den verschiedenen Situationen irrtumsfrei Theologenerklärung als „Aufschrei gegen zu bekennen“ (Nr. 14). „Diese Aufgabe be- das kirchliche Lehramt“. „Konsequenz die- trifft nicht allein die Dogmen, sondern ser und weiterer Erklärungen war eine auch definitive Aussagen, insbesondere mo- immer weitergehende Verschärfung der Be- ralische Normen und authentische Lehr- tonung des Lehramtes und der Forderung entscheide. Wenn hierarchisches Lehramt nach Gehorsam. In diesem Kontext ist die und theologische Erkenntnis nicht über- Einführung des neuen Glaubensbekennt- einkommen, ist der Theologe gehalten, dem nisses bzw. des Treueides zu sehen, der bei Lehramt seine Schwierigkeiten vorzutra- der Übernahme eines kirchlichen Amtes zu gen. Auf keinen Fall wird er ‚auf die Mas- leisten ist.“ senmedien zurückgreifen, sondern viel- mehr die verantwortliche Autorität anspre- Ein besonderes Kapitel ist die Professio fi- chen‘ (Nr. 30). Dass nicht unfehlbare Lehr- dei (1989). Sie betrifft vor allem Theologen aussagen irrig sein oder irrig gewesen sein in bestimmten Diensten der Kirche. Sie ent- können, soll jedenfalls nicht in die Öffent- hält zunächst das Credo von Nizäa und lichkeit kommen“ (S. 182). Konstantinopel. „Der dritte Abschnitt spricht vom authentischen Lehramt des Im Kapitel (VI.) Weiterführung durch Be- Papstes und des Bischofskollegiums, dessen nedikt XVI. zeigt Neuner, dass Kardinal Äußerungen man ‚mit religiösem Gehorsam Ratzinger schon bald nach seiner Wahl des Willens und Verstandes‘ anzuhängen zum Papst im Dezember 2005 seine habe“ (S. 181). In einem weiteren Ab- „Grundsätze für eine rechte Interpretation schnitt heißt es: „Mit Festigkeit erkenne des II. Vatikanischen Konzils“ umriss: „Al- ich auch an und halte an allem und jedem les hängt ab von einer korrekten Auslegung fest, was bezüglich der Lehre des Glaubens des Konzils oder – wie wir heute sagen und der Sitten von der Kirche endgültig würden – (…) von seiner korrekten Deu- vorgelegt wird.“ Es handelt sich demnach tung und Umsetzung“. Dabei machte der um Aussagen „über Glauben und Sitten, die Papst eine „Hermeneutik der Diskontinui- vom Lehramt ‚definitiv‘ vorgelegt wurden, tät und des Bruches“ aus, die Verwirrung

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gestiftet habe. Sie müsse einer „Hermeneu- der Korrespondenz 71, 2017, H. 2, S. 13ff.) tik der Reform“ weichen. Der Schein von und der Moraltheologe Stephan Goertz (als Diskontinuität konnte Neuner zufolge ent- Vertreter der autonomen Moral) stehen auf stehen, „weil sich die Kirche im Konzil, wie dem Boden des Menschen als moralisches der Papst ausführte, in ihrem Verhältnis und glaubendes Subjekt und damit im Kon- zu den Wissenschaften, zum modernen trast zu den heteronomen dogmatischen Staat und zur religiösen Toleranz neu posi- und moraltheologischen Normen und Leit- tionieren müsse.“ Neuner: Diese Aussagen bildern der Neuscholastik und ihrer späten sollten „Befürchtungen zerstreuen, die Kir- Adepten. So kommt in dieser existenzialis- che selbst habe sich verändert und bislang tisch-theologischen Diskussion die gegen- gültige Lehraussagen seien preisgegeben wärtige geistig-sittliche und religiöse Situa- worden. Damit band der Papst die Interpre- tion angesichts des Zusammenbruchs der tation des Konzil eng an die Lehre von der Neuscholastik und des Endes der Metaphy- Kirche, die weithin vom I. Vatikanum (…) sik anschaulich zur Sprache. bestimmt war“ (S. 185). Zugleich werden in dieser aktuellen Debatte die kontroversen Positionen zwischen tra- Gegenwärtige Problemstellungen ditionalistisch-konservativen theologischen Positionen, die noch weitgehend auf die ge- und Kontroversen kennzeichneten lehramtlichen Positionen Mit dem Neuansatz durch Papst Franziskus gestützt sind (Helmut Hoping, in: Herder (E I) und den innerkirchlichen Kontrover- Korrespondenz 72, 2018, H. 4, S. 47ff.) sen beginnt das Schlusskapitel; mit dem und einer liberalen Theologie deutlich. Einschub (E II) Die „Diktatur des Relati- Striet resümiert seine Gegenposition zur vismus“ beleuchtet Neuner die „program- traditionellen, lehramtlich basierten dog- matische Bedeutung“ der dichotomischen matischen Theologie: Redeweise des früheren Papstes: Der ent- „Der traditionell auf einer von außen er- sprechende Vorwurf des Papstes reicht „bis gangenen Offenbarung gegründete Glaube in die Politik hinein, die nicht mehr nach ist erschüttert. Das betrifft die Moral, es be- Wahrheit fragt, sondern allein noch nach trifft auch die Dogmatik. Mit der Metaphy- Machbarkeit und Mehrheiten. Dieser (at- sik zerbricht die Überzeugung von einer mosphärische) Relativismus stellt nach Naturordnung, die als eine ‚von Menschen Ratzinger/Benedikt „die herrschende Philo- als Gottes Wille ausgegebene Schöpfungs- sophie der Gegenwart“ dar – eine negative ordnung‘ sich versteht. Es entfällt die Theorie, die „letztlich zur Abschaffung des Überzeugung von der Gottesebenbildlich- Menschen“ führe (S. 193f.). keit des Menschen, insofern sich damit Ausführungen über den Missbrauchsskan- vorgegebene Normen verbinden, es entfällt dal und seine ekklesiologischen Implikati- eine Anthropologie unter dem Vorzeichen onen (E III), Kontroversen über die Frei- der Sünde und eine an der Sünde orientier- heitstheologie (IV), die Frage nach dem te Soteriologie. Der Mensch ist nicht sün- Dogma und seiner Entwicklung (V) sowie dig, sondern schwach“ (S. 199). Der Zu- Fragen zum Fortschritt in der Ökumene sammenbruch der Metaphysik hat „der (VI) beschließen zusammen Überlegungen Möglichkeit eines freiheitlichen Glaubens zu einer relecture (VII) das hier vorgestell- Platz geschaffen. Gott ist nicht denknotwe- te Werk. nig, wohl aber denkmöglich. Auch wenn man demnach in der Moderne keine Got- Resümee tesgewissheit mehr erreichen kann, lässt sich doch eine ‚durchdachte und gelebte Den dogmatisch-fundamentaltheologisch Hoffnung‘ entfalten.“ Die neuzeitliche interessantesten Teil des Schlusskapitels Wende zum Subjekt und damit die Besin- bilden die Kontroversen um die Freiheits- nung „auf die Würde des Menschen können theologie. Diese Ausführungen, bei denen nun zum Ausgangspunkt theologischer Re- sich Peter Neuner weitgehend auf Magnus flexion werden“ (S. 200). Striet stützt, bilden den Kontrast zu den theologisch-dogmatischen Engführungen, von denen das Buch so zahlreich berichtet. *** Der Fundamentaltheologe Striet (in: Her-

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Norbert Lüdecke Kirchenkonstitution das Kapitel über die Hierarchie hinter das über das Volk Gottes platziert. Allerdings war zuvor schon die Liturgie als inszenierte Ekk- göttliche Stiftung als hierarchische Gesell- lesiologie schaft klargestellt worden (LG 8a). Die Gleichheit aller Gläubigen hat mit der un- seres Grundgesetzes nichts zu tun. Es ist Eine Sensibilisierung für den Zu- vielmehr eine „wahre“ Gleichheit, die alle sammenhang von Liturgie und standes- und geschlechtsbedingten Mehr- und Minderberechtigungen durchdringt, Ekklesiologie. aber bestehen lässt (LG 32c), also Wür- degleichheit ohne Gleichberechtigung ______meint. Und um von allen Gläubigen hierar-

chieverträglich ein gemeinsames Priester- Ein Disput zwischen den Liturgiewissen- tum aussagen zu können, wurden nicht schaftlern Benedikt Kranemann (Erfurt) Priester von Nichtpriestern abgegrenzt, und Helmut Hoping (Freiburg) in der sondern der Priesterbegriff verdoppelt und „Herder-Korrespondenz“ (Mai/Juli 2019) vom gemeinsamen (Tauf-)Priestertum ein veranlasste den Bonner Kirchenrechtler wesensverschiedenes hierarchisches (Wei- Norbert Lüdecke, seinen Vortrag, den er he-)Priestertum unterschieden (LG 10). 2004 vor der Arbeitsgemeinschaft der Li- Immer sollte bewusst bleiben, dass die turgiewissenschaftler über den Zusammen- kirchliche communio keine Gemeinschaft hang von Liturgie und Ekklesiologie aus von Gleichen ist, sondern eine aus zwei ei- kirchenrechtlicher Sicht gehalten hat, in nander hierarchisch zugeordneten Ständen Thesenform kurz in Erinnerung zu rufen bestehende communio hierarchica. Diese (in dem Blog Theosalon.blogspot.com) – konziliare Ekklesiologie hat der geltende und uns dankenswerterweise zum Abdruck Codex Iuris Canonici rezipiert und recht- anzubieten. Wir tun dies gerne - unter Bei- lich transformiert. seitelassung der einführenden, auf den o.g. 5. Das Gleiche geschah im Verständnis der Disput bezogenen Thesen - ab These 4. Liturgie. Hier griff das Konzil das Anliegen (Red.) der liturgischen Bewegung auf, Liturgie nicht mehr als isoliertes Klerikerhandeln 4. Das II. Vatikanische Konzil hatte nie die zu verstehen, sondern unter dem Leitbe- Absicht noch die Möglichkeit, die als gott- griff der participatio actuosa fidelium als verfügt geglaubte Sozialgestalt der Kirche gemeinsame aktive Teilnahme aller Gläubi- als ständisch gegliederte klerikale Wahlmo- gen. Zugleich betont das Konzil aber klar, narchie aufzugeben. Es wollte die Laien dass die Liturgie nicht nur eine gemein- aufwerten, sie als Getaufte ekklesiologisch schaftliche, sondern ihrer Natur nach auch sichtbar machen. Wurden sie davor als eine hierarchische Handlung ist (SC 26- Nichtgeweihte in der Regel verschwiegen, 32). Die Kirche ist das „unter den Bischö- sollten sie nun positiv in den Blick ge- fen“ geeinte und geordnete Volk. Deshalb nommen und thematisiert werden. Dazu kommen die Gläubigen auch unterschied- bemühte sich das Konzil um gemeinsame lich mit der Liturgie in Berührung, „je Aussagen über alle Gläubigen. Aus der Kle- nach … Stand, Aufgabe und tätiger Teil- rikerkirche sollte (wieder) die Gemein- nahme“ (SC 26). Jeder soll nur das tun, schaft aller Gläubigen werden. was ihm aus der Natur der Sache und nach Laien und vor allem die Taufe so theolo- den liturgischen Regeln zukommt (SC 28). gisch ins Wort und in die Sichtbarkeit zu In der Liturgie, d. h. jener Form der Got- heben, sollte und konnte jedoch nicht be- tesverehrung, die im Namen der Kirche deuten, die beiden Stände zu leugnen oder von rechtmäßig dazu beauftragten Perso- gar aufzuheben. Dieses Missverständnis nen vollzogen wird und von der kirchli- vermied das Konzil effektiv, indem es im- chen Autorität gebilligt ist, wird der ganze mer da, wo es Gemeinsames von allen Leib der Kirche sichtbar gemacht, darge- Gläubigen aussagte, mit Hilfe bestimmter stellt (SC 2; 7; 14; 26), und dies in heraus- Hierarchiesicherungen den Standesunter- ragender Form in der Eucharistie (SC 41; schied miteinbaute: Bewusst wurde in der cc. 834 § 1, 837 CIC).

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Der hierarchische Charakter aller Liturgie der Versammlung vorsteht, wird im Ver- zeigt sich nicht nur in der Verteilung der lauf der Feier nicht nur durch seinen be- Ordnungskompetenz in liturgischen Fra- sonderen Platz und seine Aufgabe, sondern gen, sondern auch in der konkreten Voll- immer wieder auch durch Kleidung, Wor- zugsgestalt. Weil in ihr die hierarchische te/Texte und Gesten/Gebärden deutlich. Zuordnung der Teilnehmenden erkennbar 7. Äußerlich wird die Verschiedenheit der sein muss, verlängert sich der wesensmä- liturgischen Akteure schon durch Kleidung ßige Unterschied zwischen gemeinsamem angezeigt: Das für jedwede besondere litur- und hierarchischem Priestertum, zwischen gische Aufgabe und damit auch für Laien Klerikern und Laien, ekklesiologisch folge- zulässige Gewand ist die Albe. Bei Kleri- richtig in die jeweils wesensverschiedene kern ist sie das Untergewand; sie tragen participatio actuosa „specifica“ der Kleriker ihre klerikalen Textilinsignien darüber. Die und der Laienmänner und -frauen. Exemp- Stola ist dem Priester und dem Diakon vor- larisch erlebbar ist dies in der Feier der behalten. Nur der Priester trägt sie unge- Eucharistie als höchster Form der Kirchen- kreuzt und gerade hängend, der Diakon darstellung für Katholik(inn)en jede Wo- von der linken Schulter quer zur rechten che, wenn sie sonntags ihre Rechtspflicht Seite. Nur dem Priester vorbehalten ist das zum Messbesuch erfüllen (c. 1247; Weltka- mantelartige messspezifische Obergewand, techismus Nr. 2181). Wer nicht bis zum die Kasel. Das den Diakon auszeichnende nächsten Sonntag warten will, kann seine Gewand ist die Dalmatik. Sie ist für einfa- liturgische Wahrnehmung und Sensibilität che Laien allerdings schwer von einer Ka- für den Zusammenhang von Liturgie und sel zu unterscheiden. Daher sollen Diakone Kirchenbild auch mit Hilfe des Domradios die Dalmatik nur tragen, wenn sie einem und seiner Videos, etwa des Pontifikalgot- Priester oder Bischof in der Messe assistie- tesdienstes zur Priesterweihe im Kölner ren. Hier sind sie durch ihre beschränkten Dom, schärfen. Funktionen deutlich identifizierbar. Wo sie 6. Wie sieht die spezifische participatio ac- selbst andere Gottesdienste leiten, sollen tuosa der Kleriker aus? Zelebrant ist einzig sie nur eine Albe mit Stola oder Talar, der gültig geweihte Priester. Er vollzieht die Chorrock und Stola tragen. Eucharistie aufgrund seiner Weihe in der Diakonen und Laien ist es verboten, in der Person Christi des Hauptes. Er agiert in Eucharistiefeier Gebete vorzutragen und amtlicher Sicht nicht nur „im Namen“ oder Handlungen vorzunehmen, die Priestern „in Stellvertretung“ Jesu Christi, sondern – vorbehalten sind. Beim Einzug ehren nur so die verschiedenen theologischen Ver- die Kleriker den Altar als Symbol für Chris- deutlichungen – „in der spezifischen, sak- tus durch den Altarkuss, nur der Priester ramentalen Identifizierung mit dem ewigen ggf. durch Inzens. Dann nimmt der Priester Hohepriester“, als alter Christus, als „Ab- den allein ihm vorbehaltenen Sitz ein, „und bild“ (imago) und „Zeichen“, als „anamne- macht so deutlich, daß er damit die Stell- tische Figur“ und „aus Fleisch und Blut be- vertretung des eigentlichen Einladenden, stehende Ikone“ Christi. Konstitutiv und nämlich Christus, übernommen hat“. Der unersetzlich für die Feier der Eucharistie Diakon darf neben ihm Platz nehmen. Nur ist allein die participatio „specifica“ der Bi- Kleriker dürfen die vorgesehenen Gruß- schöfe und Priester. Auch die Zelebration formeln – etwa „Der Herr sei mit euch“, ohne weitere Gläubige lässt die gemein- den österlichen Gruß des Auferstandenen – schaftliche Natur der liturgischen Hand- verwenden. Die Antwort „Und mit deinem lungen unbeschadet. Der Priester repräsen- Geiste“ gilt als Anerkennung der Vollmacht tiert dann Christus und die Gemeinde. Ka- des in der Person Christi Handelnden. Der tholisch gilt: Keine Eucharistie ohne Pries- Priester gibt regelmäßig die Hinweise und ter, wohl aber ohne andere Gläubige. Und leitet die Gebete der Gläubigen ein und insofern die Kirche aus der Eucharistie schließt sie ab. Nur ihm kommen die sog. lebt, sie in besonderer Weise als „elementa- Präsidialgebete und die sie begleitende O- re Ekklesiogenesis“ zu sehen ist, gilt auch: rantenhaltung zu. In diesen Orationen (Ta- Keine Kirche ohne Priester, wohl aber ohne ges-, Gaben- und Schlussgebet) wendet sich andere Gläubige. Die besondere Stellung der Priester mit ausgebreiteten Armen im des durch seine Weihe Christus gleichge- Namen der ganzen Kirche und der Feier- stalteten Priesters, in dem Christus selbst gemeinde an Gott. Das wichtigste Präsidial- imprimatur, Heft 4, 2019 Theologie 218

gebet ist das eucharistische Hochgebet als tät als Diener Christi und nicht als beson- Höhepunkt der gesamten Feier. Hier – so ders engagierte Laien“ wahrgenommen die Deutungen – handle der Priester „zu- werden (Direktorium Dienst und Leben der tiefst“ in persona Christi Capitis. Und wie- Diakone Nr. 28 und 40). derum besonders bei den Einsetzungs- 8. Von der spezifischen participatio actuosa worten stelle der Priester „seinen Mund der Kleriker und insbesondere des Pries- und seine Stimme jenem zur Verfügung, ters unterscheidet sich die der Gläubigen, der diese Worte im Abendmahlssaal gespro- die keine besondere liturgische Aufgabe er- chen hat“. Die verpflichtende Nennung des füllen. Sie nehmen teil, indem sie durch Papstes und des Diözesanbischofs im Hoch- „Amen“ oder andere Akklamationen zu- gebet bindet die Feiernden zurück in die stimmen und auf den Gruß und die Ge- communio hierarchica der Gesamtkirche betseinladungen des Priesters antworten. und legitimiert den Priester als authenti- Schließlich kommt die aktive Mitfeier der schen Zelebranten. Gemeinde zum Ausdruck im Allgemeinen Desgleichen ist es Sache des Priesters, die Schuldbekenntnis, im Glaubensbekenntnis, Verkündigung des Wortes Gottes zu leiten. in den Fürbitten (Allgemeines Gebet) und Die Homilie, d. h. die Predigt in der Eucha- im Vaterunser. Die Ausdrücke „Dialog“ o- ristiefeier, ist Klerikern vorbehalten. „Es der „Wechselrede“ für die liturgische Inter- geht nämlich nicht um eine eventuell bes- aktion zwischen Klerikern und Laien sind sere Gabe der Darstellung oder ein größeres insofern missverständlich, als die Initiative theologisches Wissen, sondern vielmehr um nur bei den Klerikern, insbesondere bei eine demjenigen vorbehaltene Aufgabe, der den Priestern liegt; sie sind Wortgeber und mit dem Weihesakrament ausgestattet wur- Wortführer. Laien können in der Eucharis- de.“ Nur Kleriker sind ordentliche Kom- tiefeier nicht aus eigenem Antrieb das Wort munionausteiler. Den Schlusssegen erteilt ergreifen, es wird ihnen erteilt. Sie hören der Priester. aufmerksam zu, lassen sich unterweisen, Auch der Diakon ist durch seine Weihe da- schließen sich im Gebet an, stimmen zu zu bestimmt, dem Volk Gottes in besonde- und antworten nach Aufforderung. Kenn- rer Weise zu dienen, aber nicht in persona zeichen ihrer Liturgieteilnahme ist die Re- Christi Capitis. In hierarchischer Gemein- aktion: Die laikale participatio ist actuosa, schaft mit Bischof und Priester ist der Dia- aber reactiva. Dem entspricht, dass für jene kon Begleiter und Assistent des Zelebran- liturgischen Ämter und Aufgaben, die nicht ten, insbesondere wenn dieser blind oder Klerikern vorbehalten sind, aufgrund von sonst schwach ist. Der Priester dient im Taufe und Firmung zwar ausnahmsweise Vorstehen, der Diakon dient, ohne vorzu- auch Laien herangezogen werden können, stehen. Exklusiv gegenüber Laien sind dem aber nur, sofern Kleriker einen entspre- Diakon lediglich vorbehalten der Vortrag chenden Bedarf sehen und diesen mit von des Evangeliums, ggf. die Homilie im Auf- ihnen als geeignet befundenen Laien de- trag des Zelebranten, die Einladung der cken möchten. Gläubigen zum Friedensgruß, der Zuruf 9. Das gilt gleichwohl für Männer und „Geheimnis des Glaubens“ nach den Her- Frauen unterschiedlich. Die Konturen der renworten und die Erhebung der eucharis- liturgischen Darstellung der Kirche werden tischen Gaben im Hochgebet sowie die Ent- durch die Einbeziehung des Geschlechter- lassungsworte. Alle übrigen liturgischen unterschieds verfeinert: Die Ämter des Lek- Aufgaben mit Ausnahme der Lektorenfunk- tors und des Akolythen können auf Dauer tion kommen vorrangig dem Diakon zu und und in einem liturgischen Akt (institutio) können nur ersatzweise von Laien erfüllt nur Männern übertragen werden. Denn üb- werden. Das Handeln des Diakons unter- ten Frauen diese Dienste in der unmittel- scheidet sich aufgrund seiner Weihe „we- baren Nähe des Zelebranten amtlich und sentlich von jedem liturgischen Dienst ..., auf Dauer aus, könnten sie der – in amtli- den Hirten den nicht geweihten Gläubigen cher Sicht – Illusion erliegen, selbst zum anvertrauen können“. Der Diakon leistet Priestertum berufen zu sein. dem Zelebranten „eine sakramentale und Für alle übrigen liturgischen Aufgaben somit verbindliche, wesentliche, unver- können Frauen herangezogen werden, kennbare Hilfe“. Dies wird eigens betont, müssen es aber nicht. Der katholische damit die Diakone „in ihrer wahren Identi- imprimatur, Heft 4, 2019 Theologie 219

Gleichheitsbegriff erlaubt dem klerikalen Lebenssinns vergewissern wie des ihnen Rechtsanwender, auch geschlechtsneutral jeweils zukommenden Platzes in der kirch- formulierte Normen für Männer und Frau- lichen Gemeinschaft. Die ständisch diffe- en verschieden anzuwenden. So hat der renzierte participatio actuosa fungiert als Apostolische Stuhl für Messdiener(innen) virtueller Lettner: Er schirmt nicht mehr klargestellt: Messjungen sind ohne weiteres den Altar ab, sondern hält szenisch durch zulässig, ihre Förderung ist verpflichtend, Führungssymbolik, Exklusiv- und Vor- es soll sie geben, sie dürfen nicht abge- rangrechte sowie durch Abwehr von Rol- schafft werden. Messmädchen muss es lendiffusionen für Kopf, Herz und Auge der nicht geben, ihr Einsatz muss der Gemein- versammelten Gemeinde das Bewusstsein de eigens begründet werden, eine Pflicht, für die ständisch-hierarchische Struktur sie zu fördern, besteht nicht. Kein Zele- der Kirche lebendig und macht insbesonde- brant kann verpflichtet werden, an seinem re den Wesensunterschied vor allem zwi- Altar Messmädchen zuzulassen. Dass hier- schen Priestern und Laien unmittelbar er- zulande vielfach vor allem Mädchen den Al- lebbar. Jedem Stand und jedem Geschlecht tardienst versehen, verdankt sich dem je- wird positive Teilhabe am geschlossenen weiligen Ermessen des Zelebranten. Auch sinnhaften Ganzen der kirchlichen Ge- hier gilt amtlich: Die optische Nähe zum meinschaft zugesprochen. Jeder und jede Priester soll nicht zu einer Normalität wer- darf sich in das präfigurierte Geflecht ein- den, die bei den Gläubigen das Bewusstsein fügen und die vorgegebene Rolle ausfüllen. für die Exklusivität männlichen Priester- Katholiken sind vom autonomen Selbst- tums abschwächen oder bei den Mädchen entwurf entlastet. die Vorstellung einer eigenen Priesterberu- 11. Zum anderen kann der von der hierar- fung befördern kann. chischen Spitze geordnete Akt der Gottes- Frauen sind in ihrer tätigen Liturgieteil- verehrung zugleich einen lebendigen Kir- nahme also im Vergleich zu den Laien- chensinn erhalten und stärken und inso- männern beschränkt. Das gilt kirchlich weit formalisierte Selbstbestätigung bewir- aber nicht als Diskriminierung, weil ihre ken. Ein immer wieder gestärkter Kirchen- Gleichwertigkeit mit den Männern nach ka- sinn ist auch dringend erforderlich, damit tholischem Gleichheitsverständnis trotz die Gläubigen eine erfahrungsmäßige Kluft Minderberechtigung keinen Schaden im Glauben überbrücken können – die nimmt. Die participatio actuosa der Frauen Kluft zwischen ihrer bürgerlich-demokrati- ist also eine restriktive, aber gleichwertige. schen Existenz (mit der Koppelung von 10. Wer mit so geklärtem Blick an der Eu- Gleichheit in Würde, Berechtigung und charistiefeier teilnimmt, wird vom Zusam- Partizipation) und ihrer spezifisch stän- menhang zwischen Liturgie und Kirchen- disch-monarchischen Existenz als katholi- verständnis in doppelter Weise profitieren sche Kirchenglieder (mit der Entkoppelung können. Zum einen geschieht so konfessio- von gleicher Würde einerseits und standes- nelle Identitätsstabilisierung durch Insze- und geschlechtsspezifischer Berechtigung nierung der ständisch differenzierten täti- und Partizipation im Glauben anderer- gen Teilnahme an der Liturgie. In der Eu- seits). In Staat und Gesellschaft Demo- charistie wird nicht nur das zentrale Glau- krat(in) zu sein, in der Kirche aber Monar- bensgeheimnis begangen, in dem Christus chist(in), kann nur mit immer neuer als geistliche Speise genossen wird. Zu- Kirchlichkeitsaufladung gelingen. Auch gleich bildet die konkrete rituelle Vollzugs- dem kann der bewusste Mitvollzug der li- gestalt der Eucharistie als „Feier in hierar- turgischen Kircheninszenierung in der je chischer Ordnung“ die communio hierar- spezifischen participatio actuosa dienen. chica fidelium getreu ab. Weil katholisch Norbert Lüdecke ist Professor für Kirchen- Gottesbeziehung und Kirchlichkeit innig recht an der Katholisch-Theologischen Fa- verbunden sind, geschieht in jeder Liturgie kultät der Universität Bonn. und besonders in der Eucharistie der Lob- preis Gottes als inszenierte Ekklesiologie, als Gottesverehrung in eins mit der Beja- *** hung der hierarchischen Struktur der Kir- che. Die Gläubigen können sich darin im- mer wieder neu ihres glaubensgegründeten imprimatur, Heft 4, 2019 Theologie 220

Norbert Mette ter Sprache“ wird der Terminus „Reich Got- tes“ mit „gerechte Welt“ übersetzt. Den Evangelien zufolge handelt es sich „Suchet zuerst das Reich Got- beim Reich Gottes um etwas, das in Gott tes und seine Gerechtigkeit“ gründet und von ihm geschenkt wird, aber als solches Entschiedenheit und Verbind- (Mt 6, 33) lichkeit fordert und entsprechend anstößig wirken kann. Das macht einerseits der ______Blick auf die Praxis Jesu deutlich, der das Reich Gottes nicht nur gepredigt, sondern sein ganzes Leben aus ihm heraus und für „Wenn die Kirche“, so hat es der ehemalige es gelebt hat – bis hin zu der Konsequenz, Würzburger Pastoraltheologe Rolf Zerfaß dass er es sein Leben kosten ließ, weil er bereits vor Jahren angemahnt, „wirklich für die aus dem herrschenden politischen Jesu Sendung weitertragen will, darf sie und religiösen Machtsystem Vorteil Zie- sich nicht selbst zum letzten Horizont und henden zum Störenfried wurde, den es aus- Maßstab ihres Wirkens machen. Es geht zumerzen galt. Andererseits wird das auch nicht um die Präsenz der Kirche in der Ge- daran deutlich, dass die, denen von ihm sellschaft, sondern um das Kommen Gottes primär das Reich Gottes zugesprochen in der Welt… Im Horizont der Gottesherr- wird, gerade nicht die sowieso schon Privi- schaft erledigt sich alle falsche Ekklesiozen- legierten sind. Im Gegenteil, es sind die trik. Positiv gesagt: Es eröffnet sich eine Armen und Unterdrückten. Wo sie aus ih- weite, alles Wirken Gottes in der Welt beja- rem Elend und Leiden befreit werden, dort hende, wahrhaft ökumenische Perspektive. bricht dieses Reich an. Wir fixieren uns nicht länger auf den eige- Treffend hat der Schweizer Exeget Her- nen ‚Verein‘, sondern lernen uns aufrichtig mann-Josef Venetz beschrieben, was sich zu freuen über alles, was die anderen in bei der Predigt Jesu von der anbrechenden der Macht des Geistes Gottes – wodurch Gottesherrschaft ereignet und wodurch 1 denn sonst? – zustande bringen.“ Ange- diese ihre Glaubwürdigkeit erlangt: „Wo sichts der aktuellen tief greifenden Kir- Jesus auftritt, können Menschen wieder chenkrise erweisen sich diese Worte als atmen, können Menschen wieder aufste- wichtige und hilfreiche Wegweisung. Dem hen, der Blinde kann wieder sehen, der an soll im Folgenden nachgegangen werden. die Wand Gedrückte wird in die Mitte ge- stellt, dem Ausgestoßenen wird Gemein- 1. Das Reich Gottes als Zentrum schaft angeboten. Königsherrschaft Gottes der Verkündigung Jesu zielt auf das Leben des Menschen: auf das ganze Leben des Menschen und auf das Le- Die Rede vom „Reich Gottes“ oder der „Got- ben des ganzen Menschen“2 – und zwar, so tesherrschaft“ bildet das Zentrum der Ver- ist zu ergänzen, in Gemeinschaft mit ande- kündigung Jesu von Nazaret in Tat und ren. Eine neue Weise des Zusammenlebens Wort. So stellt Markus seinem Evangelium auf der Basis gegenseitiger Wertschätzung von Jesus Christus das Summarium voran: wird eröffnet. Es ist eine Weise des Mitei- „Der Augenblick ist gekommen, die Zeit er- nander-Umgehens, die sich völlig anders füllt. Die Gottesherrschaft ist nahe gekom- gestaltet als die Abläufe des Zusammenle- men! Kehrt zum Leben um und vertraut bens, wie sie nach den üblich gewordenen dem Evangelium!“ (Mk 1,14) In der Berg- sozialen Mustern erfolgen: Die Rangunter- predigt findet sich die Aufforderung, zuerst schiede greifen nicht mehr bzw. wenn das Reich Gottes und seine Gerechtigkeit zu doch, dann sind sie auf den Kopf gestellt, suchen; dann würde alles andere dazu ge- wie es sich etwa in der Wertschätzung der geben werden (vgl. Mt 6, 33). Im Vaterun- Kinder, der Vorzugstellung der Armen ge- ser wird um das Kommen des Reiches gebe- genüber den Reichen, der gleichberechtig- tet (vgl. Mt 6,10). In der „Bibel in gerech- ten Stellung von Frauen und Männern, der empathischen Zuwendung zu den Sündern 1 Rolf Zerfaß, Die kirchlichen Grundvollzüge - im Ho- und Sünderinnen, der besonderen Auf- rizont der Gottesherrschaft, in: Konferenz der bay- erischen Pastoraltheologen (Hg.), Das Handeln der Kirche in der Welt von heute. Ein pastoraltheologi- 2 Hermann-Josef Venetz, Die Bergpredigt. Biblische scher Grundriß, München 1994, 32-50, hier: 39. Anstöße, Düsseldorf/Freiburg (Schweiz) 1987,124f. imprimatur, Heft 4, 2019 Theologie 221

merksamkeit für die, die geläufiger Mei- Anspruch nehmen darf, das Reich Gottes nung nach als verloren abgeschrieben sind, zu sein. Seine Schaffung und Vollendung u.ä.m. dokumentiert. Nicht die Konkurrenz ist allein Gott vorbehalten. Aber die Sen- um den ersten Platz und die damit verbun- dung der Kirche besteht im Kern darin, dene Macht geben den Ton an, sondern ge- dass das Reich Gottes weiterhin als Heil für genseitiger Dienst und Solidarität bilden die die Menschen und die Welt von Gott her leitenden Maximen für das Zusammenle- bezeugt und, soweit es aus dem Glauben ben. Eine Praxis der Gerechtigkeit setzt daran möglich ist, vor aller Öffentlichkeit sich durch, die sich von der Sorge leiten in Wort und Tat zur Darstellung gebracht lässt, dass allen das Lebensnotwendige für wird. sie selbst und die ihnen Anvertrauten zur Für das Selbstverständnis und die Praxis Verfügung steht. Gott hat sich als der er- der Kirche ergibt sich nach Urs Eigenmann wiesen, der Partei ergreift für die, die ihrer daraus, dass die Kirche sich immer selbst- Würde und Rechte beraubt worden sind, kritisch prüfen muss, ob sie wirklich dem und ihnen Recht schafft. Entsprechend Reich Gottes dient und in seiner Nachfolge heißt, Gott zu erkennen, in Solidarität mit steht und ob sie das bis in ihre institutio- den unschuldig Leidenden gerecht zu han- nelle Verfassung hinein sich glaubwürdig deln und Gutes zu bewirken (vgl. Jer 22, bemerkbar macht.5 15f). Die positive Verbindung zwischen Reich In diesem Zusammenhang beharrte Jesus Gottes und Kirche zeigt sich in dem Maße, auch darauf, dass „alle noch so religiösen wie in der Kirche aus der Beziehung zum Einrichtungen, heißen sie nun Gesetz oder die Menschen vorbehaltlos annehmenden Tempel oder Sabbat oder Staat oder was Gott heraus ein zwischenmenschliches Mit- auch immer, ... sich am Kommen des Rei- einander zum Zuge kommt, wie es in der ches zu messen“3 haben, und das bedeutet Jesusbewegung zu praktizieren versucht an der Frage, ob sie letztlich dem Wohl und worden ist. Das Miteinander-Leben in der Heil der Menschen sowohl individuell als Nachfolge Jesu wird geleitet von einer Wer- auch kollektiv zugutekommen oder nicht. tehierarchie, die herrschende Vorstellun- gen schlicht und einfach umkehrt: Reich- 2. Das Reich Gottes als Maßstab für tum und Akkumulation werden ersetzt die Kirche in der Nachfolge Jesu durch Armut, Uneigennützigkeit und Tei- len; Rache und Hass durch Verzeihung und Mit seinem viel zitierten Satz „Jesus hatte Versöhnung; Eigennutz durch den Willen das Reich Gottes angekündigt; gekommen zu schenken und zu teilen; Machtambitio- ist dafür die Kirche“4 hat der französische nen durch Dienstbereitschaft; Konkurrenz Exeget Alfred Loisy nicht, wie es ihm viel- durch solidarischen Beistand; Gewalt fach in den Mund gelegt wird, auf eine Ab- durch Frieden; ungerechtes Tun durch fallsgeschichte von der ursprünglichen In- Einsatz für Gerechtigkeit; sicheres Leben tention Jesu und der nachösterlich sich in- durch Verfolgung; Falschheit durch Rein- stitutionalisierenden Kirche abgehoben. heit des Herzens. In der Gruppe der Jesus- Sondern er wollte die Kontinuität zwischen jünger und –jüngerinnen soll es Jesus zu- beiden unterstreichen: Die Kirche ist die folge nicht so zugehen, wie es ansonsten in Gemeinschaft, in der und durch die Jesu der Welt der Fall ist, nämlich dass Herr- Ansage der anbrechenden Gottesherrschaft scher schalten und walten, wie sie wollen, kraft des ihr verheißenen Beistands des auf Kosten ihrer Untergebenen. Das Zu- Heiligen Geistes weitergetragen wird. Das sammenleben der Jesusbewegung basiert bedeutet nicht, dass die Kirche nach der genau auf jener der Umkehrung der Werte- Bestätigung seiner Botschaft und seines Le- hierarchie korrespondierenden Umkeh- bens durch seine Auferweckung für sich in rung der Sozialbeziehungen, wie sie Jesu Reich-Gottes-Botschaft vor Augen stand: 3 Hermann-Josef Venetz, Er geht euch voraus nach auf den Prinzipien der Geschwisterlichkeit Galiläa. Mit dem Markusevangelium auf dem Weg, und Gleichheit – in Absage an jeglichen Pa- Freiburg (Schw.) 2005, 81. ternalismus. Frauen werden nicht länger 4 Alfred Firmin Loisy, Evangelium und Kirche, in: diskriminiert, sondern sind als gleichbe- Carl-Friedrich Geyer, Wahrheit und Absolutheit des Christentums – Geschichte und Utopie. „L’Évangile et l’Église“ von Alfred F. Loisy in Text 5 Vgl. Urs Eigenmann, Kirche in der Welt dieser Zeit, und Kontext, Göttingen 2010, 97-219, hier: 169. Luzern 2010, bes. 222-224. imprimatur, Heft 4, 2019 Theologie 222

rechtigte Partnerinnen anerkannt und in- ihren vielfältigen Scheidewegen … Das be- tegriert. Es ist zudem die interessante Er- deutet mitzuhelfen, dass das Leiden Christi fahrung zu machen, dass, wo bereitwillig wirklich und konkret jenes vielfältige Lei- geteilt wird, genug für alle da ist (vgl. Mt den und jene Situationen berühren kann, 14,13-20 parr; Apg 2, 42-47). in denen sein Angesicht weiterhin unter Sünde und Ungleichheit leidet. Möge dieses 3. Pastorale Umkehr. „Nachfolge Leiden den alten und neuen Formen der genügt“ (Synodenbeschluss „Unse- Sklaverei, welche Männer und Frauen gleichermaßen verletzen, die Maske herun- re Hoffnung“) terreißen, besonders heute, da wir immer Das Originäre und Provokative der Reich- neu ausländerfeindlichen Reden gegen- Gottes-Botschaft für die Kirche liegt darin, überstehen, die eine Kultur fördern, die als dass ihr wie in einen Spiegel blickend scho- Grundlage die Gleichgültigkeit, die Ver- nungslos ihre jeweilige Befindlichkeit vor schlossenheit sowie den Individualismus Augen geführt wird. Wo sie diesen Blick ris- und die Ausweisung (im spanischen Text kiert, kann das für sie zu einer Quelle der steht hier ‚expulsión‘, d.h. Abschiebung, Erneuerung werden, wie es sich mehrfach Verstoßung in Form der Exklusion von in der Geschichte ereignet hat. Der Ruf zur Menschen; NM) hat.“ Das bedeutet aller- Umkehr gilt für die Kirche insgesamt ge- dings auch, entschlossen die individuellen nauso wie für jede*n Einzelne*n. und strukturellen Ursachen für die verhee- In diesem Sinne wirbt der derzeitige Papst renden Missstände und Verbrechen aufzu- seit Beginn seines Pontifikats entschieden decken, die in der Kirche selbst geschehen und unablässig für eine pastorale Umkehr sind und geschehen. (conversión pastoral) seiner Kirche, und Wo die Kirche sich in die Nähe zu den Men- zwar im Sinne einer Rückbesinnung auf schen, besonders den Armen und Benach- das Evangelium und der Vergegenwärti- teiligten, mit ihrer Freude und Hoffnung, gung dessen froher Botschaft. Umgekehrt Trauer und Angst begibt und sich mit ih- bedeutet das nichts weniger als einen radi- nen solidarisch für ein humaneres Leben kalen, also an der Wurzel ansetzenden einsetzt, da werden in der Tat viele inner- Wechsel der vorherrschend gewordenen kirchliche Streitthemen zweitrangig. Das Paradigmen im Denken und Handeln der heißt nicht, dass hier kein Reformbedarf Kirche. Sloganartig formuliert heißt das: bestände. Aber sie erhalten den relativen Weg von dem ständigen Kreisen um sich Stellenwert, der ihnen gemäß ist. Im Sinne selbst und hinausgehen an die Ränder der des Reiches Gottes steht dem nicht nur Kirche und der Gesellschaft, zu den in ma- nichts im Wege, sondern ist es geradezu ge- teriellen und existenziellen Nöten lebenden fordert, dass das Eucharistie-feiern-Können Menschen. Nicht die Sorge um ihre eigene als höherwertig gilt als der Zölibat, dass Bestandserhaltung hat die Tagesordnung Frauen Zutritt zu allen Ämtern in der Kir- der Kirche zu bestimmen, sondern das ab- che haben, dass Wiederverheiratet-Geschie- sichtslose Sich-in-Dienst-Stellen am Aufbau dene nicht grundsätzlich von der Kommu- des Reiches Gottes in unserer Welt. Das be- nion ausgeschlossen werden, dass die deutet, dass, wie es im Brief von Papst kirchliche Sexualitätsmoral grundlegend im Franziskus „An das pilgernde Volk Gottes Licht der humanwissenschaftlichen Er- in Deutschland“ heißt, das Hauptaugen- kenntnisse revidiert wird, dass Macht in merk darauf liegen muss, dass „wir uns der Kirche transparent und kontrolliert öffnen und hinausgehen, um unseren Brü- auszuüben ist u.v.a.m. dern und Schwestern zu begegnen, beson- In einer Reich-Gottes orientierten Kirche ders jenen, die an den Schwellen unserer bekommt ihr caritatives bzw. diakonisches Kirchentüren, auf den Straßen, in den Ge- Tun einen zentralen Stellenwert. Das ist fängnissen, in den Krankenhäusern, auf der Fall, weil es in direktem Kontakt zu den Plätzen und in den Städten zu finden den in welcher Not auch immer befindli- sind. Der Herr drückte sich klar aus: chen Menschen steht und ihnen absichtslos ‚Sucht aber zuerst sein Reich und seine Ge- neue Lebensmöglichkeiten zu eröffnen be- rechtigkeit; dann wird euch alles andere müht ist. Kirche realisiert sich im Sinne dazugegeben‘ (Mt 6,33). Das bedeutet hin- der Reich-Gottes-Botschaft, wo sie sich et- auszugehen, um mit dem Geist Christi alle wa uneigennützig als Lobby für Menschen Wirklichkeiten dieser Erde zu salben, an imprimatur, Heft 4, 2019 Theologie / Kirche aktuell 223

einsetzt, die ihrer Rechte beraubt werden, Licht auch für die unter dem Priesterman- wo sie sich auf die Seite der Armen und Be- gel leidende Kirche in Deutschland geben. nachteiligten stellt und dafür selbst Nach- Beide Problemkreise sind Grund genug, um teile in Kauf nimmt, wo verlassene Men- die Amazonassynode, ihre Ausgangslage, schen aufgesucht und begleitet, Trauernde ihre Vorbereitung und Durchführung sowie getröstet werden, Mahlgemeinschaft in Er- ihre Konsequenzen näher in den Blick zu innerung an Jesus und mit ihm gefeiert nehmen. wird etc. Diesem Tun muss nicht erst „von außen“ eine spirituelle Note beigefügt wer- Die kirchliche Ausgangslage den, um es als evangeliumsgemäß auswei- Das Gebiet, um das es sich handelt, ist mit sen zu können; sondern es ist in sich selbst 7,8 Millionen Quadratkilometern 22 mal ein zutiefst spiritueller Prozess, Evangeli- größer als die Bundesrepublik Deutschland. sierung „nach innen“ und „nach außen“. Neben dem größten Land Brasilien zählen noch sieben weitere Staaten zu Amazonien, darunter Bolivien, Peru, Ecuador, Kolum- *** bien und Venezuela. In weit verstreuten Dörfern ist eine indigene Bevölkerung be- Theo Mechtenberg heimatet. Sie seelsorglich zu betreuen, stellt die Kirche seit jeher vor Herausforde- rungen, denen sie mit ihrem bisherigen Amazonas-Synode weist neue Personal und ihren Strukturen nicht ent- Wege für Kirche und Gesell- sprechen kann. Es dauert mitunter Jahre, ehe ein Priester nach langer, mühevoller schaft Reise eines der Dörfer erreicht, dort die Kinder tauft, sie firmt, Beichte hört, Trau- ungen vornimmt und nach der Feier der Sobald ihr im Westen Wolken auf- Eucharistie wieder abreist; eine Pastoral steigen seht, sagt ihr: Es gibt Regen. gelegentlicher Visite an Stelle der erforder- Und es kommt so. Und wenn der lichen dauerhaften Präsenz. Die Folge? Die Südwind weht, dann sagt ihr: Es Gläubigen fühlen sich verlassen. Diese Si- wird heiß. Und es trifft ein. Ihr tuation nutzen die verschiedenen Formati- onen der Evangelikalen. Gab es 1960 in Heuchler! Das Aussehen der Erde Brasilien lediglich 4% Protestanten, so sind und des Himmels könnt ihr deuten. es gegenwärtig fast 30%. Tendenz steigend. Warum nicht die Zeichen der Zeit? Es gibt Dörfer, in denen nur noch die von (Lk 12, 54-56). den Bewohnern nicht mehr aufgesuchte Kapelle davon zeugt, dass es hier einmal ______Katholiken gab. Seit Jahrzehnten sind die-

se Verhältnisse Rom bekannt. Von latein- amerikanischen Bischöfen immer wieder Dass die vom 6. – 27. Oktober im Vatikan beklagt, wurden vom Vatikan Lösungen tagende Amazonassynode auch hierzulande eingefordert. Doch nichts geschah. Noch auf gesellschaftliches Interesse stieß, dafür 2007 unterdrückte der vatikanische Ver- sorgten vorab die Bilder des brennenden treter auf der lateinamerikanischen Bi- Regenwalds, die uns kürzlich als warnen- schofskonferenz eine entsprechende Dis- des Signal einer weltweiten Umweltkata- kussion; dies sei weder der rechte Ort noch strophe erreichten. Wer den Regenwald der rechte Zeitpunkt. zerstört, zerstöre Europa, hieß es in Hin- blick auf seine klimatische Bedeutung, wird Der schien gekommen, als Papst Franzskus doch von ihm ein Großteil des CO-2-Aussto- 2014 bei seinem Brasilienbesuch von Bi- ßes gebunden, und durch seine Wasserre- schof Erwin Kräuther auf diesen pastora- gulierung wirkt er der Dürre und Verstep- len Notstand angesprochen wurde und der pung entgegen. Papst um konkrete Vorschläge bat. Mit dem ökologischen Interesse verband Unsere Situation ist mit der in Amazonien sich unter Katholiken die Erwartung, die nicht zu vergleichen. Derart riesige Seel- Synode werde mit der Zulassung sogenann- sorgeeinheiten gibt es bei uns nicht. Doch ter viri probati zum Priestertum grünes der Priestermangel nötigt auch unsere Bi- imprimatur, Heft 4, 2019 Kirche aktuell 224

schöfe zu immer größeren Pfarrverbänden. pier nach Rom an die synodale Kommissi- Die Zahl priesterloser Gemeinden wird wei- on weiterleiteten. Gestützt auf diesen um- ter wachsen. Und damit auch eine zuneh- fassenden und stufenweisen Dialogprozess mende kirchliche Entfremdung der Gläubi- schuf diese das Arbeitsdokument „Instru- gen. Wäre es da nicht an der Zeit, die im mentum laboris“, mit dem sich Vertreter Rahmen der Amazonas-Synode gemachten der kirchlichen Basis, Theologen und vati- Vorschläge in Hinblick auf die eigene Situa- kanische Abgesandte befassten, um die für tion zu prüfen? die jeweilige Kirche wichtigsten, auf der Synode zu behandelnden Punkte zu ermit- Die Folgen verheerender Umwelt- teln. Diese Vorgehensweise sollte garantie- schäden ren, dass sich die Bischöfe auf der Synode auf eben diese Punkte konzentrieren. An- Der Priestermangel und die aus ihm resul- ders gesagt: In den Stimmen der Bischöfe tierenden pastoralen Folgen sind nicht das sollte die Stimme des Gottesvolkes Gehör einzige Thema der Synode. Nicht minder finden. Ob dem so ist, dafür bildet das Ab- wichtig sind Brandschatzung und Abhol- schlussdokument der Synode den Prüf- zung des Regenwaldes, wodurch die indi- stein. Es enthält noch keine Beschlüsse. gene Bevölkerung direkt betroffen und in Die sind Papst Franziskus vorbehalten und ihrer Existenz bedroht ist. Mit seiner Ab- werden in seiner noch in diesem Jahr zu holzung verfolgt vor allem die brasiliani- erwartenden Adhortatio publiziert und sche Regierung eine Politik, Bodenschätze rechtskräftig. zu fördern sowie endlose Ackerflächen zum Anbau von Sojabohnen zu gewinnen, die Die Eucharistie – Quelle der Kirche der heimischen Fleischproduktion und dem Export dienen. Damit einher geht eine Be- Die Eucharistie ist, so die Liturgiekonstitu- schränkung des Lebensraums der indige- tion des Zweiten Vatikanischen Konzils, die nen Völker. Mit brutaler Gewalt wurden Quelle der Kirche. Stimmt dies, dann und werden die vertrieben und ermordet, schwindet Kirche, wo diese Quelle versiegt. die ihr Land verteidigen. In den Jahren Die Situation in der Weite Amazoniens ist 2013 – 2017 fielen dieser Gewalt nicht we- dafür ein untrüglicher Beweis. niger als 1.119 Menschen zum Opfer. Die Wenn die Amazonassynode Sinn haben soll, lateinamerikanischen Bischöfe haben im- dann muss sie vor allem dafür sorgen, dass mer wieder ihre Stimme erhoben, die sys- diese Quelle sprudelt. Daher der Wunsch, tematischen Verletzungen der Rechte der den Priestermangel durch die Weihe von vi- einheimischen Bevölkerung verurteilt und ri probati, die nicht der Zölibatsverpflich- dabei Konflikte mit der Macht, zumal mit tung unterworfen sind, zu beheben. „In- dem brasilianischen Präsidenten Jair Bol- strumentum laboris“ kündigt diese Mög- sonaro, nicht gescheut. Die Synode sollte lichkeit äußerst vorsichtig an: „Die Gemein- ihre Haltung bekräftigen und Zeugnis für den können nur selten die Eucharistie fei- die Rettung des Regenwalds und den ern, weil es an Priestern fehlt. […] Aus die- Schutz der indigenen Bevölkerung ablegen. sem Grunde wird darum gebeten, die Krite- rien für die Auswahl der Zelebration auto- Entstehungsgeschichte der Synode risierter Amtsträger zu ändern, statt die Gemeinden ohne Eucharistie zu lassen.“ Am 15. Oktober 2017 hatte Papst Franzis- Was folgert daraus konkret? Und reicht es, kus eine Amazonassynode angekündigt. wenn Rom die Weihe von viri probati erlau- Damit kam ein zweijähriger Dialogprozess ben sollte? Sind nicht tiefer greifende Re- mit 260 Veranstaltungen in Gang, an de- formen erforderlich? Die spricht der von nen über 80.000 Frauen und Männer teil- 2012 – 2015 als Missionar im boliviani- nahmen. Das Anfang 2018 erstellte Vorbe- schen Amazonasgebiet tätige, heute an ei- reitungsdokument wurde allen Kirchen ner katholischen Universität lehrende Amazoniens zugestellt. In überarbeiteter Franziskaner Kasper Maria Kapro‘n an. In Fassung und in allgemein verständlicher einem dem „Tygodnik Powszechny“ erteil- Sprache bildete es die Grundlage für die ten Interview (41/2019) beruft er sich auf Diskussion der kirchlichen Basis. Mit deren den deutschen, Jahrzehnte in Südafrika Ergebnissen befassten sich sodann die je- wirkenden, inzwischen emeritierten Bi- weiligen Bischofskonferenzen, die ihr Pa- schof und Theologen Fritz Lobinger. Vor-

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bild seien für ihn die in der Apostelge- leiterinnen fungieren, in der Vorbereitung schichte beschriebenen paulinischen Ge- der Synode weitgehend den Ton angaben meinden mit ihren Charismen und Diens- und „Instrumentum laboris“ mit großem ten. Wie Paulus in den Gemeinden Älteste Nachdruck die Rolle der Frau in der Kirche eingesetzt habe, so sollten auch die für eine betont? lebendige Gemeinde erforderlichen Dienste, einschließlich der Eucharistie, einem Integrale Ökologie „Team of Elders“ anvertraut werden. Das „Instrumentum laboris“ widmet den ökolo- Modell zölibatärer Priester bleibe insofern gischen Problemen einen der drei Haupttei- gewahrt, als diese, wie Paulus, die Gemein- le und unterstreicht damit die Bedeutung den besuchen, durch Briefe den Kontakt zu dieser Thematik. Und das ist angesichts der ihnen aufrechterhalten sowie über ihre Eingriffe in das ökologische System des Re- Glaubenstreue wachen. genwaldes, seiner fortschreitenden Zerstö- Auf Amazonien übertragen würde dies be- rung und der mit ihr verbundenen Miss- deuten, in den dörflichen Gemeinden eine achtung des Lebensrechts der indigenen Gruppe angesehener Christen mit den li- Völker nur zu verständlich. Dabei greift das turgischen und sonstigen Gemeindediens- Arbeitsdokument auf die Enzyklika „Lauda- ten zu betrauen. Sie wären keine Priester to si“ zurück, die bereits eine ganzheitliche im landläufigen Sinn, auch die Bezeich- Ökologie zur Verhinderung einer drohen- nung viri probati wäre für sie unpassend, den Umweltkatstrophe fordert. denn das würde ihre Klerikalisierung för- Während in unseren Breiten nach einem dern. Sie würden für ihren Dienst nicht be- Jahrhundert der Ausbeutung natürlicher zahlt, leben mit ihren Familien, wären wei- Ressourcen ein privates wie gesellschaft- ter in ihrem Beruf tätig und würden durch lich-politisches Umdenken als Vorausset- ihn versorgt. zung der Rettung unseres Lebensraums er- Dem liegt ein Eucharistieverständnis zu- forderlich ist, leben die indigenen Völker grunde, wonach nicht ein Priester mit der Amazoniens seit je her im Bewusstsein ih- Gemeinde die Eucharistie feiert, sondern rer Einheit mit der Natur. So würden die die Gemeinde als solche. Schließlich sei, so Menschen dort, wie der Franziskaner Ka- der Franziskaner Kapro‘n, der Auftrag pro‘n berichtet, die Mutter Erde um Er- Christi „Tut dies zu meinem Andenken“ an laubnis bitten, bevor sie einen Baum fällen, die Gemeinschaft seiner Jünger gerichtet den sie zum Leben benötigen. Gleiches ge- gewesen. Seine Worte würden auf die eu- schehe bei der Schlachtung von Tieren, die charistischen Gaben von Brot und Wein nicht des Gewinnes wegen geschehe, son- verweisen und nicht auf die Einsetzung ei- dern allein um des eigenen Lebensunter- nes Sakraments der Priesterweihe – eine halts. Dieser ständige Rückbezug auf die angesichts der dogmatischen Tradition ge- Natur, auf ihren Schöpfer, auf Gott, sei ein wagte theologische These. Zudem wirft die- Grundelement ihrer Kultur. Ihr Bewusst- ses Modell weitere Fragen auf: Auf welche sein, selbst ein Teil dieser geschaffenen Weise wird, ohne die traditionelle Priester- Welt zu sein, entspreche dem, was Papst weihe, das „Team of Elders“ ordiniert? Wel- Franziskus unter einer integralen Ökologie che Kriterien gelten für seine Wahl? Wie versteht. wird diese Gruppe auf ihren Dienst vorbe- reitet? Wohl kaum in einem Priestersemi- Enteuropäisierung und Inkultura- nar. Welche Konsequenz hätte diese Form der von der Gemeinde gefeierten Eucharis- tion tie für deren liturgische Form? Es scheint Lateinamerika ist seit rund 600 Jahren jedenfalls schwer vorstellbar, dass die von zwangseuropäisiert worden. Die Auswir- den Priestern nach den geltenden liturgi- kungen sind bis heute spürbar. Dass dieser schen Regeln zelebrierte Form der Eucha- Kontinent nicht zur Ruhe kommt, dass er ristie auf diese Dorfgemeinden übertragbar immer wieder von sozialen Unruhen und ist. Welche Elemente indigener Kultur Revolutionen erschüttert wird, dafür sei könnten bei der Feier der Liturgie Aufnah- nach Meinung mancher Historiker und me finden? Und können auf Dauer nur Analysten eben diese Zwangseuropäisie- Männer diese Dienste versehen, wo bereits rung einer der Hauptgründe. Weder die jetzt in der Mehrzahl Frauen als Gemeinde- westlichen Ideen des Konservatismus und

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Liberalismus und auch nicht die gesell- kirchlich adoptiert zu werden. Entspre- schaftspolitischen Systeme des Kapitalis- chend lehnen sie die Idee eines „amazoni- mus und Sozialismus hätten den südameri- schen Ritus“ sowie eine „indigene Theolo- kanischen Staaten sozialen Frieden und gie“ ab. Diese Einstellung verrät indes ein Stabilität verschafft. Immer noch sei man kolonialistisches Denken, dessen Überwin- auf der Suche nach etwas Eigenem. dung das Ziel der Synode ist, um damit die Was für die lateinamerikanische Gesell- Grundvoraussetzung für die Lösung der schaft gilt, gilt auch für die Kirche. Ihre eu- kirchlichen Probleme in Amazonien zu ropäische, durch die griechische und römi- schaffen. sche Kultur geprägte Erscheinungsform be- Wie ernst dieser Konflikt zu nehmen ist, stimmt bis heute ihr Bild. In dem der Syno- wurde in einer Begleiterscheinung der Sy- de vorausgegangenen Dialogprozess sowie node deutlich. Traditionalistische Katholi- in „Instrumentum laboris“ nimmt diese ken, welche die Kirche mit dieser Synode Problematik einen breiten Raum ein. Sie auf dem Weg zu einem Synkretismus sehen, wird im dritten Hauptteil des Arbeitsdo- schlichen im Morgengrauen in die nahe des kuments ausführlich behandelt. Es liest Vatikans gelegene Kirche Santa Maria, wo sich wie ein umfassendes Programm der sich aus Anlass der Synode eine kleine Aus- Inkulturation der Kirchen Amazoniens, die stellung indigener Kultur befand. Sie stah- alle Lebensbereiche der indigenen Völker len einige Holzfiguren, die nackte schwan- betrifft. Das Dokument spricht von einer gere Frauen darstellten, Symbole der „amazonisch-indigenen Theologie und Spi- Fruchtbarkeit und der Mutter Erde, und ritualität“, die in den Schulen und Univer- warfen sie in den Tiber. sitäten sowie in den Priesterseminaren zu fördern sei. Es sollen, wie es in den Emp- Das Schlussdokument fehlungen heißt, „Mythen, Traditionen, Mit dem von Papst Franziskus zelebrierten Symbole, Kenntnisse, Riten und einheimi- Gottesdienst und der Veröffentlichung des sche Feiern gewürdigt werden, weil in Schlussdokuments ging diese außerordent- ihnen die Dimensionen von Transzendenz, liche Synode am 27. Oktober zu Ende. Das Gemeinschaft und Ökologie präsent sind.“ 34 Seiten umfassende Papier enthält in 120 Allein schon diese Aufzählung zeigt, vor Einzelpunkten die Ergebnisse des zweijäh- welchen Herausforderungen nunmehr die rigen Dialogprozesses. Gestützt auf eine Kirche in Amazonien steht, um diesen breite Zustimmung fand das in „Instru- Empfehlungen zu entsprechen. Nicht um- mentum laboris“ entwickelte Konzept einer sonst spricht „Instrumentum laboris“ im integralen Ökologie seine Bestätigung. Be- Untertitel von Wegen. Sie müssen erst ge- kräftigt wurde auch der Einsatz für die funden und beschritten werden, um die ge- Rechte der indigenen Völker, als deren steckten Ziele zu erreichen. Das verlangt Schutz sich die Kirche versteht. Zudem öff- Mut zum Aufbruch, Mut für Experimente. net sie sich für ihre Kultur, die auch in ei- Das schließt Irrwege und Sackgassen nicht nem eigenen „amazonischen Ritus“ zum aus. Das verlangt Korrekturen, die ständige Ausdruck kommen soll. Prüfung, ob man sich noch auf dem rech- Zwei in ihrer Bedeutung weit über den An- ten Weg befindet. Und es wird ein synoda- lass der Synode hinausgehende Erwartun- ler, durch Dialog bestimmter Weg sein gen betrafen die viri probati sowie einen müssen, der die Bewältigung zu erwarten- möglichen Diakonat für Frauen. Beide der Konflikte ermöglicht und die Einheit Problemkreise waren auf der Synode um- der Kirche in ihrer Verschiedenheit wahrt. stritten. Bei 40 Neinstimmen, doch mit der Dass auf diesem Weg Konflikte drohen, erforderlichen Zweidrittelmehrheit spra- zeigte sich bereits in der Vorbereitungs- chen sich die Bischöfe für die Zulassung phase. Konservative Kreise äußerten die verheirateter Männer zum Priesteramt aus. Befürchtung, das Programm einer Inkultu- Dies allerdings unter Vermeidung des Be- ration würde zur Verfälschung des Glau- griffs „viri probati“ sowie als Ausnahmefall bens führen. Sie stellten die in „Instrumen- für weit entfernte Gemeinden, die nur äu- tum laboris“ zum Ausdruck kommende ßerst selten einen Priester zu Gesicht be- Hochschätzung des geistigen Erbes der in- kommen. Die für ihren Dienst ausgewähl- digene Völker in Frage und halten es seiner ten Männer sollten sich bereits als Diakone heidnischen Wurzeln wegen für ungeeignet,

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bewährt haben, gut ausgebildet und von einem Interview des Magazins „Cicero“ der Gemeinde anerkannt sein. befragt, wie er dazu stehe, dass der Auch wenn diese Entscheidung ausdrück- Münchner Kardinal zu lich auf Amazonien beschränkt bleibt, so Papst Franziskus gesagt habe, die Dis- hat die Synode damit doch einen Präze- kussion über das Priesteramt für Frauen denzfall geschaffen und gesamtkirchlich die sei nicht beendet: „Ist sie das wirklich Tür für viri probati einen spaltweit geöff- nicht?“ Die Antwort Woelkis: „Ich muss net. Es wird an den deutschen Bischöfen Kardinal Marx da widersprechen. Diese liegen, ob sie bereit sind, sich im inner- Diskussion ist beendet. Und zwar durch kirchlichen Dialogprozess dafür einzuset- eine lehramtliche Entscheidung von zen, dass Rom angesichts des Priesterman- Papst Johannes Paul II. 1984 und durch gels auch hierzulande Gleiches ermöglicht. eine verbindliche Interpretation der Zu einer Entscheidung zugunsten eines Di- Glaubenskongregation 1995. Damit ist akonats der Frau konnten sich die synoda- die Debatte über das Priesteramt für len Bischöfe nicht durchringen. Es blieb bei Frauen definitiv abgeschlossen. Alles Bekenntnissen zur bedeutenden Rolle, die andere sind Taschenspielertricks, mit Frauen in der Kirche zukommt. Ihnen sol- denen eine trügerische Hoffnung ge- len Führungspositionen offen stehen, die nährt wird. So produziert man Frustra- nicht an eine Weihe gebunden sind. Doch tionen und vielleicht sogar Spaltungen. vom Tisch ist die Frage eines Diakonats der Menschen, denen man Unmögliches in Frau damit nicht. Papst Franziskus hat sie Aussicht stellt, könnten sich dann ent- zum Abschluss der Synode erneut aufgegrif- täuscht abwenden.“ Zudem wandte sich fen. Nachdem die 2006 zur Prüfung dieser der Kardinal gegen die Ansicht, die Kir- Frage eingesetzte Kommission zu keinem che lehne mit dem Nein zur Frauenwei- Ergebnis kam, soll sie nunmehr neu besetzt he die Gleichberechtigung ab. Die katho- werden, um zu klären, ob es in der Urkir- lische Kirche fühle sich wie die orthodo- che ein Diakonat der Frau und damit ein xen und orientalischen Kirchen an den Anhalt in der Tradition gegeben hat. Diese Willen Jesu gebunden, der beim letzten päpstliche Entscheidung unterstreicht Abendmahl die Eucharistie und das noch einmal, dass mit dem Abschlussdo- Priestertum eingesetzt und dieses männ- kument kein Schlussstrich gezogen wurde, lichen Aposteln übertragen habe.1 sondern dass es den Ausgangspunkt eines Tatsächlich hatte der Leiter der Glau- in die Zukunft weisenden Weges der Kirche benskongregation, Erzbischof Luis Lada- bildet. ria, im Mai 2018 in einem Beitrag für die Vatikanzeitung „Osservatore Romano“ *** erklärt „dass es sich um eine Wahrheit handelt, die zum Glaubensgut der Kirche gehört“. Daher sei diese Lehre „endgültig Norbert Scholl und unfehlbar“.2 Sowohl Johannes Paul II. als auch Ladaria verschweigen, dass Das päpstliche Veto zur Frau- während der Herrschaft des Kommu- nismus in der tschechoslowakischen Un- enordination spaltet die Bi- tergrundkirche Bischof Felix Maria Da- vídek auch eine Frau (Ludmila Javoro- schöfe va) zur katholischen Priesterin ordiniert hatte. Nach dem Zusammenbruch des ______Kommunismus hat der Vatikan diese 3 Ordination nicht mehr anerkannt. Ein Was ist nur mit unseren Bischöfen los? Die streiten sich auf offener Bühne über eine 1 https://www.cicero.de/innenpolitik/katholische- (angeblich „unfehlbare“) Lehre, über die kirche-priesterweihe-frauen-emanzipation/plus 2 http://www.vatican.va/roman_curia/congregations/ sie eigentlich nach dem Willen von Papst cfaith/ladaria-ferrer/documents/rc_con_cfaith_doc_ Johannes Paul II. gar nicht streiten dürf- 20180529_caratteredefinitivo-ordinatiosacerdota- ten. lis_ge.html 3  Beispiel 1: Am 30. Oktober wurde der www.rcwp.de/%C3%BCber-uns/berufungsgeschich- ten-der-frauen/priesterin-ludmilla-javorov%C3%A1; Kölner Kardinal Rainer Maria Woelki in http://www.rcwp.de/%C3%BCber-uns/berufungsge- imprimatur, Heft 4, 2019 Kirche aktuell 228

Brief an Papst Benedikt XVI. vom 12. bezeichnete Voderholzer die Äußerung Januar 2008 mit der Bitte um Rehabili- "einer namhaften kirchlichen Stimme" tation und um Anerkennung der Ordina- als "einigermaßen verwunderlich". Over- tion von Ludmila Javorova blieb unbe- beck habe so den Blick auf die Unter- antwortet.4 schiedlichkeit von Mann und Frau auf  Beispiel 2: Nicht nur Kardinal Marx, die Genetik verengt und damit eine "Qua- auch der Essener Bischof Franz Over- si-Gleichheit der Geschlechter" unter- beck ist anderer Meinung als Kardinal stellt - anstatt die verbindliche Lehre der Woelki. In einem Interview mit der katholischen Kirche zu vertreten "und „Bild“-Zeitung (28.10.2019) sagte Over- vor dem Hintergrund einer philoso- beck: „Kann man zum Beispiel an einem phisch-theologischen Anthropologie Y-Chromosom den Zugang zum Priester- nachvollziehbar zu machen", so Voder- amt festmachen, indem man das mit dem holzer. Und gleich noch weiter: "Sollte Willen Jesu begründet? Die allermeisten mit dem genannten biologistischen Ar- Menschen verstehen das nicht mehr und gument das Argumentations-Niveau des glauben es auch nicht. Ich bin ebenfalls bevorstehenden Synodalen Weges vorge- mehr als nachdenklich.“5 In seinem Amt zeichnet sein, dann sehe ich ehrlich ge- habe er sich verändert, bekannte der 55- sagt wenig Sinn darin, dabei mitzuma- Jährige, der seit 10 Jahren „Ruhrbi- chen"7. schof“ ist. „Wenn Sie mir heute beschei-  Beispiel 4: Der St. Gallener Bischof Mar- nigten, ich wäre noch derselbe wie vor kus Büchel setzte sich im St. Galler Pfar- zehn Jahren, dann empfände ich das als reiblatt öffentlich für die Frauenordina- Niederlage.“ Und an anderer Stelle sagte tion ein: „Wir müssen Schritte suchen, er: „Das Gesicht der Kirche vor Ort ist die dahin führen. Ich könnte mir vor- schon jetzt ein weibliches, die Arbeit et- stellen, dass der Diakonat der Frau ein wa der Ordensfrauen unverzichtbar. … solcher Schritt sein könnte.“ Eine Weile Die Gleichstellung wird langfristig kom- lang habe man über die Frauenordinati- men, auf welche Weise auch immer.“6 on nicht diskutieren dürfen. „Das kön-  Beispiel 3: Wie kaum anders zu erwar- nen wir uns nicht mehr leisten. Wir ten, mischt sich auch der Regensburger können beten, dass uns der Heilige Geist Bischof Rudolf Voderholzer in den Streit die Zeichen der Zeit erkennen lässt.“ Die ein. Auch er kritisiert die Positionierung Medienbeauftragte des Bistums bekräf- seines bischöflichen Mitbruders Over- tigte: „Was Bischof Büchel hier sagt, beck in der Debatte in Sachen Frauenor- meint er auch so. Für einen Bischof sind dination. In einer Predigt zum Fest des das sehr weit gehende Aussagen. Sie be- Regensburger Bistumspatrons Wolfgang deuten einen katholischen Tabubruch. Im kanonischen Recht ist jedes ordinier- te Amt auf Männer beschränkt.8 schichten-der-frauen/priesterin-ludmilla-javorov%- C3%A. Dazu. E. Koller, H. Küng, P. Krizan (Hrsg.): Auch der Magdeburger Bischof Gerhard Die verratene Prophetie. Die tschechoslovakische Feige hält die Frage einer Priesterweihe Untergrundkirche zwischen Vatikan und Kommu- von Frauen für weiterhin offen. „Dies ri- nismus. Ed. Exodus, Luzern 2011. 4 goros abzulehnen und lediglich mit der http://womensordinationworldwide.org/letters/ Tradition zu argumentieren, überzeugt 2014/2/10/letter-to-pope-benedict-xvi-requesting- rehabilitation-and-acceptance-of-ludmila-javorovas- nicht mehr“, Zugleich betonte er, mo- valid-ordination-to-ministerial-priesthood-january- mentan halte er die Möglichkeit, Frauen 12-2008 (25.3.2018);. Vgl. Erwin Koller / Hans zu Priestern zu weihen, noch für un- Küng / Peter Krizan (Hg.), Die verratene Prophe- wahrscheinlich, da dies von zahlreichen tie. Die tschechoslowakische Untergrundkirche zwischen Vatikan und Kommunismus, Luzern Katholiken nicht mitgetragen und die 2011; Petra Preunkert-Skalova, Die Frauen-Weihe Einheit der Kirche daran zerbrechen In der tschechischen Untergrund-Kirche 1948- würde. „Andererseits aber wird dies 1989; in: theologie.geschichte (Universitätsverlag kommen“, setzte Feige hinzu. „Vor eini- Saarbrücken) Beiheft 8/2013, 288-292 (http://uni- ger Zeit hätte ich das so noch nicht den- versaar.uni-saarland.de/journals/index.php/tg_bei- hefte/article/viewFile/731/776). 5 KNA-Mitteilung 28.10.2019. 7 KNA 4.11.2019. 6 https://www.spiegel.de/panorama/gesellschaft/ama- 8 https://www.schweizamwochenende.ch/aktuell/ zonas-synode-in-rom-bischof-overbeck-ueber- schweizer-bischof-fuer-frauen-als-priesterinnen- priestermangel-und-zoelibat-a-1290097.html. 131038698 imprimatur, Heft 4, 2019 Kirche aktuell 229

ken können.“ Unter Berufung auf Papst hat gute Absichten, er ist ein guter Franziskus erklärte er, die Lehre der Mann. Der Papst mag ihn. Aber er ist Kirche sei nicht zu bewahren, ohne ihre wie ein Kind“14. Interessant in diesem Entwicklung zuzulassen.9 Zusammenhang, dass Fürstin Gloria von Der Mainzer Bischof Peter Kohlgraf Thurn und Taxis bei der Vorstellung von meinte mit Blick auf die Protestbewe- Müllers Buch „Römische Begegnungen“ gung Maria 2.0, die unter anderem einen in Washington sagte: „Die einzigen bei- Zugang von Frauen zu allen Ämtern in den Menschen auf der Welt, die uns heu- der Kirche fordert: „Das sind hoch enga- te Klarheit geben, sind gierte Frauen - und auch Männer - aus und Gerhard Ludwig Müller…Ich gehe der Mitte unserer Gemeinden.“ Er habe sogar so weit zu sagen, dass Gerhard den Aktivistinnen von Maria 2.0 ver- Ludwig Müller der Donald Trump der ka- sprochen, ihr Unverständnis nach Rom tholischen Kirche ist“15. Könnte es der weiterzugeben. „Wir schauen gemeinsam Fürstin entgangen sein, dass Donald in dieselbe Richtung“ Zudem müsse er Trump eine unerschöpfliche Quelle von „schlicht konstatieren, dass die Einwän- Fake News ist? Wie kein Zweiter nutzt er de Roms gegen die Frauenordination die neuen Medien, um Falschheiten und vielfach nicht überzeugen“10. Irreführungen in die Welt zu setzen. Und last not least bezeichnet auch der Trumps Behauptungen in den sozialen Erfurter Bischof Ulrich Neymeyr eine Medien umfassen inzwischen Tausende Zulassung von Frauen zum Priesteramt nachweisbarer Falschaussagen. Derart „theologisch denkbar“, auch wenn sie lax ist sein Umgang mit der Wahrheit, derzeit mit Blick auf die Weltkirche „ab- dass Journalisten in Washington ver- solut unvorstellbar“ sei.11 zweifeln. Einer äußerte sich dazu mit Diese Sicht hatte auch der 1988 verstor- den inzwischen geflügelten Worten: „Das bene Bischof von Rottenburg, Georg Mo- ist es, was es so schwierig macht, über ser, geteilt: „…hier hat die Kirche Spiel- Trump zu berichten: Was meint er, wenn 16 raum“12. er Worte sagt?” Kardinal Müller - Was Genau das Gegenteil sagt, wie nicht an- meint er, wenn er Worte sagt? ders zu erwarten, der ehemalige Präfekt Die einen Bischöfe sagen: „Nichts darf sich der Glaubenskongregation, Kardinal ändern!“, die anderen: „Es muss sich etwas Gerhard Ludwig Müller: „Da das Lehr- ändern!“ Kardinal Woelki sagt, Entschei- amt des Papstes und der Bischöfe keine dungen stünden allein der bischöflichen Vollmacht über die Substanz der Sakra- Autorität zu. „Damit berühren wir natür- mente hat, kann auch keine Synode mit lich eine für den heutigen Mainstream und ohne den Papst, auch kein ökume- schwierig zu akzeptierende Glaubenspositi- 17 nisches Konzil oder der Papst allein, on … Diese ist nicht hintergehbar“ . Ande- wenn er ex cathedra spräche, die Weihe re „hintergehen“ die (angeblich) „unfehl- von Frauen zum Bischof, Priester und bare“ lehramtliche Entscheidung Johan- Diakon ermöglichen. Dies stünde in ei- nes‘ Pauls II. vom 22.5.1984. nem Gegensatz zur definierten Lehre der Offensichtlich wissen die Bischöfe selbst Kirche. Sie wäre ungültig”.13 Papst Fran- nicht mehr, wo es nun langgehen soll in ziskus hat ihn erst unlängst gelobt: „Er der römisch-katholischen Kirche. Das Zwei- te Vatikanische Konzil bekräftigte zwar das Dogma von der päpstlichen Unfehlbarkeit18, 9 https://www.vaticannews.va/de/kirche/news/2019- ging aber einen entscheidenden Schritt 02/kirche-bischof-abtreibungen.html darüber hinaus, indem es die Unfehlbarkeit 10 https://www.domradio.de/themen/reformen/2019- 10-05/einwaende-roms-gegen-die-frauenordination- ueberzeugen-vielfach-nicht-mainzer-bischof-peter- 14 https://www.kirche-und-leben.de/artikel/papst-fran- kohlgraf ziskus-ueber-kardinal-mueller-er-ist-wie-ein-kind/ 11 https://www.domradio.de/themen/reformen/2019- 15 https://www.katholische-sonntagszeitung.de/lay- 05-18/erste-bilanz-nach-einer-turbulenten- out/set/print/Buntes/Gloria-setzt-ganz-auf-Kardinal- frauenwoche-der-kirche Mueller-und-US-Praesident-Trump-Mittwoch-30.- 12 Georg Moser – unvergessen. Ein Porträt mit Texten Oktober-2019-10-07-00. des weltoffenen Bischofs, Ostfildern 2018, 23 16 https://forum-streitkultur.de/donald-trump-fake- 13 https://www.vaticannews.va/de/kirche/news/2019- news-luegen-bullshit/. 07/kardinal-mueller-kritisiert-kirchliche- 17 KNA 5.11.2019. reformprojekte.html 18 LG 12. 18. 25. imprimatur, Heft 4, 2019 230 in den größeren ekklesiologischen Zusam- Struktur der Kirche legitimiert zu sehen, menhang des „Volkes Gottes“ stellte: Die ist exegetisch unhaltbar. Offenbar haben Unfehlbarkeit kommt zunächst der Ge- die Verfasser der ‚Ordinatio Sacerdotalis‘ meinschaft der Glaubenden zu und dann auch Röm 16,7 übersehen, wo eine Junia seiner Leitung, dem Kollegium der Bischöfe in apostolischer Funktion genannt wird. unter Führung des Papstes. Ihre Irrtums- ‚Von oben‘ wird sich die Diskussion um das losigkeit macht diese Gemeinschaft „durch kirchliche Amt sicherlich nicht abwürgen den übernatürlichen Glaubenssinn des gan- lassen, hier sind meines Erachtens vor al- zen Volkes dann kund, wenn sie ‚von den lem die Theologen zum Widerstand ver- Bischöfen bis zu den letzten gläubigen Lai- pflichtet.“22 en' (Augustinus) ihre allgemeine Überein- Der (nicht nur hier) offen zu Tage tretende stimmung in Sachen des Glaubens und der Dissens zwischen den Bischöfen offenbart Sitten äußert"19. Was gilt nun eigentlich? eine viel tiefer liegende und grundsätzliche Offenbar sind – frei nach Alexander Kluge – Frage nach dem System des Kirchlichen „die Artisten in der Zirkuskuppel ratlos“. Lehramts. Eine Frage, die dem gesamten Die meisten Theologen sind sich freilich Lehrgebäude gefährlich werden kann, längst darin einig, dass es keine stichhalti- wenn nicht ernsthaft und rasch versucht gen Argumente für das Verbot der Frau- wird, eine Lösung herbeizuführen: Eine enordination gibt. So schreibt der emeri- von den meisten Theologen und Exegeten tierte Bamberger Dogmatiker Georg Kraus: längst als „fehlbar“ erkannte „Begründung“ „Fundamentale dogmatische Prinzipien zei- wird für das „unfehlbare“ Verbot der Frau- gen, dass der Ausschluss der Frauen von enordination herangezogen. Wie kann eine der Ordination vom Glauben her nicht ge- Erklärung bindend, endgültig sein, wenn rechtfertigt ist; vielmehr sprechen diese die Begründung brüchig ist? Kann ein dogmatischen Prinzipien dezidiert dafür, Papst unter Berufung auf seine „Unfehl- dass die Frauen voll die geistliche Qualifi- barkeit“ inhaltliche, wissenschaftlich fun- kation für eine Ordination zu allen kirchli- dierte Argumente einfach ignorieren? Wer chen Ämtern besitzen.“20 Die Regensburger das autoritäre, „unfehlbare“ Wahrheitssys- Kirchenrechtlerin Sabine Demel sieht es tem in Frage stellt, bekommt sofort zu hö- ähnlich: „Als unfehlbar definiert ist eine ren, welche Lehre von welchem Papst „end- Lehre nur anzusehen, wenn dies offen- gültig und definitiv“ beantwortet wurde. sichtlich feststeht. …Die lehramtliche Ver- Inhaltliche Argumente, mögen sie theolo- kündigung hinsichtlich der Nichtzulassung gisch-wissenschaftlich und exegetisch noch von Frauen zur Priesterweihe ist nicht un- so gut untermauert sein, werden ignoriert. fehlbar und damit angesichts neuer theolo- Vor drei Jahren hatte der inzwischen gischer Erkenntnisse und rechtlicher Er- neunzigjährige Hans Küng an Papst Fran- fordernisse veränderbar.“21 Und der emeri- ziskus appelliert, eine „freie ernsthafte Un- tierte Bonner Neutestamentler Rudolf Hop- fehlbarkeitsdiskussion“ zuzulassen. „Man pe, ein Schüler des unvergessenen Freibur- täusche sich nicht, ohne eine konstruktive ger Exegeten Anton Vögtle, lässt aus bibli- ‚Revision‘ des Unfehlbarkeitsdogmas wird scher Perspektive verlauten: „In der Ab- eine wirkliche Erneuerung kaum möglich lehnung der Zulassung von Frauen zum sein […] Unausgesprochen hat das Tabu Priesteramt stützt sich die Erklärung des der Unfehlbarkeit alle Reformen seit dem Vatikans auf den vermeintlichen neutesta- Zweiten Vatikanischen Konzil blockiert, die mentlichen Befund. Die aus dem Neuen eine Revision früherer dogmatischer Fest- Testament abgeleiteten Begründungen sind legungen erfordert hätten.“ Der Dissens freilich mehr als verwegen. Das Priesteramt unter den Bischöfen zeigt, wie Recht der direkt aus dem jesuanischen Zwölferkreis hochverdiente Theologe hat. abzuleiten und darin die patriarchale

19 LG 12 *** 20 Frauenordination. Ein drängendes Desiderat der katholischen Kirche, in: Stimmen der Zeit 12/2011, 795-803. 21 Zit. nach: Kirchenbote. Wochenzeitung für das Bis- tum Osnabrück, Nr. 39 (1.10.2017), 4f.; www.uni- 22 https://bonndoc.ulb.uni-bonn.de/xmlui/bit- regensburg.de/.../frauenordination-einordnung- stream/handle/20.500.11811/1022/L%C3%BCdecke procontra-bier-demel-bistum. _Lehramt.pdf?sequence=1&isAllowed=y. imprimatur, Heft 4, 2019 Kirche aktuell 231

Stimmen der Zeit 12/2011, 795-803 "Die Kirche hält sich aus Treue zum Vorbild ihres Herrn nicht dazu berechtigt, die Georg Kraus Frauen zur Priesterweihe zuzulassen." 25 Aber in der wissenschaftlichen Theologie Frauenordination. ging die Diskussion auch nach 1976 und 1994 weiter. Exemplarisch vertritt - der sonst sehr zurückhaltende - Siegfried Wie- Ein drängendes Desiderat in der denhofer in seinem dogmatischen Werk katholischen Kirche "Das katholische Kirchenverständnis" eine Öffnung für die Frauenordination. Er regt ______eine Reflexion zu den Fragen an, "wieweit die einhellige Tradition der Männerordina- "Wir werden ungeschminkt ausleuchten, tion z. B. mit der Macht eines androzentri- wie wir als Kirche in Wort und Tat mit dem schen Weltbildes und einer patriarchali- Vorwurf umgehen müssen, es gebe in ihr schen Gesellschaft verbunden ist und wie- zu wenig Transparenz und zu viele Denk- weit sie die Geschichtlichkeit und ge- und Diskussionsverbote", erklärte der Vor- schichtliche Konkretheit der Offenbarung sitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Gottes in Jesus Christus zum Ausdruck Erzbischof Robert Zollitsch, in seinem Im- bringt". Dabei kommt er zur Konklusion: pulsreferat bei der Herbstvollversammlung "Wenn folglich unter den soziokulturellen der Deutschen Bischöfe in Fulda am 20. Bedingungen der Gegenwart ein neuer Sinn September 2010. Unter dem Titel "Zukunft für die Gleichberechtigung der Geschlech- der Kirche - Kirche für die Zukunft. Plädo- ter und die Ungerechtigkeit einer andro- yer für eine pilgernde, hörende und die- zentrischen und patriarchalischen Religi- nende Kirche" gab er den Impuls zur Eröff- on, Kultur und Gesellschaft erwacht ist nung eines Dialogprozesses in der katholi- und wenn eben diese Gleichberechtigung schen Kirche Deutschlands. "Ein neuer Auf- sowohl zu den Grundbestandteilen des bruch der Kirche" kann seiner Meinung christlichen Schöpfungsglaubens als auch nach nur gelingen, "wenn wir offen und der christlichen Erlösungserfahrung und angstfrei miteinander reden. Der neue Auf- der christlichen Vollendungshoffnung ge- bruch, den wir suchen, beginnt bei uns hört, dann ist in dieser Korrespondenz von selbst."23 Mit diesen Worten ermunterte der gegenwärtigem geschichtlichen Aufbruch Vorsitzende seine Mitbischöfe. und der inneren Struktur des christlichen Glaubens auch die Glaubensgeschichte Denk- und Diskussionsverbot? noch einmal kritisch auf ihre eigentliche Ein strenges Denk- und Diskussionsverbot Intention hin zu befragen." erließ Papst Johannes Paul II. 1994 in sei- Ekklesiologisch sieht er "in einem mehr nem "Apostolischen Schreiben über die nur pneumatologischen Amtsverständnis" eine Männern vorbehaltene Priesterweihe", wo gute Begründungsmöglichkeit für die Frau- er am Schluss kraft seines Amtes erklärte, enordination26. Im April 2011 hat sich so- "daß die Kirche keinerlei Vollmacht hat, gar ein Bischof, nämlich Markus Büchel Frauen die Priesterweihe zu spenden, und von St. Gallen, öffentlich für die Zulassung daß sich alle Gläubigen endgültig an diese der Frauen zur Ordination ausgesprochen. Entscheidung zu halten haben" 24. Schon Im St. Galler Pfarrblatt sagte er zum Prob- 1976 hatte die Kongregation für die Glau- lem, dass man eine Weile lang nicht über benslehre mit Zustimmung von Papst Paul die Frauenordination diskutieren durfte: VI. festgestellt: "Das können wir uns heute nicht mehr leis- ten." Konstruktiv tritt er dafür ein, Schritte zu suchen, die zur Frauenordination füh- 23 Der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Zukunft der Kirche - Kirche für die Zukunft. Plä- ren und meint konkret: "Ich könnte mir doyer für eine pilgernde, hörende u. dienende Kir- che. Impulsreferat von Erzbischof Dr. Robert Zol- litsch bei der Herbstvollversammlung der Deut- 25 Kongregation für die Glaubenslehre, Inter insigni- schen Bischofskonferenz in Fulda, 20. 9. 2010 ores. Erklärung zur Frage der Zulassung der Frau- (Bonn 2010) 16 f. en zum Priesteramt (VApSt 3, Bonn 1976) 5. 24 Johannes Paul II., Ordinatio sacerdotalis. Aposto- 26 S. Wiedenhofer, Das katholische Kirchenverständ- lisches Schreiben über die nur Männern vorbehal- nis. Ein Lehrbuch der Ekklesiologie (Graz 1992) tene Priesterweihe (VApSt 117, Bonn 1994) 6. 227 f. imprimatur, Heft 4, 2019 Kirche aktuell 232

vorstellen, daß der Diakonat der Frau ein tischen Kirchen, in der anglikanischen und solcher Schritt sein könnte." Zum Priester- altkatholischen Kirche Pfarrerinnen und amt für Frauen äußert er: "Wir können be- auch Bischöfinnen gibt. ten, daß uns der Heilige Geist die Zeichen der Zeit erkennen läßt." 27 Strikter Ausschluss der Frauenor- Tatsächlich ist es - nach einem breiten dination in lehramtlichen Stel- Konsens in der gegenwärtigen Dogmatik - lungnahmen ein drängendes Desiderat der Zeichen der Zeit, dass die Diskussion über die Zulas- Aus Anlass der Einführung der Frauenor- sung der Frauen zur Ordination als Diako- dination in der anglikanischen Kirche hat ninnen oder Priesterinnen mit theologi- Papst Paul VI. eine strenge Ablehnung der schen Argumenten fortgeführt wird. In die- Frauenordination bekundet. Dies geschah sem Beitrag wird der Fokus auf der Pries- 1976 in der Erklärung der Glaubenskon- terweihe von Frauen liegen. Überblicksar- gregation "Inter insigniores" zur Frage der tig sollen wesentliche Argumente contra Zulassung von Frauen zum Priestertum. und pro Frauenpresbyterat dargestellt Gegen den negativen Bescheid dieser Erklä- werden. Dabei ist gleich zu Beginn eindeu- rung gab es innerkatholisch von vielen Sei- tig festzuhalten, dass - in Orientierung an ten Widerspruch: durch Theologen und repräsentativen Dogmatikern28 - die Zulas- Theologinnen; durch Gruppen von Pries- sung der Frauen zur Priesterweihe dezi- tern und Ordensleuten, zum Beispiel durch diert befürwortet wird. die "Nationale Vereinigung der amerikani- schen Ordensfrauen"; durch Frauenverei- Gegenwärtige Ausgangssituation nigungen, zum Beispiel durch die "Konfe- zum Presbyterat der Frau renz für die Frauenordination WOC". In Ge- genreaktion darauf hat 1994 Papst Johan- Im 20. Jahrhundert hat die sehr mächtige nes Paul II. die lehramtliche Ablehnung im Frauenbewegung gegen den herrschenden Dokument "Apostolisches Schreiben 'Ordi- Patriarchalismus durchgesetzt, dass Frau- natio Sacerdotalis' über die nur Männern en in allen gesellschaftlichen Bereichen die vorbehaltene Weihe" bekräftigt. Gleichberechtigung erhielten. So entwickel- Da die innerkatholische Kritik nicht ver- te sich auch in den Kirchen eine scharfe stummte, publizierte 1995 der Präfekt der Kritik am Patriarchalismus und zugleich Glaubenskongregation, Kardinal Joseph ein starkes Engagement für die Zulassung Ratzinger, mit Billigung des Papstes eine von Frauen zu kirchlichen Ämtern. "Antwort der Glaubenskongregation auf Nach langen, mühevollen und spannungs- den Zweifel bezüglich der im Apostolischen geladenen Diskussionen setzte sich in allen Schreiben 'Ordinatio sacerdotalis' vorgeleg- großen Kirchen-Gemeinschaften - mit Aus- ten Lehre". Hier wird das Nein der katholi- nahme der katholischen Kirche und der or- schen Kirche zur Priesterweihe der Frauen thodoxen Kirchen - allmählich die Neuein- als Glaubensgut bezeichnet, das vom or- führung der Ordination von Frauen durch. dentlichen Lehramt unfehlbar vorgetragen So ist es Faktum, dass es derzeit in lutheri- worden ist. Doch der Widerstand an der schen und reformierten Kirchen, in baptis- Basis ging weiter bis hin zum Faktum, dass in einigen Regionen der katholischen Kir- 27 Bericht über die Aussagen des Bischofs Büchel, in: che trotz des Verbots die Ordination von Mittelland-Zeitung, 24. 4. 2011. Frauen zu Priesterinnen stattfand. Darauf 28 Vgl. die Befürwortung der Frauenordination durch reagierte im Jahr 2008 die Glaubenskon- repräsentative Dogmatiker wie: K. Rahner, Pries- gregation mit einem Dekret, das erklärte: tertum der Frau?, in dieser Zs. 195 (1977) 291- 301; W. Beinert, Dogmatische Überlegungen zum Die ordinierten Frauen und die verantwort- Priestertum der Frau, in: ThQ 173 (1993) 186- lich beteiligten Personen verfallen automa- 204; P. Neuner, Ekklesiologie, in: Glaubenszugän- tisch der Exkommunikation. ge, Bd. 2, hg. v. W. Beinert (Paderborn 1995) 553 f.; M. Kehl, Die Kirche (Würzburg 42001) 450-459; P. Hünermann, Die Stellung der Frau in der Rö- Die Grundaussagen von "Ordinatio misch-katholischen Kirche u. der Streit um die sacerdotalis" (1994) Frauenordination, in: Orthodoxes Forum 16 (2002) 203-212. - Aus kirchenrechtlicher Sicht Da dieses Apostolische Schreiben von Jo- plädiert für die Frauenordination: S. Demel, Unge- hannes Paul II. einen lehramtlich hoch- liebte Kinder Gottes?, in: dieser Zs. 222 (2004) 157-170. rangigen Stellenwert hat, soll sein Haupt- imprimatur, Heft 4, 2019 Kirche aktuell 233

inhalt skizziert werden. In der Nummer 1 dafür, daß die Gläubigen das wahre Antlitz des (nur drei Seiten langen) Dokuments der Kirche wieder neu entdecken." steht am Anfang das Traditionsargument: In der Nummer 4 schärft der Papst ein, "Die Priesterweihe … war in der katholi- dass die Entscheidung des katholischen schen Kirche von Anfang an ausschließlich Lehramts, Frauen nicht zur Priesterweihe Männern vorbehalten." Dann wird dicht als zuzulassen, einen definitiven und verfas- Standpunkt der katholischen Kirche festge- sungsmäßigen Charakter hat. So erklärt er stellt, "daß es aus prinzipiellen Gründen kraft seines Amtes zum Schluss, "daß die nicht zulässig ist, Frauen zur Priesterweihe Kirche keinerlei Vollmacht hat, Frauen die zuzulassen. Zu diesen Gründen gehören: Priesterweihe zu spenden, und daß sich al- das in der Heiligen Schrift bezeugte Vorbild le Gläubigen der Kirche endgültig an diese Christi, der nur Männer zu Aposteln wähl- Entscheidung zu halten haben". te, die konstante Praxis der Kirche, die in der ausschließlichen Wahl von Männern Problem der Rezeption des päpstli- Christus nachahmte, und ihr lebendiges chen Lehrdekrets Lehramt, das beharrlich daran festhält, daß der Ausschluß von Frauen aus dem Pries- Anlass und Ziel des defensiven Schreibens teramt in Übereinstimmung steht mit Got- war es, die Rezeption der lehramtlichen tes Plan für seine Kirche." Position durchzusetzen, dass die Frauen nicht zur Priesterweihe zugelassen werden Die Nummer 2 schließt die Meinung aus, können. Aber in den zwei synchronen In- dass sich Christus nur aus sozio-kulturel- stanzen (sensus fidelium und wissenschaft- len Motiven der damaligen Zeit auf Männer liche Theologie) für die Wahrheitsfindung beschränkt hatte: im Glauben ging die Diskussion sofort wei- "Wenn Christus nur Männer zu seinen ter. Zum einen widersprach der sensus fi- Aposteln berief, tat er das völlig frei und delium, vor allem in vielen Frauengruppen; unabhängig. Er tat es mit derselben Frei- zum andern erhob die wissenschaftliche heit, mit der er in seinem Gesamtverhalten Theologie argumentative Einwände. die Würde und Berufung der Frau betonte, Ein Haupteinwand aus der dogmatischen ohne sich nach den herrschenden Sitten … Erkenntnislehre richtete sich gegen die zu richten". Deshalb hat die Kirche "bei der Art, wie im päpstlichen Lehrschreiben das Zulassung zum Amtspriestertum stets als Schrift- und Traditionsargument verwendet feststehende Norm die Vorgehensweise ih- wird. Das formale Grundproblem ist die res Herrn bei der Erwählung der zwölf wenig differenzierte Beachtung der Ge- Männer anerkannt." schichtlichkeit der Glaubensentwicklung in In der Nummer 3 führt der Papst ein mari- Schrift und Tradition. ologisches Argument an, das den Vorwurf Gerade das Amtsverständnis und die kon- einer Diskriminierung der Frauen in der krete Struktur der Ämter sind in einem katholischen Kirche entkräften soll: Werdeprozess bis zur Mitte des 2. Jahr- Denn es "zeigt die Tatsache, daß Maria, die hunderts entstanden. So ist etwa die Aus- Mutter Gottes und Mutter der Kirche, nicht sage: "Maria hat nicht das Amtspriestertum den eigentlichen Sendungsauftrag der erhalten" völlig anachronistisch, weil der Apostel und auch nicht das Amtspriester- historische Jesus zwar die Zwölf erwählt, tum erhalten hat, mit aller Klarheit, daß aber noch kein Amtspriestertum eingesetzt die Nichtzulassung der Frau zur Priester- hat. Was die Tradition in der Ämterfrage weihe keine Minderung ihrer Würde und betrifft, ist immer der geschichtliche Kon- keine Diskriminierung ihr gegenüber be- text der Entstehung der Ämter und die le- deuten kann." bendige geschichtliche Veränderbarkeit zu Positiv sieht der Papst die Rolle der Frau in beachten. Eindeutig sind die Ämter in der der Kirche "absolut notwendig und uner- frühen Kirche im Kontext des Patriarcha- setzbar": So wünschte er, lismus entstanden, und sie haben im Lauf "daß die christlichen Frauen sich der Größe der Kirchengeschichte ihre Ausdrucksfor- ihrer Sendung voll bewußt werden; ihre men immer wieder verändert. Diese Ge- Aufgabe ist heutzutage von höchster Bedeu- schichtlichkeit der kirchlichen Ämter sollte tung sowohl für die Erneuerung und Ver- das päpstliche Lehramt ernst nehmen und menschlichung der Gesellschaft als auch in der jetzigen geschichtlichen Situation

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der Gleichberechtigung der Frauen den Zu- Dogmatische Grundlegung für die gang zur Frauenordination öffnen. Zulassung der Frauen zum Presby- Ein konkreter Einwand der wissenschaftli- terat chen Theologie richtet sich gegen die unge- schichtliche Art, wie das päpstliche Lehr- Um eine Verhedderung im Detail zu ver- schreiben die Erwählung des Zwölfergre- meiden, ist es am sachdienlichsten, prinzi- miums interpretiert. Dort wird geschluss- pielle Gründe für die Einführung der Frau- folgert: Jesus hat zwölf Männer als Grund- enordination zu erörtern. Fundamentale steine seiner Kirche erwählt, deshalb kön- Argumente für ein Ja zur Frauenordinati- nen nur Männer ein kirchliches Amt inne- on sind: die Gleichwertigkeit und Komple- haben. Aber nach dem Konsens der neutes- mentarität von Mann und Frau in der tamentlichen Exegese ist dies ein unsach- Schöpfungs- und Erlösungsordnung; die gemäßer Ansatz, weil er den geschichtli- Teilhabe aller Getauften am Priestertum chen Kontext nicht beachtet. Christi; die Repräsentation Christi durch alle Getauften; ein pneumatologischer Neu- Denn der historische Jesus verbindet mit aufbruch gegenüber bisheriger Tradition in der Zwölfzahl eine symbolische Funktion. der Frauenfrage. Er wollte damit zum Ausdruck bringen, dass seine Botschaft dem Gesamtvolk Israel 1. Gleichwertigkeit und Komplementarität gilt. Die Zwölf repräsentieren ganz Israel, von Mann und Frau in der Schöpfungs- das als Zwölf-Stämme-Volk auf die zwölf und Erlösungsordnung: Ausgangsbasis für Söhne Jakobs zurückgeht. Damit Jesu An- die Zulassung der Frauen zum Presbyterat spruch in der jüdischen Gesellschaft seiner ist die Würde der Frau, wie sie biblisch in Zeit verstanden werden konnte, musste er der Botschaft von Schöpfung und Erlösung als Repräsentanten der Söhne Jakobs aus- grundgelegt ist. schließlich Männer wählen. So will er mit Das tiefste Fundament für die gleiche Wür- der symbolischen Berufung der zwölf Män- de von Mann und Frau liegt in der gemein- ner nichts zur Frauenfrage sagen, denn samen Gottabbildlichkeit. Diese ist eindeu- durch die Aufnahme von Frauen in die tig in Gen 1,27 artikuliert: "Gott schuf also Zwölfzahl wäre die Symbolik damals unver- den Menschen als sein Abbild; als Abbild ständlich geblieben. Aber Jesus hat Frauen Gottes schuf er ihn. Als Mann und Frau als Jüngerinnen in seine Gefolgschaft auf- schuf er sie." Also gilt: Mann und Frau sind genommen, was eine positive Begründung zusammen Gottes Abbild; die Frau ist dem dafür gibt, dass es seinem Willen ent- Mann nicht nachgeordnet, sondern gleich- spricht, Frauen - wie in den Urgemeinden geordnet; als Abbild Gottes haben beide, tatsächlich geschehen - besondere Funkti- Mann und Frau, etwas Göttliches in sich. onen in der Kirche zu geben. Für das Leben heißt das: Die Geschlechter sind da, um sich zu ergänzen und gemein- Außerdem stellt die wissenschaftliche Theo- sam die Fülle des Menschseins darzustel- logie eine Mißachtung der konkreten ge- len; das volle Menschsein verwirklicht sich schichtlichen Situation fest, wenn das im komplementären Zusammenwirken von päpstliche Lehrschreiben behauptet: "Wenn Mann und Frau. Christus nur Männer zu seinen Aposteln berief, tat er das völlig frei und unabhän- Das lässt sich entsprechend auf das kirchli- gig." Da Apostelsein bedeutet, öffentlich für che Leben anwenden: In der Gemeinschaft die Botschaft Jesu Zeugnis abzulegen, der Kirche sollen Mann und Frau komple- konnte sich Jesus in der jüdischen Umge- mentär zusammenwirken; so soll auch in bung seiner Zeit nicht frei und unabhängig den kirchlichen Ämtern die Gemeinsamkeit entscheiden, was die Auswahl zur öffentli- von Mann und Frau zum Ausdruck kom- chen Zeugenschaft betrifft. Es war ja Fak- men; die volle Teilhabe der Frauen an den tum: Im damaligen Judentum hatten die kirchlichen Ämtern soll verdeutlichen, dass Frauen kein öffentliches Zeugnisrecht. So der Mann nicht über die Frau herrscht, konnte Jesus für die öffentliche Zeugen- sondern dass Mann und Frau gemeinsam schaft keine Frauen auswählen. Jesus war die Kirche führen. vielmehr in Abhängigkeit von seiner sozio- Auch im Neuen Testament ist die gleich- kulturellen Situation gezwungen, wegen wertige Gottabbildlichkeit von Mann und der Zeugnisfähigkeit nur Männer als öffent- Frau eine Grundüberzeugung. Jesus Chris- liche Verkünder zu berufen. tus vertritt in Verkündigung und Verhal-

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ten die gleiche Würde von Mann und Frau. der Priester "in persona Christi" handelt. Er bezieht selbstverständlich sowohl Män- Dieses "in persona Christi" wird traditionell ner als auch Frauen in sein heilbringendes als entscheidende Begründung für die nur Handeln ein. Als Auferstandener erscheint Männern vorbehaltene Priesterweihe ange- Jesus zuerst Frauen und bestellt sie zu führt. Denn - so wird argumentiert - da Verkünderinnen des zentralen Heilsereig- Christus ein Mann war, können nur Män- nisses seiner Auferstehung. In den Urge- ner Christus repräsentieren. meinden herrscht mit dem Apostel Paulus Aber beim Personsein geht es prinzipiell die Überzeugung: "Es gibt nicht mehr … um die spezifische menschliche Würde, die Mann und Frau, denn ihr alle seid einer in Frauen und Männer gemeinsam haben. Christus" (Gal 3,28). Auch bei der Person Jesu Christi geht es Für die Zulassung der Frauen zur Ordina- um sein Menschsein und nicht um seine tion bedeutet dies alles: Mann und Frau Männlichkeit. Denn es heißt nicht: Der sind durch das Heilswerk Jesu Christi in Sohn Gottes ist Mann geworden; sondern gleicher Weise erlöst. So haben Mann und es heißt: Der Sohn Gottes ist Mensch ge- Frau auch eine gleichwertige Teilhabe an worden (im Credo: homo factus est). Da der Weitervermittlung des Heilswerkes Je- nun Mann und Frau als Menschen das Per- su Christi. Die Aufgabe des Heilsdienstes ist sonsein gemeinsam besitzen, kann sowohl am besten zu verwirklichen durch das der Mann als auch die Frau "in persona" komplementäre Zusammenwirken von Christus repräsentieren. Insofern also auch Mann und Frau. Für den gleichwertigen die Frauen als Getaufte in ihrem Person- Heilsdienst ist jedoch die Zulassung der sein die Person Christi repräsentieren, ist Frauen zu allen Ämtern eine notwendige das eine tiefste Begründung dafür, dass die Voraussetzung. Frauen eine fundamentale Befähigung zum 2. Die Teilhabe aller Getauften am Priester- priesterlichen Repräsentieren Christi ha- tum Christi: Christus ist der wahre und ben. Darum muss auch in dieser Perspekti- einzigartige Priester des Neuen Bundes. An ve den Frauen der Zugang zum ordinierten seinem Priestertum erhalten alle Anteil, die priesterlichen Dienst offen stehen. durch die Taufe in die Kirche als Leib 4. Pneumatologischer Neuaufbruch in der Christi eingegliedert sind. Alle Getauften Frage der Frauenordination: Die Kirche bilden eine "heilige Priesterschaft" (1 Petr war in ihrer Entstehung eine Schöpfung 2,5). In diesem allgemeinen Priestertum des Geistes Gottes, und sie lebt durch all sind alle Getauften zum priesterlichen die Jahrhunderte aus der schöpferischen Dienst in der Kirche berufen. Kraft des Geistes Gottes. Wenn nun alle Getauften die priesterliche Es war das Wirken des Geistes Gottes, das Würde und Berufung haben, dann gilt das am Pfingstfest die konkrete Kirche ins Le- in gleicher Weise für die Männer wie für die ben rief. Als die zwölf Apostel "zusammen Frauen. Das Priestertum aller ist kein lee- mit den Frauen und mit Maria, der Mutter rer Titel, sondern eine wirkliche Befähi- Jesu" (Apg 1,14) in einem Haus zum Gebet gung zum Heilsdienst. Darum sind auch die versammelt waren, ließ sich der Geist Got- Frauen vom allgemeinen Priestertum her tes im Zeichen von Feuerzungen "auf jeden ordinationsfähig. Von dieser Basis her von ihnen" nieder und "alle wurden mit können Frauen, die sich berufen fühlen dem Heiligen Geist erfüllt" (Apg 2,3 f.). Pet- und die nötigen Gaben mitbringen, durch rus trat dann als Zeuge auf und deutete das die Kirche zum besonderen priesterlichen Ereignis als Endzeitgeschehen nach Joel Dienst, zum Presbyterat ordiniert werden. 3,1: "Ich werde meinen Geist ausgießen 3. Die Repräsentation Christi durch alle Ge- über alles Fleisch. Eure Söhne und eure tauften: Da alle, die auf den Namen Christi Töchter werden Propheten sein" (Apg getauft sind, "Christus angezogen" (Gal 2,17). Demnach waren Frauen unmittelbar 3,27) haben und "in Christus … eine neue bei der Gründung der Kirche dabei, und sie Schöpfung" (2 Kor 5,17) sind, haben alle wurden mit dem Heiligen Geist erfüllt; in Getauften durch ihr Sein in Christus die der Deutung des Petrus wurde auch Frauen Eignung, Christus zu repräsentieren. Im ("Töchtern") ein prophetischer Dienst zuge- Licht dieser seinsmäßig grundgelegten schrieben. Christusrepräsentation ist die traditionelle Damals konnten die Frauen aber nicht in katholische Formel zu interpretieren, dass der Öffentlichkeit reden, da sie kein öffent-

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liches Zeugnisrecht besaßen. Das öffentli- Das Entscheidende in der Frage der Frau- che Zeugnis konnte also nur ein Mann, enordination ist nicht das Faktum einer eben Petrus als Sprecher der Apostel able- sehr langen Tradition, sondern die Prü- gen. In der Gegenwart besteht eine ganz fung, ob diese Tradition in der gegenwärti- neue gesellschaftliche Situation, indem die gen geschichtlichen Situation das Heil der Frauen die Gleichberechtigung besitzen Menschen fördert. Nach dem Willen Jesu und in allen Bereichen der Öffentlichkeit ist - analog zum Sabbatwort von Mk 2,27 - wirken können. der Mensch nicht für die Tradition da, son- So muss in unserer Zeit aufgrund der dern die Tradition für den Menschen. So Gleichberechtigung der Frau auch die Rolle entspricht es dem Willen Jesu, der "Herr der Frauen in der Kirche neu bedacht und über den Sabbat" (Mk 2,28) und damit geregelt werden. Vom Prinzipiellen her ist auch Herr über die Tradition ist, dass eine ja die gleiche Würde der Frau in der Schöp- Tradition, die in ihrem Heilsdienst sehr fungs- und Erlösungsordnung grundgelegt. umstritten ist, geändert werden kann. Konkret bietet das Sakrament der Taufe die Wenn sich die katholische Kirchenleitung Ausgangsbasis für einen gleichberechtigten am Heilswillen des Herrn orientiert, hat sie Heilsdienst der Frauen. Denn in der Taufe eindeutig die Vollmacht, Frauen die Pries- empfangen alle, Frauen ganz gleich wie terweihe zu spenden. Männer, den Heiligen Geist. So erhalten Das Heil der Menschen muss oberstes Prin- auch Frauen Anteil an allen Geistesgaben, zip in der Kirche sein. Da die Ordination an allen Charismen. Damit haben wir im von Frauen ein neues, spezifisches Feld des Geistempfang der Taufe eine tiefste pneu- Heilsdienstes eröffnet, wird in unserer matologische Begründung für die gleichbe- heutigen gesellschaftlichen Situation das rechtigte Teilhabe der Frauen an allen Heil vieler Menschen gefördert. Heilsdienst Diensten, oder, traditionell gesagt, an allen aber ist der zentrale Wille des Herrn Jesus Ämtern in der Kirche. So müssten die Christus. Darf die Leitung der katholischen Frauen auch zu allen ordinierten Ämtern Kirche diesen absoluten Willen des Herrn zugelassen werden. weiterhin ignorieren? Im Hinblick auf die Frauenordination Tempus urget - die Zeit drängt: Mag auch brauchen wir in der katholischen Kirche im Kontext der katholischen Kirche "Ge- ein neues Pfingsten, einen pneumatologi- duld" in der Frage der Verwirklichung der schen Neuaufbruch. Die Leitung der katho- Frauenordination angebracht sein, so muss lischen Kirche sollte sich neu vom schöpfe- doch - mit Karl Rahner SJ - abschließend rischen Geist Gottes erfassen lassen und gesagt werden: "Diese Geduld sollte nicht der neuen gesellschaftlichen Situation ent- überbeansprucht werden, weil die Zeit sprechend in einem großen schöpferischen drängt und man gewiss nicht ohne Schaden Schritt die Frauenordination zulassen. für die Kirche 100 Jahre warten kann." 29

Fazit *** Aus den vorausgegangenen Erörterungen ergibt sich dogmatisch eine eindeutige posi- tive Begründung für die Zulassung von Irmgard Rech Frauen zu allen ordinierten Ämtern. Zusammenfassend lässt sich als Konklusi- Predigt vor der Basilika St. on formulieren: Fundamentale dogmatische Prinzipien zeigen, dass der Ausschluss der Johann in Saarbrücken am Frauen von der Ordination vom Glauben 28.09.19 her nicht gerechtfertigt ist; vielmehr spre- chen diese dogmatischen Prinzipien dezi- ______

diert dafür, dass die Frauen voll die geistli- che Qualifikation für eine Ordination zu al- len kirchlichen Ämtern besitzen. Es ist Zeit „Gleich und berechtigt. Alle Dienste und für die katholische Kirche, die Zeichen der Ämter für Frauen in der Kirche“, so heißt Zeit in der Frage der Frauenordination zu das neue Positionspapier der kfd (katholi- sche Frauen Deutschlands). Mit einem erkennen und kreativ mit der Einführung der Frauenordination zu handeln. 29 Rahner (A. 6) 301. imprimatur, Heft 4, 2019 Kirche aktuell 237

Faltblatt „Frauen, worauf wartet Ihr?“ ruft weil ich den ersten Pfingstredner, nämlich der Verband seine Mitglieder auf, mit der den heiligen Petrus, voll auf meiner Seite Unterschrift für eine „geschlechtergerechte hatte. Im Brausen des Pfingststurms spürte Kirche“ zu stimmen und damit eine Kirche er damals in Jerusalem nach dem Tode Je- zu fordern, „in der Frauen Priesterinnen, su, dass die Zeit gekommen sei, in der bei- Bischöfinnen, Kardinälinnen und Päpstin- den Geschlechtern die Geistrede zugestan- nen werden können“. Anlässlich der den ist. Denn nun habe Gott durch Jesus Herbstvollversammlung der Deutschen Bi- die schon beim Propheten Joel versproche- schofskonferenz startete der kfd-Bundes- ne Geistkraft geschickt: „Ausgießen will ich verband eine erste Verbandsoffensive, in- meinen Lebensgeist über alles Fleisch, und dem er vom 23. bis zum 29. September zu eure Söhne und Töchter werden prophe- einer Aktionswoche aufrief unter dem Mot- tisch reden.“ (Apg. 2,17) to: „Macht Euch stark für eine geschlech- An diesen göttlichen Sturm- und Feuergeist tergerechte Kirche!“ Im Dekanat Saarbrü- für beide Geschlechter glauben Amtsträger cken organisierte die kfd-Gruppe Burbach unserer Kirche bis heute noch nicht. „Wo- zum Auftakt der Woche einen Demonstrati- her hat eine Frau die Berechtigung, das onsmarsch durch die Innenstadt und zum Evangelium in der Öffentlichkeit zu ver- Abschluss einen Protest- und Klagegottes- künden“? So lauteten die priesterlichen Be- dienst vor der Basilika St. Johann. Auf An- schwerden in der Folge. Auch Bischof Spi- regung einer imprimatur-Leserin hatten die tal hielt es für unangebracht, die eigene Frauen meinen Artikel aus Heft 2. 219 Kirche öffentlich zu kritisieren. 40 Jahre „Wenn doch auch du an diesem Tag er- hat der Saarländische Rundfunk mir und kannt hättest, was dir Frieden bringt!“ zu anderen Frauen zugestanden, den christli- ihrem „geistlichen Wort“ im Monat Mai chen Glauben mit einem kritischen Blick gemacht, das sie ermutigte weiterzumachen auf die immer zentralistischer werdende mit ihrem Einsatz für eine geschlechterge- Kirche in der Öffentlichkeit zu predigen. rechte Kirche. Sie baten mich, in ihrem „So? Sie sind also von diesem gottlosen Gottesdienst zu predigen. Sender?“ Soll Kardinal Ratzinger einmal den hochgeschätzten, kirchenkritischen Liebe Schwestern und Brüder! Liebe Jünger Kirchenfunk-Chef Norbert Sommer auf dem und Jüngerinnen Jesu! Petersplatz in Rom begrüßt haben. Dieser Wenn ich euch heute Morgen so gleichma- gottlose Sender erlaubte also Männern und cherisch begrüße, so weiß ich, dass diese Frauen, gleich ob sie geweihte Priester oder Begrüßung, in einem katholischen Kirch- Laien waren, den Glauben in den öffentli- raum gesprochen, eine fake News bedeuten chen Raum zu verkünden. Im Raum katho- würde. Hier müsste ich unterscheiden und lischer Kirchen ist diese Gleichheit bis heu- sagen: „Liebe Schwestern und Brüder im te noch verboten. Laienstand und liebe Brüder im Weihe- Während Wirtschaftsbosse sich Gedanken stand!“ Schwestern im Weihestand gibt es machen, dass die Wirtschaft immer weibli- noch nicht. cher werden muss und dass mehr Frauen Als ich 1984, also vor über 30 Jahren am in die Aufsichtsräte und Vorstände gehö- Pfingstfest als Laiin und verheiratete Frau ren, verschließt sich die männliche Füh- und Mutter in der ARD das „Wort zum rung der katholischen Kirche in Rom wei- Sonntag“ sprechen durfte, habe ich gesagt: terhin jeder Überlegung, Frauen gleich be- “Den Frauen wird bis heute in der katholi- rechtigt an ihren Ämtern teilnehmen zu schen Kirche ihr Mitspracherecht verwei- lassen. Alle Ämter, außer das Kardinals- gert. Ich frage mich, ob das im Lichte der amt, sind an die Priesterweihe gebunden. Pfingstoffenbarung nicht als Unterdrü- Von der Priesterweihe ausgeschlossen sind ckung der fraulichen Geistbegabung gese- aber alle Frauen, allein aus dem Grund, hen werden muss, die immer noch zum dass sie keine Männer sind. „Die heilige Nachteil aller in unserer Kirche geschieht.“ Weihe empfängt gültig nur ein getaufter Diese beiden Sätze hatte mir weder der ka- Mann.“ So ist es im kirchlichen Gesetzbuch tholische Rundfunkbeauftragte Pfarrer (CIC c. 1024) festgeschrieben. In der heu- Karl-Heinz Pfeiffer noch der leitende Re- tigen demokratischen Gesellschaft, in der dakteur des Kirchenfunks Norbert Sommer die Gleichheit von Mann und Frau vor dem aus meinem Manuskript gestrichen. Den Gesetz als die größte Errungenschaft der Mut zu dieser mahnenden Klage fand ich,

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Moderne gilt, bleibt eine männerregierte Er sollte wissen, wie wir Frauen unsere Kirche hinter dem ethischen Anspruch un- Rolle in der Kirche verstehen. In einem seres Grundgesetzes zurück und ist unse- freundlichen Brief dankte er für das Ver- ren Kindern und Enkeln nicht mehr ver- trauen, das wir ihm gezeigt haben. mittelbar. Zunehmend wächst die Empö- rung über eine Kirche, die Liebe und Ge- rechtigkeit predigt, sich jedoch immer noch *** an das Patriarchat klammert, das so viel Leid über die Frauen wie auch Männer ge- bracht hat. Gregor Tischler Wenn wir heute als kfd-Frauen vor der Ba- silikakirche einen Klage- und Bittgottes- Der andere Missbrauch dienst feiern unter der Leitfrage „Frauen, worauf warten wir?, so schließen wir uns ______damit den Frauen an, die vor Beginn der Herbstvollversammlung der Deutschen Bi- schofskonferenz in Fulda für eine ge- Immer wieder ein besonderes Erlebnis, wo- schlechtergerechte Kirche demonstriert chentags eine alte Kirche aufzusuchen, in haben. Wir beteiligen uns damit zugleich an der man, falls man Glück hat, ganz allein dem Kirchenstreik der Aktion Maria, 2.0, ist, die Kunstwerke bestaunen und die Stil- zu der mutige Frauen in Münster aufge- le, die sakrale Atmosphäre auf sich wirken standen sind. Ob die Bischöfe und der lassen kann. Vor kurzem hatte ich mal Papst wirklich ahnen, warum wir nicht wieder dieses Glück. Ich hatte in einem mehr schweigen und die braven ergebenen kleinen Ort in der Nähe zu tun, musste Frauen sein wollen, welche die Kirchen mich aber noch etwas gedulden. Die Vier- putzen und mit Blumen schmücken, in de- telstunde nutzte ich, um die dortige präch- nen uns ein Gott verkündigt wird, der uns tige Abteikirche, in der ich schon länger Frauen zu zweitrangigen Wesen bestimmt nicht mehr war, zu besuchen. In ihr findet hat. So soll Papst Franziskus kürzlich noch man bei genauerem Hinsehen das eine oder vor 850 Ordensoberinnen aus aller Welt ge- andere bisher noch nicht bemerkte Detail: sagt haben, die Kirche könne nicht die Of- Welch Reichtum an Kunst, geschaffen zur fenbarung ändern und Frauen zu Prieste- höheren Ehre Gottes! rinnen weihen. Nach seiner Wahl zum Zum Abschluss noch ein Blick auf den Papst hat Franziskus sich geweigert, im Schriftenstand! Doch kunsthistorische vollen Papstornat auf der Loggia zu er- Schriften waren da nur spärlich zu finden, scheinen, mit der Begründung, „der Kar- stattdessen aber viel Frommes, darunter neval“ sei nun vorbei. Nun hat er vor so ein "Beichtbüchlein für Kinder" zum Bei- vielen achtenswerten Ordensfrauen bewie- spiel oder eine "Beichtandacht" für Erwach- sen, dass er damals nur die äußeren Ge- sene mit dem Titel: "Wie beichte ich richtig?" wänder abgelegt hat, aber noch nicht die Meine Neugierde wuchs. 1958, gut sechs anmaßende innere Haltung, deren Aus- Jahrzehnte zuvor, legte ich meine "erste druck die Prachtgewänder sind. Indem er heilige Beichte" ab. Und alles, was davon in die männliche Machtstruktur als gottge- Erinnerung blieb, war und ist ziemlich wollt verteidigt, schiebt er Gott dieses Un- furchtbar: Schwere Sünden gleich Todsün- recht in die Schuhe und mutet den Frauen den, Höllenängste, der ständig mit bösen zu, einen Gott zu lieben, der nur Männer Versuchungen beschäftigte Teufel, der be- im Amt haben will und Frauen einen min- sonders abends, vor dem Einschlafen, äu- deren Rang zuweist. ßerst aktiv war ... Aber das ist ja alles Ver- Auf die Frage, warum wir diesen Gottes- gangenheit. Mal sehen, was sich da seitdem dienst vor der Kirche feiern, lautet meine geändert hat, vor allem beim interessantes- Antwort: Es soll ein prophetisches Zeichen ten Gebot, dem sechsten! dafür sein, dass eine katholische Kirche Und nun lese ich: kein guter Ort des Zusammenwirkens von "Gott will, dass wir schamhaft und keusch Frauen und Männern ist. sind (...) Hast du dich bemüht, in deinem Ich habe meine Predigt Bischof Stephan Wesen ganz edel und rein zu sein - deine Ackermann zur Kenntnisnahme geschickt. Augen und deine Gedanken vor allem Un- imprimatur, Heft 4, 2019 Kirche aktuell 239

reinen zu bewahren? - Hast du daran ge- dert, die ich als achtjähriges Kind im Reli- dacht, in Versuchungen ein Stoßgebet zu gionsunterricht erlebte. Der Kaplan wollte sagen? Oder warst du unschamhaft oder uns von der Bedeutung der Beichte für das unkeusch: im Denken - im Reden - im Zu- ewige Leben überzeugen und erzählte uns hören - im Anschauen - im Tun? An dir sinngemäß folgende Horrorgeschichte: Ein selbst oder mit anderen? (...) Hast du frei- Junge sei einst in eine Todsünde verfallen willig schlechte Zeitschriften (z.B. 'Bravo'), und gleich zur Beichte gegangen. Glücklich Filme, Bilder angeschaut?" 1 sei er heimgekehrt, nun wieder ein "weißes In diesem Stil geht es weiter. Fragt sich, ob Seelenkleid" bekommen zu haben. Abends 'Bravo' zu lesen noch eine lässliche oder aber habe er nicht einschlafen können, der schon eine schwere Sünde ist. Das steht Teufel habe ihn wieder in Versuchung ge- hier nicht. Auch nichts von den einschlägi- führt, der er wieder erlegen sei. Aus Angst gen Internetseiten - fast rührend, diese vor der Hölle (leider keine "vollkommene nostalgische Attitüde des Autors ... Reue", die ihm, wie der Religionslehrer sag- Zu meiner Kindheit galten nach Angaben te, die Hölle erspart hätte) habe er sich fest des Katechismus und des Katecheten alle vorgenommen, gleich am nächsten Morgen Verfehlungen gegen das 6. Gebot, das uns vor der Heiligen Messe wieder zur Beichte nur in der verfälschten Form: "Du sollst zu gehen. "Aber", so der Kaplan vor uns nicht Unkeuschheit treiben!" eingebläut Achtjährigen mit offenen Mündern, "in die- wurde, als Todsünden. Sexuelle Lust: eine ser Nacht kam der Todesengel zu ihm, und Verführung des Teufels! Ihr zu erliegen: die so leidet er nun unvorstellbare, ewige Qua- Eintrittskarte zur Hölle und zu ihrer ewi- len in der Hölle!" gen, jede Vorstellungskraft unendlich Wenn das kein Missbrauch kindlicher See- übersteigenden Qual! len ist! Wenn wir heute freilich fast täglich Übertrieben? Lesen wir doch einmal in ei- von den Missbrauchsskandalen in der ka- ner vorkonziliaren "Aufklärungsschrift", die tholischen Kirche lesen müssen3, wird da- an Jungen (wie mich) gerichtet war: bei nur selten ein Zusammenhang zwi- "Auf einen Missbrauch muss ich dich be- schen jener, Kindern oktroyierten Seelen- sonders aufmerksam machen, weil dir in qual, als ihnen Lust als Todsünde erklärt den nächsten Jahren Jungen begegnen wurde, und den jetzt aufgedeckten Sexual- können, die diesen Missbrauch treiben (...) verbrechen hergestellt. Gibt es diesen Zu- Es kommt vor, dass Jungen ihren eigenen sammenhang überhaupt? Körper wegen des Lustgefühls so aufregen, Ja, es gibt ihn, aber man muss schon etwas dass sich der Same ergießt. Du erkennst tiefer bohren, um ihn erkennen zu können. gleich, dass das ein ernster Missbrauch ist. Für eine erste Annäherung an dieses Gott hat dem Menschen einen Teil seiner schwierige Problemfeld möchte ich drei Allmacht geschenkt und ihm das hohe Amt Stichpunkte, drei Begrifflichkeiten nennen, der Vaterschaft gegeben, und der Mensch die es weiträumig umfassen: Gesetzmäßig- missbraucht diese heilige Kraft in niedriger keiten der (nicht nur auf den Menschen Weise zu seiner Lust. Das ist Sünde. Der bezogenen) Natur, unreife oder gereifte Se- Mensch, der solches treibt, raubt seinem xualität, vorhandene oder mangelnde Em- Leibe etwas von seiner Ehre und Würde; er pathie- und Liebesfähigkeit. entweiht seine Seele. (...) Dazu kommt Naturrecht und Schöpfungsordnung: Wer noch das bedrückende Gefühl der Schuld: definiert das? Du hast Böses getan vor dir selber und vor Es ist schon merkwürdig: Bis in die Ge- Gott." 2 genwart argumentieren Moraltheologen mit Damit später Geborene und von ekklesio- dem Naturrecht, das sie mit der "Schöp- genen Neurosen verschont Gebliebene bes- fungsordnung" gleichsetzen. In jüngerer ser nachvollziehen können, wie das damals Zeit ist dafür das Festhalten an der Enzyk- im katholischen Milieu mit der Einstellung lika "Humanae vitae" von Papst Paul VI. zur Erotik war, sei eine Episode geschil- (1968) paradigmatisch. Künstliche Emp-

3 Allerdings kommen nun auch Missbrauchsberichte 1 P. Martin Ramm FSSP, Mein Jesus Barmherzigkeit. aus ganz anderen Bereichen der Gesellschaft dazu, Beichtbüchlein für Kinder, 10. Auflage Thalwil aus Sportvereinen, reformpädagogischen Interna- 2015, S. 40 ten, Studios usw. usf. - kurzum von überall da, wo 2 Klemens Tilmann, Was du gerne wissen möchtest, (vor allem) Männer ihre Machtposition sexuell Recklinghausen 1960, S. 40f ausnützen können. imprimatur, Heft 4, 2019 Kirche aktuell 240

fängnisverhütung verstoße gegen die sich hier ein weites Feld für Anfragen an Schöpfungsordnung, weil die Befriedigung eine dogmatisch orientierte Moraltheologie. des Sexualtriebs grundsätzlich der Zeugung Warum entwickelt schon ein Kind lange von Nachkommen - immerhin auch der vor dem Erwachsenwerden sexuelle Lustge- Festigung ehelicher Liebe: welch inner- fühle? Sind sie trotz Taufe noch ein Relikt kirchlicher Fortschritt! - zu dienen habe. der Erbsünde? Wie weltfremd müssen ei- Zweifellos entsprechen der Nahrungstrieb, gentlich Religionspädagogen, Priester oder die Suche nach Geborgenheit und Gemein- Moraltheologen, Bischöfe und Päpste sein, schaft, aber auch das Bestreben, sich gegen wenn sie solche Gefühle als von Grund auf Gefahren zu wehren, d.h. ein angeborener sündhaft ansehen - und daher eine zöliba- Aggressionstrieb, der (menschlichen) Na- täre, auf jede erotische Lust verzichtende tur, religiös gesprochen, der Schöpfungs- Lebensweise als gottgewollte, dem Glauben ordnung. Warum aber soll die Erfüllung angemessenere betrachten und verkünden? sexueller Lust dies nicht tun? Weltfremd - oder doch auch sehr realitäts- Wir wissen doch inzwischen, aufgrund un- bewusst? Träfe Letzteres zu, gäbe dies al- zähliger wissenschaftlicher, kaum bestreit- lerdings Anlass zu noch größeren Beden- barer Erkenntnisse, dass Kinder, insbe- ken, die uns geradezu in einen moralischen sondere männlichen Geschlechts, schon in Abgrund blicken ließen. Und doch ist es so: frühem Alter sexuelle Lustgefühle verspü- Die angeblich gottgewollte Beherrschung, ren, die auf Befriedigung drängen, obwohl genauer: Unterdrückung des Sexualtriebs, doch dabei noch nicht von Zeugung die Re- ideologisch ausgerichtet auf den Gegensatz de sein kann. von Himmel und Hölle, die Behauptung, Die traditionsfixierte, vor allem auf Augu- Sünde sei vor allem das Genießen "böser stinus zurückgehende Begründung für se- Lust" (nicht so sehr das Töten von Ketzern xuelle Versuchungen, es handle sich hier- oder auch Feinden im Krieg), erwies sich bei um eine Folge von Adams Sündenfall, unbestreitbar als effektives Machtmittel: Je überzeugt heute wohl nicht einmal mehr größer das Sündenbewusstsein - und wer die Eifrigsten unter den Kirchgängern. hätte nie erotisch-sexuelle Gefühle und Ge- Wie ist es dann, so könnte man weiterfra- danken gehabt? -, umso bedeutsamer die gen, mit dem Bedürfnis, Hunger und Durst "Gnadenmittel" der Kirche und deren Ein- zu stillen? Auch da gab es ja schon im frü- fluss auf die Seele eines jeden... hen Christentum, etwa bei den Eremiten der ägyptischen Wüste, das Bestreben, die- Angst als Erziehungsmittel ses Bedürfnis so weit wie möglich zu un- Die Angst vor Hölle und Teufel zu schüren, terdrücken: Askese als Erfüllung der Sehn- das war noch Jahrzehnte nach dem letzten sucht nach dem Paradies und einem engel- Weltkrieg eine probate Erziehungsmethode gleichen Leben. Aber das funktionierte ja im streng katholischen (teilweise auch im nur bis zu einem gewissen Punkt. protestantisch geprägten5) Milieu. Je Da Essen und Trinken Leib und Seele zu- schlimmer die Angst vor der Hölle, umso sammenhalten, mussten selbst strengste wunderbarer die Hilfsmittel der Kirche in Asketen irgendwann wieder trinken und Form von Beichte und "würdigem" Empfang Nahrung zu sich nehmen4. Den Sexualtrieb der heiligen Kommunion6. jedoch, den konnte, den musste man un- An dieser Stelle mag ein Blick auf die Kir- terdrücken, um den Engeln gleich zu wer- chengeschichte angebracht sein. Je mehr den! Stimmte das wirklich? es der Institution Kirche (die wir um- Schöpfungstheologisch betrachtet, öffnet gangssprachlich "Amtskirche" nennen) je- weils gelang, den Menschen die Angst vor 4 Die Auffassung, Askese sei eine besondere und hö- here Form der Nachfolge Christi, steht übrigens 5 gänzlich im Widerspruch zum Kern der Botschaft Unvergessen, wie ich als Kind voll Begeisterung Jesu vom Reich Gottes. Vgl. Tilmann Moser, Got- mitsang: "Fest soll mein Taufbund immer stehen, tesvergiftung, Frankfurt a.M. 1976. Ältere, streng ich will die Kirche hören!" katholisch Erzogene erinnern sich oft noch an die 6 Nur auf dem Hintergrund subjektiv empfundener Gewissensbisse, die man bekam, falls man nicht Höllenangst wegen vermeintlich unüberwindbarer drei Stunden vor Kommunionempfang "nüchtern" Sündhaftigkeit wird der Ursprung der Reformation geblieben war. Wegen Halsweh hatte man ein Bon- verstehbar. Einen knappen Überblick bietet: bon gelutscht. Durfte man jetzt noch zur Kommu- Arnold Angenendt, Ehe, Liebe und Sexualität im nionbank? Wenn man aber nicht ging, was dachten Christentum. Von den Anfängen bis heute, Müns- dann die anderen? ter 2015, S. 53-57. imprimatur, Heft 4, 2019 Kirche aktuell 241

Hölle und Teufel einzureden (wohl das pas- tätigkeit - gepriesen wird9. Die Abwertung sende Verb), umso größer wurde ihr Ein- der Lust finden wir dagegen im außerbibli- fluss: Man denke nur, um ein Beispiel zu schen Raum, vor allem in der griechischen nennen, an den Gang nach Canossa Hein- Philosophie seit Platon. Dies ausführlicher richs des Vierten 1077! Wie viele ganz indi- zu erläutern würde freilich den Rahmen viduelle "Canossagänge" wären da noch zu unserer Untersuchung sprengen. Festzu- nennen! Schließlich aber bot die Kirche ja halten ist, dass in der hellenistischen Welt- auch den Weg zum Heil an: den Empfang sicht, soweit sie philosophisch geprägt war, der Sakramente, gekoppelt mit "freiwilliger" die Materie und alles, was die Seele an die- Unterwerfung unter ihre Führungsgewalt7. se bindet, also vor allem der Lusttrieb, zu- Fazit: Je größer die Angst vor der Hölle - gunsten des Geistigen, Immateriellen, eben und dann auch vor dem Fegefeuer, wie die des "Göttlichen" abgewertet wurde. Vorgeschichte der Reformation lehrt8 -, um- Das Christentum eignete sich während sei- so größer auch die Macht über die Gläubi- ner Inkulturation in die griechische Welt gen. aus verschiedenen Gründen eine ähnliche Doch zurück zur "gottvergifteten" Pädagogik Betrachtungsweise der Materie und damit vorkonziliarer Zeit! Welche Höllenängste eine Abwertung der Lust "ideologisch" an10. mich als Kind - und ich war sicher nicht Dies wurde leider zum roten Faden der das einzige - in den Nächten befielen, ver- christlichen Moralgeschichte - bis weit ins mag ich heute nur noch zu erahnen. Sie 20. Jahrhundert hinein. waren jedenfalls fürchterlich. Niemand half Andererseits aber ist eine unkritische mir. Der Priester im Beichtstuhl nahm Lustbejahung bzw. –verherrlichung, nach mein Bekenntnis über die Sünden der Un- dem Motto: "Erlaubt ist, was (mir) gefällt" - keuschheit schweigend zur Kenntnis. Da nicht weniger problematisch. In der Folge alle Sünden gegen das 6. Gebot, wie es hieß, der "sexuellen Befreiung" um 1968 kam es Todsünden waren, musste man auch die zur verbreiteten Meinung, sexuelle Lust sei genaue Zahl angeben. Da schummelte ich als solche schon positiv zu sehen, eben als manchmal. Hatte ich dann vielleicht doch Zeichen von Freiheit. Inzwischen sind wir keine Absolution für alle meine Untaten eines Besseren (bzw. Schlechteren) belehrt. bekommen? Gewissensbisse allenthalben. Sexualität, vor allem in ihrer männlichen Unmündigen Kindern ein schlechtes Ge- Variante, kann auch gefährlich, lebensbe- wissen machen - wohlgemerkt bei einem ei- drohend, zerstörerisch und mörderisch gentlich natürlichen Verhalten -, ja, das sein. Es gibt eine gefährliche Verbindung konnte die Kirche damals (heute wohl von (spezifisch männlicher) Sexualität und kaum noch). Nicht zuletzt darin bestand lustvoller, sadistischer Aggressivität! Täg- ihr Machtmonopol auf die "Seelen". lich lesen wir von Vergewaltigungsopfern, Zu beachten jedoch: die Ambivalenz des Se- fast ausschließlich von Frauen und Kin- xuellen dern, und von den - mitunter prominenten Dass die Abwertung sexueller Lust im - Tätern. Um es kurz zu machen: Die dem Christentum so dominant wurde, liegt kei- Menschen angeborene Sexualität ist wie der neswegs in seinen Anfängen begründet. Aggressionstrieb unbestreitbar überlebens- Das AT bietet reichlich Texte, nicht nur das notwendig, jedoch keineswegs harmlos o- Hohelied, in denen der Eros - und eben der potentiell ungefährlich11. nicht nur die Agape als begierdefreie Wohl- Der falsche Weg

Sexuelles Luststreben, erotisches Begehren 7 Ein für uns heute geradezu amüsantes Beispiel: Hieronymus, Vita Malchi (= die Geschichte von als Bindung an die minderwertige, vergäng- der Gefangenschaft des Mönches Malchus). Die Aussage: Lieber den Märtyrertod sterben als die Keuschheit aufgeben! 9 eine Begriffsverbindung, die für eine künftige The- 8 Leider hat zuletzt Benedikt XVI. einen völlig reali- ologie und Pastoral unverzichtbar ist, auch wenn tätsfernen Zusammenhang zwischen den Miss- sich, leider auch von jüdischer Seite, immer wieder brauchsfällen in der Kirche und der "sexuellen Be- Stimmen dagegen erheben. Aber sie ist theologisch, freiung” von 1968 herzustellen versucht. Nein, nicht historisch zu verstehen. 10 Missbrauch gab es schon Jahrhunderte zuvor, s. Anm. 9! reichlich auch auf Seiten kirchlicher Amtsträger. 11 V.a. 1 Kor 7, 25-38 sowie Mt 19,12. Vgl. zum Ge- Historiker werden da kaum widersprechen. Vgl. samtzusammenhang: Herbert Haag, Katharina El- dazu: Johannes Röser, Der ehemalige Papst nimmt liger, "Stört nicht die Liebe". Die Diskriminierung Stellung, in: CIG Nr. 17/2019, S. 179 f. der Sexualität - ein Verrat an der Bibel, Olten 1986 imprimatur, Heft 4, 2019 Kirche aktuell 242

liche Materie: Dies war einst die Jahrhun- Zwei Arten von Missbrauch - ein derte gültig gebliebene Begründung für die Zusammenhang? Sündhaftigkeit des "Unkeuschen". Aber die- se Begründung war, wie schon gesagt, kei- Man kann es nicht anders sagen: Die strik- neswegs urchristlich oder gar "jüdisch- te, neurotisierende und heute hoffentlich christlich" 12. Das Hohelied im AT be- nur noch wenig verbreitete Sexualerzie- schreibt, so die gängige Deutung, metapho- hung, besser: Sexualunterdrückung, im ka- risch sogar die Liebe Jahwes zu seinem tholischen Raum war ein furchtbarer Miss- auserwählten Volk! 13 brauch kindlicher Seelen. Er war quantita- tiv weit größer als der körperliche Miss- Auch im NT gibt es, selbst wenn einige brauch durch Priester und andere in der Textstellen eine ehelose, d.h. "lustfreie" Le- Kirche, von dem wir heute in den Medien bensweise hervorzuheben scheinen14, keine erfahren müssen. Freilich war und ist letz- grundsätzliche Abwertung von Eros und terer noch weit folgenreicher und zerstöre- Sexualität. Der (Pflicht-)Zölibat als gottge- rischer. Doch diese Feststellung relativiert wollte, bevorzugte Lebensform ist im NT nichts. Stattdessen erhebt sich nun die nicht begründbar. Frage, ob beide Formen des Missbrauchs Insofern hatten Luther und die Reformato- miteinander zusammenhängen. ren recht: Wenn schon im ersten Buch der Der Psychoanalytiker Wolfgang Schmid- Bibel das innige Verhältnis von Mann und bauer hat dazu in der Beilage "Christ & Frau gepriesen wird (Gen 2,23 f.), wie Welt" in der "Zeit" (Nr. 19 vom 2.5.2019) kann dann die kirchliche Autorität behaup- einen recht erhellenden Beitrag geliefert: ten, die "jungfräuliche" Lebensweise ent- spreche Gottes Willen in höherer Weise? Er, der katholisch, aber nicht engstirnig Hier gilt wiederum das Argument: Warum erzogen wurde und sich wegen der nicht hat der Schöpfer dann überhaupt den Men- lebbaren Sexualmoral bald von der Kirche schen als Mann und Frau erschaffen (Gen entfernte, sieht tatsächlich einen Zusam- 1,27)? Und warum zitiert Jesus nach Mk menhang zwischen beiden Formen des 10,2-12 par. ausgerechnet Gen 2,24 ("... Missbrauchs. Wessen Erziehung, so der und sie werden ein Fleisch..."), um das Verfasser, darauf ausgerichtet war, jedes Verbot der Ehescheidung zu untermauern? sexuelle Verlangen zu unterdrücken, das im Kindes- und Jugendalter ja weitgehend Und nebenbei: Ganz frei von jeglichen ero- auf den Drang zur Selbstbefriedigung be- tischen Gefühlen kann wohl auch Jesus schränkt ist, kann schwerlich eine gereifte, nicht gewesen sein. Er ließ die Salbung sei- auf Partnerschaft ausgerichtete Sexualität ner Füße durch eine Sünderin (Mk 14, 3-9 entwickeln. Wer so lebe, lebe daher "ris- par.) sicherlich nicht nur zu, damit das kant". Es bestehe dann die Gefahr, dass "ei- Geschehen auf die Salbung seines Leich- ne unreife, impulsive, nicht durch Einfüh- nams - so die nachösterliche Deutung - lung gemäßigte Triebhaftigkeit die Ober- verweise, sondern wohl auch, weil er Gefal- hand" gewinne. Womit wir wieder bei den len daran fand...15 bekannten Fällen wären ... An dieser Stelle muss noch ein weiterer 12 In den Tagen, an denen ich an diesem Artikel ar- Aspekt erwähnt werden: der Zusammen- beitete, kam mir eine kleine, sehr interessante Zei- hang von Triebunterdrückung, mangeln- tungsmeldung vor Augen. Sie handelt von der Er- dem Einfühlungsvermögen und gewaltför- öffnung eines "koscheren Sexshops" in Tel Aviv (SZ vom 16.8.2019, S. 8). Der Vater der Geschäftsfüh- miger Aggressivität. Täter entwickeln in der rerin ist demnach orthodoxer Rabbiner in den USA und äußert sich folgendermaßen: "Im Gegensatz zu büchlein" (s. Anm. 2) über den "Kampf um die dem, was die meisten denken, hat das Judentum Reinheit" schrieb; aber eigentlich ist es erschre- einen sehr gesunden und balancierten Zugang zu ckend: "...tritt dem Schmutzfink entgegen (...) Gibt Sex (...) Unserer Vorstellung nach ist alles, was er nicht nach, dann darfst du auch einmal hand- ein Paar näher zusammenbringt, koscher und er- greiflich werden (...) Sei dir nur klar: du bist im laubt." 13 Recht..." (ebd., S. 43). Im "Großen katholischen Sogar das Naschen fiel darunter, wie man im Katechismus" (Imprimatur 1931) lernte meine Beichtspiegel erfuhr - und das nicht etwa aus Mutter über Unkeuschheit, dass "keine Sünde so Gründen körperlicher Fitness... schändlich und keine so schrecklich(!) in ihren 14 Hier böte sich (vgl. Anm. 8) auch für die evangeli- Folgen" sei. Es muss 1935 gewesen sein, als meine sche Theologie noch ein weites Feld zum Nachden- Mutter das Zeugnis der Mittleren Reife bei den ken an. "Englischen Fräulein" bekam. Die schrecklichen 15 Aus heutiger Sicht mag es amüsant erscheinen, Folgen ganz anderer Sünden waren da offensicht- was Klemens Tilmann in seinem "Aufklärungs- lich noch nicht erkennbar. imprimatur, Heft 4, 2019 Kirche aktuell 243

Regel keine Empathie für ihre Opfer - es sei unter Sündenverdacht - ganz im Gegenteil! denn eine der sadistischen Variante, die Empfanden die marodierenden Soldaten das Leiden des Opfers narzisstisch zu ge- Tillys oder Gustav Adolfs ein "Sündenbe- nießen sucht. So weit sollten wir bei der wusstsein", wenn sie Bauernhöfe überfielen Be- bzw. Verurteilung kirchlicher Täter si- oder Städte plünderten und niederbrann- cher nicht gehen. Aber wenn solche Täter ten? Wahrscheinlich empfanden sie dabei Minderjährige missbrauchten, Kinder, die auch Lustgefühle - aber diese waren wohl selbst noch hilfsbedürftig waren, zeigten sie erlaubt ... Gesündigt in "Gedanken, Worten eben keinerlei Mitgefühl und Verantwor- und Werken": Das galt eher für das Schlaf- tungsbewusstsein, wohl aber den Drang zu zimmer als für das Schlachtfeld! egozentrischer Triebbefriedigung. Fazit: Ohne die Fähigkeit, sich einzufühlen Nehmen wir an dieser Stelle noch einmal und zärtlich zu sein, vom Anderen her zu "das große Ganze", d.h. die gesamte Ge- denken und gemeinsam, im gegenseitigen schichte in den Blick! So streng die Kir- Einvernehmen Lust zu genießen, ist die Ge- che(n) im Lauf ihrer Geschichte mit (an- fahr der Gewaltbereitschaft, mitleidloser geblichen) sexuellen Verfehlungen ver- Gewaltanwendung, ja, sogar deren Verherr- fuhr(en), so "großherzig und tolerant" gin- lichung zumindest virulent. gen sie mitunter mit dem Phänomen der Gewaltanwendung um. Kreuzzüge, Schei- Lebenslust und Gotteslob terhaufen, Waffensegnungen - das ist alles Kehren wir zur Frage zurück, ob es im Ge- längst bekannt. Zu fragen aber bleibt doch, gensatz zu den genannten Irrwegen und warum die Kirchen (!) noch im 20. Jahr- Sackgassen kirchlicher Sexualmoral auch hundert so großzügig über die Gräueltaten einen christlich begründeten, pädagogisch eines Mussolini (Abessinienkrieg) und ei- verantwortbaren Weg zu einer gereiften, nes Hitler (Krieg gegen den "gottlosen Bol- humanen Sexualität (im Sinne Schmidbau- schewismus") hinwegsahen, weshalb sie in ers) geben kann, einen Weg, der zugleich beiden Weltkriegen so sehr den "Heldentod zu einer gelingenden Partnerschaft führt. für das Vaterland" priesen, ohne nachzu- Der Ansatz zu einer wirklich "christlichen" fragen, ob der gefallene "Held" vielleicht Sexualethik liegt, was eigentlich schon im- selbst schon Menschenleben auf dem Ge- mer eine Selbstverständlichkeit hätte sein wissen hatte. Wie konnten sie das eigent- müssen, im Grundgebot der Liebe: "Wer lich mit ihrem Anspruch, nichts als den nicht liebt, hat Gott nicht erkannt", so le- Willen Gottes zu verkünden, ohne Skrupel sen wir im 1. Johannesbrief (4,8). Wie aber vereinbaren? wäre dieser Satz in einer christlichen Sexu- Was das mit unserem Thema zu tun hat? almoral zu konkretisieren? Sehr viel, wie ich glaube. Denn unter Sünde Am besten setzen wir bei der umfassende- verstand die Kirche, im Schatten August- 16 ren Frage an, wie jeweils jede Art von Liebe ins, vor allem Gefühle der Lust . Diese aber konkret wird. Dazu bedarf es vor allem lassen den Menschen erfahren, dass das auch psychologischer Erkenntnisse. Danach Leben "lebenswert" ist. ist Liebe ohne Sensibilität, ohne Einfühlung Anders die traditionelle kirchliche Sicht- in die Bedürfnisse des Anderen eigentlich weise: Gewaltanwendung, wenn sie nur ei- unmöglich. Sie bliebe eine bloße Worthülse ne Rechtfertigung aus dem Glauben (Stich- (wie wir sie leider auch in mancher Predigt wort "Ketzerverfolgung") oder vermeintli- zu hören bekommen ...). Liebe will dem cher Pflichterfüllung ("Gehorsam gegen- Anderen Freude bereiten, will dessen über der Obrigkeit") fand, fiel nicht generell Glück. Humane Sexualität kann deshalb nie gegen den Willen des Partners handeln. 16 Wie viele Frauen, die im sexualfeindlichen Milieu - Rücksichtsloser Egoismus im Sexualverhal- nicht nur in der katholischen Kirche - erzogen ten ist, wenn man diesen Begriff verwenden wurden, haben wohl die sexuellen Gelüste des Mannes nur als Qual erlebt, als "eheliche Pflichter- will, das eigentliche "Sündhafte" daran. Ge- füllung" - m.a.W. als Vergewaltigung? Kein Wun- wiss ist jedes Lustempfinden immer auch der, dass gerade in Zeiten eines autoritären Patri- ego-bezogen. Lustgefühle aber, die sich aus archalismus Zärtlichkeit in der Kindererziehung denen des Partners entfalten, empfinden verpönt war, nach der Maxime: Zärtlichkeit gleich Verzärtelung! Wie sollten auch "verzärtelte" Jungen wir als lebensbejahend, bereichernd und einmal gute Soldaten werden können! Und noch schöpferisch. Sie stärken die Partnerschaft, eins: "Abtötung" der Sinne und der Lust galt einst lassen die Sorgen des Alltags kleiner er- als ganz besondere christliche Tugend! imprimatur, Heft 4, 2019 Kirche aktuell 244

scheinen - und ja, sie können zu neuem Le- tät, mangelnder Empathie und bisweilen ben führen. Wie schön, wenn wir alle sagen vorhandener latenter Bereitschaft, Gewalt könnten, "Kinder der Liebe" zu sein! anzuwenden, mögen sich die Psychologen Damit sei ein Zweites festgehalten: Ein streiten - wobei ich glaube, dass sie weitge- lustvolles, lustbereitendes Sexualleben hend übereinstimmen, dass da tatsächlich müsste auch als ein wichtiger, sogar zent- ein Zusammenhang besteht. Triebunter- raler Bereich der gesamten Schöpfungsthe- drückung auf Dauer mag in seltenen Fällen ologie verstanden werden. Leider haben der gelingen (vielleicht bedarf es dazu der Ge- Neuplatonismus, haben Plotin, Augustinus borgenheit in klösterlicher Gemeinschaft), und viele in deren Nachfolge der Theologie die Regel ist es nicht. Trifft Machtposition und Pastoral diese positive Sichtweise wei- auf Wehrlosigkeit - die klassische Konstel- testgehend verstellt - teilweise bis heute. lation der aktuellen Fälle -, so kann das Dabei wäre das entsprechende Leitmotiv so Begehren übermächtig werden. einfach und überzeugend: Lust und Liebe Die Fähigkeit, zärtlich zu sein, ist gewiss schaffen neues Leben. Und das Leben eines der großartigsten Wunder der Schöp- kommt von Gott! fung. Wir wissen nicht, ob es diese Fähig- Indes, die Fähigkeit zu Liebe und humaner keit auch noch anderswo in den Weiten des Erotik hat man nicht einfach so, von selbst. Kosmos gibt. Wir wissen aber, dass sie das Man muss sie erst lernen und, auch das Ergebnis eines Evolutionsprozesses ist, der gehört dazu, einüben. Davon wusste die Milliarden Jahre auf der Erde dauerte und traditionelle, lustfeindliche, nur auf Sünde sich mit der Entwicklung des Brutpflege- und Höllenstrafe fixierte Sexualmoral an- verhaltens langsam verfeinerte. Könnte scheinend nichts. Nun ist Selbstbefriedi- man dies nicht sogar als Variante des "tele- gung im Kindes- und Jugendalter ein na- ologischen Gottesbeweises" betrachten? türliches, um nicht zu sagen: notwendiges Zärtlichkeit, wie gesagt, eine der schönsten Mittel auf dem Weg zu einer gereiften Sexu- "Beigaben" des Lebens, verlangt aber nach alität. Selbstbefriedigung hat im Beichtspie- Körperkontakt. Gerade dieser aber wird in gel nichts verloren! der Regel dem, der im Zölibat leben muss, Man möge mir gestatten, an dieser Stelle mehr oder weniger verwehrt. etwas ganz Privates preiszugeben. Aber ich Den Pflichtzölibat für Priester vorzuschrei- denke, es trägt zur Erläuterung dessen, was ben, ist daher gerade kein Zeichen eines ich meine, mehr bei als alle theoretischen humanen Umgangs der Institution Kirche Erwägungen: Ich erinnere mich noch recht mit den Menschen, die ihr doch besonders genau an jenes erste Mal, als ich von einem nahestehen und sie in hervorgehobener Mädchen geküsst wurde. Es geschah ausge- Weise repräsentieren sollen. Aber er ist rechnet auf dem Heimweg von einer Kir- auch nicht die Erstursache der Miss- chenchorprobe... Damals war ich schon 18 brauchsskandale, die die Kirche(n) nun so Jahre alt, und mit einem Mal tat sich für sehr erschüttern. Die Erstursache ist die mich die Weite einer neuen Welt auf. Es war Verteufelung sexueller Lust und Erotik und wunderbar. In der Folgezeit lernte ich nach deren Verdammung als Todsünde. und nach, was es heißt, sich selbst liebens- In diesem Zusammenhang ist ein weiterer wert zu fühlen. So konnte ich auch die Fes- Aspekt zu bedenken: Wer sind die jungen seln jener lebensfeindlichen Sexualunter- Männer, die sich zum Priestertum berufen drückung abstreifen, für die damals die ri- fühlen und im Versprechen eines lebens- gorose katholische Pädagogik in Eltern- langen Verzichts auf Erotik und Ge- haus, Schule und Kirche stand. schlechtslust offenbar kein grundsätzliches Oft denke ich (und deshalb schilderte ich Problem erkennen? Sind das wirklich die meine persönlichen Erlebnisse), dass ge- Priester, die die Kirche heute so dringend nau dies unseren zum Zölibat verpflichte- braucht? Und sind sie wirklich kompetent, ten Priestern fehlt: die lustvolle Erfahrung, über die Liebe Gottes zu predigen und sie geliebt zu werden und selbst mit allen Sin- erkennbar weiterzugeben? nen zu lieben. Unreife Sexualität? Die Missbrauchsskandale der Kirche(n) empören die Öffentlichkeit gerade wegen Der Pflichtzölibat ist inhuman! der moralischen Fallhöhe - mehr als ähnli- Die Gefahr der Unreife ist groß, über den che Verbrechen in Sportvereinen, in der Zusammenhang von unterdrückter Sexuali- Familie oder am Arbeitsplatz. Spezifisch

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"kirchlich" aber war - und ist vielleicht Die Bedeutung von Vertrauen wird meist noch mancherorts - jener andere Miss- übersehen. Gerade wenn man als Jurist brauch, der geistig-seelische, bei dem Lust spricht. Jurist bin ich schließlich. und Zärtlichkeit zu schweren Sünden er- Lassen Sie mich einige Fragen ansprechen, klärt werden. die für viele aktuell sind im Geflecht von Dieser Missbrauch war da, wo es ein "ka- Staat und Religion. Welche sind das eigent- tholisches Milieu" gab, flächendeckend. Die lich? Das ist eine höchst subjektive Angele- Zahl der Opfer ist unüberschaubar. genheit: Was sind die aktuellen Probleme? Christsein lebensfördernd oder lebensfeind- Die einen sagen: Die Kirchensteuer, das sei lich - das ist hier die Frage. das aktuelle Problem – nun, wenn einem das Geld so am Herzen liegt – das sei Staatskirchenhoheit. Ist es aber nicht. Kir- chensteuer zahlen nur die Mitglieder der *** jeweiligen Religionsgemeinschaft. Ja, meist zieht der Staat sie ein zusammen mit der Lohn- und Einkommensteuer. Aber die Kir- Gerhard Robbers chen zahlen für diese Dienstleistung, meist 4% des Aufkommens. Das sind so an die Kirche – Staat – . 400 Millionen Euro im Jahr. Der Staat leis- tet einen Dienst und bekommt dafür erheb- liche Bezahlung. Gar nichts Besonderes. Neue Gefährdungen und alte Lö- Andere sagen: Der Religionsunterricht an sungen öffentlichen Schulen vermenge Staat und Kirche. Tut er aber nicht. Normalerweise. ______Im Gegenteil, das ist starker Ausdruck der Trennung von Staat und Kirche. Der Staat

bestimmt nicht über den religiösen, theolo- Es ist wieder viel los. Religion und Kirche gischen Inhalt des Religionsunterrichts. Er sind ständige Aufreger. Wer geglaubt hat, ermöglicht nur, dass er stattfindet. Schließ- Religion erledige sich von selbst, der hat lich ist der Staat für die Bildung der jungen sich geirrt. Wer gehofft hat, Kirche spiele Generation zuständig. Zur Bildung der jun- bald keine Rolle mehr, muss enttäuscht gen Generation gehört die Religion. Nicht sein. Jeden Tag steht etwas in den Zeitun- nur als Wissensvermittlung. Auch die Frage gen. Allerdings nicht zum Besten. nach Gott. Würde der Staat diese Frage aus Manche glauben, es sei am besten, Religion der öffentlichen Schule ausschließen, wür- ganz abzuschaffen. Das hat aber noch nie de er die Religion diskriminieren gegenüber geklappt. Wo Religion zurückgedrängt wird, Sprache, Mathematik, Wirtschaft und Ge- schaffen sich die Menschen Ersatzreligio- schichte. Diskriminierung der Religion nen. Und tatsächlich – Religion ist ambiva- aber verstieße gegen seine religiöse und lent. Religion kann furchtbar missbraucht weltanschauliche Neutralität. Die Religion werden. Das steht heute fast jeden Tag in ausschließen ist selbst eine religiöse Ent- der Zeitung. scheidung, der Staat würde sich mit seiner Mit der Religion ist es wie mit der Liebe. eigenen Säkularität in Widerspruch setzen. Die kann zum Besten führen, was Men- Aber selber lehren kann er die Religion schen möglich ist. Und zum Schlimmsten. nicht, solche Wahrheitsfragen entziehen Für die Theaterfans sei an Othello erinnert, sich seiner Beurteilungskraft. Es sei denn, der bringt seine Desdemona aus Eifersucht er gäbe seine Säkularität auf. Der Staat darf um. Und Game of Thrones ist auch voll da- sich weder mit einer Religion identifizieren von. Liebe kann in entsetzliche Eifersucht noch mit keiner. Also muss er den Religi- führen. In Kitzbühel ist das vor wenigen onsunterricht in ihrem Inhalt den Religi- Tagen wieder passiert mit den fünf Toten. onsgemeinschaften überlassen. In Zusam- Und doch können wir die Liebe nicht ab- menarbeit mit ihnen. Trennung von Staat schaffen. Die Religion auch nicht. Und Lie- und Religionsgemeinschaften ist das. be kann so gut sein. Und Religion auch. Wieder andere sagen, ein aktuelles Problem Vielleicht enttäuscht es Sie. Aber ich muss seien die Staatsleistungen an die Kirchen. heute vor allem über Vertrauen sprechen. Sind sie nicht. Sie sind uralt. Meist gibt es imprimatur, Heft 4, 2019 Kirche aktuell 246

sie ja seit dem Reichsdeputationshaupt- dem Staat, das Militär. All das muss immer schluss von 1803 und davor. Da ist nach wieder neu befragt und gerechtfertigt wer- den Siegen der Franzosen in den Revoluti- den. Neu ist das nicht. onskriegen besonders die katholische Kir- Die aktuellen Probleme im Geflecht von che säkularisiert worden, fast alles wurde Staat und Religion liegen woanders. Sie lie- enteignet, Gebäude, Felder, Wälder, und gen in zwei Arbeitsfeldern, zwei Herausfor- dann den Fürsten zugeschlagen. Die Fran- derungen: Ich nenne sie Vertrauen und zosen hatten die linksrheinischen Gebiete Geduld. des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Und dann sind da noch zwei technische Nation annektiert, also auch hier Wittlich Bereiche: Die muslimische Zuwanderung und Trier. Dafür sind den betroffenen natürlich. Und eine neue Staatskirchenho- Fürsten als Ausgleich ihrer Verluste die heit, moderner: Staatsreligionshoheit. Auch vielen kleinen Territorien des niederen das hat mit Vertrauen und Geduld zu tun. Adels im ganzen Reich zugeschlagen, medi- Was ist eigentlich der Kern des Verhältnis- atisiert worden. Besonders ist der kirchli- ses von Staat und Religionsgemeinschaften che Besitz eingezogen und verteilt worden. in Deutschland. Dieser Kern ist nicht Kir- Dafür sind den Kirchen Geldleistungen zu- chensteuer oder Religionsunterricht oder gesagt worden, damit die Pfarrer bezahlt, Militärseelsorge. Kern des deutschen Sys- die Hospitäler weitergeführt, Schulen er- tems ist das Selbstbestimmungsrecht der halten werden konnten. Diese Geldzahlun- Religionsgemeinschaften, die Trennung von gen – so ungefähr 500 Millionen Euro pro Staat und Religionsgemeinschaften. Jahr insgesamt – sollen nach unserer Ver- Das deutsche Religionsrecht ist gekenn- fassung abgelöst, das heißt durch Leistung zeichnet vom Selbstbestimmungsrecht der einer Gesamtsumme beendet werden. Ist Religionsgemeinschaften. Art. 137 Abs. 3 dem Staat aber zu teuer, der will gar nicht, Weimarer Reichsverfassung, Art. 140 GG. die Kirchen würden schon. Aber Selbstbestimmung muss man erst mal Manchen sind auch die staatlichen Zu- können. Und auch Subsidiarität, noch so schüsse an die Religionsgemeinschaften ein ein Prinzip: Dass der Staat eine Aufgabe Dorn im Auge, Zuschüsse für Schulen, Kin- erst dann übernimmt, wenn andere, wie dergärten, Hochschulen. Da würde der etwa Religionsgemeinschaften, das aus ei- Staat kirchliche Aufgaben finanzieren. Das gener Kraft nicht können, und die Aufga- glaube ich nicht. Bildung, Kinderbetreuung ben sonst gesellschaftlichen und religiösen ist doch zumindest auch eine staatliche Gruppen überlässt, im Sozialrecht etwa, bei Aufgabe. Deshalb im Gegenteil – nicht der religiösen Privatschulen und Universitäten. Staat finanziert hier kirchliche Aufgaben, Selbstbestimmung, Subsidiarität, da sind sondern man könnte fast sagen: Die Kirche wir beim Kern. Das funktioniert nur, wenn subventioniert den Staat – der müsste sonst man vertrauen haben kann, dass es ordent- zahlen. lich funktioniert. Der kirchlichen Gerichts- Und dann gibt es noch die Militärseelsorge. barkeit Entscheidungen überlassen, das Die Debatte hat sich aber beruhigt. Wie geht nur, wenn man sicher sein kann, dass immer man zum Militär steht: Da gibt es das nicht zu verrückt wird. Kirchliche Menschen, die brauchen Seelsorge. Die Schulen zu haben, ja mit zu finanzieren, können aber nicht einfach mal in die das geht nur, wenn da nichts Idiotisches nächste Kirche gehen. Also muss der Staat gelehrt wird. Solches Vertrauen ist in un- dafür sorgen, dass jedenfalls das Minimum serem christlichen Kontext über Jahrhun- erfüllt wird. derte gewachsen. Durch viele Konflikte Das alles sind keine wirklich aktuellen hindurch. Solches Vertrauen braucht Zeit, Probleme im Verhältnis Staat und Religion. Geduld eben. Auf beiden Seiten. Aber selbstverständlich – die alten Fragen Viel Vertrauen ist verloren gegangen. Be- müssen immer wieder neu bedacht werden. sonders wegen des vielfältigen Kindesmiss- Früher sinnvolle Lösungen mögen ihren brauchs. Niemand sollte sich da zu sehr Sinn verloren haben. Aus innerkirchlicher überheblich zeigen. Kindesmissbrauch gibt Sicht mögen sich manche theologischen es auch anderswo. Aber der moralische An- Fragen immer wieder und weiterhin stel- spruch, den Kirche hat, auch meine eigene, len. Der Opfercharakter des Gebens bei der die evangelische im Übrigen, verlangt nach Kirchensteuer, die Zusammenarbeit mit besserem Schutz. imprimatur, Heft 4, 2019 Kirche aktuell 247

Vertrauen kann man nur haben, wenn sen, dass jeder Pfarrer ernsthaft entschei- man sich kennt. Wenn man weiß, dass man det, keinen Missbrauch unterstützt? Kön- vertrauen kann. Viele Menschen in nen religiöse Stellen darauf vertrauen, dass Deutschland wissen aber fast nichts mehr der Staat religiöse Normen richtig anwen- über Religion. In der Kirche sind sie nie det? Der Staat darf nicht in religiösen Fra- gewesen oder nur ganz früher oder mal zu gen entscheiden. Er würde sich mit seiner einem Fest wie Weihnachten. Einen Pfarrer eigenen Säkularität in Widerspruch setzen. kennt kaum jemand noch persönlich. Im- Er würde die verfassungsrechtlich gebotene merhin: Es gibt die flotten Nonnen im Neutralität verletzen. Das tut er aber in Kloster Kaltenthal im Fernsehen. Erst weitem Umfang. recht weiß kaum jemand etwas Konkretes Oder der Religionskundeunterricht. Die vom Islam – wie soll man da Vertrauen Schüler sollen möglichst viel über andere schöpfen. Und Muslime fühlen sich miss- Religionen und Weltanschauungen lernen, verstanden. Es muss mehr gegenseitige Bil- unbedingt. Da werden viele neue Wege aus- dung her. probiert, mit meist guten Motiven. Aber Das zweite aktuelle Problemfeld hat auch wenn der Staat gegen die Religionsgemein- mit Vertrauen zu tun. Vertrauen und Ge- schaften über den Inhalt entscheidet, wird duld. Es ist aber auch heikel. Mir scheint, es problematisch. Der Staat kann nicht wir erleben einen Hang zurück zu Elemen- verbindlich feststellen, was richtig oder ten eines neuen Staatskirchentums, zur falsch in einer Religion ist, welche Aussa- landesherrlichen Kirchenhoheit, zu einer gen über sie richtig oder falsch sind. Reli- Staatsreligionshoheit. Die gefährdet die ver- giöse Wahrheit kann der Staat nicht postu- fassungsrechtlich gebotene weltanschauli- lieren – oder negieren. Das lief lange ganz che und religiöse Neutralität des Staates gut mit dem Religionsunterricht an öffent- und sie gefährdet das Selbstbestimmungs- lichen Schulen nach Art. 7 GG.. recht der Religionsgemeinschaften. Über vier Millionen Muslime, Millionen Sichtbar wird das an ganz unterschiedli- Zuwanderung innerhalb weniger Jahre. Da chen Stellen. Beim Asyl zum Beispiel. Wer gibt es eine Verschiebung hin zu Vielfalt, in seinem Heimatland politisch verfolgt zu intensiverem Glauben, wie er sich eben wird, genießt politisches Asyl. Religiöse in der Diaspora regelmäßig entwickelt. An- Verfolgung kann das Recht auf Asyl auch derer Glaube mit anderer Kultur ist wirk- begründen. Wer schon hier ist und Verfol- kräftig geworden. gungsgründe entstehen erst hier, muss Das ist eine Herausforderung für Vertrau- nicht erst zurück und sich der Verfolgung en. Mit den Muslimen, da gibt es noch im- aussetzen, das sind die so genannten Nach- mer wenige, auf Dauer bestehende verläss- fluchtgründe. Zum Beispiel: Wer als pakis- liche Ansprechpartner, immer noch ist es tanischer Muslim hier in Deutschland zum nicht selten schwierig mit muslimischen Christentum konvertiert, könnte in Pakis- Religionsgemeinschaften. Wer organisiert tan wegen Apostasie verfolgt werden, dort sich? Wem kann man vertrauen? Insge- kann die Todesstrafe drohen. Also kann er samt braucht man da Geduld. Die Integra- hier bleiben. Nun lassen sich manche Mus- tion ist nicht gescheitert. Die Integration lime hier taufen. Die staatlichen Stellen braucht Zeit. Da gibt es auch immer wieder glauben aber nicht an jede Taufe. Die ma- Rückschläge. Vertrauen ist ein Verhältnis chen Christentumsprüfungen. Mit zum Teil auf Gegenseitigkeit. schwierigen Fragen, ob die Konversion Zugewanderte Muslime haben regelmäßig ernsthaft ist. Sonst wird sie nicht aner- nicht die gleichen kulturellen, religiösen kannt, obwohl der Pfarrer sie bescheinigt. Voraussetzungen, die unser Religionsrecht Wissen die Beamten des Staates besser, ob prägen. Es gibt dabei keine Gemeinde, eben jemand tatsächlich Christ ist? Können sie keine Kirche, keine Repräsentation der das beurteilen, dürfen sie das? Eigentlich Gläubigen jenseits des Staates. Jesu Dictum nicht. Staatliche Gerichte nehmen biswei- „Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und len auch in Anspruch zu entscheiden, ob Gott, was Gottes ist“ (Mk 12,17), die darin jemand Jude ist oder nicht. Gegen jüdische enthaltene Unterscheidung zwischen Säku- Religionsstellen. larem und Sakralem, die darin angelegte Das ist jedenfalls auch eine Frage des Ver- Gewaltenteilung, Bändigung von Macht, ist trauens. Kann sich der Staat darauf verlas- in islamischer Kultur wenig präsent. Der imprimatur, Heft 4, 2019 Kirche aktuell 248

Staat entscheidet in Religionsangelegenhei- Auf viel Verständnis, gar Wohlwollen in ten, deutlich in der Türkei, wo das staatlich deutschen Amtstuben konnten Muslime da gelenkte Religionspräsidium alle Imame lange nicht wirklich zählen. Das ist ein anstellt und die Predigten für das ganze Konfliktfeld auf Gegenseitigkeit. Sich aufei- Land formuliert und vorschreibt. nander einstellen, sich aufeinander einlas- In Deutschland ist das Staatskirchentum sen, das braucht Geduld. Man muss erst seit hundert Jahren abgeschafft. Allerdings einmal Vertrauen aufbauen. Das braucht ist das auch nicht ganz so lange her. Der Zeit. Gegensatz von Papsttum und Kaisertum Da haben wir es: Geduld. Integration ist aber, der uns bis heute hinein prägt, den keine Frage von Monaten oder Jahren, hat es in den muslimisch geprägten Län- sondern von Jahrzehnten, vielen Jahr- dern nicht gegeben. Eine Amtskirche gibt zehnten. es nicht, keinen heilsnotwendigen Klerus. Es gibt also viele Felder mit aktuellen Prob- Vereinigungen von Muslimen in Deutsch- lemen neben Kirchensteuer, Religionsun- land sind weitgehend landsmannschaftlich terricht, Militärseelsorge, Staatsleistungen. geprägt. Das ist im Übrigen nicht viel an- Tatsächlich wohl besonders die Zuwande- ders als die deutschen Gruppen in Sieben- rung, die neue religiöse Vielfalt, manche bürgen oder an der Wolga, da war die Reli- Keckheit eines neuen landesherrlichen gion auch ein starkes Bindemittel unterei- Kirchenregiments, die europäische Ent- nander und zur überkommenen Kultur. wicklung. Es hat Jahrzehnte gedauert, bis wenigstens Vertrauen muss erworben, erfahren, gebil- Anfänge der Zusammenarbeit zwischen det werden. Man muss sich kennen. Das Staat und muslimischen Verbänden ge- braucht Zeit. Das braucht Geduld. Es bleibt schaffen worden sind. Verständnis und Be- eben spannend. reitwilligkeit auf Seiten des deutschen Staa- Das braucht nicht nur Vertrauen in die tes mussten erst wachsen, ebenso Ver- anderen. Das braucht auch Vertrauen in ständnis und Bereitwilligkeit auf Seiten uns selbst. Daran fehlt es häufig. Am Ver- muslimischer Betroffener. Die Staatsabhän- trauen in unsere Werte, in unsere Kraft, in gigkeit und die landsmannschaftliche Bin- die Überzeugungskraft unserer Werte. Und dung der Muslime, das menschliche Be- viele wissen gar nicht, was diese Werte dürfnis, sich der eigenen gewohnten Kultur sind. Bildung auf allen Seiten, gegenseitiges nicht zu entfremden, seine Identität in Kennenlernen sind wichtig. Und sich selbst fremder Umgebung zu wahren, das sind besser kennenlernen. Daran fehlt es oft. hohe Hürden des Sich-Einfindens auch in Und eben an Vertrauen in uns selbst, an das deutsche Religionsrecht. Dieses Recht die Überzeugungskraft unserer Werte. Dass muss man auch erst einmal kennen und Gleichberechtigung von Frauen und Män- dann verstehen und dann sich anpassen. nern besser ist als die Macht der einen Dazu braucht man doch auch Juristen, die über die anderen zum Beispiel. Dass muslimische Theologie kennen. Und auch Zwangsheiraten nur Unglück produzieren – das deutsche Religionsrecht muss sich den das ist ein anderes Beispiel. Und dass Eh- neuen Gegebenheiten anpassen. renmord gar nicht geht. Man sollte auch Dann kommt der unselige Konflikt inner- nicht vergessen, dass es viel davon auch in halb der Türkei hinzu, das Ausgreifen ins Deutschland, in deutscher, europäischer Ausland, der so ganz schräge Tonfall, das Kultur vor gar nicht langer Zeit auch gege- totalitäre Unrecht, das so überhand ge- ben hat und an mancher Stelle immer noch nommen hat. Das macht ausländischen gibt. Und dass das überwunden werden Staatseinfluss in deutschen muslimischen kann, das zeigt unsere eigene Geschichte. Verbänden ernsthaft zum Problem. Die furchtbaren Terroranschläge im Namen Die Probleme sind nicht nur einfach tech- des Islam diskreditieren diese Religion. Sie nisch, sie haben auch theologische Dimen- sind Gotteslästerung, Blasphemie, Miss- sionen: Mitglied zu sein in einer Gemeinde, brauch. Sie diskreditieren auch die Millio- das gibt es im Islam nicht wie bei uns, Re- nen Muslime, die ein friedliches, gutes Le- präsentanten zu wählen ist eine Schwierig- ben führen wollen und sich nun in gefähr- keit. Mitgliederlisten mussten erst noch licher Gesellschaft sehen. Diese, die große eingeführt werden. Mehrheit, die friedlichen, guten Muslime gilt es zu unterstützen. Man kann ja imprimatur, Heft 4, 2019 TheologieKirche aktuell / Kirche in aller Welt – 1. Polen 249

verstehen, dass Muslimverbände sich nicht Theo Mechtenberg von jedem islamistischen Attentat distan- zieren. Sie würden so indirekt eine beson- dere Nähe zu solchen Tätern indizieren. Erneuter Wahlsieg der Aber es besteht eben doch die Gefahr der Kaczyński-Partei „Recht und Identifizierung. Wenn der Islam zu solchen Verbrechen missbraucht wird, täten die gu- Gerechtigkeit“ (PiS) ten Muslime gut daran, ihre Religion dage- gen zu verteidigen. Und das zu zeigen. Tun ______

sie das nicht, sind sie vor Missverständnis- sen nicht geschützt. Sie könnten sich ja in Der 13. Oktober 2019 könnte sich für Polen besonderer Weise mit den Opfern solidari- als ein besonderer Schicksalstag erweisen. sieren. Und es ist entscheidend, dass sie in In diesem Sinn äußerte sich Olga Tokar- ihrem eigenen Verband einen Islam predi- czuk, nachdem ihr unmittelbar vor den gen und vorleben, der friedfertig und frei- Wahlen die Schwedische Akademie den Lite- heitlich ist. raturnobelpreis zugesprochen hatte: In der Mit solchen Verbänden kann der Staat Wahl, „die wir am Sonntag treffen […] ent- auch Verträge schließen. Das sollte der scheiden wir darüber, ob Polen im Kreis der Staat auch tun. Es gilt, einen guten Islam Zivilisation des westlichen Menschen ver- zu stützen und zu fördern. Das fordert die bleibt oder sich davon trennt und sich in Friedensaufgabe der Verfassung. die verlogenen Fänge des Autoritarismus, Solche Verträge sind keine Privilegierung. vielleicht sogar der Gewalt, begibt.“ Und Sie fördern gegenseitiges Verständnis. Sie weiter: „Am Sonntag haben wir Wahlen; ich sind gegenseitige Verpflichtung im Rahmen bin der Meinung, es sind die wichtigsten und auf der Grundlage von Verfassung und seit ´89. Von ihnen hängt es ab, ob wir in Gesetz. einem demokratischen Land leben werden, Gegen Gewalt muss der Staat schützen. das zu Europa gehört, oder in einem sol- Auch – und in besonderer Weise – gegen chen, das sich von Europa löst und den Weg Antisemitismus. Der kommt mitten aus in eine ungewisse Richtung einschlägt.“ Deutschland. Das haben wir gerade wieder Die Bürger waren aufgerufen, ein neues erlebt. Da kann man auch sagen: Wir müs- Parlament und einen neuen Senat zu wäh- sen uns vor uns selbst schützen. Wir dür- len. Die Wahlbeteiligung war mit 61,74% fen das Vertrauen in uns selbst nicht ver- die höchste seit 30 Jahren – ein Zeichen lieren. Das Vertrauen in unsere eigenen für die Bedeutung dieses Urnengangs. Werte. Das Vertrauen in die Kraft unserer Woche für Woche sahen Umfragen die re- guten Traditionen. Dieses Vertrauen ist be- gierende PiS als vereinte Rechte unter Ein- droht von Leuten wie dem Täter von Halle. schluss der kleineren Parteien von Zbig- Von ihrer wirren Dummheit und Bosheit. niew Ziobro (Solidarisches Polen) und Ja- Vertrauen in uns selbst. Vertrauen in un- rosław Gowin (Gemeinsames Polen) als sere eigenen Werte. Das muss gestärkt wer- klaren Wahlsieger. Ihr politischer Wider- den. part, die liberale Bürgerplattform (PO), konnte sich daher kaum Hoffnung auf ei- Prof. Dr. Gerhard Robbers war bis zu sei- nen Regierungswechsel machen. Immerhin ner Emeritierung Professor für Öffentliches zeigte man sich überzeugt, im Verein mit Recht, Kirchenrecht und Staatphilosophie den übrigen Oppositionsparteien wenigs- an der Universität Trier. Er war Präsident tens die Alleinherrschaft von PiS zu been- des Deutschen Evangelischen Kirchentages, den, von der die letzten vier Jahre geprägt Mitglied des Verfassunsgerichshofs Rhein- waren. Doch selbst diese Erwartung sollte land-Pfalz und von 2014 bis 2016 Minister sich nicht erfüllen. Mit 43,59% der abgege- der Justiz und Verbraucherschutz in benen Stimmen gewann PiS die Sejmwah- Rheinland-Pfalz.- Der vorstehende Text len, 6% mehr als 2015. Die Bürgerkoalition geht zurück auf einen Vortrag beim „Theo- aus Bürgerplattform und Moderne erreich- logischen Quartett Trier“ am 20. Oktober te 27,4%. Das Linksbündnis SDL, das vor 2019. Der Vortragsstil wurde beibehalten. vier Jahren an der 8%-Hürde gescheitert war, kam, um die neu gegründete Partei „Frühling“ ergänzt, auf 12,56%. Des Weite- *** imprimatur, Heft 4, 2019 Kirche in aller Welt – 1. Polen 250

ren werden im neuen Sejm die Bauernpar- zwar die vom Sejm verabschiedeten Gesetze tei PSL (8,55%) und die nationalistische kurzfristig blockieren, aber nicht auf Dauer Konföderation für Freiheit und Unabhän- verhindern, solange Staatspräsident And- gigkeit (6,8%) vertreten sein. rzej Duda als Mann von PiS im Amt ist. Im 460 Sitze umfassenden Sejm verfügt PiS Sollte allerdings im kommenden Jahr ein über 235 Abgeordnete; unter ihnen jeweils Kandidat der Opposition die Präsident- 18 Abgeordnete der Parteien von Ziobro schaftswahl gewinnen, könnten unter Um- und Gowin, die gegenüber 2015 die Zahl ständen Gesetzesvorhaben der regierenden ihrer Abgeordneten erhöhen konnten und PiS gänzlich gestoppt werden. Dies unter- PiS überhaupt erst die Mehrheit im Sejm streicht die Bedeutung der im kommenden sichern. Dafür verlangen sie nun einen Jahr anstehenden Präsidentschaftswahl. größeren Einfluss auf die Politik von PiS sowie auf die Regierungsbildung, was be- PiS in der Rolle einer sozialen reits zu internen Konflikten geführt hat. Wohltäterin Dass PiS schließlich mit einem Stimmenan- Fragt man nach den Gründen für den er- teil von 43,59%, wie 2015, die absolute Se- neuten Wahlsieg von PiS, dann muss an er- jmmehrheit erringen konnte, hat seinen ster Stelle ihre Sozialpolitik genannt wer- Grund darin, dass ihr nach dem polnischen den. Auf großen Plakaten präsentierten Wahlrecht die Stimmen kleinerer Parteien sich die PiS-Kandidaten, versehen mit den angerechnet wurden, welche die 5%-Hürde, Hinweisen auf die monatlich 500 Zł. Kin- bzw. bei einem Bündnis mehrerer Parteien dergeld, eine 13. Rentenauszahlung, kos- die 8%-Hürde, nicht zu überspringen ver- tenfreie Medikamente für Rentner über 70 mochten. Jahre, Steuerbefreiung für junge Berufsan- Das von Parteichef Jarosław Kaczyński ge- fänger, sukzessive Gehaltserhöhungen, An- steckte Ziel einer 2/3-Mehrheit, das für die hebung des Mindestlohns. Eine lange Liste von ihm gewünschte neue Verfassung er- sozialer Wohltaten. Millionen potenzielle forderlich wäre, wurde indes verfehlt. Auch Wählerinnen und Wähler profitieren von gelang es PiS nicht, nach den Dörfern und ihnen. Angesichts der guten Wirtschaftsla- Provinzstädten die Metropolen für sich zu ge scheinen die für diese Sozialleistungen erobern. In Warschau gewann die Partei aufzubringenden Unsummen noch ver- lediglich 27,49% der abgegebenen Stimmen, kraftbar zu sein, zumal die Konsumfreude in Breslau 28,92% und in Posen, eine der Polen dafür sorgt, dass ein Gutteil des Hochburg der Bürgerplattform, ganze Geldes wieder in den Staatssäckel zurück- 24,11%. Gleichfalls dämpfte die Siegesfreu- fließt. Doch für notwendige Investitionen de bei PiS, dass die Partei im Senat ihre in die Infrastruktur, in das Gesundheits- Mehrheit eingebüßt hat. Hier gewann die und Bildungswesen sowie zur Abwehr der Opposition knapp mit 51 von 100 Senato- drohenden Umweltkatastrophe, fehlen die ren, weil sie jeweils nur einen gemeinsa- Mittel. Zumal letztere sind dringend erfor- men Kandidaten pro Wahlbezirk ins Ren- derlich, wenn man bedenkt, dass nach dem nen schickte und so eine Aufsplitterung des jüngsten Bericht der Europäischen Um- eigenen Lagers vermied. Doch PiS will sich weltagentur Polen das Land in der Europä- indes mit diesem Ergebnis nicht abfinden. ischen Union mit der höchsten Luftver- Die Partei versucht, bislang allerdings ver- schmutzung ist, der jährlich über 40 000 geblich, mit Versprechungen Senatoren der Bürger zum Opfer fallen. Und was wird, Opposition zu bewegen, die Fronten zu wenn angesichts der gegenwärtig weltweit wechseln. Und sie hat in der Hoffnung, schlechten Wirtschaftsaussichten Polen ei- doch noch die Senatswahlen zu gewinnen, ne Rezession droht? beim Obersten Gericht für einige Wahlbe- Im Übrigen geht es bei diesen Sozialleis- zirke mit knappen Wahlergebnissen eine tungen nicht nur ums liebe Geld. PiS prä- Neuauszählung der Stimmen beantragt. sentierte sich mit ihnen als die Partei, die Zu den Kompetenzen des Senats gehört die sich um das Wohl der Menschen sorgt, Einflussnahme auf die Besetzung wichtiger ihnen soziale Sicherheit garantiert und Institutionen wie die der Finanzaufsicht. ihnen das Gefühl vermittelt, in ihrer Würde Für den Sejm ist jedoch die Senatsmehrheit ernst genommen zu werden. Wobei ihnen der Opposition ein eher stumpfes Schwert. gleichzeitig suggeriert wurde, dass im Falle Sie kann mit ihrer einfachen Mehrheit eines Wahlsiegs der Bürgerplattform deren

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liberale Politik ihren gewonnenen sozialen Gefühl der Sicherheit durch umfangreiche Besitzstand gefährde. Sozialleistungen und Vermittlung eines na- Ganz so selbstlos, wie es scheint, ist aller- tionalen Identitätsbewusstseins. Hinzu dings diese Sozialpolitik von PiS nicht. Sie kommt die militärische Sicherheit gegen konzentriert sich bewusst auf breite Wäh- eine potentielle östliche Bedrohung. PiS lerschichten. Kleinere, besonders bedürfti- sieht sie durch die Zugehörigkeit zur NATO ge gesellschaftliche Randgruppen wie die allein nicht gewährleistet. Man setzt auf ein geistig und körperlich Behinderten haben Sonderbündnis mit den USA. Dem dienten das Nachsehen. Ihre für sie sorgenden An- zahlreiche Reisen des polnischen Staats- gehörigen mussten in den zurückliegenden präsidenten. Kein anderer europäischer vier Jahren streiken und das Parlaments- Staats- oder Regierungschef traf Donald gebäude besetzen, um Gehör zu finden und Trump so häufig wie Andrzej Duda. Er er- wenigstens einen Teilerfolg zu erstreiten. reichte die Zusage der Stationierung von Anderen Gruppen wie Hebammen, Assis- zusätzlich 1000 amerikanischen Soldaten tenzärzte und Lehrer erging es ähnlich. auf polnischem Territorium sowie – beson- ders wahlkampfwirksam – die Befreiung Die Wirksamkeit nationaler Rheto- von der Visapflicht bei Reisen in die USA. rik All das nährt den nationalen Stolz und dürfte PiS über den harten Kern ihrer Wäh- Aus den letzten Regierungsjahren von PiS lerschaft hinaus weitere Stimmengewinne stammt das viel zitierte Wort der damaligen gebracht haben. Dass die getroffenen Ver- Ministerpräsidentin Beata Szydło, mit PiS einbarungen für Trump vor allem ein Deal sei die Zeit gekommen, sich von den Knien sind, weil sich Polen verpflichtet hat, Rüs- zu erheben. Als seien die Polen in den ver- tungsgüter nicht bei den europäischen Ver- gangenen Jahrzehnten ständig unterdrückt bündeten zu kaufen, sondern von amerika- und gedemütigt worden – durch deutsche nischen Firmen zu erwerben, ein nachweis- Arroganz und Dominanz, durch die Brüsse- lich kostspieliges Geschäft, bleibt eher un- ler Bürokraten; als wolle man ihnen durch erwähnt. den Einfluss westlicher Zivilisation die na- tionale Identität rauben. Mit dieser teilwei- Politische Kontrolle als Vorausset- se aggressiven Abwehrhaltung verbindet sich eine staatlich gelenkte nationale Ge- zung des Wahlsiegs schichts- und Kulturpolitik, die keine Fle- Eine wichtige Voraussetzung für den Wahl- cken duldet, keinen Prozess nationaler sieg von PiS ist die von ihr in den letzten Selbstreinigung, keine nationale Scham. vier Jahren erreichte Kontrolle über die Katholisch und national hat der Pole zu staatlichen Institutionen, in Sonderheit sein, so der Tenor des von PiS geführten über das Fernsehen und das Justizwesen. Wahlkampfs. Auf diese Weise lassen sich So erwies sich das staatliche Fernsehen als die „guten“ von den „schlechten“ Polen, ihr vorzügliches Propagandainstrument: den Liberalen, den westlich verseuchten, „Täglich um 19.30 sehen fast zwei Millio- den Linken, unterscheiden, denen nichts nen Polen den Bericht aus der belagerten weniger als Verrat am Polentum vorgewor- Festung. Einer Festung, die von einer star- fen wird. Im Verein mit der Kirche soll sich ken Regierung verteidigt wird, die sich um der „wahre“ Pole seiner nationalen Identi- das Wohl und die Sicherheit ihrer Einwoh- tät bewusst und sicher sein. Jarosław ner kümmert. Die Regierung hat immer Kaczyński verstieg sich in diesem Zusam- recht und nur Erfolge vorzuweisen; unab- menhang sogar zu der Aussage, außerhalb lässig wird sie von Feinden attackiert“ – der Kirche sei nichts als Nihilismus, und er Sätze aus einer die abendliche Nachrich- rief damit den polnischen Primas, Erzbi- tensendung „Wiadamości“ betreffenden und schof Polak, auf den Plan, der sich veran- bis heute gültigen Analyse aus dem Jahr lasst sah, diese Aussage zu korrigieren. 2017. Entsprechend stand denn auch das staatliche Fernsehen monatelang ganz im Militärische Sicherheit durch das Dienst des von PiS geführten Wahlkampfs. Bündnis mit den USA Ihre Kandidaten konnten sich öffentlich präsentieren, den Oppositionskandidaten Was PiS den Wahlsieg beschert hat, ist da- blieben dagegen die Studios zumeist ver- her vor allem das den Bürgern vermittelte schlossen. Gravierende Affären, die der

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Partei hätten schaden und die Wahl negativ gierten Polen. Gegen die absolute Mehrheit beeinflussen können, wurden entweder der PiS-Abgeordneten war im Sejm kein verschwiegen, zu Bagatellen herunterge- Untersuchungsausschuss durchsetzbar, spielt oder als verlogene Attacken der Op- und Justizminister Ziobro verhinderte, position abgetan, die zudem allabendlich dass es in diesem Fall zum Prozess kam, in das Ziel aggressiver Angriffe waren. Von dem Kaczyński unter Eid hätte aussagen einer parteipolitischen Chancengleichheit müssen. konnte gemäß dieser Praxis keine Rede Bei den Oktoberwahlen stand somit für sein. Die Opposition war im öffentlichen Kaczyński auch persönlich viel auf dem Raum deutlich benachteiligt und beklagte Spiel, würde es doch in Falle eines Wahlsie- dies auch entsprechend. ges der Opposition zu dem von Ziobro ver- In diesem Zusammenhang lohnt ein Blick hinderten Prozess kommen – mit allen für auf Affären aus den letzten vier Jahren, ihn negativen Folgen. von denen man hätte erwarten können, dass sie in den Wahlen zu hohen Stimmen- Im Zeichen des Kulturkampfes verlusten für PiS führen würden, was of- In ihrem Wahlkampf griff PiS eine in der fenbar nicht der Fall war: Korruptionsvor- Bevölkerung herrschende, gegen jede Art würfe gegen Premier Morawiecki und den von Homosexualität gerichtete und die Ge- Leiter des Rechnungshofes, geradezu mafi- sellschaft tief spaltende Stimmung auf. Eine öse Verhältnisse im Justizministerium, wo Initiative der PiS nahestehenden Zeitung es sich eine getarnte Gruppe von Mitarbei- „Gazeta Polska“ hatte einen Aufkleber mit tern zur Aufgabe gemacht hatte, durch eine der Aufschrift „LGBT-freie Zonen“ in Um- Mittelsperson ihnen missliebige Richter in lauf gebracht, der von zahlreichen Gemein- den sozialen Medien zu diffamieren, um sie den aufgegriffen wurde, die sich als homo- auf diese Weise zum Rücktritt zu nötigen. sexuellfrei erklärten. In Wahrheit bedeute- Von besonderer Brisanz ist eine Affäre, in te diese Aktion die Stigmatisierung und ge- die Jarosław Kaczyński offenbar persönlich sellschaftliche Ausgrenzung einer Minder- verwickelt ist. Es handelt sich um das ge- heitsgruppe. Dagegen richtete sich die Ini- scheiterte Warschauer Projekt eines bis in tiative „Kampagne gegen Homophobie“, die den Himmel ragenden Doppelturms, der als vor ihrem „Gift“ warnte, das letztlich „zu Parteizentrale gedacht war, durch Mietein- einer Jagd auf Menschen führt“. Unter nahmen die Partei finanziell absichern und dem Motto „ein Haus für alle“ formierten nebenbei gleichsam als Denkmal den Zwil- sich in manchen Städten Homosexuelle lingsbrüdern Lech und Jarosław gewidmet und Gegner jeglicher Homophobie zu einem sein sollte. Weil die Warschauer Stadtver- von gewaltsamen Übergriffen begleiteten waltung die Baugenehmigung verweigerte, „Marsch der Gleichheit“, um gegen Homo- kam das Projekt nicht zustande. Doch der phobie und gesellschaftliche Ausgrenzung mit der Ausführung beauftragte, durch sei- von Homosexuellen zu protestieren. ne Frau mit Kaczyński verwandte Österrei- Angesichts dieser gesellschaftlichen Stim- cher hatte bereits beträchtliche Mittel in mungslage ließ Kaczyński verlauten, seine dieses Projekt investiert, die er nun, wenn- Partei werde im Wahlkampf als Verteidige- gleich vergeblich, von Kaczyński zurückfor- rin nationaler und christlicher Werte auf- derte; darunter 50 000 Zł., die er auf Ge- treten, die von der LGBT unterstützenden heiß von Kaczyński als Schmiergeld einem Opposition negiert würden. Und so geschah Priester gezahlt hatte. Nachdem der Staats- es, wobei sich PiS insbesondere gegen die anwalt das Verfahren monatelang verzögert von der Weltgesundheitsorganisation emp- hatte, stellte er es zur Beruhigung des fohlene Sexualerziehung wandte, in der die Hauptbelastungszeugen Kaczyński genau Partei – gegen alle wissenschaftlichen Er- zwei Tage vor den Wahlen ein – ein ein- kenntnisse – die Quelle der die Gesellschaft drucksvolles Beispiel für den rechtswidri- angeblich demoralisierenden Homosexuali- gen Zustand, in dem sich Polen unter der tät sieht. PiS-Herrschaft befindet. Denn in einem Rechtsstaat wäre diese Affä- Kirchliche Wahlhilfe re in einem parlamentarischen Untersu- chungsausschuss geklärt und vor Gericht Auch wenn die Direktive der Polnischen verhandelt worden. Nicht so im von PiS re- Bischofskonferenz Wahlpropaganda in kirchlichen Räumen untersagt und den imprimatur, Heft 4, 2019 Kirche in aller Welt – 1. Polen 253

Priestern verbietet, in Ausübung ihres Am- sung befürchten muss, ist Kaczyński inner- tes, etwa während des Gottesdienstes, für parteilich ohne Konkurrenz. Ein Allein- eine Partei zu werben, so bedeutete doch herrscher, der darüber entscheidet, wer der gegen LGBT geführte kirchliche Kul- Karriere macht und wer nicht. Er bestimmt turkampf faktisch eine Unterstützung für die Minister und ersetzt sie durch neue, PiS. So etwa, als der Krakauer Metropolit falls er dies für erforderlich erachtet. Er Erzbischof Jędraszewski von einer „Homo- gibt die Richtlinien der Politik vor, die un- pest“ sprach und im gleichen Atemzug die ter seiner Kontrolle von der Regierung um- Opposition für die öffentlichen Aktionen zusetzen sind, deren Entscheidungsspiel- homosexueller Vereinigungen verantwort- raum damit sehr begrenz ist. Das gegen- lich machte. Mit seiner Aussage ermunterte wärtige politische System Polens ist ganz er zahlreiche Priester, sich auf ähnliche auf seine Person zugeschnitten. In Europa Weise zu äußern. Aus deren zahlreich do- wird man Vergleichbares vergeblich su- kumentierten Aussagen sei beispielhaft ei- chen. ne zitiert, die des Lubliner Pfarrers Szy- So ist zu erwarten, dass Kaczyński die Poli- manski. Unter Hinweis auf die Aktivitäten tik, die ihm den Wahlsieg gebracht hat, von LGBT sagte er: „Die Zeit eines beque- fortführen wird: Er wird, wo immer es ihm men, vor sich hin dämmernden Katholi- dienlich erscheint, weiterhin mit Ver- zismus ist vorbei. [..] Wenn uns daran schwörungstheorien operieren, äußere liegt, dass es den Menschen in Polen gut Feinde ausmachen, die Polens Souveränität geht, das heißt würdig, sicher, dass man bedrohen, sei es Berlin, sei es Brüssel. Und unsere Werte schätzt, die Werte der Polen er wird in der Opposition, der er „Verrat und Katholiken, die uns heilig sind, dann am Polentum“ unterstellt, den inneren nehmen wir an dieser Wahl teil und geben Feind sehen. Damit wird er sich weiterhin unsere Stimme Leuten, die ein den Geboten als Garant äußerer und innerer Sicherheit Gottes entsprechendes Gewissen haben.“ präsentieren, indem er den Polen die von Und dann wurde er konkret, indem er die ihm selbst geweckten Ängste nimmt. Namen einzelner PiS-Kandidaten nannte. Dass dieser kirchliche Kulturkampf dem Weiterhin eine Marginalisierung christlichen Geist widerspricht, machte un- der Opposition? längst kein Geringerer deutlich als der Führt Kaczyński seine bisherige Politik päpstliche Sondergesandte zur Klärung fort, dann bedeutet dies eine Marginalisie- klerikaler Missbrauchsfälle, der Malteser rung der Opposition im Sejm. Er ließ mit Erzbischof . In einem dem der absoluten Mehrheit seiner Abgeordne- „Tygodnik Powszechny“ gewährten Inter- ten in der nun geendeten Legislaturperiode view. Auf den kirchlichen Kampf gegen die die von ihm gewünschten Gesetze, mit de- „LGBT-Ideologie“ angesprochen, erklärte nen er sich die Kontrolle über das Justiz- er: „Man darf keine gesellschaftliche Grup- wesen sicherte, im Eilverfahren, oft zu pe, gleich welcher Art, stigmatisieren. Das nächtlicher Stunde, verabschieden, ohne ist eine äußerst schlimme Sache – diese o- dass die Opposition auf sie hätte Einfluss der eine andere Kategorie von Menschen nehmen können. Ihr blieb nur ein letztlich verfolgen bzw. kriminalisieren. Oder mit- wirkungsloser Protest, indem sie Ende tels einer Ideologie Angst verbreiten. Angst 2016 wochenlang den Plenarsaal besetzt ist der Feind der Hoffnung.“ hielt. Dabei hatte Kaczyński vor 2015, als die Bürgerplattform die Regierung stellte Eine Politik des weiter so? und PiS in der Opposition war, demokrati- Aus den Sejmwahlen geht Kaczyński und sche Regeln eingefordert und bewilligt be- das von ihm geschaffene politische System kommen, die PiS im Sejm einen beträchtli- gestärkt hervor. Denn es ist vor allem sein chen Einfluss verschafften. Als PiS dann im Sieg. Der Sieg eines ungekrönten Königs, Herbst 2015 die Wahlen gewonnen hatte, der - ohne ein Regierungsamt zu bekleiden wanderten eben diese Richtlinien als erstes – die Geschicke Polens lenkt. Anders als in den Papierkorb. Schetyna, der als Parteivorsitzender der Zu einer funktionierenden Demokratie ge- Bürgerplattform die Wahlen verloren hat, hören lebendige, oftmals harte, aber von der nicht einmal in seinem Wahlkreis das wechselseitigem Respekt geprägte Parla- Mandat gewinnen konnte und seine Ablö- mentsdebatten, gehört der Austausch der

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Argumente und Gegenargumente. Eine sol- lienischen Sprichwort geantwortet: „Heute che Debatte fand in den vergangenen vier Brot – morgen Hunger.“ Jahren nicht statt, und es ist eher unwahr- Das zweite Gesetzesvorhaben, das auf der scheinlich, dass Kaczyński ihr in dieser Le- letzten Sitzung des Sejm behandelt wurde, gislaturperiode Raum gibt. Doch dann dürf- steht gleichfalls in einem engen Zusammen- te sich die innenpolitische Situation weiter hang mit dem derzeitigen Kulturkampf. Es verschärfen. Nicht ausgeschlossen, dass betrifft ein Verbot der Sexualerziehung, das sich die vergifte Atmosphäre zwei sich von PiS bereits im Wahlkampf gefordert feindlich gegenüber stehender Lager hin wurde, wobei Sexualerziehung der Kaczyńs- und wieder mit schwer abschätzbaren Fol- ki-Partei sowie den nationalkatholischen gen entlädt – zum Schaden des politischen Priestern und Bischöfen als Quelle einer Ansehens Polens in der Welt. Sexualisierung von Kindern und Jugendli- chen gilt und von ihnen für Homosexuali- Eine Fortsetzung des Kultur- tät und sexuellen Missbrauch verantwort- kampfs? lich gemacht wird. Das Gesetzespaket sieht bei Verstößen gegen das Verbot empfindli- Der Sejm beendete nach den Oktoberwahlen che Haftstrafen bis zu 3 Jahren vor. Der seine Legislaturperiode mit der Behandlung neue Sejm wird sich mit diesem Projekt be- zweier Gesetzesvorhaben. Eines beinhaltet fassen müssen, und auch hier kann man die Verurteilung „sämtlicher Akte des Has- gespannt sein, ob es, und wenn, in dieser ses gegen Katholiken“. Es scheint, dass Schärfe verabschiedet wird. damit die von Erzbischof Gądecki, dem Vorsitzenden der Bischofskonferenz, Vor dem Sejm und in manchen Städten stammende „Erklärung zu Akten des Has- kam es zu Protesten. Auf Transparenten ses gegen Katholiken in Polen“ gleichsam wurde den Befürworten eines solchen Ge- in Gesetzesform gegossen werden soll. Mit setzes Rückfall ins Mittelalter vorgeworfen ihr wurde die bis dahin lebhaft geführte öf- – ein Vorgeschmack auf das, was Polen be- fentliche Diskussion um die klerikalen vorsteht, wenn der neue Sejm die Beratun- Missbrauchsopfer faktisch beendet und gen zu diesem Gesetz aufnimmt oder gar durch eine die öffentliche Meinung be- das Gesetz im gewohnten Eilverfahren mit stimmende Auseinandersetzung um eine der absoluten Mehrheit an PiS-Abgeordne- angeblich in Polen grassierende, durch das ten ohne Rücksicht auf die Bedenken der LGBT-Milieu hervorgerufene Kirchenfeind- Opposition verabschiedet werden sollte. schaft ersetzt. Und dies mit weitreichenden Die Frage ist, wie sich Polens Kirche zu Folgen eines neuerlichen Kulturkampfes. diesem Gesetzesvorhaben verhalten wird. Der neue Sejm wird sich mit diesem Geset- Dass es von einer nationalkatholischen Stif- zesvorhaben befassen müssen, und man tung forciert wird, bedeutet noch nicht, darf gespannt sein, ob der parlamentari- dass sich auch die Bischofskonferenz ein sche Prozess am Ende zu einem von der ab- solches Gesetz wünscht. Sie wäre gut bera- soluten PiS-Mehrheit verabschiedeten Ge- ten, diese Initiative nicht zu unterstützen, setz führt, das derlei „Akte“ näher defi- die den Kulturkampf weiter anheizen und niert, und welche Strafen diese nach sich die ohnehin bestehende tiefe Spaltung in ziehen. Kirche und Gesellschaft weiter vertiefen würde. Sollte es zu einem derartigen Gesetzesbe- schluss kommen, wäre dies nicht nur ein Was Kirche und Gesellschaft wirklich brau- Signal, dass der Kulturkampf weiter geht, chen, ist nicht ein Verbot, sondern eine sondern dass damit auch das Bündnis zwi- breite Diskussion um eine verantwortliche schen Thron und Altar gefestigt würde. Sexualerziehung, die am Ende zu verbindli- Dass dies eine ernste Gefahr für Polens chen Richtlinien für den schulischen Be- Kirche wäre, ließ Erzbischof Grzegorz Ryś reich führt. Die Weltgesundheitsorganisati- erkennen. Zwei Wochen vor den Wahlen on, die die Sexualerziehung allen Ländern berichtete er in seiner ständigen Rubrik im empfiehlt, lädt die Kirchen ausdrücklich „Tygodnik Powszechny“, er habe vor kur- ein, sich an der Ausgestaltung der Sexual- zem bei seinem Papstbesuch die Versu- erziehung zu beteiligen – was allerdings in chung einer engen Bindung der Kirche an diesem Kulturkampf verschwiegen wird. die politische Macht zur Sprache gebracht, Eine solche, ehrlich geführte Diskussion und Franziskus habe darauf mit einem ita- würde deutlich machen, dass Sexualerzie-

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hung keineswegs die Quelle allen Übels ist. Eine weitere Möglichkeit, gegenüber PiS Eher führt ihr Mangel dazu, wie Untersu- kritische Medien zu einem Kurswechsel zu chungen belegen, dass Kinder bereits mit zwingen, besteht darin, ihre Reklameein- sieben Jahren ihr Wissen aus dem Internet nahmen dadurch zu reduzieren, dass Fir- beziehen, dass die sexuelle Reifung der men, die derlei Anzeigen in Auftrag geben, Persönlichkeit erschwert und gar verhin- keine staatlichen Aufträge erhalten und dert wird, und dies auch mit den fatalen sich daraufhin aus diesem Geschäft zurück- Folgen von Pädophilie. Die polnische Kir- ziehen. Auch setzt die PiS-Regierung die che verfügt über genügend Laien und Pries- von ihr kontrollierten Gerichte bereits jetzt ter, die in der Lage sind, sich mit Sachkom- gezielt dazu ein, um unabhängige Medien petenz an einer solchen Diskussion zu be- durch Finanzkontrollen und ähnliche Na- teiligen und an der Erarbeitung entspre- delstiche zu domestizieren. Dies dürfte nun chender Richtlinien mitzuwirken. Ob sich verstärkt der Fall sein. Polens Kirche für diese Alternative ent- Man wird sehen, wie die seit langem ange- scheidet, statt einen Kulturkampf zu füh- kündigte „Repolonisierung“ nunmehr prak- ren, der am Ende keine Sieger, sondern tisch vor sich gehen soll. An ihre Verstaat- nur Verlierer kennt, wird die nahe Zukunft lichung ist offenbar nicht gedacht, sondern zeigen. an die Zerschlagung ausländischer Medien- gruppen, um es polnischen Verlagen und Repolonisierung der Medien loyalen Investoren durch eine solche Zer- Der Wahlsieg ermöglicht es Kaczyński und stückelung zu erleichtern, einzelne Medien seiner PiS, die Politik des „guten Wandels“ zu erwerben. Aufgrund der Erfahrungen fortzusetzen und weitere Bereiche gesell- mit dem öffentlichen Fernsehen dürfte in- schaftlicher Institutionen unter ihre Kon- des eines klar sein, dass mit einer „Repolo- trolle zu bringen. Vorrangig ist bei diesem nisierung“ und „Pluralisierung“ der Medi- Bemühen die so genannte „Repolonisierung en eine weitgehende Beschneidung unab- der Medien“. Dazu muss man wissen, dass hängiger und kritischer Berichterstattung nach dem Ende des Kommunismus und einhergeht. dem Beginn des Aufbaus einer demokrati- Die einzige Möglichkeit dieser nach den Ok- schen Gesellschaft viel Kapital nach Polen toberwahlen absehbaren Entwicklung Ein- floss, so dass hinter weiten Teilen der pol- halt zu gebieten, wäre der Sieg eines Kan- nischen Medienlandschaft ausländische, didaten der Opposition bei der Präsident- auch deutsche Kapitaleigner stehen. Ka- schaftswahl im kommenden Jahr. Doch um czyński ist dies seit langem ein Dorn im überhaupt diese Chance nutzen zu können, Auge, sieht er doch, wie er immer wieder müssten die Oppositionsparteien in der zu betont, durch diesen Tatbestand die Souve- erwartenden Stichwahl den Gegenkandida- ränität des Landes gefährdet. Doch dieses ten zu PiS geschlossen unterstützen. Das Argument, ob berechtigt oder nicht, ver- müsste möglich sein. schleiert die wahre Absicht, mit der Kon- trolle über die Medien die öffentliche Kritik an der eigenen Politik weitgehend auszu- *** schließen und die eigene Macht zu festigen – die übliche Strategie aller autoritären und diktatorischen Systeme. Dass der Verdacht Theo Mechtenberg auf diese Absicht berechtigt ist, zeigt die Tatsache, dass auch Medien im Visier sind, Massive Vorwürfe gegen den die sich in polnischer Hand befinden, aus der Sicht von PiS aber als „antipolnisch“ Danziger Erzbischof Głódź eingestuft werden. So gab es bereits den Versuch, durch Übernahme der Aktien die ______gegenüber PiS äußerst kritisch eingestellte und einflussreiche „Gazeta Wyborzca“ des Im Oktober lief in der Reihe „Schwarz auf einstigen Dissidenten und Solidarność-Akti- Weiß“ des unabhängigen Fernsehsenders visten Adam Michnik zu „polonisieren“, ein TVN24 eine dem Danziger Metropoliten Versuch, der allerdings früh erkannt wur- Sławoj Leszek Głódź gewidmete Dokumenta- de und abgewehrt werden konnte. tion. Sie vermittelt von ihm das Bild eines imprimatur, Heft 4, 2019 Kirche in aller Welt – 1. Polen 256

seines Amtes unwürdigen Bischofs. Priester die Bedingung einer kurialen Anhörung. kamen zu Wort, allerdings wohl aus Angst Die fand denn auch statt. Dabei zeigte es bis auf einen an der Wahrschauer Stefan- sich, dass der Kaplan über die erfahrenen Wyszyński-Universität lehrenden Theolo- Demütigungen Buch geführt hatte. Die las gieprofessor anonym, dazu solche, die ihr er nun den engeren Mitarbeitern des Erzbi- Priestertum aufgegeben haben. Sie berichte- schofs unter Angabe des Datums und des ten von ihren persönlichen Erfahrungen Wortlauts der Beschimpfungen vor. Der mit dem Erzbischof. Bei einem Pfarrer stieg Erzbischof schwieg dazu, und seine Mitar- nach einer Begegnung mit ihm der Blut- beiter verließen schweigend und betroffen druck auf 200. Seine innere Verfassung be- den Raum. Mit ihm nunmehr allein, hat schrieb er mit den Sätzen: „Vielen Men- der Kaplan als letztes diese Worte seines schen habe ich im Beichtstuhl zu einer Erzbischofs in Erinnerung: „Sub secreto – Therapie geraten; am Ende war ich nahe du … du bist nichts wert, du Hohlkopf.“ daran, mich einer Therapie zu unterziehen, Seitdem versieht der Kaplan seinen Dienst wurde ich doch von Selbstmordgedanken in einer der Danziger Pfarreien. geplagt.“ Ein anderer Priester erklärte: „Demütigungen, öffentliche Erniedrigun- Bereits in der Vergangenheit Vor- gen, das weckt Ängste. Und darauf versteht würfen ausgesetzt er sich bestens.“ Głódź, der seit 2008 die Danziger Erzdiöze- Ein besonderer Fall ist der von dem Theo- se leitet, steht seit längerem in der Kritik. logieprofessor bezeugte Fall des Bischofs- Dem früheren Militärbischof ging der Ruf kaplans, der es gerade einmal sechs Wo- eines autoritären Kirchenmanns voraus. chen bei seinem Ordinarius aushielt. Ihn Und der sollte sich in Ausübung seines nötigte Erzbischof Głódź zu einem Eid, der Danziger Hirtenamtes bestätigen. Zudem das Versprechen enthielt, nichts nach au- zählt er in Zusammenhang mit den klerika- ßen zu tragen, was er in seiner Residenz zu len Missbrauchsfällen zu den polnischen sehen und zu hören bekomme. Und das Bischöfen, die schuldig gewordene Priester war vor allem die Behandlung, die er von gedeckt haben und deren Abberufung in seinem Dienstherren zu ertragen hatte und der öffentlichen Debatte, wenngleich ver- die allen christlichen Grundsätzen und geblich, gefordert wurde. mitmenschlichen Umgangsformen Hohn Erstmals hatte die Zeitschrift „Wprost“ sprach. War der Erzbischof, zu Recht oder 2013 unter dem Titel „Cäsar der Dreistadt“ zu Unrecht, mit seinem Kaplan unzufrie- die unwürdige Behandlung von Priestern den, dann bedachte er ihn mit vulgären durch den Danziger Metropoliten offenge- und obszönen Schimpfworten, die zu wie- legt. Im Untertitel hieß es fragend: „Schafft derholen der menschliche Anstand verbie- der neue Papst Ordnung in der polnischen tet. So wurde er beispielweise einmal un- Kirche?“ Im Text wird behauptet, es gebe mittelbar vor einem feierlichen Gottes- eine schwarze Liste mit Beschuldigungen dienst in der Sakristei in Anwesenheit an- gegen den Erzbischof. Die Angaben würden derer auf diese Weise übel beschimpft, weil von anonymen Zeugen und Opfern stam- der Erzbischof mit der Zubereitung des men. Erzbischof Głódź wird als Alkoholiker morgendlichen Frühstücks, auch dies ge- beschrieben, der sich betrunken in der Öf- hörte zu den Aufgaben des Kaplans, unzu- fentlichkeit zeige. Unter den angeführten frieden war: „Nicht einmal ein Ei kannst Beispielen findet sich auch eine in dem Do- du kochen, du …“ kumentarfilm „Sag es nur keinem“ be- Der Tropfen, der für den Bischofskaplan schriebene Szene, wonach der Erzbischof das Fass zum Überlaufen brachte, fiel an zur nächtlichen Stunde seinen Kaplan ge- einem Abend, als er wie gewöhnlich bei ei- weckt und befohlen habe, ihm zur Erheite- nem der üblichen Gelage den Tischdienst rung mit dem Akkordeon aufzuspielen. zu versehen hatte und vor den Gästen von Die sensationelle Aufmachung dieses Be- Erzbischof Głódź gedemütigt wurde, wo- richts und die Anführung etlicher nicht raufhin er stante pede die Residenz verließ ausreichend beglaubigter Fakten waren und zu seinen Eltern zurückkehrte. Auf wohl der Grund, dass er keine sonderliche Drängen der Kurie war er indes bereit, mit Wirkung hervorrief. Zudem solidarisierten einer anderen Aufgabe betraut, seinen prie- sich die engeren Mitarbeiter des Erzbi- sterlichen Dienst auszuüben, stellte aber

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schofs sowie 24 Dekane mit ihrem Dienst- wegen, Erfolg? 16 Priester bestätigten mit herren. Sie wandten sich gegen seine „Her- ihrem Namen gegenüber dem Nuntius und abwürdigung“, betonten die von ihm ver- der Polnischen Bischofskonferenz die tretenen „patriotischen Werte“ und forder- Glaubwürdigkeit der ausgestrahlten Doku- ten einen „Widerruf der Beleidigungen, die mentation. Wie 2013, so reagierten auch die Würde kirchlicher Personen sowie die diesmal die engsten Mitarbeiter des Erzbi- der kirchlichen Gemeinschaft verletzen.“ schofs „mit Empörung“ auf die gegen ihn erhobenen schwerwiegenden Vorwürfe. Sie Geldgier und Lebensstil des Erzbi- seien ein „Anschlag auf den Hirten der schofs Erzdiözese und zugleich ein Angriff auf ih- re Priester und Gläubigen.“ Angesichts der Als besonders skandalös empfinden Pries- drückenden Beweislage ist diese Art der So- ter und Gläubige die Geldgier und den pom- lidarisierung wohl nur dadurch erklärbar, pösen Lebensstil des Danziger Metropoli- dass diese Prälaten im Falle einer Ablösung ten. Visitiert er eine Pfarrei, dann erwartet des Erzbischofs selbst um ihre Posten er, dass ihm ein – wie es unter Pfarrern fürchten müssen, sind sie doch als seine heißt – „stehendes Kuvert“ überreicht wird, Befehlsausführer selbst belastet, wie der eines, das mit Banknoten so prall gefüllt Fall des inzwischen verstorbenen Priesters ist, dass man es aufstellen kann. Äußert er- Jan Kaczkowski zeigt (vgl. imprimatur tragreich sind für ihn die Firmungen. So 3/2019). sei es üblich, dem Erzbischof pro Firmling Nun wurden auch die Gläubigen aktiv. Un- 50 Zł. auszuhändigen. In größeren Pfarrei- ter dem Motto „Wir wollen unsere Kirche en mit beispielweise 150 Firmlingen zurückhaben“ rief eine Gruppe Danziger kommt dann schon mal die hübsche Sum- Katholiken dazu auf, sich in der Mittags- me von 7 500 Zł. zusammen. stunde des 3. November vor der Kurie zu Dabei ist Erzbischof Głódź finanziell bes- versammeln und den Amtsverzicht des tens abgesichert. Als ehemaliger Militär- Erzbischofs zu fordern. In dem Aufruf schof im Generalsrang erhält er monatlich heißt es u.a.: „Wir fühlen uns durch die 10 000 Zł. Doch diese Summe reicht ihm mehrfach in den Medien beschriebene Situ- nicht für seinen aufwändigen Lebensstil ation, durch die Art und Weise, wie unsere sowie für den Unterhalt einer bäuerlich ge- Erzdiözese geleitet wird, durch den Mangel prägten, seiner Herkunft entsprechenden an Fürsorge des Erzbischofs für die Pries- zweiten Residenz, in der er sich besonders ter sowie durch Fälle von Mobbing, durch wohl zu fühlen scheint. Dazu hat er auch den fehlenden Dialog und den Lebensstil noch ein Winterquartier in der Nähe von des Erzbischofs beschämt.“ Białystok zur Verfügung, wo er die Tage Um ihrer Forderung Nachdruck zu verlei- zwischen Weihnachten und Epiphanie zu hen, verfasste diese Gruppe einen Brief an verbringen pflegt. Papst Franziskus, in dem die Unterzeich- Doch damit nicht genug. Erzbischof Głódź ner betonen, nicht weiter schweigen zu steht zudem in Verdacht der Simonie. können. „Seit längerer Zeit sind wir tief 20.000 – 50.000 Zł. sei der Kaufpreis für überzeugt, dass Erzbischof Sławoj Leszek eine bessere, das heißt ertragreiche Pfarrei. Głódź, der Danziger Metropolit, die zur Er- So brüstete sich ein Neupriester damit, die füllung des Dienstes eines Diözesanbischofs Stelle in einem von finanzkräftigen Polen erforderliche Glaubwürdigkeit eingebüßt bevorzugten Ferienort verdanke er seiner hat und den Gläubigen ein Ärgernis ist.“ Mutter, die dafür ein Stück Land verkauft Unter Hinweis auf Kanon 401§2 bitten die habe. Briefschreiber den Papst, Erzbischof Głódź Über all diese schwerwiegenden Vorwürfe den Amtsverzicht dringend nahezulegen. wurden einige Bischöfe sowie der Nuntius Sie begründen ihre Bitte zudem damit, dass bereits seit längerem in Kenntnis gesetzt, er der Pädophilie schuldig gewordene Pries- ohne dass etwas gegen den Danziger Met- ter über viele Jahre geschützt und auf ent- ropoliten unternommen worden wäre. sprechende Mitteilungen nicht reagiert ha- be. Dass der Erzbischof nach Bekanntwer- Verstärkter Protest den der Vielzahl klerikaler Missbrauchsfäl- Haben die gegenwärtigen Bemühungen, le keinerlei Bedauern zum Ausdruck brach- Erzbischof Głódź zum Amtsverzicht zu be- te, habe unter Gläubigen „eine große

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Empörung hervorgerufen.“ Zudem zeigten Dorothee Bohr / Werner Müller sie sich über den herrschaftlichen Lebens- stil des Erzbischofs verbittert. Beklagt wird von den Briefschreibern auch sein beleidi- Erfahrungen einer deutschen gendes und unwürdiges Verhalten den ihm katholischen Ärztin mit der unterstellten Priestern wie den Laien ge- genüber, das im deutlichen Widerspruch zu Kirche in Indien Kanon 378 stehe, der die für einen Bischof erforderlichen Eigenschaften definiert. Ge- ______gen Ende des Briefes heißt es: Wir sind tief überzeugt, dass eine weitere Erfüllung der Amtspflichten der Danziger Metropole Aus Indien erreichen uns in unregelmäßi- durch Erzbischof Sławoj Leszek Głódź dem gen Abständen immer wieder Rundbriefe. Geist des Evangeliums widerspricht, der Sie stammen von einer ehemaligen Klas- Kirche schadet und die Spaltung in der senkameradin und Mitabiturientin an ei- Danziger Kirche vertieft. Zudem ist dies ei- nem von Ordensschwestern geführten ne Ursache für den Verzicht von Geistli- Mädchengymnasium im Rheinland. Felici- chen auf ihr Priestertum, für das Ausschei- tas R., die nach dem Abitur Medizin stu- den von Gläubigen aus der kirchlichen Ge- diert und als Chirurgin gearbeitet hat, hält meinschaft sowie für die Marginalisierung zu ihren Mitschülerinnen und deren Part- der Kirche im gesellschaftlichen Leben. nern Kontakt, bei Klassentreffen und eben Der Brief an Papst Franziskus wurde in durch Rundbriefe. Kopie dem Nuntius in Warschau, dem pol- Ihre Kontakte nach Indien beschreibt sie nischen Primas, Erzbischof Wojciech Polak, selbst in Stichworten folgendermaßen: sowie Erzbischof Głódź zur Kenntnisnahme „1973, nach dem Ende meiner Medizinal- zugestellt. assistentenzeit, habe ich mich meinem Ob all diese Aktionen die erhoffte Wirkung Bruder angeschlossen und eine Rundreise zeigen, ist eher fraglich. Aus der Zeit, als von 10 Wochen durch Indien gemacht. Głódź in Rom am Päpstlichen Orientali- Zwei Jahre später habe ich 2 Monate eine schen Institut promovierte und anschlie- Ärztin, Schw. Dr. Luka Kolencherry, im ßend 10 Jahre Mitarbeiter der Kongregati- Mercy Hospital in Poreyahat (damals on für die orientalischen Bischöfe war, ver- Bihar, heute Jharkand) vertreten. Schwes- fügt er über gute Kontakte zu heute ein- ter Luka hat damals in Deutschland Pfar- flussreichen Kardinälen, die ihn auch in reien besucht und Geld für die Arbeit ihrer seiner Danziger Residenz besucht haben. Kongregation gesammelt. Zudem wird er am 13. August nächsten Seitdem habe ich etwa alle 2 – 3 Jahre Jahren 75 Jahre alt und muss dann aus Freunde in der Diözese Bhagalpur besucht. Altersgründen sein Rücktrittsgesuch ein- Nachdem 2006 das Krankenhaus in Essen, reichen. Auf diese Weise könnte der Danzi- in dem ich als Chirurgin vor allem Tumor- ger Metropolit in ein paar Monaten in allen patienten behandelte, geschlossen wurde, Ehren und Würden in den Ruhestand ver- habe ich auf der Suche nach weiterem En- abschiedet werden. gagement die NGO Anamed gefunden. 2009 Dorota Karaś, Księża potwierchają oskarże- habe ich diese NGO nach Indien gebracht. nia przeciwko abp. Głodzowi i piszą do Es finden einmal im Jahr sechstägige Se- nuncjusza (Priester bestätigen die Anschul- minare in Ranchi, der Hauptstadt des Bun- digungen gegen Erzbischof Głódź und desstaates Jharkand, statt, organisiert schreiben an den Nuntius), Gazeta Wybor- durch Chabij (Catholic Health organisation zca v. 29.10.2019; gesi, Przerażajscy obraz of Jharkand and Bihar). akp. S. L. Głodzia (Ein erschreckendes Bild Ich führe einmal im Jahr dreitägige Semi- von S. L. Głódź), ebd. v. 24.10.2019. nare in der Diözese Diphu in Assam und Berhampur und Rayagada in Orissa durch, um die Umsetzung des in den Seminaren Erlernten vor Ort zu begleiten. *** Ich weiß, man kann nicht allen helfen, aber gar nicht erst anfangen?

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Durch diese Kontakte mit der katholischen katholischen Paaren wird dann irgend- Kirche vor Ort, vor allem mit engagierten wann die Ehe „rectified“ (schwierig zu Schwestern und Priestern, ist mir ein ge- übersetzen, vielleicht: „in Ordnung ge- wisser, nicht unbedingt umfassender Ein- bracht“). Man hat ja gegen das Kirchen- blick in die Strukturen möglich.“ recht verstoßen, und einige müssen dann Was dieser jahrzehntelange „Einblick“ er- auch noch Strafe zahlen. So ist das hier in geben hat, teilt Felicitas R. in ihren Rund- Indien. briefen mit. Es wird im Folgenden, nach Stichworten geordnet und nur leicht redi- Macht der Bischöfe giert, wiedergegeben: Dann sprachen wir noch über die Macht der Bischöfe: keine Kontrolle von wem Theologie auch immer. Der neue Bischof von Ra- Während meines Aufenthaltes in Assam yagada baut eine riesige Kathedrale, er ist habe ich eine Familie mit zu einem Kran- ja neu und hat noch keine Kathedrale. In kenhaus begleitet. Ein junger Priester, der Rayagada gibt es etwa 100 christliche Fami- dabei war, erzählte, dass er 2013 sein The- lien, die Kathedrale soll 1000 Plätze haben. ologiestudium beendet habe, und zwar in Unterdessen leben seine Priester in Räu- Poona. - Poona, das ist eine der renommier- men, wo es durchregnet, Schwestern, die ten Theologiefakultäten in Indien. Ich für die Diözese arbeiten, in winzigen gemie- dachte, frag doch mal nach: teten Häusern. Was ist mit der Jungfrauengeburt? Ich er- Der Bischof entscheidet, und die auswärti- klärte, dass nach Ansicht europäischer gen Geldgeber haben keine Übersicht und Theologen und Katholiken die Aussage finanzieren. über die „Jungfrau“ Maria ein Symbol ist. Die Bischofsernennungen sind oft Kunge- Zur Zeit, in der die Evangelien geschrieben leien, da hat der Papst leider nichts geän- wurden, gab es in der griechischen Mytho- dert. logie viele herausragende Menschen bzw. Dann noch eine Info aus dem katholischen Halbgötter, denen zugeschrieben wurde, Rundbrief UCA News, den ich regelmäßig von einer Jungfrau geboren worden zu bekomme. Die Indischen Bischöfe waren al- sein. Dies war ein Charakteristikum für le im Vatikan im September. Im Vorfeld etwas Besonderes, Bedeutendes an diesen hatten die Dalits, die Unberührbaren in der Personen. hinduistischen Kastengesellschaft, über die Die Antwort des Priesters: Das sei eine Sa- Diskriminierung auch in der katholischen che des Glaubens, er habe noch nie darüber Kirche geklagt und eine Stellungnahme des nachgedacht, was das konkret bedeuten Papstes erwartet. Kein Wort! könne.- Das heißt, bei Fragen des Glaubens Ich will mir nur mal Luft machen, die ka- wird der Verstand ausgeschaltet, auch heu- tholische Kirche in Indien ist manchmal te noch. schwer auszuhalten für mich. Ich habe dann hier in Orissa darüber mit Dann aber erlebe ich eine Messe in einem einem Priester gesprochen, der in der Diö- Dorf in Assam, bei der mir wieder deutlich zese Berhampur die Organisation SWAD wird, wie wichtig die gemeinsamen Lieder (Society for welfare, animation and develo- im Gottesdienst sind, und erinnere mich pement - Wohlergehen, Animation und dankbar an Lyskirchen [gemeint ist offen- Entwicklung) leitet. Er bestätigte mir, dass bar St. Maria in Lyskirchen, die kleinste Priester und Laien in Indien alles ungefragt der zwölf großen romanischen Basiliken in annehmen, was die Hierarchie oder die of- der Altstadt Kölns, die Heimatpfarrei von fizielle Theologie verlauten lassen. Felicitas R.].

Ehemoral Armut und Reichtum Die Familie sind Stammesangehörige, da Auch in Deutschland ist die Sterblichkeit „finden“ sich die Jugendlichen schon mit höher bei Armen, aber hier in Indien ist 15 oder 16 Jahren, und das sogenannte das noch viel schlimmer. Es gibt eine Pfar- „Weglaufen“ besteht darin, dass die Mäd- rei aus Winnenden, die Geld sammelt und chen in das Haus ihres Freundes ziehen eine Schule in der Diözese Berhampur un- und die beiden dann zusammenleben. Bei terstützt. Ich habe mal vorsichtig ange- imprimatur, Heft 4, 2019 Kirche in aller Welt – 2. Indien / Leserbeitrag 260

fragt, ob man von ihren Spendengeldern Karl-Heinz Novotny vielleicht auch einen kleinen Fond für die medizinische Behandlung von armen Pati- enten bilden kann. Die von beiden Diözesen Synodaler Weg – Evangelisie- betriebene Nicht-Regierungs-Organisation rung mit dem Wahlspruch „Walking with the poor“ könnte dieses Geld verwalten, sie hat ______Kontakt zu diesen Armen.

Er war nur kurz, mein Ausflug in die Schulmedizin im Medical College. So viele Die deutschen Bischöfe haben im März die- Kranke, so wenig Ärzte! Immerhin werden ses Jahres beschlossen, einen „synodalen hier auch die Armen behandelt. Weg“ zu gehen. Beraten werden sollen da- Ich habe noch einen wesentlichen Aspekt bei ab Dezember die Themen Macht, Sexu- vergessen: der Reichtum der Kirchen in almoral, priesterliche Lebensform und die Kerala und Tamil Nadu und die fehlende Rolle der Frau in der Kirche. Bereitschaft, die armen Kirchen im Norden zu unterstützen. Kritik aus dem Vatikan Ich erinnere, dass vor Jahren die Erzdiöze- Und jetzt - 2019 – „erdreisten“ sich die Ka- se Köln mit viel Tamtam den Bau eines tholiken in Deutschland, einen „synodalen Priesterseminars in einer Diözese in Kerala Weg“ zu gehen. „Wie kann sich eine Bi- finanziert hat. Völlig unnötig! Die kriegen schofskonferenz von einer Versammlung so viel Geld von ihren Gläubigen, manch- dominieren lassen, von der die meisten mal ist es fast Erpressung, was die von de- Mitglieder keine Bischöfe sind?“, so die Kri- nen einfordern, um große Feste zu feiern, tik aus dem Vatikan. Auch Laien sollen da riesige Kirchen zu bauen. Stimmrecht haben (wenn auch leider nur Ich weiß von einem Priester aus Tamil ein abgeschwächtes). Thomas Sternberg Nadu, der voller Stolz die Vertreterin der vom Zentralkomitee der Katholiken in österreichischen Fastenaktion in seine Ge- Deutschland reagierte scharf: „Glaubt ir- meinde einlud zur Weihe der neuen Kirche. gendjemand, man könne in einer solchen Auf dem gleichen Gelände gab es ein Wai- Krise der Kirche das freie Gespräch, das senhaus. Dafür hätte er gern Unterstüt- nach Ergebnissen und notwendigen Re- zung gehabt. Die für ihn überraschende, formschritten sucht, unterdrücken?“ aber für mich sicher richtige Antwort: Der Mainzer Bischof Peter Kohlgraf hat den Wenn Ihr solch eine Kirche bauen könnt, von den Bischöfen geplanten „synodalen dann müsst Ihr auch Geld haben für die Weg“ für Reformen der Kirche in Deutsch- Waisenkinder! land gegen Kritik von konservativer Seite Ich will damit nicht sagen, dass wir von verteidigt. Die Entscheidung für den syno- Misereor oder anderen Organisationen kei- dalen Weg sei „nicht aus Lust getroffen ne Unterstützung mehr leisten sollten. Ich worden, sondern vor dem Hintergrund tue es ja auch. Aber wer kann und will die schlimmer Verbrechen“ in den eigenen Solidarität der reichen südindischen Kir- Reihen, so Bischof Kohlgraf (KNA vom chen einfordern? Die Priester, auch die aus 7.9.2019). Verbrechen, Vertuschung, un- Kerala, die im Norden Indiens arbeiten, mögliches Machtgebaren und mangelnder haben resigniert. Wille zur Wahrnehmung der Realität laute- ten die Probleme. Die Kirche selbst sei „der Postscriptum Reinigung bedürftig“, bevor sie meine, an- dere belehren zu sollen. Kohlgraf kritisierte Es gibt sicher auch andere Einschätzungen auch die Vorstellung, Evangelisierung mit der katholischen Kirche in Indien, ich Belehrung gleichzusetzen. wollte nur meine Erfahrungen und Gedan- Diese Situation und der Blick auf Probleme ken teilen. Es gibt auch viel Gutes, z.B. und Missstände in der katholischen Kirche Reaching the unreached (die Unerreichten haben mich zu den folgenden Gedanken erreichen) in der Nähe von Theni, über die bewogen. Dies war Anlass für mich, mein ich 2017 berichtet habe. Bücherregal anzusehen (auch ein Blick in die Vergangenheit). *** imprimatur, Heft 4, 2019 Leserbeitrag 261

In einer Reihe in meinem Bücherregal fin- brauche, dann kann ich mir dieses Buch den sich nebeneinander: bei dir ausleihen“. Durch diesen Katechis- „Glaubensverkündigung für Erwachsene. mus kam eine Blockade in das Prinzip: Deutsche Ausgabe des Holländischen Kate- „Ecclesia semper reformanda“. Papst Jo- chismus“, Nijmegen-Utrecht 1966 mit der hannes Paul II. und damals Kardinal Ergänzung der „Erklärung der Kardinals- Ratzinger wandten sich gegen den Wandel kommission über den Neuen Katechismus“ in der Kirche. Kirchliche Lehre wird durch von 1968. diesen Katechismus festgeschrieben. Es Der Vatikan war sehr unzufrieden. Dieser wird zementiert, was Glauben zu sein hat. Katechismus ging andere Wege als Folge des „Aggiornamentos“, d.h. Verheutigung Was so ein Bücherregal alles so er- (ital. Giorno = der Tag), ein „Auf-den-Tag- zählt? heute-bringen“ der Kirche durch das II. Ich habe ein Buch gelesen, für das ich in Vatikanische Konzil von 1962 – 1965. An- meinem Bücherregal noch keinen Platz ge- gestoßen von Papst Johannes XXIII. wurde wählt habe. Vielleicht stelle ich dies zu die Bedeutung der Reform. Die katholische meinen drei genannten. Kirche findet in der Reform eine Entwick- Es ist das Buch von Michael Seewald: lung ihrer Identität (Echtheit). „Ecclesia „Dogma im Wandel. Wie Glaubenslehren semper reformanda“, d.h. Kirche ist immer sich entwickeln“, Freiburg 2018. Dogma im eine zu reformierende. „Nachdem nun end- Wandel – Entwicklungen, ein hoch interes- lich dieses umstrittene Buch allen Interes- santer Gang durch die Theologiegeschichte sierten zugänglich ist, empfiehlt es sich der Kirche, sehr bereichernd und ermuti- sehr, es als Arbeitsbuch für die theologi- gend. Mit diesem Buch kann man, d.h. sche Erwachsenenbildung zugrunde zu le- kann ich den „Katechismus der Katholi- gen. In der Tat lässt sich wohl kaum ein schen Kirche“ ertragen. anderes Werk nennen, das für diesen Michael Seewald hat in Publik-Forum Zweck gleich gut geeignet wäre“, Adolf Exe- Nr.19/2019 ein Interview gegeben. Ich zi- ler in „Report über den Holländischen Ka- tiere einige Sätze: „Aber auch lehramtliche techismus“, Freiburg 1969 S. 189f. Texte sind in bestimmten Situationen ent- Dieser Katechismus war wahrhaft erfri- standen, sie kommentieren sich gegenseitig schend, bereichernd und Mut machend, und widersprechen sich nicht selten. Wa- aber leider: Wer kennt dieses Buch noch? rum sollten wir diese lebendige Geschichte Wo dürfen die Ausführungen heute noch nicht fortschreiben können? Ich habe den ermutigen? Eindruck, dass es bei der Verteidigung Nun zurück zu meinem Bücheregal, da mancher lehramtsfundamentalistischer Po- steht auch „Vamos Caminando. Machen wir sition nicht um Theologie, sondern um den uns auf den Weg! Glaube, Gefangenschaft Willen zur Macht geht“. Zum Katechismus und Befreiung in den peruanischen An- der Katholischen Kirche seine Kritik: „Bis den“, Freiburg (Schweiz)/Münster 1983. 1992 war klar, dass der Papst in dem, was Dieser Katechismus nimmt die Welt der er dogmatisch lehrt, an die Offenbarung ge- Campesinos/Landarbeiter, die Welt der bunden ist. Der Katechismus der katholi- Menschen in den Blick und bezieht diese schen Kirche von 1992 löst diese Verbin- ein in das Heilsgeschehen in Jesus. Dieses dung und gibt dem Lehramt die Möglich- Heilsgeschehen wird ausführlich mit den keit, auch das als Dogma zu definieren, was Worten und mit dem Verständnis der Cam- gar nicht geoffenbart ist, sondern von dem pesinos nacherzählt, sozusagen in ihr eige- behauptet wird, dass es mit der Offenba- nes Leben eingepflanzt, damit sie sich dort rung irgendwie zusammenhänge. Das ist vom Wort Gottes treffen lassen. Miteinan- ein großer Zuwachs an Autorität. Das Lehr- der leben – miteinander glauben! amt wird zum Produzenten des Glaubens, Ein weiterer Katechismus ist da, „Kate- statt dessen Zeuge zu sein“. Dank an Mi- chismus der Katholischen Kirche“, Mün- chael Seewald für seine mutigen, engagier- chen 1993, 816 Seiten. ten Worte. Ich musste mir dies damals antun, denn Ein Beispiel für die starre lehramtliche Po- meine Neugierde war groß. Als ein Freund sition ist die Nr. 1577 im Katechismus der erfuhr, dass ich mir das Buch angeschafft Katholischen Kirche mit dem Verbot der hatte, war seine Antwort: „Wenn ich es Weihe von Frauen zum priesterlichen imprimatur, Heft 4, 2019 Leserbeitrag 262

Dienst, auch ein Thema des „synodalen We- Michael Seewald (s.o.). Ich zitiere den The- ges“. ologen Yves Congar aus dem letzten Jahr- hundert: „Nur eine dienende Kirche dient Der synodale Weg der Welt.“ Bischof Jacques Gaillot: „Eine Ein Blick in das griechische Wörterbuch: Kirche, die nicht dient, dient zu nichts“. Im Griechischen steht „synodos“, d.h. Weg- Kirche hat viele Missbräuche erlebt durch gefährte (heute ergänzend Weggefährtin). Ausübung von Macht über Menschen. Ich Es geht darum, miteinander als Weggefähr- plädiere für eine sympathische Kirche im tinnen und Weggefährten einen Weg zu ge- Mitleiden und im Mitfreuen. Das „Mit“ ist hen. Im Unterwegssein können Erfahrun- entscheidend, nicht das von „Oben“ nach gen gemacht werden, Veränderungen „Unten“. wahrgenommen werden, Altes und Neues Es gelten die Worte des Evangeliums im miteinander reflektiert werden. Brief an die Gemeinde in Ephesus (2,19- Ein synodaler Weg entspricht der Aussage 21): „Ihr seid also jetzt nicht mehr Fremde von Apostelgeschichte Kapitel 9,2: Die ers- ohne Bürgerrecht, sondern Mitbürger der ten Christen werden „Anhänger des (neu- Heiligen und Hausgenossen Gottes. Ihr seid en) Weges“ genannt, nicht Anhänger einer auf das Fundament der Apostel und Pro- (neuen) Lehre. pheten gebaut; der Schlussstein ist Chris- tus Jesus selbst. Durch ihn wird der ganze Evangelisierung Bau zusammengehalten und wächst zu ei- nem heiligen Tempel im Herrn. Durch ihn Evangelisierung heißt für mich, im Mitei- werdet auch ihr im Geist zu einer Wohnung nander als Weggemeinschaft das Evangeli- Gottes.“ um leben. Wenn das Evangelium gelebt Im Alten Testament, im Buch Numeri wird, kann es auch im Wort verkündet (11,26-29), finden sich ermutigende Worte, werden. Charles de Foucauld ist ein Vor- im Vers 29: „Wenn nur das ganze Volk des bild für Evangelisierung. Er lebte mit den Herrn zu Propheten (Ergänzung: Prophe- Menschen (Tuaregs in der Wüste). Dann tinnen) würde, wenn nur der Herr seinen erzählte er ihnen, warum er so lebt, und er Geist auf sie alle legte.“ erzählte ihnen die Botschaft vom Evangeli- um. Diese Form des Lebens nennen wir die Der Blick in die Vergangenheit hilft in der „Vor-Verkündigung“, genannt Praeevange- Gegenwart für die Zukunft leben, Kirche lisation. Diese kommt vor der Verkündi- gemeinsam zu gestalten. Wir sind das Volk! gung des Evangeliums. Die Gefahr wäre Wir sind das Volk Gottes! Evangelisierung mit Belehrung gleichzuset- 1983 fand in Freiburg ein Deutscher Kate- zen (s.o. Bischof Kohlgraf). Es braucht chetischer Kongress statt mit dem Thema auch keine Neuevangelisierung, wie es im „Miteinander glauben lernen in Familie, Vatikan behauptet wird. Gemeinde, Schule“. „… gegen Resignation Wenn der Diener zweier Herren, der Ku- angehen – aufatmen – neuen Mut schöpfen rienerzbischof Georg Gänswein, davon – sich auf den Weg machen – miteinander spricht, dass der emeritierte Papst Benedikt reden – aufeinander hören – sich die Hand XVI. sich große Sorgen macht um die Lage reichen – neu anfangen – verschiedene der Kirche in Deutschland, dann ist dies Charismen entdecken – sich von der Viel- ein Zeichen von andauernder Belehrung. falt begeistern lassen – dem Heiligen Geist „Am meisten bedrückt ihn (Benedikt) wohl nicht im Weg stehen – miteinander glauben jene Gottesfinsternis, von der er schon lernen …“ früh und warnend zu sprechen begonnen Das Gebet zu diesem Kongress, könnte hat“, erklärte der Diener zweier Herren auch heute zum Gebet der Weggemeinschaft (Präfekt des Päpstlichen Hauses und Pri- Kirche werden. vatsekretär Benedikts). Viele Gläubige „Sei bei uns, Herr, auf unserem Weg. Geh würden die Vorgaben des Katechismus mit uns Schritt für Schritt. Mach unsere kaum mehr ernst nehmen und sich nicht tauben Ohren auf. Lass unsere blinden Au- nach der Lehre der Kirche richten. Bezüg- gen sehen. Gib den verzagten Herzen Mut. lich der Neuevangelisierung warnte er da- Lass uns in Angst nicht untergehn. Gib uns vor, überlieferte Lehren aufzuweichen. von deinem Heiligen Geist: den Geist der Wie gut, dass es viele andere Stimmen in Eintracht und der Weisheit, den Geist der der Kirche gibt, wie z.B. die Stimme von Wahrheit und der Liebe, damit nicht einer imprimatur, Heft 4, 2019 Leserbeitrag 263

gegen den anderen kämpft. Lass uns in Karrer, Theologe: Moralisches „Grounding“ deinem Geist Gemeinde werden und wei- der Kirche? Plädoyer für Trotzdem-Treue, tersagen, was uns im Glauben stärkt. Lass in imprimatur. kritische Katholiken und uns dich finden in der Tischgemeinschaft, ihre Zeitschrift Nr.3.2019, S. 139; s. auch die um dein Brot versammelt ist. Damit im Hermann Häring: „Ein Aufruf gegen Ma- Zeichen des gebrochenen Brotes wir dich cher und erleuchtete Gruppen. Der Papst erkennen als den einen Herrn, der uns in und seine Ghostwriter“ S. 140-144). Liebe auf dem Weg begleitet und uns als Bo- Vamos caminando. Machen wir uns auf ten (und Botinnen) ausschickt in die Welt. den Weg! Miteinander leben lernen und so Wir bitten, bleibe bei uns, Herr, jetzt und auch miteinander glauben lernen. an jedem Tag. Amen. (Gabriele Miller und Adolf Exeler) Auch bei der Frage nach dem Sinn von Kir- *** che kommen wir auf das Wort Weg oder ge- hen. Das Wort Sinn verweist in seiner Her- kunft auf das Verb „sinnen“, welches ur- sprünglich „gehen, reisen“ bedeutete. Sinn Christa Jenal verweist auf das alte Wort „Gesinde“, d.h. Weg-Gemeinschaft. Geblieben ist oft nur das Christenverfolgung im Ge- Wort „Gesindel“. Gesindel haben wir erfahren in den Miss- wand von Musikkultur brauchsfällen, und dieses Gesindel wurde oft von der Hierarchie gedeckt, geschützt. ______Täter und Vertuscher waren Gesindel und kein Gesinde, keine Weg-Gemeinschaft, welche dringend not-wendig war und ist. Neueste Statistiken der Katholischen Kir- Synodaler Weg kann den Blick schärfen für che Deutschlands haben jüngst einen ext- den Sinn von Kirche als Weg, als Weg- remen Rückgang von Gläubigen in den Gemeinschaft, als Anhänger des Weges, als nächsten Jahrzehnten prognostiziert. Unterwegs-Sein. Der Blick in die Bibel zeigt Auch im Bistum Trier stehen Kirchen zum viele Weg-Geschichten auf. Auch Jesus war Verkauf, sind Pfarreien verwaist oder Ge- auf dem Weg. Unterwegs-Sein ist der Ge- bäude multifunktional genutzt für säkulare genpol zur fundamentalistischen Position. Gemeindetreffs. Unterwegs-Sein lässt auch Zweifel zu. Zwei- Fast unbeachtet von der Öffentlichkeit voll- fel öffnen den Weg zur Entfaltung. Refor- zieht sich jedoch nicht nur in Deutschland, men sind angesagt. Ecclesia semper refor- sondern weltweit eine antichristliche Spur, manda! die die Werte des Christentums von Liebe und Respekt mit Füßen tritt, ja geradezu Es braucht den Mut zum Wagnis. zur Zerstörung von selbigen und ihrer Wagnis hat mit Weg zu tun. Symbole aufruft. „Die Grundfrage mündet vielmehr in die Die Gefahr für das Christentum weltweit spirituelle Existenzfrage: Wem vertrauen scheint von innen zu kommen, angefacht wir? Auf wen setzen wir die Hoffnung? Ist durch neue Identitätsstifter, die millionen- es das Vertrauen auf die Treue Gottes oder fach junge Menschen erreicht: die Musik, auf die scheinbaren Garantien der Kirche speziell die satanistische „Black Metal“ als Institution oder unsere Leistung? … Szene. Kirche wird als solche da erfahren, wo Ausgehend von den 90-er Jahren, in denen Menschen sich miteinander auf den Weg zum ersten Mal von Norwegen ausgehend und die Botschaft Jesu einlassen, … In der antichristliche, satanistische Bands erste Weite und Tiefe der konkreten Kirche mit Europatourneen starteten, sind sie heute all ihren Wunden und Wundern schenkte 2019 zu einem weltweiten Musikindustrie- und schenkt es sich, Menschen zu begeg- zweig und zur Bedrohung christlicher Zivi- nen, mit denen man in gemeinsamer Hoff- lisation geworden. nung unterwegs sein darf. Und diese Hoff- Leitfigur der norwegischen Black Metal, nung möchte in unserem Alltag in vielen dem Satan gewidmeten, Musikszene, war meist kleinen Schritten ‚auferstehen‘“ (Leo Varg Vikernes, der seine Sympathie für imprimatur, Heft 4, 2019 Leserbeitrag 264

Friedhofsschändungen, Kirchenanzündun- val“ aufgespielt mit 12 Bands aus 8 Län- gen nicht verheimlichte. So brannten in dern, u.a. Deutschland, die zu einer „Wil- den 90-er Jahren einige Holzstabkirchen den Jagd“ gegen das Christentum aufrufen lichterloh unter der Freude der neuen unter dem Motto: „Spread heresy“ (Ver- „Jünger Satans“, die später sogar Platten- breite Ketzerei!), veranstaltet durch das covers zierten, wie im Falle der „Fantoft- Netzwerk „Militant Zone“. Im Jahr der Eu- kirche“ bei der norwegischen Band „Dark ropawahl 2019 scheint das christliche Eu- Throne“. ropa von außen kulturell bedroht und anti- Auftrittsorte sind nicht zufällig oft Bi- christlicher Hass nach innen gestreut, der schofsstädte: Turin, Trier, Speyer, Paris, sich nicht mehr durch satanistische Musik Termine christliche hohe Feiertage: „Dark als Unterhaltung, sondern „Bewegung“ und Easter Festivals“ oder „Black Christmas“. neuem Kulturkampf zur Unterwanderung Das menschenverachtende Weltbild dieser des christlichen Europas definiert. Symbo- Gruppierungen schreckt sodann auch nicht lische Musiklabels wie „Christhunt Produc- vor der Umkehrung aller christlichen Wer- tions“ u.a. bieten per Internet den Kauf te zurück: aus Liebe sollte Hass werden, von CDs und T-Shirts satanistischer Bands aus Respekt vor der Würde des Menschen von Brasilien bis Deutschland zum Kauf an wird Hass und Gewaltlyrik gegen Frauen, - scheinbar ungeachtet und unterschätzt Homosexuelle, Christen – begründet auf ei- von den staatlichen Kontrollbehörden und nem angeblichen Überlegenheitsgefühl und kirchlichen Institutionen. dem vermeintlichen Recht auf Gewalt und Zu Beginn 2019 startete in Deutschland die Tötung Andersdenkender und -gläubiger. sogenannte „Ecclesia Diabolica Europa Vark Vikernes saß wegen Mordes im Ge- 2019 e.V. Tour“, die internationale satanis- fängnis und wurde seither zu einer Kultfi- tische Bands wie „Behemoth“, oder „Wolves gur vieler Jugendlicher – vergleichbar mit in the Throne Room“ vereinte. Der Front- dem Massen- und Ritualmörder Charles man von „Behemoth“ warb per Internet Manson. Auch Ende der 90-er Jahre gab es mit den Worten „Wir hören euer Flehen, im Bistum Trier viele Konzerte satanisti- Europa! ... wir werden die unheilige Drei- scher internationaler Bands, die mit umge- faltigkeit und einen Schwarm der Verwüs- drehten Kreuzen und Pentagrammen ihre tung über den alten Kontinent bringen!“ antichristlichen Weltbilder nicht verleugne- Oder wie die Musikpresse feierte: „It do- ten. In vielen Jugendzentren, ob in Trier, esn‘t get more blasphemous than this“. Bitburg oder auf dem Land in Otzenhausen Durchgeführte Tourneestationen waren oder Oberthal etc. wurden die Heroen gefei- zwischen Hamburg und München von Ja- ert und als Vorbilder für lokale Bands kre- nuar bis Februar: Blasphemie als Unterhal- iert. tung, offen unter das jugendliche Publikum Friedhofsschändungen in Riegelsberg z.B. gestreut. sind polizeilich aktenkundig auf diese Sze- Eine weitere Tournee konnte sich durch ne zurückzuführen. Verurteilungen wur- Europa wälzen im April, um die christli- den nur auf Bewährung ausgesprochen, die chen Festtage Palmsonntag und Ostern: Täter sind heute in echten satanistischen „Europe under Black Death Metal Fire“: Bands aktiv, der Übergang zum politischen von Ludwigsburg über Luzern, Budapest Rechtsextremismus ist fließend und an vie- bis München. Höhepunkt am 14.4. in Pa- len Akteuren belegbar. ris, im Glazard, unweit der Kathedrale Was in den 90-er Jahren noch von den „Notre Dame“. nordischen europäischen Ländern und ei- Bands wie „Belphegor oder God Dethroned“ ner dunklen, dem Germanenkult verschrie- u.a. haben dort einen Tag vor dem Brand benen Musikszene ausging, ist 2018 und von Notre Dame dem Satan und dem Abfa- 2019 zu einer jenseits bloßer Provokation ckeln von Kirchen gehuldigt. „The Flaming Jugendlicher sehr ernstzunehmenden Be- Arts proudly presents!“ war auf den Plaka- wegung geworden mit meist eindeutig ext- ten zu lesen. In der Liste der gespielten remistischer Ausrichtung. Songs der österreichischen Band „Belphe- Kurz vor dem christlichen Fest Weihnach- gor“ ist die geistige Vorbereitung der fol- ten hat die internationale „Blackmetal- genden Katastrophe abzulesen. Fotos und Szene“ in Kiew, außerhalb der EU in der Beiträge auf einschlägigen Black Metal- Ukraine zu einem großen „Asgardsrei-Festi- Foren bejubeln die brennende Kathedrale,

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dem bedeutenden spirituellen Symbol Eu- Oberthal durchgeführt – auf dem idylli- ropas. schen lokalen Wanderplatz zwischen An Pfingsten 2019 konnten die internatio- Friedhof, Kapelle und altem Pilgerweg ... nalen Satansanbeter im Amphitheater in Selbst ein Offener Brief an den Bischof von Gelsenkirchen aufspielen, veranstaltet von Trier verhallte. Wie anders kann es sein, der Musikzeitschrift „Rock Hard“ unter- dass lokale Nachahmungstäter der anti- stützt vom öffentlich-rechtlichen WDR. christlichen Musikarmee sich ermutigt füh- Topact dieser Show, bei der 7000 junge len müssen. Menschen erwartet wurden, war die schwe- Was sind die Ursachen? Was die möglichen dische Band „Watain“, die bereits in Saar- Auswirkungen? Wie sollten wir damit um- brücken mit „Rotting Christ“ u.a. zusam- gehen? Darf dies nur als Provokation abge- men auftreten durfte. Sie huldigt in ihren tan werden in einer Zeit der Ersatzreligio- YouTube Werbevideos Kirchenverwüstun- nen und fehlenden Orientierungen für jun- gen, ob durch Brände oder Zerstörung von ge Menschen? Engelsfiguren. Die Band besingt in ihren In einer Welt der fehlenden Spiritualität Texten sogar Vergewaltigungen oder das und materiellen Fokussierung auf unbe- Töten von Menschen wie in Liedern wie grenzten Konsum, Regellosigkeit und per- „Angelrape“, oder „Kill“. Die amerikanische missives Freiheitsstreben erodieren alte Band „Cannibal Corpse“ konnte nur durch Autoritätsstrukturen wie Kirche und Staat. Androhen einer Strafanzeige davon abge- Schulen haben mit Disziplinproblemen zu halten werden, 5 indizierte Lieder zu spie- kämpfen, Politiker mit Hassbeschimpfun- len, deren Menschenverachtung (speziell gen und Kirchen mit Aushöhlung ihrer gegen Frauen und Kinder) nicht zu über- Wertebasis. bieten ist. Das Ignorieren demokratischer Durch musikkulturelle Vorbilder kann die und christlicher Rahmenbedingungen Hemmschwelle, Gewalt anzuwenden, sin- scheint hier System zu sein. ken. So ist nicht verwunderlich, dass auch loka- Ein Anstieg des Verrohungspotentials und le Jugendgruppen im Bistum Trier sich an- Infragestellung aller tradierter christlicher scheinend animiert fühlen, ähnliche Events Wertvorstellungen und Institutionen wird durchzuführen, die die angebliche „Recon- beim affektiven Einüben durch „Black Me- quista“ des christlichen Abendlandes im tal Musik „geradezu beschleunigt. Sinne der germanischen vorchristlichen Was bereits in Kanada und Norwegen u.a. Kultur ankurbeln sollen. Beispiele: Im belegt ist, dass Black Metaller als Straftäter saarländischen Otzenhausen, der ehemali- gegen Kirchen aktiv wurden und zu Kultfi- gen keltischen Siedlung, durfte Ende 2018 guren generierten, kann in Deutschland die schwedische Band „Unleashed“ auftre- auch nicht ausgeschlossen werden und ten, deren aktuelle CD „The Hunt for White muss präventiv angegangen werden - ge- Christ“ mit ihrem Hass auf das Christen- samtgesellschaftlich, um diese weitgehend tum und andere Religionen in Texten nicht von der Öffentlichkeit unbeachteten gehei- spart. Auch die deutsche Band „Vulture“ men Miterzieher zu bekämpfen. d.h.: durfte mit Absegnung der lokalen Polizei- a) Aufklärung über Weltbilder dieser Mu- behörde und der saarländischen Staatsan- sikkultur und ihrer geschichtlichen waltschaft eine Vergewaltigung einer Frau Kontexte, mit einem Messer an der Kehle als freie b) juristische Konsequenzen gegenüber Fantasie besingen, angeblich im Einklang Akteuren, Labels, Bands, Veranstaltern mit der vielbeschworenen „Freiheit der und Kunst“, frei zugänglich ohne jedwede Al- c) Aufbau und Einüben eines Verantwor- tersbeschränkung. tungsdenkens und christlicher Moral, Veranstalter in der lokalen Hunnenring- die die Menschenrechte und Liebe statt halle war der als gemeinnützig eingetrage- Hass in den Vordergrund stellt. ne Verein Celtic Warriors“ mit dem Motto Nichts weniger als das Zerstören einer gan- „Stahl, Titten, Alkohol“ – steuerlich be- zen Kultur steht auf dem Spiel, wenn der- günstigt, von kirchlicher Seite ignoriert. artige Ideologien als „dumme Junge-Strei- Kurz nach Pfingsten wurde dann ein Kon- che“ und pure „jugendliche Provokation“ zert u.a. mit der niederländischen Band verharmlost werden – auch von seiten „Heretic“ (Ketzerei) im saarländischen kirchlicher Amtsträger.

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Wenn wir diese neue kulturelle Christen- Seiten Text – auf Fußnoten, Quellenanga- verfolgung stoppen wollen, müssen deren ben und eine Bibliographie wurde verzich- menschenverachtende Dimensionen ernst- tet – ist das Buch eher dünn, wobei der Stil genommen werden und eine neue Wer- eingängig und lesefreundlich ist. Dem steht tediskussion auch von christlichen Amts- jedoch eine Informationsdichte gegenüber, trägern deutlichst eingefordert werden. die fast ihresgleichen sucht. An vielen Stel- Das christliche Erbe muss den geistigen len hätte man das Buch leicht mit weiteren Brandstiftern der Musikindustrie des Beispielen, Zitaten etc. erweitern können, „Black Metal“ Einhalt gebieten, nicht noch eine Kürzung dagegen hätte immer zum mehr Freiheit gewähren. Verlust wichtiger Informationen geführt. Das geistige Vermächtnis für eine ganze Die Zusammenfassung des Inhaltes ist in Generation steht auf dem Spiel. Bezug auf die ersten Kapitel daher exemp- larisch etwas ausführlicher als im Falle der späteren. *** Zur Anlage des Buches lesen wir in der Einleitung auf S. 7: „Dieses Buch ist eine Abrechnung mit westlicher Politik, die ger- Markus Groß ne für sich in Anspruch nimmt, ‚werteori- entiert‘ zu handeln, im Nahen und Mittle- ren Osten aber vielfach verbrannte Erde Nostra culpa? hinterlassen hat.“ Dabei kritisiert er im Westen ... „vor allem die Neigung, die Kon- – eine Rezension zu Michael Lü- fliktparteien in ‚gut‘ und ‚böse‘ zu untertei- len. … Westliche Politiker vermeiden es ders: Wer den Wind sät - Was west- nach Möglichkeit, von Interessen zu reden. liche Politik im Orient anrichtet, Lieber erwecken sie den Eindruck, sie be- C.H. Beck, München 29. Auflage trieben ein weltweit angelegtes Demokrati- 1 sierungs- und Wohlfahrtsprogramm.“ Dazu 2019 am Ende mehr. Lüders erwähnt hierbei, dass die USA seit 2001 in sieben mehrheit- ______lich islamischen Ländern militärisch inter- veniert seien und zieht folgende Bilanz: Wer sich eine Woche die Nachrichten an- „Gibt es eine einzige militärische Interven- schaut und Buch führt, wieviel Prozent der tion des Westens, die nicht Chaos, Diktatur, Sendezeit im weitesten Sinne den Konflik- neue Gewalt zur Folge gehabt hätte?“ ten im oder mit dem islamischen Kultur- Das erste eigentliche Kapitel ist dann chro- kreis gewidmet ist, der kann nicht umhin, nologisch dem ersten direkten Eingreifen die übergroße Bedeutung dieser Krisenher- des Westens nach dem 2. Weltkrieg in die de für die internationale Lage anzuerken- Politik eines orientalischen Landes gewid- nen. Das Buch von Michael Lüders ist ein met: „Putsch in Teheran: Der Sündenfall“ Streifzug durch eine Reihe dieser Konflikte, (S. 12). In ihm wird der Sturz der demo- ihre Geschichte und ihre Ursachen, wobei kratisch gewählten Regierung des in als roter Faden die „Fehler des Westens“ Frankreich und der Schweiz ausgebildeten betrachtet werden, die bei der Entstehung Rechtsanwaltes Mossadegh im Jahre 1953 von Krisen bzw. deren Verschärfung eine und seine Ersetzung durch den dem Wes- maßgebliche Rolle gespielt haben. ten genehmeren Schah referiert. Nach vie- Lüders scheint sein Buch als einen Beitrag len Gesprächen mit Iranern kann ich dabei zur öffentlichen Debatte, nicht als wissen- seine Analyse bestätigen, dass dieser Ein- schaftliches Buch konzipiert zu haben, wo- griff, der in erster Linie eine Reaktion auf für auch die mittlerweile 29 z.T. aktuali- die Verstaatlichung der Ölindustrie war, sierten Auflagen sowie viele Vorträge des bei der Bevölkerung auch Jahrzehnte da- Autors zum Buch sprechen, und vor diesem nach als große Ungerechtigkeit wahrge- Hintergrund ist es auch zu beurteilen. Um nommen wurde, die alle späteren Ereignis- eines vorwegzunehmen: Mit lediglich 175 se überhaupt erst möglich gemacht hat. Lüders macht hier zum ersten Mal eine 1 1.-8. Auflage 2015; mehrere Aktualisierungen, zu- Taktik der Anschwärzung des Gegners aus, letzt für die 29. aktualisierte Auflage 2019. imprimatur, Heft 4, 2019 Buchbesprechung 267

die auch später oft angewandt wurde. So zuführen –, worauf es zu landesweiten Auf- verglich der damalige britische Außenmi- ständen gekommen sei. nister Antony Eden Mossadegh mit Hitler Hier könnte man einhaken und vorgreifen (S. 17) „…und beschreibt ihn in einer auf ein Zitat aus einem späteren Kapitel (S. Sprache, die sich später fast wortgleich ge- 58): „Der im Westen vorherrschende Ein- genüber Diktatoren wie Saddam Hussein, druck, diese Entwicklung sei wohl in erster Gaddafi oder Baschar al-Assad wiederfin- Linie der Religion geschuldet, Islam sei det…“. Mossadegh, der bis zu seinem Le- gleich Mittelalter, verkennt die wirklichen bensende 1967 unter Hausarrest gestellt Ursachen: Einflussnahme von außen bis wurde (S. 19) „…ist sicher die tragischste hin zur Intervention sowie gesellschaftliche Figur in diesem Drama: Er war ein über- Rahmenbedingungen, die eher der Restau- zeugter Anhänger des Parlamentarismus, ration als einer Revolution in die Hände ein Bewunderer Mahatma Gandhis, von spielen.“ Dies sieht auf den ersten Blick so Abraham Lincoln und der amerikanischen aus, als ob Lüders der Meinung sei, Religi- Demokratie. Heute hieße es wohl: Er teilte on werde nur missbraucht, sei aber selbst die westlichen Werte.“ Über seinen Gegen- kein Hauptgrund für die Krisen und die spieler, den Schah dagegen schreibt Lüders: Rückständigkeit des Orients. Explizit wird „Er machte aus dem Iran einen amerikani- diese Frage (leider) nirgendwo themati- schen Militärstützpunkt an der Südgrenze siert, man muss ihm aber zugute halten, der Sowjetunion und zum wichtigsten Ver- dass er – wie wir sehen werden,– an vielen bündeten Israels in der Region.“ In der Stellen des Buches sehr wohl an einzelnen Folge habe es dann zwei Hochburgen der Beispielen zeigt, wie sehr die Gewaltspirale Opposition gegeben: den Basar und den durch religiöse Motivation in Gang gesetzt Klerus, mit dem sich auch die Linken – zu oder zumindest beschleunigt wird. Das ei- ihrem späteren Schaden – verbündeten. So gentliche Thema des Kapitels ist jedoch die sei die Religion das Sammelbecken der Un- Geschichte des Afghanistankrieges, der mit zufriedenen geworden. der sowjetischen Besatzung begann und Nach der Machtübernahme durch Khomei- von dem Lüders meint, dort sei die Saat für nis islamische Revolution kam es zu einer den 11. September gelegt worden. Im Un- 404 Tage dauernden „Geiselnahme ameri- terkapitel „Narziss und Goldmund“ (S. 24) kanischer Diplomaten in Teheran, von zitiert er den „Architekt des marchiavellis- 1979 bis 1981“. Dieses erscheine „den USA tischen Lehrstücks“, den damaligen Sicher- auch heute noch als der eigentliche Skan- heitsberater von US-Präsident Jimmy Car- dal, nicht der Putsch von 1953, der die ter Zbigniew Brzezinski aus einem Inter- Lunte entfachte für die Explosion eine Ge- view mit dem französischen „Nouvel Obser- neration später. … Ohne Putsch von 1953 vateur“ aus dem Jahre 1998: Brzezinski keine Islamische Revolution 1979.“ (S. 21, gibt dabei zu, dass Militärhilfe für die af- 22) Lüders schildert jedoch auch kurz die ghanischen Mudschahedin nicht, wie offizi- Schrecken der Machtübernahme Khomei- ell verlautbart, erst nach dem Einmarsch nis, von der Liquidation Zehntausender der Sowjets am 24. Dezember 1979 gewährt Regimekritiker bis hin zur Kleiderordnung worden sei, sondern bereits im Juli davor. für Frauen und kommt zum Schluss: „Der Ziel sei die Schwächung der Sowjetunion islamische Fundamentalismus erlebte als gewesen. Folge der iranischen Revolution seinen An dieser Stelle hätte Lüders vielleicht Durchbruch auf Kosten säkularer, nationa- auch den Besuch Brzezinskis am Kyber listischer und pro-westlicher Strömun- Pass, bei dem damals mit den USA verbün- gen…“. deten pakistanischen Diktator Zia ul-Haq Im nächsten Kapitel, ab S. 23, geht es um erwähnen können2. Zu den geflohenen Re- das „Endspiel am Hindukusch: Washington bellen sagte er damals: „Das Land dort drü- und Riad als Geburtshelfer von Al-Qaida“. ben ist euer Land. Ihr werdet eines Tages Lüders beschreibt, wie Amanullah Khan, heimkehren in eure Häuser und Moscheen, der erste König Afghanistans nach der Un- abhängigkeit 1919 vergeblich versuchte, das Land zu modernisieren, – u.a. bemühte 2 Konfrontation am Khyber-Paß, Noch ist Pakistan unschlüssig: er sich, den Schulbesuch für Mädchen ein- Wie soll es sich gegenüber den Sowjets verhalten?, von An- dreas Kohlschütter, Die Zeit, 8. Februar 1980; digital abrufbar unter: https://www.zeit.de/1980/07/konfrontation-am-khyber- pass imprimatur, Heft 4, 2019 Buchbesprechung 268

denn Gott ist auf eurer Seite … Niemand in 30 f.): „…verfolgt Riad das politische Ziel, der Geschichte hat das afghanische Volk je den Wahhabismus in der gesamten islami- unterdrücken können. Euer Kampfgeist ist schen Welt zu verbreiten und den Islam zu wichtiger als Hubschrauber und Panzer.“ ‚wahhabisieren‘ … Der Salafismus in seiner Wer den kurze Zeit später herausgekomme- heutigen Form ist ‚Wahhabismus light‘.“ nen Film Rambo III, der in Afghanistan Für ihn ergibt sich somit eine „schizophre- spielt, anschaut, wird sehr schnell feststel- ne Situation“: Einerseits verbreitet die Re- len, dass die Verbündeten des amerikani- gierung – im Ausland – den Wahhabismus, schen Helden hier Leute sind, unter denen andererseits bekämpft sie den IS, der aber auch ein Osama bin Laden gut hinpassen von reichen Saudis finanziell unterstützt würde. Wie man an diesem Beispiel sehr wird. schön sehen kann: Der Feind meines Fein- Hier muss man einhaken: So schizophren des ist – wenn überhaupt – meist nur für ist die Situation nicht! Ideologisch sind kurze Zeit mein Freund! Interessant ist zwischen der saudischen Staatsreligion und hier auch, dass man offensichtlich den Is- dem IS zwar kaum Unterschiede festzuma- lam als solchen für eine „verbündete Ideo- chen, aber von einem besonders frommen logie“ im Kampf gegen den Kommunismus Lebenswandel der Königsfamilie mit ihren sah. Doch zurück zum Buch: Anders als unzähligen Prinzen kann kaum die Rede man vielleicht denken könnte, bereut Brze- sein: und das ist im Volk seit Jahrzehnten zinski, der für das Eingreifen der Amerika- bekannt! Um dem gärenden Widerwillen ner und damit mittelbar für das Hochkom- der Bevölkerung ein Ventil zu geben, hat men der Taliban mitverantwortlich war, im die saudische Regierung die Verbreitung Interview nichts (S. 26): „Was ist für die des Wahhabismus im Ausland unterstützt Weltgeschichte von größerer Bedeutung? und sich damit das Ausbleiben einer Rebel- Die Taliban oder der Zusammenbruch des lion im Inneren erkauft. Auch Lüders sieht Sowjetreiches? Einige fanatisierte Muslime die Haltung der Bevölkerung kritisch (S. oder die Befreiung Zentraleuropas und das 31): „Dennoch, viele Saudis sympathisieren Ende des Kalten Krieges?“ wie generell viele Golfaraber mit gewalttäti- Ein Unterkapitel (S. 26) ist der Allianz gen islamistischen Gruppen.“ zwischen der USA und Saudi-Arabien ge- Im nächsten Kapitel „Arabische Afghanen‘ widmet. Dabei erinnert Lüders daran, dass und ihr Basisregister“ beschreibt er dann, 15 der 19 Attentäter des 11. September aus sozusagen als Synthese der Kapitel über diesem Land stammten. Von der dortigen Saudi-Arabien und Afghanistan, wie al- Variante des Islam schreibt er (S. 27): „In Qaida (die „Basis“) in Afghanistan mit ei- Saudi-Arabien ist der Islam Staatsreligion, nem von Osama bin Laden 1982 im pakis- genauer gesagt, eine erzkonservative, theo- tanischen Peshawar eingerichteten Dienst- kratische Strömung: der Wahhabismus.“ leistungsbüro die Organisation der Freiwil- Dann folgt ein historischer Abriss zur Ent- ligen Kämpfer gegen die Sowjets in Pakis- stehung. Er zitiert den Gründer, Muhamm- tan übernahm. Diese „Verbündeten“ wur- ad Abdul Wahhab (S. 28): „Wer sich diesem den, ausgelöst durch die Präsenz von US- Glauben nicht anschließt, dessen Besitz Truppen in Saudi-Arabien (d.h. unweit der möge beschlagnahmt, dessen Frauen und heiligen Stätten von Mekka und Medina) Töchtern Gewalt angetan werden, empfahl nach dem Golfkrieg 1990 – und dem Unter- er. Apostaten haben ihr Recht auf Leben gang des gemeinsamen Feindes Sowjetuni- grundsätzlich verwirkt. Zu den Muslimen, on –, einige Jahre später zu einem Haupt- die den Tod verdient haben, gehörten für feind der USA. ihn grundsätzlich Sufis, religiöse Mystiker Auch an guten Beziehungen zu dem später also, Schiiten und generell alle Nichtsunni- zweiten großen Feind im Land, den Tali- ten – von Nichtmuslimen ganz zu schwei- ban, waren laut Lüders die USA lange inte- gen.“ ressiert, da Interesse an einer Pipeline von Im folgenden Unterkapitel (ab S. 29), „Der Usbekistan nach Pakistan bestand (S. 36). Schoß, aus dem der Fanatismus kroch“, be- Zwar habe man mittlerweile die Ausliefe- schreibt er unter anderem die erste, im rung Osama bin Ladens verlangt, dies je- Jahre 1803 erfolgte Eroberung und Zerstö- doch 1998 durch einen vorschnellen An- rung schiitischer Gebiete und Heiligtümer griff auf ein Ausbildungslager von al-Qaida und stellt über den heutigen Staat fest (S. in Afghanistan verhindert, was letztendlich

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zum 11. September geführt habe. Lüders die Alphabetisierungsrate 1989 noch 95 sieht hier zudem einen Zusammenhang mit Prozent, die höchste in der arabischen der amerikanischen Innenpolitik (S. 36), Welt, war sie 2000 um mehr als die Hälfte denn „der amerikanische Angriff erfolgte gefallen.“ Leider werden hier – wie im ge- auf dem Höhepunkt der Lewinsky-Affäre, … samten Buch – keine direkten Quellen ge- Die meisten Kommentatoren waren sich nannt, obwohl ein Faktencheck die Zahlen einig, dass dieser Angriff auch als Befrei- grob bestätigte3. ungsschlag nach innen diente.… Hätte Der neue Plan sei dann gewesen, Saddam Clinton auf die Affäre mit seiner Praktikan- Hussein zu stürzen (S. 48). Was Lüders tin verzichtet, wären den Amerikanern nicht erwähnt: Bush Senior hatte einige möglicherweise 3000, den Irakern und Af- Jahre vorher, nach dem zweiten Golfkrieg ghanen Hunderttausende tote Zivilisten er- (wenn man den iranisch-irakischen als den spart geblieben.“ ersten ansieht) einen Sturz des Diktators Die Entstehung des IS wird im nächsten noch mit der Begründung abgelehnt, er Kapitel „‘Mission accomplished‘ „Die Ame- wolle keine Zerstückelung Iraks herbeifüh- rikaner schaffen die Grundlage für den ‚Is- ren, da dies zu einem Machtvakuum führen lamischen Staat‘“ (ab S. 37) behandelt. Zu würde. Beginn des Kapitels meint Lüders: „Ohne Der Plan, einen Regime-Wechsel herbeizu- Zweifel war Saddam Hussein ein verbreche- führen, eine Haltung, die in den letzten rischer Despot. Doch verdankte sich sein Jahren in mehreren Konflikten zu beo- Aufstieg maßgeblich der Unterstützung, die bachten ist, ist nach Lüders erst 1998 in er vor allem von den USA, aber auch von der neokonservativen Denkfabrik „Project europäischer Seite und den Golfstaaten er- for the New American Century“ geboren fuhr.“ Das Folgende ist dann eine Chronik worden (S. 48): „Werte wie Freiheit, Demo- seines Aufstieges und Falls. Lüders be- kratie, Rechtsstaatlichkeit werden ideolo- schreibt anschaulich die Brutalität der gisch instrumentalisiert, um sie als Ramm- Golfkriege, die Verlogenheit des Westens, bock machtpolitischer Interessen einzuset- die Saddam Hussein unterstützte, obwohl zen. So soll die amerikanische Hegemonie bekannt war, dass er 1983 gegen kurdische weltweit durchgesetzt und verteidigt wer- Aufständische Giftgas eingesetzt hatte. den, in Verbindung mit einem so weit wie Gleichzeitig hätten die USA auch im Rah- möglich deregulierten, deutlich am Finanz- men der Iran-Contra-Affäre den Iran mit kapital ausgerichteten Wirtschaftssystem. Waffen beliefert (S. 39). Weniger freundlich gesagt: Sozialdarwinis- Doch nicht alles Unglück sei auf strategi- mus gepaart mit Größenwahn und Zynis- sche Planung zurückzuführen. Lüders be- mus.“ richtet, wie Saddam Hussein die unbedach- Umgesetzt sei der neue Plan des Regime- te Äußerung der amerikanischen Botschaf- wechsels unter George W. Bush Junior terin im Jahre 1990 missverstanden habe. worden, der die Bedenken seines Vaters Sie hatte auf dem Höhepunkt des Konflik- nicht hegte. Was Lüders nicht erwähnt, ist tes mit Kuweit, nach Drohungen mit Krieg die Tatsache, dass bei den Vorbereitungen gegen den kleinen Nachbarn, zum iraki- zu diesem Krieg Bush Sr. erstaunlich still schen Diktator gesagt: „Wir haben keine blieb, hatte er seinen Sohn doch im Wahl- Meinung zu innerarabischen Konflikten, kampf zuvor mit allen Kräften unterstützt. auch nicht zu Ihren Grenzstreitigkeiten In der Folge beschreibt Lüders den Sieg der mit Kuweit (…).“ Er habe dies als Freibrief Amerikaner im Krieg und deren Niederlage für eine Eroberung verstanden, die letzt- während der Besatzung, wobei er folgende endlich zum zweiten Golfkrieg geführt ha- be.

Nach seiner Niederlage sei im Irak durch 3 So liegt der durchschnittliche Schulbesuch aktuell amerikanische Embargo-Maßnahmen, v.a. (2018) bei 6,8 Jahren, die Alphabetisierungsquote bei Medikamenten und Nahrungsmitteln, bei Erwachsenen (2006-16) liegt bei 43,7% (Frau- eine humanitäre Katastrophe heraufbe- en: 48,6; Männer: 57,0). Die Zahlen stammen aus schworen worden, der mindestens eine Mil- dem vom United Nations Development Programme lion Iraker zum Opfer gefallen seien. Den herausgegebenen „Human Development Report“, Download 2018 Statistical Update; digital verfüg- Entwicklungsstand des Landes vor dem bar unter: http://hdr.undp.org/en/2018- Krieg sieht er recht positiv (S. 45): „Betrug update/download. Die Zahlen stammen v.a. von Ta- belle 9: Education Achievements. imprimatur, Heft 4, 2019 Buchbesprechung 270

drei Kardinalfehler als Gründe angibt (S. onären gesellschaftlichen Veränderungen 51 ff.) führe, da dafür die bürgerlichen Mittel- 1. „Das Machtvakuum unmittelbar nach schichten zu schwach ausgeprägt seien. dem Einmarsch in Bagdad beförderte die Zudem gebe es in den Golfstaaten eine Ausbreitung von Anarchie und Chaos.“ Vor „Rentierwirtschaft“, d.h. man lässt andere allem den von Bush eingesetzten Zivilver- (Ausländer) für sich arbeiten: Man könnte walter Paul Bremer macht Lüders – und dem hinzufügen: Pakistanis und Filipinos man darf hinzufügen: nicht nur er – für für niedere, Europäer und andere Westler das Chaos verantwortlich. Bremers Versu- für qualifizierte Tätigkeiten. che seien zum Scheitern verurteilt gewesen, Zu den kulturellen Unterschieden zwischen aus einem völlig zerstörten Land „einen der arabischen Welt und Europa schreibt er neoliberalen Modellstaat zu schaffen, mit auf S. 62: „Die Identität des Einzelnen ist Privatisierungen allenthalben, zerstörten in der Regel Teil der jeweiligen Gruppen- die Reste an funktionierender Zentralstaat- identität. Ein Individualismus, wie er im lichkeit.“ Westen gelebt wird … kann sich in einer 2. Paul Bremer und die amerikanische Be- blockierten gesellschaftlichen Entwicklung satzungsmacht hätten keinen Versuch un- kaum entfalten…“ Darauf folgt dann ein ternommen, religiöse bzw. ethnische Kon- wichtiger Nebensatz: „Ebensowenig ein re- flikte durch einen „nationalen Dialog“ für formatorisches Denken, das den Koran an- die Neuordnung zu überbrücken. Er sieht ders als möglichst buchstabengetreu liest.“ die Spaltung in religiöse und nationale Als Mitglied einer Forschergruppe, die die Gruppen vor allem als Folge der amerikani- Ursprünge des Islam aus historisch-kriti- schen Besatzungspolitik. Hier dürften nicht scher Sicht zu erforschen sich bemüht, alle zustimmen. So hatte er nur wenige Sei- kann ich ihm da nur beipflichten. ten vorher von massakrierten kurdischen Zu den westlichen Träumen von einer De- Aufständischen gesprochen, und man mokratisierung Syriens fragt er auf S. 63: könnte ihm auch die jahrzehntelange Be- „Worauf beruht die Annahme, nach dem vorzugung von Sunniten, die er knapp eine Sturz Assads würden sich in Syrien Demo- halbe Seite später als „Machtelite im Irak kratie, Freiheit und Rechtsstaatlichkeit über Jahrhunderte“ bezeichnet, entgegen- einstellen?“ Seine Antwort ist klar, denn er halten. Das Nicht-Vorhandensein eines meint, es „… würden die Sunniten die irakischen Nationalbewusstseins kann man Macht übernehmen, weil sie 60% der Be- m.E. nicht in erster Linie den Amerikanern völkerung stellen. Weswegen sollten sie an- vorwerfen, wenn sie auch zum Abbau der ders agieren als die Schiiten im Irak unter Spaltungstendenzen nichts beigetragen ha- Maliki, nämlich Rache zu nehmen an jenen ben. Teilen der Bevölkerung, die Assad unter- 3. „Der gravierendste Fehler aber war die stützten…“. von Paul Wolfowitz, dem stellvertretenden Dem ist zuzustimmen, aber es stellt sich Verteidigungsminister, initiierte Entschei- schon die Frage, die er vermeidet: Wer ist dung, die irakische Armee aufzulösen und an diesen Zuständen schuld? Man kann die Baath-Partei als ‚kriminelle Vereini- den Westen nicht für mittelalterliche Ge- gung‘ zu verbieten.“ Auch hier ist Lüders sellschaftsstrukturen, die auch und vor al- mit seiner Analyse nicht allein und man lem auf Religion beruhen, verantwortlich könnte hinzufügen, dass die USA bei der machen. Abwicklung der Hinterlassenschaften einer In der Folge beschreibt er den Verlauf des Diktatur von der deutschen Wiedervereini- Bürgerkrieges, wobei er m.E. völlig richtig gung sich Einiges hätte abschauen können. darauf verweist, dass die Unterstützung Es ist nicht sinnvoll, alle Mitläufer des al- der „Freien Syrischen Armee (FSA)“ durch ten Regimes, von denen die meisten keine den Westen auf der Selbsttäuschung beruht Verbrechen begangen haben, in Bausch habe, dass es sich hierbei um eine demo- und Bogen zu entlassen und auszugrenzen. kratische Bewegung handelte. Hier muss Es folgt ein Kapitel: „‚Gute‘ und ‚böse‘ man Lüders, nicht zuletzt aufgrund der Dschihadisten: Wie der Westen vermeidet, jüngsten Ereignisse, recht geben: Das aus seinen Fehlern zu lernen“. Lüders Image der FSA zu Beginn des Krieges spricht hier von einer „Häutung der arabi- („Freiheitskämpfer“) hat sich spätestens schen Welt“, die jedoch zu keinen revoluti- seit dem Einmarsch der Türkei in die Kur-

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dengebiete mit massenhaften Vertreibun- nicht schon vorher gegeben hätte. Wer ei- gen und Morden geändert. Mittlerweile nen Mörder auf die Menschheit loslässt, wird die FSA als eine islamistische Söldner- trägt Schuld. Dies bedeutet aber nicht, dass truppe wahrgenommen. der Haupttäter nicht immer noch der Mör- Im nächstes Kapitel: „Im Herzen der Fins- der selbst ist. ternis: Was den ‚islamischen Staat‘ so er- Auf das Kapitel „‚Heilige Allianz‘: Die USA folgreich macht“ (ab S. 81) unterstreicht er setzen auf Diktatoren- und Feudalherr- einen weiteren Fehler des Westens, m.E. scher“ (ab S. 111), in dem er u.a. die Iso- zurecht: Dem fiktiven Unterschied zwi- lierung des Iran kritisiert, kann aus Platz- schen „guten“ und „bösen“ Islamisten, der gründen hier nicht näher eingegangen bereits im Titel des vorangehenden Kapitels werden. anklang: Die Waffen, die man hier den ver- Das letzte Kapitel, und eines, mit dem er meintlichen Verbündeten („guten Islamis- sich vielleicht am meisten dem Wider- ten“) geliefert hat, tauchten wenig später spruch von Politik und Medien aussetzt, in den Händen der „bösen Islamisten“ wie- behandelt den Fall Israels (S. 143-175): der auf. Auch liegen die religiösen Wurzeln „Freibrief für Israel? Der Gazakrieg 2014“. islamistischer Kämpfer klar zu Tage (S. Gleich zu Beginn macht er eine Rechnung 86): „Weltanschaulich passt kaum ein Blatt auf: „Allein während des 50-tägigen Krieges Papier zwischen den Wahhabismus und die im Gazastreifen sind im Juli und August Ideologie des IS.“ Auf S. 90 f. erklärt er 2014 rund 2200 Palästinenser getötet wor- dann sehr anschaulich die Anklänge des den, die meisten von ihnen Zivilisten, da- Kalifatsstaates IS an die arabische Traditi- runter fast 500 Kinder. Auf israelischer onsliteratur, allein schon bei der Namens- Seite starben 71 Menschen, darunter sechs gebung des neuen Kalifen Abu Bakr (Name Zivilisten.“ Ganz allgemein prangert Lüders des ersten Kalifen und direkten Nachfol- die seiner Meinung nach einseitige Partei- gers des Propheten) al-Baghdadi („der aus nahme des Westens für Israel an, da dieser Bagdad“, der Hauptstadt der Abbasiden). „Begriffe wie Demokratie und Menschen- Auch die Kalifatsidee selbst hält er zurecht rechte im Orient“ desavouiere, da sie mitt- für einen geschickten ideologischen lerweile „als Synonyme gelten für Heu- Schachzug. Was er hier hätte erwähnen chelei und Doppelmoral.“ (S. 144) Auf der können, ist die Tatsache, dass es auch in Folgeseite beklagt er, dass weder „die ge- Deutschland schon vor vielen Jahren diese zielte Vertreibung von rund der Hälfte der Idee gegeben hat: Der „Kalifatsstaat“ war palästinensischen Bevölkerung im Zuge der eine 1994 in Köln gegründete islamistische israelischen Staatsgründung…“, noch die Organisation, die 2001 verboten wurde. Siedlungspolitik von westlichen Regierun- Sehr instruktiv sind seine psychologischen gen offen angesprochen werde. Dem muss Erklärungen der Attraktivität des IS (S. man im Prinzip zustimmen, zur Wahrheit 95): „Sie wähnen sich zunächst in einer gehört jedoch auch ein weiteres Faktum: ‚Win-win‘-Situation. Töten sie Gegner und Zur Zeit der Staatsgründung nach dem 2. Feinde, erhalten sie gewissermaßen Bonus- Weltkrieg wurden die orientalischen Juden punkte für ihren Aufstieg in den siebten auch vertrieben – meist aus arabischen Himmel, die höchste Stufe des Paradieses. Staaten. Die Anzahl entsprach grob der der Sterben sie als ‚Märtyrer‘, landen sie sofort vertriebenen Palästinenser. Während man ganz oben, wo glutäugige, vorzugsweise erstere aber in Israel integrierte, wurden blonde oder blondierte Jungfrauen es letztere in den Nachbarstaaten z.T. bis heu- kaum erwarten können, die furchtlosen te in „Flüchtlingslagern“ (arabisch: muḫay- Helden leidenschaftlich zu verwöhnen.“ yama, abgeleitet von ḫayma - „Zelt“) gera- Als Schuldige am Entstehen des IS sieht er dezu gefangen gehalten. Im Libanon bei- jedoch die Amerikaner (S. 100): „Der IS spielsweise durften bis vor einigen Jahren war und ist die Quittung für den ebenso die dorthin geflohenen Palästinenser Dut- völkerrechtswidrigen wie sinnlosen, US- zende von Berufen nicht ausüben. So wur- geführten Einmarsch im Irak 2003…“ Dem de der Hass künstlich am Leben gehalten könnte man entgegenhalten: Der Ein- und ein durch die Opferrolle geprägtes Na- marsch hätte aber niemals diese Konse- tionalbewusstsein geschaffen, das es vor quenzen haben können, wenn es die Bruta- der Staatsgründung Israels gar nicht gege- lität, den Hass, den religiösen Fanatismus ben hatte.

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In einem Unterkapitel: „Die Hamas erkennt schen Gebiete Andalusien und der Balkan Israel nicht an?“ (S. 151) erwähnt er zu- müssten wieder zurückgegeben werden. dem die Hamas-Charta von 1988, die die Ein Friedensvertrag, der eine Rückgabe be- Zerstörung Israels fordert. Dem gegenüber inhaltet, ist nach islamischem Rechtsver- zitiert er den Hamas-Führer Ismail Ha- ständnis ungültig. Was aber möglich ist, ist niyya, der 2006 in einem Interview der ein zeitlich begrenzter Waffenstillstand Washington Post sagte: „Wenn Israel er- (arabisch: hudna). Dies wurde hier von klärt, dass es den Palästinensern einen Seiten der Hamas angeboten. Staat und ihre Rechte zurückgibt, dann ist Allerdings muss man Lüders auch recht auch die Hamas bereit, Israel anzuerken- geben, wenn er schreibt (S. 154): „PLO und nen.“ Und auf der Folgeseite dann: „Wir Farah haben Israel übrigens schon 1988 sind bereit, uns auf einen langjährigen Waf- anerkannt. Was hat es bewirkt? Ist deswe- fenstillstand zu verpflichten.“ gen eine Siedlung weniger gebaut worden?“ Lüders lässt dies unkommentiert und er- Auf S. 168 kommt er zu dem Schluss: „Vor weckt den Anschein, als ob die Hamas diesem Hintergrund spielt sich die jüngste prinzipiell zur Anerkennung Israels bereit Eskalationsstufe ab, die Verlagerung des sei. Dem muss leider widersprochen wer- nationalen Konflikts zwischen Israelis und den: Zunächst einmal gilt die Charta der Palästinensern auf eine religiöse Ebene.“ Hamas, ein durch und durch religiöses und Das Abschlusskapitel „Die neue Weltord- geradezu endzeitliches Dokument, bis heu- nung: Ein Ausblick“ (ab S. 169) zeichnet te. Es gibt mittlerweile zwar eine Art politi- ein aus westlicher Sicht düsteres Bild (S. sches Programm, von dem Marc Frings von 171): „Die Ära globaler Hegemonie, die der Konrad-Adenauer-Stiftung Ramallah in nach 1945 zunächst von den USA und der einem Interview im Deutschlandfunk4 Fol- Sowjetunion geprägt wurde, seit 1989 von gendes sagt: „… dass wir noch gar nicht ge- Washington und seinen Verbündeten, hat nau wissen, ob es wirklich die Charta erset- sich überlebt.“ Dem langsamen Niedergang zen wird. Das ist aus meiner Sicht bislang des Westens gegenüber sieht er einen Auf- noch nicht der Fall. Die Indizien sind un- stieg Chinas und der BRICS-Staaten. Auf terschiedlich gelagert. …die Charta … hat der Folgeseite rät er dann dem Westen: durchaus militantere Positionen, versucht, „Diese neue Unübersichtlichkeit verlangt damit natürlich auch radikalere Kreise wei- nach Diplomatie, Interkulturalität und terhin zu erreichen, wo hingegen dieses Pragmatismus.“ Er kommt bei seiner Ana- neue Programm, das nun vorgestellt wur- lyse zu dem Ergebnis (S. 174): „Einen de, wesentlich moderater ist und damit ‚Kampf der Kulturen‘ gibt es nicht. Wohl vermutlich auch eine andere Zielgruppe er- aber einen Kampf um die Fleischtöpfe.“ reichen soll, nämlich insbesondere das Hier würde ich ihm vehement widerspre- Ausland, …“ chen. Die Tausende von jungen Menschen, Der zweite Satz bei Lüders, der von der viele davon westlicher Abstammung, die Hamas in Aussicht gestellte „langjährige sich dem IS angeschlossen haben, taten Waffenstillstand“, wird ebenfalls nicht dies nicht, um ein besseres materielles Le- kommentiert, kann aber ohne religiöse Er- ben zu haben, sondern um ihrem Leben ei- klärung nur missverstanden werden. Nach nen höheren Sinn zu geben, als wie un- islamischer Vorstellung besteht die Welt menschlich und dumm sich dieser letzten aus zwei Teilen: dem „Haus des Islam“ (dār Endes auch herausstellte. al-islām) und dem „Haus des Krieges“ (dār Auf der letzten Seite (S. 175) zieht er dann al-ḥarb), dem Rest der Welt, man könne folgendes Resümee: „Ein gutes Miteinander auch sagen, den noch nicht islamischen braucht klare Regeln, die für alle gelten: Gebieten. Dabei ist es undenkbar, dass ein namentlich das Bekenntnis zu Grundgesetz Gebiet, das einmal islamisch war, wieder und Rechtsstaatlichkeit. Patriarchale Le- an das „Haus des Krieges“ – beispielsweise bensformen, die dem Einzelnen, vor allem an Israel – abgegeben wird. So versteht sich Mädchen und Frauen, keinen oder nur we- auch die Forderung vieler Fundamentalis- nig Freiraum lassen, sind in diesem Zusam- ten an den Westen, die ehemals islami- menhang ebenso abzulehnen wie etwa An- tisemitismus…“, und damit die Aussage 4 https://www.deutschlandfunk.de/neues-papier-der- nicht etwa als fremdenfeindlich verstanden hamas-wir-wissen-nicht-ob-es-wirklich- die.694.de.html?dram:article_id=385145 imprimatur, Heft 4, 2019 Buchbesprechung / Personen - Fakten - Trends 273

werden kann, fügt er hinzu: „…oder Islam- Bescheidenheit daherkommen – immerhin hass.“ eine auch christliche Tugend – wirkt aber Mein abschließendes Urteil über das Buch wie das genaue Gegenteil. Wenn zwei Kon- ist durchaus positiv. Obwohl ich in einigen trahenten klar definierte Interessen haben, Punkten dezidiert anderer Meinung bin, kann es durch Verhandlungen, vielleicht hat er alle Fakten m.E. richtig dargestellt. auch unterstützt durch Empathie auf bei- Doch stellt sich immer noch die Frage, ob den Seiten, zu einem Interessensausgleich, solche Fehler in anderen Weltgegenden einem Kompromiss kommen. Wenn aber (ohne Islam) nicht auch begangen wurden, einer der Kontrahenten abstreitet, eigene man denke nur an die Schrecken des Viet- Interessen zu verfolgen und sich stattdes- namkrieges, ohne dass auch nur annä- sen als der Anwalt „höherer Werte“ hin- hernd vergleichbare Nachwirkungen zu be- stellt, wertet er damit sein Gegenüber au- obachten gewesen wären. Neben der Religi- tomatisch moralisch ab: „Während ich für on kommt hier noch eine Unerbittlichkeit das moralisch Gute stehe, verfolgst du ego- hinzu, eine Unfähigkeit zu Kompromissen, istische Ziele!“ die Peter Scholl-Latour, der alte Doyen der Was soll man also tun: Entweder ehrlich Nahost-Berichterstattung einmal so be- sein und Interessen vertreten: Wir wollen schrieb: „Im Orient gibt es keine Guten und Öl, sichere Investitionen und Eure Länder Bösen, sondern nur Starke und Schwache: als Märkte – das ist nicht einmal unmora- Und wehe den Schwachen!“ lisch. Oder man will Werte vertreten: Frei- Ein Wort noch zu der Weigerung des Wes- heit, Demokratie, Menschlichkeit, Frieden – tens, die eigenen Interessen anzuerkennen: und ich würde hier zwei weitere Punkte Dieser Vorwurf wurde in der Vergangen- hinzufügen, an denen viele weitere hängen: heit in der englischsprachigen Welt speziell die Gleichberechtigung der Frau und die deutschen Politikern gegenüber gemacht, sexuelle Selbstbestimmung jedes Individu- auch beispielsweise dann, wenn es um die ums. In diesem Falle sollte man dann aber EU ging. Dadurch, dass diese sich weiger- auch etwas mehr für die tun, die in diesen ten, überhaupt eigene Interessen auch nur Ländern solche Werte – oft unter großen zuzugeben, und statt dessen angaben, ihr Risiken – vertreten, Raif Muhammad Bada- Ziel sei die Wahrung von „Werten“ wie Frie- wi beispielsweise, der einen Blog über Poli- den, Menschlichkeit, Freiheit, Demokratie, tik und Religion in Saudi-Arabien schrieb Solidarität etc. haben sie der jeweiligen Sa- und dafür 2013 wegen „Beleidigung des Is- che immer mehr geschadet als genutzt. Ei- lam“ zu 10 Jahren Haft und 1000 Peit- ne solche Haltung mag vordergründig als schenhieben verurteilt wurde.

*** – Im Vatikan fand vom 6. – mer, darunter 35 Frauen, bleibt abzuwarten. Insge- 27. Oktober 2019 die lange aus 9 Ländern verabschiede- samt scheint die Amazonas- und breit vorbereitete, mit ten ein 45-seitiges Schluss- Synode den Papst gegenüber hohen – unterschiedlichen – dokument. Es enthält inte- seinen Kritikern / Gegnern Erwartungen verbundene ressante Vorschläge, für im Vatikan gestärkt zu ha- Amazonas-Synode statt. den innerkirchlichen Be- ben. Papst Franziskus hatte diese reich – der in den Medien

Sondersynode einberufen, hierzulande am meisten Be- – Papst Franziskus hat am um den mit seiner Umwelt- achtung gefunden hat - z.B. 5. Oktober 13 neue Kardinä- und Sozialenzyklika „Lauda- die Möglichkeit, in entlege- le ernannt und damit die to Si“ beschrittenen Weg nen Gegenden eventuell äl- Internationalisierung des fortzusetzen. Das Themen- tere, angesehene Familien- Kardinalskollegiums weiter spektrum umfasste: Ökolo- väter zu Priestern zu wei- vorangetrieben. Es umfasst gie Amazoniens, Lebensbe- hen (ohne Verwendung des nun (papstwahlberechtigte) dingungen der Indigenen (3 Begriffs viri probati!). Was Mitglieder aus 68 Ländern, Millionen Menschen auf davon in der noch für dieses bei der letzten Papstwahl rund 7,5 Millionen qkm in Jahr zu erwartenden post- 2013 waren es noch 48; aus 9 Staaten) und kirchliche synodalen Exhortation des Europa kommen 52 Kardi- Seelsorge. Die 263 Teilneh- Papstes aufgegriffen wird, näle; Tonga, Papua-Neugui- imprimatur, Heft 4, 2019 Personen - Fakten - Trends 274

nea und die Kapverden sind orden ein (Noviziat im bel- ologie in Rom und Pamplo- erstmals vertreten. gischen Namur), nach zwei na und wurde 1978 zum Jahren in der heimatlichen Priester geweiht. Er war – Aus Europa wurde der Seelsorge setzte er sein The- von 1987 bis 2000 Priester Erzbischof von Luxemburg ologiestudium in Frankfurt in San Antonio in Texas, und Präsident der EU-Bi- und Tokio fort. Nach der wurde 1995 amerikanischer schofskommission (COME- Priesterweihe 1990 studier- Staatsbürger, 2001 Weihbi- CE) Jean-Claude Hollerich te er zusätzlich Germanistik schof von Denver, 2005 (61) zum Kardinal ernannt. in München und lehrte ab Erzbischof von San Antonio Hollerich gilt laut dem in 1994 Deutsch, Französisch und sechs Jahre später von unmittelbarer Nachbar- und europäische Studien an Papst Benedikt XVI. zum schaft erscheinenden „Trie- der Sophia-Universität der Erzbischof von Los Angeles rischen Volksfreund“ Jesuiten in Tokio, dort war bestimmt. (4.10.2019) als Mann der er auch Seelsorger der deut- In Mexiko wurde die Wahl leisen Töne, der sein unmit- schen Pfarrei („Die Erfah- von Gómez mit großer Freu- telbar dem Hl. Stuhl unter- rung der kleinen, aber hoch de aufgenommen. Sie ist stelltes Erzbistum seit 2011 anerkannten Minderheits- auch von eminenter poli- leitet und es nach dem Re- kirche in Japan hat … ihn tisch-gesellschaftlicher Be- gierungswechsel 2013 – von immun gemacht gegen eine deutung, wie sich schon den Christsozialen zu den Haltung kirchlichen Macht- unmittelbar nach der Wahl Liberalen unter Premiermi- anspruchs, wie sie früher zeigte: Gómez setzte sich für nister Xavier Bettel – durch vielen Luxemburger Kleri- die rund 700.000 in den schwierige Zeiten manöv- kern eigen war“). Außer- USA geborenen Kinder ille- riert hat. Die alte staatsnahe dem sei er, so wird berich- galer Einwanderer ein, die Kirchenstruktur musste tet, gewohnt, Gesellschaft sog. „Dreamer“, die Trump aufgegeben werden, was und Religion aus einem abschieben möchte, worüber einschneidende Reformen „deutschen“ und einem aber zur Zeit das Oberste nötig machte (neue Formen französisch-laizistischen Gericht verhandelt. Inzwi- der Glaubensvermittlung Blickwinkel zu betrachten. schen beträgt der Anteil der nach der Abschaffung des Es wird ihm auch ein dem- Latinos an den 70 Millionen schulischen Religionsunter- entsprechend großes diplo- US-Katholiken knapp 40%; richts, neue lokale Eigen- matisches Geschick nachge- ohne sie wäre die Kirche in tums- und Finanzverhält- sagt, das in der aktuellen den letzten Jahrzehnten ge- nisse). Nach deren erfolg- europäischen Lage sehr ge- schrumpft. Sie hat wegen reicher Bewältigung über- fragt sein dürfte. der hohen Zahl der Gläubi- nahm EB Hollerich 2018 gen und der Bischöfe (fast zusätzlich das Amt des CO- 470) und aufgrund ihres MECE-Vorsitzenden von – Weiter auf der obersten vielen Geldes – die Rückla- Kardinal Reinhard Marx, kirchlichen Hierarchie-Ebe- gen wurden allerdings der nicht mehr zur Wieder- ne verbleibend, ist zu ver- durch Entschädigungszah- wahl antreten durfte. In der melden, dass die US-ameri- lungen an Gewaltopfer stark Europapolitik bezog Holle- kanischen Bischöfe auf ih- gemindert – großen Einfluss rich deutlich Position gegen rer Herbstversammlung in der Weltkirche. Der ame- die Abriegelung der europä- erstmals einen Latino zum rikanische Kurienkardinal ischen Grenzen und in der Vorsitzenden ihrer Konfe- Raymond Burke ist einer Flüchtlingsfrage insgesamt renz gewählt haben: José der prominenten Gegenspie- sowie für eine Wiederbele- Horacio Gómez (67), Erzbi- ler von Papst Franziskus. bung der europäischen In- schof von Los Angeles. Der Die engsten Verbündeten tegration. – Sein bisheriger aus Monterrey in Mexiko des Papstes unter den ame- Lebensweg scheint ihn für stammende Gómez leitet die rikanischen Bischöfen, die diese Aufgabe geradezu zu mit 4 Millionen Gläubigen Kardinäle Blase Cupich prädestinieren: Er wurde größte Diözese in den USA (Chicago) und Joseph Tobin 1958 im luxemburgischen seit 2011. Er studierte zu- (Newark), wurden bezeich- Differdingen nahe der deut- nächst Betriebswirtschaft nenderweise nicht in Füh- schen Grenze geboren, stu- und Philosophie, trat wäh- rungsämter gewählt. Matth- dierte in Rom Theologie, rend des Studiums dem ias Rüb von der FAZ sieht trat 1981 in den Jesuiten- Opus Dei bei, studierte The-

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die Wahl dennoch positiv: ßen Einfluss hatte, aber mit hätte Fachleute hinzuziehen „Grundsätzlich dürften der seinen Reformbestrebungen müssen. Vor allem hätte es ‚linke‘ Jesuit Franziskus nicht durchdrang - zur rö- „auch einer größeren Dis- und der ‚rechte‘ Opus-Dei- misch-katholischen Kirche, tanz zu den Tätern bedurft“. Mann Gómez weltanschau- in der sein Übertritt aber lich und theologisch eher in auch Misstrauen und Ver- – Dem 2013 von Papst Fran- entgegengesetzten Lagern dächtigungen auslöste. Er ziskus zum Bischof von stehen. Aber als Brücken- wurde 1847 in Rom zum Orán ernannten Gustavo Os- bauer zwischen dem Papst Priester geweiht und trat in car Zanchetta wurden sexu- und der amerikanischen Bi- den Orden der Oratorianer eller Missbrauch und Un- schofskonferenz dürfte ein; dort gründete er das terschlagung vorgeworfen. Gómez … der richtige Mann erste englische Oratorium, Nach seinem erzwungenen zur rechten Zeit sein“ (FAZ das er bis zu seinem Tod lei- Rücktritt hatte Franziskus 14.11.2019, S.8). tete. Sein Einsatz für eine für ihn, mit dem er seit sei- offene Kirche, gegen die Get- ner Zeit als Erzbischof von

tomentalität, in die sich die Buenos Aires 1998 - 2013 – Wenn wir schon in den katholische Kirche Eng- freundschaftlich verbunden USA sind: Dort hat am 27. lands zurückgezogen hatte, ist, einen Posten in der va- Oktober Pfarrer Robert Mo- stieß auf viel Widerstand. tikanischen Vermögensver- rey von der St. Anthony-Kir- „So wurde das religiöse Ge- waltung geschaffen. Nach che in der Diözese Charles- nie durch das Mittelmaß einer Anhörung im Juni in ton, South Carolina, dem seiner frommen Vorgesetz- Argentinien ist Zanchetta katholischen ehemaligen ten in die Untätigkeit einge- nach Rom zurückgekehrt Vizepräsidenten und mögli- sperrt und über Jahre in und verweigerte seither die chen Präsidentschaftskan- die dunkle Nacht der Läute- Kommunikation mit den didaten der US-Demokraten, rung getrieben“ (Günter Bi- Behörden. Die Staatsanwalt- (76), die Kom- emer). 1864 hat er eine in schaft in der nordargentini- munion verweigert. Seine ganz England vielbeachtete schen Provinz Salta hat nun Begründung: „Jede Person Rechtfertigungsschrift ver- einen internationalen Haft- des öffentlichen Lebens, die fasst: Apologia pro Vita sua befehl gegen ihn ausgestellt. sich für Abtreibung einsetzt, (Verteidigung seines Le- Auch im Vatikan wird gegen stellt sich außerhalb der bens).1879 wurde er von ihn ermittelt. Lehre der Kirche“. Wenn je- Papst Leo XIII. zum Kardi- der, der außerhalb der Leh- nal ernannt, 140 Jahre da- re (!) der Kirche steht, – „Katholikinnen und das nach zum Heiligen. nicht mehr zur Kommunion Zweite Vatikanische Konzil“ zugelassen wird, ...!? – Unter diesem Titel ist eine – Ein Bischof gesteht Fehler ausgezeichnete kommentier-

ein, ein anderer erhält ei- te Dokumentation erschie- – John Henry Newman nen Haftbefehl: nen, herausgegeben von den (1801 – 1890) wurde am Der emeritierte Hamburger beiden Kirchenhistorikerin- 13. Oktober 2019 heilig ge- Erzbischof Werner Thissen nen Regina Heyder (Mainz) sprochen. Newman gilt als hat in einem Interview mit und Gisela Muschiol der bedeutendste moderne der Bistumszeitung „Kirche (Bonn), Aschendorff Verlag, Theologe des katholischen und Leben“ eingestanden, Münster 2018. Darin ent- England. Newman, der mit als Personalverantwortli- halten sind bisher unveröf- seinem Werk von über 80 cher im Bistum Münster, fentlichte Petitionen, Be- Bänden auch als „Augusti- wo er 20 Jahre lang Leiter richte, Korrespondenzen nus der Neuzeit“ bezeichnet der Hauptabteilung Seelsor- und Fotografien von Frau- wird, war 2010 von dem ge – Personal und General- en, die schon vor über 50 ‚Augustinisten‘ Papst Bene- vikar war, schwere Fehler Jahren auf die „Frauenfra- dikt XVI. selig gesprochen in der Missbrauchsfrage be- ge“ in der katholischen Kir- worden. Sein Lebensweg ist gangen zu haben. Es sei ein che hingewiesen haben, in gekennzeichnet durch seine „großer Fehler“ gewesen, geradezu prophetischer Wei- Konversion von der anglika- dass er „mit den Betroffe- se: „Nehmen Sie die Frauen nischen Kirche - in der er nen kaum Kontakt“ gehabt ernst und für volle Glieder als Geistlicher und Univer- habe; die Personalkonferenz der Kirche, solange es noch sitätsprediger in Oxford gro- imprimatur, Heft 4, 2019 Personen - Fakten - Trends 276

Zeit ist, solange sie noch am Schwangerschaftskonflikt- halbes Prozent der Bevölke- Gottesdienst teilnehmen! beratung, den Schwange- rung von 69 bzw. 126 Milli- Wenn die Frauen en gros renberatungsverein „Donum onen aus. In Bangkok un- erst einmal die Konsequenz Vitae - zur Förderung des terstützte der Papst die thai- daraus gezogen haben, dass Schutzes des menschlichen ländische Regierung in ih- sie in der Kirche dauernd Lebens e.V.“ mit Sitz in rem Kampf gegen die „Pla- negiert werden [– was heute Bonn gegründet hat und ge“ der sexuellen Ausbeu- mit Maria 2.0 zu beginnen seitdem dessen Bundesvor- tung von Frauen und Kin- scheint ! - ], ist es zu spät“, sitz innehatte, hat sich aus dern durch Sextourismus. schrieb die Theologin Josefa dem Vorstand zurückgezo- Er traf sich auch mit dem Maria Münch 1965 an die gen. Waschbüsch war, wie 92-jährigen Obersten Patri- deutschen Konzilsväter. der Verein insgesamt, trotz archen der thailändischen Insgesamt sieben Eingaben ihrer konziliant-verbindli- Buddhisten Arivavongsa- richtete sie an das Konzil, chen Art jahrelang Anfein- gatanana IX. Er warb dabei u.a. zu einer inklusiven dungen aus der „Fundi-Ecke für ein friedliches Zusam- Sprache im Gottesdienst von Laien und von einer menleben der Religionen und zu einer geschlechter- Minderheit der „Amtsträ- und übergab das Dokument gerechten Revision des Kir- ger“ ausgesetzt. Weniger be- „Geschwisterlichkeit aller chenrechts. Zusammen mit schönigend muss festgehal- Menschen für ein friedliches anderen Frauen – der ten werden, dass Donum Vi- Zusammenleben“, das er im Schweizer Juristin Gertrud tae in allen deutschen Diö- Februar in Abu Dhabi ge- Heinzelmann, den Theolo- zesen durch einen Be- meinsam mit dem Groß- ginnen Iris Müller und Ida schluss der Bischofskonfe- imam Mohammad al Tayyeb Raming (die in dieser Zeit- renz 2006 als außerhalb der aus Kairo unterzeichnet schrift schon öfter zu Wort Kirche stehend erklärt und hatte. kam!) und Marianne Dirks – kirchlichen Mitarbeitern In Japan, dem „Land der „hat sie entscheidend zu ei- und Mitarbeiterinnen das päpstlichen Sehnsucht“ ner Sensibilisierung für die Engagement bei Donum Vi- (Matthias Rüb in FAZ vom Thematik ‚Frauen und Kir- tae untersagt wurde (bis 20.11.2019) – der 30-jähri- che‘ beigetragen“ (Heyder). zum Hausverbot in kirchli- ge Jesuit Bergoglio hatte Weitere Frauen werden in chen Bildungshäusern, den Wunsch, als Missionar diesem Zusammenhang ge- Akademien usw.); in jüngs- nach Japan zu gehen, was nannt: Helene Weber, Bun- ter Zeit erhält er mehr An- von der Ordensleitung aus destagsabgeordnete, Gertrud erkennung auch von amts- gesundheitlichen Gründen Ehrle vom „Zentralverband kirchlicher Seite. abgelehnt wurde – stand das der Katholischen Frauen- Rita Waschbüsch hat den Thema Nuklearenergie im und Müttergemeinschaf- Verein zu seiner heutigen Vordergrund. Er forderte ten“, Schwester Marianna Größe geführt; er berät an eine nukleare Abrüstung Schrader, Benediktinerin über 210 Orten bundesweit und stellte auch die zivile der Abtei St. Hildegard. Ih- und unterhält auch Online- Nutzung von Atomenergie rer prophetischen Warnung Beratungsstellen. Ihr Aus- in Frage, an der die japani- „… ehe es zu spät ist!“ ent- scheiden wurde auf der Ju- sche Regierung auch nach gegneten selbst aufgeschlos- biläumstagung 2019 in der Fukushima-Katastrophe sene Vertreter des Episko- Karlsruhe als Ende einer er- von 2011 festhält. pats mit dem ‚Gegenargu- folgreichen Ära gewürdigt. ment‘, die Zeit sei noch Ihr bisheriger Stellvertreter, – In der Frage der künftigen nicht reif. Dr. Olaf Tyllack (München), Entschädigung für Miss- wurde zum neuen Bundes- brauchsopfer sind die deut-

vorsitzenden gewählt. schen Bischöfe noch zu kei- – Die ehemalige Vorsitzende ner Entscheidung gekom- des Zentralkomitees der men, weder was die Höhe deutschen Katholiken, Rita – Papst Franziskus hat im der Zahlungen „zur Aner- Waschbüsch, die zusammen November eine fast einwö- kennung des Leides“ an- mit anderen Mitgliedern des chige Reise nach Thailand geht, noch wie entsprechen- ZdK vor 20 Jahren, nach und Japan unternommen. de Mittel aufgebracht wer- dem Ausstieg der katholi- In beiden Ländern machen den sollen. Einigkeit besteht schen Kirche aus der die Christen nur etwa ein lediglich darin, dass diese

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Fragen gemeinsam mit den – Der Trierer Bischof Ste- lokalen Gremien und die Betroffenen gelöst werden phan Ackermann steht auch „Enteignung“ der Kirchen- sollen – deshalb soll auf der noch von anderer Seite un- gemeinden, wodurch das Ebene der Bischofskonfe- ter Druck: Am Tag, nach- kirchliche Leben vor Ort renz ein „Betroffenenbeirat“ dem er die Dekrete für die mitsamt Ehrenamt „ver- eingerichtet werden – und erste Etappe der Umsetzung nichtet“ werde. Der Trierer auch gemeinsam mit ande- der von der Bistumssynode Bischof ist nun zu einer ren betroffenen Organisati- beschlossenen Strukturre- Stellungnahme aufgefordert. onen wie der evangelischen form, für die Errichtung Bis die Kleruskongregation Kirche oder aus dem Be- von 15 Großpfarreien im über die Rechtskonformität reich des Sports. Bistum erlassen hatte, er- des Trierer Synodengesetzes reichte ihn ein Schreiben entscheidet, können Monate – Der Vorschlag bzw. „Ge- des Kardinals Beniamino ins Land gehen. Die scharfe dankenspiele“ des Miss- Stella von der Kleruskon- Kritik des Katholikenrats brauchsbeauftragten der gregation, mit dem die Re- an dem römischen Stopp- DBK, Bischof Stephan form bis zur Überprüfung schild in letzter Minute ist Ackermann von Trier, dazu durch Rom ausgesetzt wur- mehr als verständlich. notfalls Kirchensteuern zu de. Es „schlug im Trierer

verwenden, stieß auf breite Generalvikariat wie eine – Am 1. Advent (nach Re- Ablehnung. Sowohl die Vi- Bombe ein“, weiß der „Trie- daktionsschluss für diese zepräsidentin des ZdK, Clau- rische Volksfreund“ vom Ausgabe von imprimatur) dia Lücking-Michel, als auch 24./25.11.2019 zu berich- beginnt in der katholischen Maria 2.0 etwa wiesen sei- ten. Auch für den Vorsit- Kirche Deutschlands der nen Appell an die Solidar- zenden des Katholikenrats sog. „Synodale Weg“. Dabei gemeinschaft der Gläubigen Manfred Thesing kommt die sollen in den beiden kom- zurück. Die Solidarität gelte verfügte Aussetzung „zum menden Jahren zwischen den Opfern und nicht den absolut falschen Zeitpunkt“. der Deutschen Bischofskon- Verantwortlichen und „ei- Gegen das sog. Synodenge- ferenz und dem Zentralko- nem System, das durch sei- setz waren in Rom mehrere mitee der deutschen Katho- ne Strukturen systemisch Beschwerden eingegangen, liken „auf Augenhöhe“ vier den Missbrauch erst hervor- von der Initiative „Kirchen- Problemkomplexe bearbeitet gebracht und die Täter teil- gemeinde vor Ort“ und der werden: die Stellung der weise vor Strafverfolgung Priestergemeinschaft „Unio Frauen in der Kirche, die geschützt hat“ (Pressemel- Apostolica“. Diese nach ei- Macht in der Kirche, die Se- dung von Maria 2.0). Das genen Angaben älteste xualmoral und die Lebens- ZdK begründete seine Ableh- Priestergemeinschaft der form der Priester. Die kir- nung des Vorschlags Acker- Welt, die im Bistum Trier ca. chenrechtliche Verbindlich- manns außerdem mit der 50 und weltweit 500 Mit- keit des Synodalen Wegs, mangelnden Mitbestimmung glieder hat, klagte gegen das um die lange gerungen wur- von Laien; es könne nicht Synodengesetz aus theologi- de, ist nach wie vor umstrit- sein, dass Laien für Strafta- schen Gründen: Die Um- ten. Es wird kritisiert, dass ten von Klerikern haftbar strukturierung mit ihren es zu wenig Mitspracherecht gemacht würden, obwohl sie Großgemeinden und Lei- für die Laien gibt und die praktisch keine politische tungsteams höhle das pries- Bischöfe und/oder Rom wie- und rechtliche Handhabe terliche Weiheamt aus, das derum das letzte Wort hät- besäßen, um Machtmiss- auch den Dienst der Leitung ten. Außerdem sind Frauen brauch zu verhindern. Bi- umfasse. deutlich in der Unterzahl. schof Ackermann hat seinen Die Initiative „Kirchenge- Man kann nur hoffen, dass Vergleich mit dem durch meinde vor Ort“, die 2017 dieser erneute Versuch, die das Scheitern der PKW-Maut ausgehend von Prüm in der Kirchenkrise gemeinsam zu entstandenen Schaden, den Eifel gegründet wurde und bewältigen, nicht wie frühe- ja auch die Solidargemein- der sich gewählte Vertreter re im Sande verläuft, son- schaft der Steuerzahler tra- aus allen Teilen des Bistums dern zu verbindlichen Be- gen müsse, inzwischen als Trier angeschlossen haben, schlüssen und Voten führt. „zu salopp und unpassend“ argumentiert eher pastoral- zurückgenommen. pragmatisch. Sie wendet *** sich gegen die Auflösung der imprimatur, Heft 4, 2019 Dokumentation 278

Synodaler Weg braucht Über die vier geplanten Foren hinaus soll- ten auch die entscheidenden Kernpunkte grundlegende Umkehr und der gegenwärtigen Kirchen- und Glaubens- krise (kirchliche Hierarchie, Gottesfrage; Perspektiven Christologie, ...) angesprochen werden. Die von Papst Franziskus vom Synodalen Weg Reformgruppen kurz vor dem am erwartete neue „Evangelisierung“ erfor- 1. Dezember 2019 beginnenden dert das Übersetzen der Botschaft Jesu in die Sprach- und Denkmuster der Welt von Synodalen Weg heute, damit die Menschen sie verstehen und aufnehmen können. Dies muss auch Katholische Reformgruppen erneuern die Umkehr bei den von Franziskus so kurz vor dem offiziellen Beginn am ers- existentiell behandelten Themen wie ten Adventssonntag, dem 1. Dezember Flucht und Migration, Wirtschaftsform 2019, ihre Forderung, dass der Syno- und Klimawandel beinhalten. Damit ist dale Weg partizipativ, ergebnisoffen der Synodale Weg kein Alleingang der Kir- und transparent zu gestalten ist sowie che in Deutschland, sondern kann im bes- zu konkreten und verbindlichen Be- ten Falle – ebenso wie die Pan-Amazonien- schlüssen führen muss. Synode – wegweisend für die Weltkirche sein. Dazu ist es wichtig, die wesentlichen ______Schritte und Arbeitsweisen dieses Prozes-

ses auch international zu kommunizieren. Dabei ist immer wieder in Erinnerung zu Nach der von den deutschen Bischöfen als Zäsur bezeichneten MHG-Studie bedarf es rufen: Ausgangspunkt für den Synodalen einer grundlegenden Umkehr auf allen Weg ist die notwendige Auseinanderset- Ebenen. Dabei darf es keine Tabus geben, zung mit den systemischen Risiken, die die Ungewohntes zu denken und das Notwen- MHG-Studie benannt hat, und dem Versa- dige zu beschließen. Die gemeinsame Ver- gen beim Schutz von Kindern und Jugend- antwortung aller Glaubenden für den Weg lichen im Raum der Kirche. Deshalb sind unserer Kirche in dieser Zeit muss im Vor- auch die Betroffenen sichtbar einzubezie- dergrund stehen. Der Synodale Weg sollte hen. Die Themen der vier Foren des Syno- ein Prozess der ganzen Kirche werden, bis dalen Weges entsprechen auch genau den in die Pfarrgemeinden hinein, und auch Punkten des ZdK-Papiers „Dialog statt Dia- das Gespräch mit Fernstehenden suchen. logverweigerung“ (1994) sowie des Kir- Dass das gegenwärtige Kirchenrecht z.B. chenVolksBegehrens 1995 anlässlich des mit einem Entscheidungsvorbehalt der Bi- Missbrauchsskandals des Wiener Kardi- schöfe rechtlich einen engen Rahmen nals Groër. setzt, darf nicht verhindern, dass die über- Unter dem Aspekt einer Geh-hin-Kirche fälligen Debatten jetzt in aller Freiheit in und der Frage, was die Menschen heute einer synodalen Streitkultur geführt wer- brauchen und was dem Evangelium gemäß den; dies im Bewusstsein, dass auch das ist, werden für die inhaltliche Arbeit des Kirchenrecht von Menschen gemacht und Synodalen Weges folgende Punkte als zent- damit veränderbar ist. ral angesehen: Der Synodale Weg braucht aber auch neue  Die Einheit der Kirche wird nicht durch Perspektiven, um zu zeigen: Eine andere zeitgemäßes Fortschreiten und eine Kirche ist möglich. Es geht um die Ermu- theologische Lehrentwicklung gefähr- tigung, dass Getaufte und Gefirmte ihr det, sondern vor allem durch die, die Christsein in einer re-formierten Kirche sich gegen jede Veränderung stemmen. leben können. Der Brief von Papst Fran-  Die Frage nach dem Umgang mit Macht ziskus an das pilgernde Volk Gottes in in der Kirche kann nicht ohne eine kri- Deutschland vom 29. Juni 2019 spricht tische Auseinandersetzung mit dem von einer Zeitenwende, „die neue und alte Klerikalismus und nicht ohne die Frage Fragen aufwirft, angesichts derer eine nach der Rolle der Frauen in der Kirche Auseinandersetzung berechtigt und not- angegangen werden. wendig ist“. Dieser Brief grenzt Themen weder ein noch aus. imprimatur, Heft 4, 2019 Dokumentation 279

 Das Beharren auf dem Pflichtzölibat Münnerstädter Kreis darf nicht länger dazu führen, dass im- Ökumenische Arbeitsgruppe Homosexuelle mer mehr Gemeinden die Feier des eu- und Kirche (HuK) e.V. charistischen Mahles vorenthalten OrdensFrauen für MenschenWürde wird. Pfarrer-Initiative Deutschland  Für die Zukunft der Kirche wird es Priester im Dialog, Dr. Edgar Büttner notwendig sein, Frauen den Zugang zu pro concilio allen kirchlichen Ämtern zu gewähren, Redaktion imprimatur, Prof. Karl-Heinz denn der Weihe-Ausschluss lässt sich Ohlig, Irmgard und Prof. Dr. Benno Rech. theologisch nicht begründen. Vereinigung katholischer Priester und ih-  Bezüglich des alle Menschen betreffen- rer Frauen den Themas Sexualität muss der Syno- Die Betroffeneninitiative „Eckiger Tisch“ dale Weg von einer positiven, wert- unterstützt diesen Aufruf. schätzenden Haltung zu den verschie- denen Lebensformen und einer einver- nehmlichen Sexualität ausgehen. *** Die Reformgruppen unterstützen die Peti- tion „#Amazonien auch bei uns!“ an die deutschsprachigen Kirchenleitungen Freckenhorster Ermutigun- (www.amazonien-auch-bei-uns.com) und sehen den verbindlichen Synodalen Weg gen als zwingende Chance, die existenzielle Krise der römisch-katholischen Kirche, die ______

ja nicht nur in Deutschland gegeben ist, zu überwinden. Die biblische Botschaft vom „Gott des Le- An die Teilnehmenden der Synodalen Ver- bens“ lässt uns sagen: sammlung richten die Reformgruppen er- neut den Appell: Seien Sie mutig, jetzt, Eine andere Welt ist möglich. damit wir als Glaubensgemeinschaft Jesu Eine andere Kirche ist möglich. auch in Zukunft glaubwürdig und freudig Wir laden ein zu einem Weg, der kreativ, Zeugnis geben können! spirituell und strukturell jetzt und heute Das Kirchenvolk will endlich Reform-Taten anliegt! sehen, keine vertröstenden Ankündigun- In Respekt vor der Vielfalt menschlicher gen hören. Wirklichkeiten und Wege ermutigen wir: 22. November 2019 empathisch zu hören und zu sehen, an der Lebenswirklichkeit und Alltagswirklichkeit KirchenVolksBewegung Wir sind Kirche der Menschen anzudocken, und wir ermu- Aktion „Lila Stola“ und Frauenwürde e.V. tigen zu Eigenverantwortung im Glauben, – Projektgruppen von Wir sind Kirche Denken und Handeln. Aktion „Maria 2.0“ Unser Blick ist gerichtet auf die Welt Aktionsgemeinschaft von 160 Pfarrern - das Leiden der Menschen angesichts der und Diakonen in der Diözese Rottenburg- Ungerechtigkeiten und der Klimakatastro- Stuttgart (AGR) phe: Freckenhorster Kreis Wir ermutigen zu einem „Mehr“ an Ge- Gemeindeinitiative.org rechtigkeit hier und weltweit. Initiativgruppe vom Zölibat betroffener Wir ermutigen zu schöpfungsbewusstem Frauen und schöpfungsverantwortetem Handeln. Institut für Theologie und Politik Unser Blick ist gerichtet auf die Kirche Laienverantwortung Regensburg e.V., eine - das erloschene Feuer in der amtlichen Vereinigung von Gläubigen nach CIC c. Gestalt unserer Tage: 215 Wir ermutigen dazu, dem Licht der Taufe Leserinitiative Publik-Forum e.V. zu trauen und in Selbstermächtigung die Münchner Kreis – Initiative von in der biblische Botschaft, das Christ- und Kir- Pastoral Tätigen in der Erzdiözese Mün- chesein alltäglich zu leben. chen-Freising Wir ermutigen zu einer Re-Form der amt- imprimatur, Heft 4, 2019 Dokumentation / Fundgrube 280

lichen Kirche, zum synodalen Element des testen Belege für den aufrechten Gang sind Anfangs und zu einer menschengerechten rund sechs Millionen Jahre alt und stam- Form in liturgischer Sprache, ökumeni- men aus Kreta und Kenia. „Das ist eine scher Haltung und im Blick auf die Ge- Sternstunde der Paläoanthropologie und schlechtergerechtigkeit. ein Paradigmenwechsel“, jubelte die For- Diese Ermutigungen sind für uns Kraft zu scherin Böhme. Die Funde stellen die bis- konstruktivem Widerstand gegen unfried- herige Sicht auf die Evolution der großen liche Strukturen und Wirklichkeiten in Menschenaffen und des Menschen in Fra- Welt und Kirche. ge. Ihr Kollege David Begun von der Uni- Diese Ermutigungen sind für uns Kraft für versität von Toronto ergänzt: „Danuvius Vernetzung, Solidarität, eine Welt in Teil- kombinierte die von den hinteren Glied- habe aller und für einen geschwisterlich maßen dominierte Zweibeinigkeit mit dem gelebten Glauben an den „Gott des Le- von den vorderen Gliedmaßen dominierten Klettern“. - bens“. Diese Fundsache gibt viel zu denken, nicht Verabschiedet vom Freckenhorster Kreis nur den Evolutionsbiologen, sondern viel- am 03. 10. 2019 leicht auch den Philosophen des „aufrech- ten Gangs“ und allen, die „Rücken haben“ – es sollen etwa 10% der Deutschen sein -: *** Vielleicht sollten wir uns wie Danuvius auf zweierlei Art fortbewegen! (Quelle: dpa 6.11.2019) Fundsachen ------______Das Domforum Köln teilte am 7. November

der erstaunten Öffentlichkeit mit, dass „Man muss sich bewusst machen, dass „demnächst“ auf dem Roncalliplatz neben über 4.000 Jahre betrachtet jeder Mensch dem Dom eine Segensdusche installiert mit jedem Menschen auf der Welt bluts- wird. Den dürren Worten dieser Meldung verwandt ist. Und dann versuchen wir zu war nur ungefähr zu entnehmen, wie diese kategorisieren, obwohl wir eine große Fa- bahnbrechende pastorale Erfindung funk- milie sind? Das ist verrückt.“ tionieren wird: Auf dem Boden und auf den Körpern der Teilnehmer – unbeklei- (Johannes Krause, Paläogenetiker und Di- det, wie beim Duschen üblich? – leuchten rektor des Max-Planck-Instituts für Segenssprüche auf, z.B.: „So sei mit Dir der Menschheitsgeschichte an der Universität lebendige Gott!“. Die Aktion soll in der Jena, in einem Interview mit der Süddeut- dunklen Jahreszeit Licht in das Leben der schen Zeitung, 23./24. Nov. 2019, S. 33: Menschen bringen. Wer Näheres erfahren „Wir waren alle mal schwarz“) möchte, kann ab sofort „segensduschen“; die „Dusche“ ist seit dem 14. November in------stalliert.- Wir enthalten uns jeden weiteren Eine „Fundsache“ im wörtlichen Sinn ist Kommentars, da dieser leicht in Satire ab- die Entdeckung von 11,62 Millionen Jahre gleiten könnte. alten Fossilien einer bisher unbekannten Primatenart in einer Tongrube im Unter------allgäu. Aus den 37 Einzelfunden, insge- Noch eine veritable „Fundsache“, die in samt 15% eines Skeletts, konnten die For- die Kirchengeschichte eingehen wird: scher um Madelaine Böhme von der Uni- In der evangelischen Johanniskirche in versität Tübingen und des Senckenberg Mainz wurden bei Ausgrabungen in einem Center for Human Evolution and Palaeo- steinernen Sarg menschliche Überreste environment rekonstruieren, wie sich und Textilreste gefunden. Durch fünf Mo- Danuvius guggenmosi fortbewegte, wahr- nate dauernde Untersuchungen unter der scheinlich sowohl auf zwei Beinen als Leitung von Guido Faccani konnten sie auch kletternd. Danuvius, der etwa einen „mit an Sicherheit grenzender Wahr- Meter groß gewesen sein dürfte, war ein scheinlichkeit“ als Erzbischof Erkanbald Menschenaffe, kein Mensch. Die bislang äl- identifiziert werden. Die Untersuchungen imprimatur, Heft 4, 2019 Fundgrube / Islamisches 281

ergaben interessante Details zur Person den Themen der Katholischen Akademie in des Bestatteten und zu seiner Begräbnis- Bayern publiziert worden. kirche. Es ist schon seltsam, dass ein solcher Vor- Der im Jahr 1021 verstorbene Erzbischof trag in der Katholischen Akademie, die Erkanbald muss im Alter zwischen 40 und sich ansonsten um wissenschaftlich be- 60 Jahren verstorben sein, war etwa 1,82 gründete Referate und Diskussionen be- Meter groß und wog um die 70 Kilogramm, müht, widerspruchslos durchgehen konn- vermutlich litt er an Wohlstandskrankhei- te. ten! Die gefundenen Textilreste – eine Ka- Georges Tamer setzt, ohne kritische Fra- sel, ein und „Pontifikalschuhe“ – gen, den muslimischen Gründungsmythos sprechen ziemlich eindeutig dafür, dass es voraus: Der Koran geht auf die Verkündi- sich um den von 1011 bis 1021 amtieren- gung Mohammeds zurück, die er nach den Erzbischof Erkanbald handeln muss. muslimischer Auffassung als göttliche Of- Seine Begräbnisstätte, die Johanniskirche, fenbarung erhalten hat. Obwohl es zum die im Volksmund bisher schon „Alter Koran und zu Muhammad noch keinen Dom“ genannt wurde, muss die erste Konsens in der Wissenschaft gibt, kann Mainzer Kathedrale gewesen sein. Der man dann so verfahren, als wenn man das heutige Dom St. Martin, der 1036 geweiht Nibelungenlied als Wiedergabe realer Er- wurde und St. Johannis als Kathedrale ab- eignisse referiert? löste, ist nur einen Steinwurf entfernt. „Mainz hat nun zwei Dome“, sagte der Zur Untermauerung seines Themas bezieht evangelische Dekan Andreas Klodt. Es sei er sich auf einen spätmittelalterlichen etwas Besonderes, dass der Alte Dom nicht muslimischen Gelehrten: „Der große Ko- abgerissen und an gleicher Stelle ein Neu- rangelehrte as-Suyuti (gest. 1505 in Kai- bau errichtet wurde; die Mainzer Stadtge- ro) stellt in seinem summarischen Kom- schichte müsse nun neu geschrieben wer- pendium ... fest, dass Muhammad die Of- den. – Dass Mainz nun zwei Dome hat, fenbarung unter Glockengeläut, durch In- verschafft der Stadt einen uneinholbaren spiration des Heiligen Geistes in sein Herz, Vorsprung gegenüber ihrer traditionellen durch Gabriel in Menschengestalt oder un- rheinischen Rivalin Köln – nicht nur im mittelbar von Gott im Traum oder im Karneval! Aber Köln hat dafür ein „Se- Wachzustand erhalten hat. Die Genese des gensdusche“ (siehe oben)! Korans ist also (!, Ohlig) schon auf der al- lerersten Ebene der ursprünglichen Mittei- lung der Offenbarungen durch Vielstim- *** migkeit gekennzeichnet. Daher kann Muhammad mit Recht als der erste Inter- pret der offenbarten Mitteilungen betrach- Karl-Heinz Ohlig tete werden ...“. Dann fügt er mit Stolz über seine ‚gewagte’ These hinzu: „Dass Unbefragte Mythen dies der traditionell-islamischen Auffas- sung widerspricht, Muhammad sei bloß ein passives Medium der Offenbarung und Die Katholische Akademie in Analphabet gewesen, sei im gegenwärtigen München lädt einen Islamwis- Zusammenhang dahingestellt“ (S. 9). Dann entfaltet er breit die Vielstimmigkeit senschaftler ein des Koran: es redet Gott, aber auch der ______Prophet: er spricht Schwüre aus und schwört „bei Naturphänomenen, wie der Nacht, dem Morgen, der Sonne, dem Mond Am 07.12.18 referierte bei der Katholi- ... Solche Schwüre könnten eine Fortset- schen Akademie in München Prof. Dr. zung des Brauchtums vorislamisch-arabi- Georges Tamer, Ordinarius für Orientali- scher Wahrsager sein ... der koranische sche Philologie und Islamwissenschaft an Sprecher (eignet sich) offenkundig diese der Universität Erlangen-Nürnberg, über heidnische Praxis an ..., um seinen Zuhö- den Koran unter dem Thema „Ein viel- rern Glauben an seine Aussagen abzuge- stimmiges Buch“. Dieser Vortrag ist in winnen. Muhammad predigte zwar in der Heft 1, 2019 ("Zur Debatte" S. 9 – 14) bei Wüste; er wusste jedoch genau, wie er sein imprimatur, Heft 4, 2019 Islamisches 282

Publikum ansprechen sollte“ (S.10) (Das cke und Einzelverse zusammengestellt große Publikum in der Wüste war sicher wurden, ohne einen thematischen Zu- bald überzeugt). Dann sprachen auch En- sammenhang und offensichtlich ohne eine gel, Dämonen und Gegner des Propheten, spätere redaktionelle Bearbeitung. Anzu- und es gibt altarabische und biblische nehmen, dass ausgerechnet diese Viel- Übernahmen. stimmigkeit zu solchen hymnischen Wer- Tamer sieht in dieser Vielstimmigkeit ei- tungen führen soll, ist intellektuell nicht nen Reiz: Die Rede „ist nicht einstimmig, nachzuvollziehen. sondern mehrstimmig, sie ist nicht mono- An der Akademie wie auch in der Publika- logisch, sondern dialogisch“ (S. 13). Ta- tion schließt sich noch ein „Lektürekurs“ mer gerät ins Schwärmen: „An manch ei- einer Mitarbeiterin von Tamer, Frau Dr. ner Stelle gleicht die Rede dem Opernge- Katja Thörner, an, die sich in denselben sang. Solosänger und Chöre erheben ihre Gedankengängen bewegt. Sie führt noch Stimmen: einmal nacheinander, dann wie- weiter die traditionelle These aus, dass es der gleichzeitig ... Nimmt man die Viel- eine „Urschrift“ des Korans bei Gott gibt; stimmigkeit des Korans zum Ansatzpunkt der Koran ist nur die „Niederschrift“ bzw. der Betrachtung, erscheint er als dichtes Rezitation („Vortrag“) des Urkorans, sie Kommunikationsnetzwerk ...“ (S. 13). kommt zu dem Ergebnis: „In welchem Ver- Wenn auch „immer Gott und seine Ge- hältnis „Urschrift“ und „Niederschrift“ ... sandten die besseren Argumente liefern“, „zueinander stehen, ist Gegenstand zahl- sieht er in dieser Vielstimmigkeit ein „gro- reicher Debatten, die vermutlich niemals ßes Potential für eine bessere Verständi- abgeschlossen sein werden und im Kon- gung zwischen den Muslimen und anderen text der unterschiedlichen Stimmen der Religionsgemeinschaften und Weltan- drei großen monotheistischen Religionen, schauungen“ (S.14). Judentum, Christentum und Islam noch- Nun ist es mit dem Koran so eine Sache. mal eine Neuebewertung erfahren“ (S. Wie kann ein Universitätsprofessor derart 15). Naja, warten wir ab, bis wir das gött- naiv die im Islam traditionelle Entste- liche Original haben, dann kann man bes- hungsgeschichte des Koran, der sich ja tens über das Verhältnis sprechen. nicht einmal selbst auf einen Propheten Es ist schon seltsam, wie beim Thema Is- Muhammad zurückführt – dies tun erst die lam meist jegliche wissenschaftliche Un- islamischen Schriften des 9. und 10. Jahr- tersuchung ausbleibt, Märchenerzählun- hunderts – referieren? Und wie kann er gen als universitäre Wissenschaft ausgege- die „Vielstimmigkeit“ des Korans als große ben werden und diese von ansonsten Entdeckung feiern? Schon Johannes von durchaus kritischen Akademien ihrem Damaskus (gest. 749) wird eine Kritik an Publikum vorgesetzt werden. dieser Vielstimmigkeit, dem unverbunde- nen Nebeneinander von Aussagen unter- schiedlicher Thematik zugeschrieben: Die *** Zusammenordnung sei lächerlich: „Und… er (Mamed) verbreitete immer wieder, dass auf ihn aus dem Himmel eine Schrift Robert M. Kerr herabgekommen sei. Welche Zusammen- ordnung aber er diesem von ihm stam- menden Buch aufprägte – sie ist lachens- Der Islam: eine missverstan- wert –, er übergab es ihnen so zum Gegen- dene Herausforderung. stand der Verehrung.“ 1 Diese Vielstimmigkeit macht das Buch ______schwer lesbar, und sie hat auch einen ein- fachen Grund: Der Koran hat eine lange Entstehungsgeschichte von rund 200 Jah- Es ist dreizehn Jahre her, der Überliefe- ren und viele Autoren. Er ist ein Sammel- rung zufolge, dass der damalige Bundes- werk, in dem unterschiedlichste Textstü- präsident sagte, der Islam gehöre zu Deutschland, eine Aussage die seitdem für 1 Johannes Damascenus, Liber de haeresibus 100; Gemütserregung sorgt. Die Aussage aber ed. B. Kotter, 60, Z. 14, -61, Z. 2. kann verschieden ausgelegt bzw. verstan- imprimatur, Heft 4, 2019 Islamisches 283

den werden. Faktisch stimmt sie ja – ge- seiner Bürger, ohne Rücksicht auf Haut- mäß den Angaben der deutschen Islam- farbe, Geschlecht, Glauben usw., die wie- konferenz (Stand 2009) sollen in Deutsch- derum Rechte und Pflichten genießen land 4.760.000 Muslime leben, also 5,8% (dies im Gegensatz zu Kunden oder Klien- der Bevölkerung irgendwie muslimischen ten bzw. neudeutsch Clients, Schutzbefoh- Glaubens sein – so gesehen, leben Muslime lene, die einem Patronus Gehorsam schul- in Deutschland, es gibt Muslime mit deut- den). Das einzige Recht, das ein Bürger ei- scher Staatsbürgerschaft, man könnte also gentlich nicht hat, ist es, diese bürgerli- sagen, der Islam gehöre zu Deutschland. chen Freiheiten, einschließlich Pflichten, Es wäre aber angebrachter und zudem zu verweigern (das Leben in einer Dikta- prägnanter, spräche hier man von Musli- tur war und ist immer einfacher und effi- men, die Deutschland zugehören. Diese zienter). Ausnahmen können und dürfen Unterscheidung ist wichtig, wie hier deut- für bestimmte Gruppen nicht gemacht lich gemacht werden soll. werden: Frauen wie Männer sind gleichbe- Logischerweise dann, da Muslime Deut- rechtigt, und wenn dies nicht so ist oder sche sind – Einwände ohne den liberal-de- einer Frau Unrecht geschähe, soll dies mit mokratischen Rechtsstaat aufgeben zu der vollen Härte des Gesetzes ausnahmslos wollen sind zugleich unerfüllbar und ab- verfolgt werden, weil eine Schuld vorliegt: träglich – gibt es ‚den Islam‘ in Deutsch- Justitia muss blind bleiben, positive Dis- land. Aber wenn der Islam zu Deutschland kriminierung („me too“ usw.) verzerren gehört, könne man ja auch invers behaup- sie nur. Wer etwa Mädchen die Gleichbe- ten, Deutschland gehöre zum Islam bzw. handlung in schulischer Bildung entzie- müsste dem Dār al-Islām zugerechnet wer- hen will, nimmt ihnen Bürgerrechte, und den. Da aber die Politik beschlossen hat, dies, ungeachtet irgendeiner Motivation, dass der Islam, bedeutsamerweise ist hier kann ein Rechtsstaat niemals dulden. Ein nicht von Muslimen die Rede, zu Deutsch- Rechtsstaat darf solche, die für sich mehr land gehört, entsteht hierzulande, wie Rechte beanspruchen, weil sie sich einer auch anderswo im Westen, was man nur selbstdefinierten Minderheit zurechnen, mit dem Begriff Kulturkampf bezeichnen kein Gehör geben – Minderheitenschutz, kann. So gibt es u.a. Streitigkeiten über eine westliche Tugend, ist etwas anders. Halal-Essen in Schulkantinen, ob Mädchen In einem vorherigen Beitrag (imprimatur an Sport- und Schwimmunterricht teilneh- 48/4, 2015, 237-238), geschrieben nach men dürfen, wo und wann man (voll)ver- den schrecklichen Ereignissen des islami- schleiert auftreten darf – die Fronten sind schen Terrors am Ende von 2015, habe ich verhärtet: wer gegen die Akzeptanz islami- versucht, deutlich zu machen, dass je- scher Vorstellungen ist, sei eigentlich ein mand, der den Islam so auslegt, dass sol- Nazi, bestenfalls ein Rassist; wer auf der che Angriffe gerechtfertigt bzw. nötig sind, anderen Seite Stellung bezieht, ist ein derselben Lehre zufolge nicht in einem Volksverräter und strebt gar des Vaterlan- nichtislamischen Lande, also einem Land, des Umvolkung an. Wie immer bei solchen das nicht gemäß der Scharia geführt wird, gesellschaftlichen Kollisionen wird der Ge- leben kann (und darf). Hier ist exegetische genstand der Debatte erst inhaltlich ent- Konsequenz vonnöten. Wer meint, dass leert, um so das eigene Recht im darauffol- Kopftuch (Hidschab, Niqab, Burka usw.) genden Gemetzel durchsetzen zu können. durch Frauen getragen werden soll, muss Die Debatte aber, ob und in wieweit der Is- konsequenterweise auch dessen Rechtfer- lam zu Deutschland gehören könnte, ist tigung in den relevanten islamischen Tex- wichtig und muss geführt werden. Zu- ten nachlesen – das dazugehörige Frauen- nächst jedoch ist es wichtig, den Unter- bild entmenschlicht Personen weiblichen schied zwischen Islam und seinen Anhä- Geschlechtes. Wenn Studentinnen islami- ngern, den Muslimen, vorab deutlich zu schen Glaubens, scheinbar widernatürlich machen. Anderseits ist ein liberal-demo- (s.u.) zusammen mit selbsternannten Fe- kratischer Rechtsstaat per definitionem ministinnen, wie zu Frankfurt letzten Mai, neutral und atheistisch (was aber nicht gegen eine wissenschaftliche Tagung um heißt, dass Glauben keine Rolle im öffent- den Schleier demonstrieren, ist dies eine lichen Leben haben soll) und, er besteht Bedrohung, nicht nur für die akademische lediglich durch und mit der Zustimmung Freiheit. Hier muss man den Islamischen

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Staat, Taliban & Co. recht geben: wenn nicht behaupten können, dass solche „Ra- Verschleierung ein kategorischer Impera- dikale“, „Fundamentalisten“, Salafisten“ tiv für eine Muslimin darstelle, dann hat usw. den „Islam“ falsch verstünden. Ihre sie auch nichts an einer Bildungseinrich- Weltanschauungen (es gibt deutliche Un- tung verloren. Dieselbe exegetische Konse- terschiede) sind im historischen Ver- quenz muss auch bei anderen Debatten ständnis des Korans und der Hadithe gut wie etwa um den Burkini angewendet wer- fundiert. Sie bezeugen vielleicht eine un- den – ‚islamische Badekultur‘ ist ein Phan- erwünschte Auffassung des , aber tom, Strandurlaub wurde durch westliche keinesfalls eine missverstandene, fehlgelei- Touristen in die islamischen Welt einge- tete oder unbegründete. Man sollte ja führt – Hamam ist nicht dasselbe wie Ge- nicht vergessen, dass der Unterschied zwi- stade! Das Tragen eines solchen Gewandes schen u.a. Saudi Arabien und dem Wahn macht die Sache nicht besser, da in islami- des erst jüngst erloschenen Islamischen scher Logik die ganze Sache, Leichtbeklei- Staates in Syrien und Irak allein einer der dete verschiedener Geschlechter im freien Quantität und nicht der Qualität ist. Umgang an einem öffentlichen Ort, nur Ist dies dann der „wahre Islam“? Diese Haram sein kann. Und sie wirft neue Prob- Frage ist nicht so ganz einfach zu beant- leme auf – was, wenn eine Burkini-Träge- worten. Um ihr aber einigermaßen gerecht rin schwimmend in Seenot geriete, um da- zu werden, müssen wir zuerst einmal un- rauf folgend von einem strammen, guttrai- sere „abendländische“ Brille abnehmen nierten völkischen Muskelprotz ans Land und das Subjekt nicht in unserem Ver- gezerrt zu werden, der ihr, die hilflos in ständnis betrachten. Häufig, besonders in seinen Armen liegt, mittels Wiederbele- der inhaltlosen Ätherfüllung allabendli- bung durch Mund-zu-Mund-Beatmung Ta- cher Talkshows, wird in Bezug auf den Is- bus verletzt? In Ägypten, vor ungefähr lam mit Begriffen wie „Schwesterreligion“ zehn Jahren, erzielte ein gläubiger Muslim (d.i. von Christentum und Judentum), deswegen die Scheidung von seiner Gattin „die drei monotheistischen Religionen“, in einem berüchtigten Prozess (das Ge- „Kinder bzw. Religionen Abrahams“, richt stellte fest, ihr Ertrinken wäre für al- „Buchreligionen“ usf. verständnislos ar- le Beteiligte besser gewesen). gumentiert. Des Weiteren findet eine ana- Häufig hört man immer wieder bei solchen chronistische Religionsumschreibung aus Geschehnissen wie auch nach terroristi- dem 19. und 20. Jh. Anwendung: Religion schen Akten, dass dies nicht der wahre Is- bringe das Gute in Menschen aus, erziehe lam sei (oft dieselben, die früher meinten, sie zu Besserem – Atheisten widersprechen der Kommunismus war ideal, der Sowjet- hier zurecht –, und „Glaube“ sei einzig ei- staat sei aber nicht der richtige Kommu- ne Privatangelegenheit. Wer solche unhalt- nismus). Auch das Christentum, das Ju- baren Plattitüden als Ausgangspunkt neh- dentum wie auch andere Religionen haben men will, begeht einen Fehler und wird ihre Schandflecken in Geschichte und Ge- darum die Sache nie fassbar machen kön- genwart (übrigens ein defätistisches non- nen. Auch wenn sie wahr wären, hülfen Argument). Was aber ist dann der „wahre sie nicht weiter, da nicht aus den Gemein- Islam“? Wer die Zerwürfnisse bei den von samkeiten, sondern gerade kontrastiv aus der Bundesregierung veranstalteten Islam- der Sonderung eine Entität selbständige konferenzen beobachtet, sieht gleich, dass Gestalt annimmt. Alle diese Behauptungen diese Frage es in sich hat. Großenteils liegt sind nur aus christlicher und westlicher die Ursache darin, dass der deutsche Staat Sicht vorstellbar, und macht das Fach „Is- nur im Stande ist, einen Umgang mit „Kir- lamische Theologie“ (eigentlich ein Oxymo- chen“ im christlichen Sinne (woran das ron, mehr hierzu später) an deutschen Judentum sich uniformiert hat) zu haben. Universitäten erst möglich. Der heute Das fundamental autokephale Wesen des praktizierte islamo-christliche Dialog ist Islams macht ein vergleichbares Verfahren nur aus christlicher Sicht mit ausreichen- mit ihm eigentlich unmöglich – der einzige der Unkenntnis möglich. Das Christentum Ansprechpartner wäre der Kalif, den es ist aus dem Judentum entstanden, hat nicht mehr gibt. Zudem, wer sich die Mühe aber letzteres nie abgelöst oder ablösen macht, die Schriften von Al-Qaida, IS und wollen (Römer 11,17-24). Für den Islam ähnlichen Gruppierungen zu lesen, wird aber haben Christen und Juden die jeweils

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an sie gegebene Offenbarung verfälscht, braucht der Sprecher im Koran (in islami- diese Irrtümer sind mit der Offenbarung scher Exegese wird hier Gott/Allah vorge- an Muhammad und mit dem Islam ein für stellt) häufig die Befehlsform (qul allemal bereinigt und berichtigt – dies ist „Sprich!“), was auch den Unterschied im etwas ganz anders als die von Cusanus Wesen des Korans zu der hebräischen Bi- vorgestellte una religio in varietate ritu- bel – aus der das jüdische Volk hervorging um! So gesehen ist der Islam ein Nach- und die seitdem seine „tragbare Heimat“ christentum – die wahren Christen sind (Heine) ist – und zum neuen Testament – somit die Muslime, solche Wechselreden nicht der Text sondern das Erscheinen können also nur zwischen ‚echten‘ Chris- und Handeln Christi, wovon der Text be- ten, den Muslimen, und vermeintlichen richtet, sind von Bedeutung – ausmacht, Christen stattfinden. Im islamischen Ver- die wiederum auch ganz unterschiedliche ständnis des Korans wird deutlich, dass Offenbarungsgeschichten aufzeigen. Strikt jede Seele vor dem Anbeginn der Zeit Mus- genommen gibt es nur ein Buch, die umm lim geworden war; 7, 172f: „Und als dein al-kitāb im Himmel (ein platonischer Ar- Herr aus den Kindern Adams – aus ihren chetyp), wovon der Koran eine eigentlich Lenden – ihre Nachkommenschaft hervor- unvollständige Abschrift darstellt – darum, brachte und sie zu Zeugen wider sich obwohl der Islam mit dem Begriff ahl al- selbst machte (indem Er sprach): ‚Bin Ich kitāb u.a. Christen und Juden, sich selber nicht euer Herr?‘, sagten sie: ‚Doch, wir ausschließend, andeutet, kann sensu stric- bezeugen es.‘ (Dies,) damit ihr nicht am to eigentlich nur der Islam hiermit ge- Tage der Auferstehung sprecht: ‚Siehe, wir meint sein; Christen sehen im Neuen Tes- waren dessen unkundig.‘ Oder sprechet: tament die Erfüllung und nicht die Erset- ‚Es waren bloß unsere Väter, die vordem zung des Alten Bundes, der Islam hinge- Götzendiener waren, wir aber waren ein gen im Koran die absolute Offenbarungs- Geschlecht nach ihnen. Willst Du uns superiorität, d.i. die Nachordnung der Bi- denn vernichten um dessentwillen, was bel. Zum Schluss, das Frühchristentum die Verlogenen taten?‘ Also machen Wir behauptete nie das Monopol eines morali- die Zeichen klar, auf daß sie sich bekehren schen Lebens oder der Gerechtigkeit zu möchten“ – womit deutlich wird, warum haben, die Behauptung Religion sei eine so etwas wie eine Taufe als Initiationsritus Garantie für ein gutes Leben kam erst im im Islam gänzlich unnötig ist – diese Hy- 19. Jh. im Streit gegen die Entkirchli- perprädestination kann eigentlich nicht chung und den Atheismus auf, das eigent- mit einem christlichen Verständnis (vgl. liche Ziel des Christentums war es immer, den Anfang des Epheser-Briefes) harmoni- Kenntnis von Gott und seinem Handeln in siert werden. Auch der weitverbreitete der Geschichte und ein Leben in Überein- Schwachsinn abrahamischer Abkunft ist stimmung mit dieser Kenntnis zu verbrei- aus islamischer Sicht nicht zutreffend, ten (εὐαγγελίζω). Im Laufe des 20. Jh. kam siehe Sure 3,67: „Abraham war weder Ju- dann die teilweise Verbannung von Glau- de noch Christ; doch er war immer (Gott) ben und Religion aus dem öffentlichen Le- zugeneigt und (Ihm) gehorsam, und er ben. war nicht der Götzendiener einer.“ Dass Ein Dialog kann nur stattfinden, wenn er manche aus der Bibel bezeugte Figuren von beiden Parteien gewollt und ermög- auch im Koran erscheinen, wie hier Abra- licht wird. Abraham, wie wir gerade sahen, ham, ist zwar zutreffend, aber Namens- aber auch Mose und die alttestamentlichen gleichheit bedeutet nicht, dass die Na- Propheten konnten sich mit Gott ausei- mensträger vergleichbar sind (im Sinn des nandersetzen, ja selbst Christus als Teil Spruchs: „Die Handlung und alle handeln- der christlichen Gottesvorstellung konnte den Personen sind frei erfunden. Jegliche mit seinem Vater im Dialog sein (z.B. Mar- Ähnlichkeit mit biblischen Personen wä- kus 14,36; Lukas 22,42; besonders aber ren rein zufällig“) wie hier am Beispiel Ab- die sieben Kreuzworte). So gesehen ist rahams deutlich wird, das auch den gro- „Theologie“ als besonnene und vernunft- ßen Unterschied im Wesen der Prophetie gemäße Erkundung des Göttlichen eine verdeutlicht. In Genesis 18,22-33 fleht er christliche Eigentümlichkeit, somit auch Gott an, Sodom und Gomorrha zu scho- eine Befreiung von Fanatismus. Dies ist nen, was im Koran 11,74 lediglich im Vo- etwas anders als das Versammeln von rübergehen angedeutet wird. Zudem ge- imprimatur, Heft 4, 2019 Islamisches 286

Wissen über einen oder mehrere Götter, Gottes wurde erbeten, um die eroberte ihre Mythen, Kulte und dazugehörige Ri- Welt, die Gottesherrschaft zu vergrößern. ten – Religion haben ist etwas anders als Da der König Gott ist, gehen die göttliche ein Wissen von religiösen Dingen besitzen. und die menschliche Sphäre ineinander Die Tatsache, dass der Islam ein Monothe- über“ (E. Voegelin, Die polit. Religionen, ismus ist, sollte man nicht überbewerten, 1939, 24). Der Einfluss auf biblische, dem da dies nicht ausschließlich das Merkmal Mose zugeschriebene Vorstellungen, wie einer Religion ist, man könnte hier den dies u.a. Sigmund Freund zu beweisen ver- νοήσεως νόησις des Aristoteles erwähnen suchte, bleibt strittig bzw. unwahrschein- oder den Kult des höchsten Wesens der lich. Viel wichtiger für die hebräische mo- französischen Revolution (Culte de l’Être notheistische Entfaltung ist der Einfluss suprême) – eine Religion hat nicht per se oder vielmehr die Reaktion auf Entwick- einen Gott nötig (s. z.B. Richard Daw- lungen in Assyrien. Im neuassyrischen kins), genauso wenig wie Philosophien Reiche, grob gesehen während der ersten und Ideologien gottlos sein müssen. Hier vier Jahrhunderte des ersten Jahrtau- angekommen wäre es vielleicht ange- sends v.Chr., entstand eine in etwa ver- bracht, weiter rückwärts in die Geschichte, gleichbare Gottesvorstellung. Assur, der zu den vermeintlichen Ursprüngen des Gott dieses Reichs fing seine Karriere an Monotheismus im religiösen Sinne zurück nicht als deus persona, sondern als die zu schreiten. Vergöttlichung der Stadt Aššur (heute in Der Monotheismus, d.h. der Glaube an ei- Nordirak gelegen, etwa 100 km südlich nen einzigen Gott, der die Existenz ande- von Mossul); bei seinem ersten Auftreten rer Götter ausschließt, hat eine lange Ent- besaß dieser deus novus ex abrupto keine wicklungsgeschichte. Im Gegensatz zum göttliche Familie im mesopotamischen Koran, der (s.o.) ihn von Anfang an vo- Pantheon, um erst später dann integriert raussetzt, ist dies im Alten Testament zu werden, indem er als die interpretatio nicht ursprünglich vorgegeben (vgl. die assyriaca des akkadischen Hauptgottes En- Worte der Rut: „Rede mir nicht ein, daß lil verstanden wurde, seine Familie und ich dich verlassen sollte und von dir um- Funktionen übernahm, eine Art „Himmel- kehren. Wo du hin gehst, da will ich auch reich“ –, sein eigentliches Heiligtum in der hin gehen; wo du bleibst, da bleibe ich gleichnamigen Stadt, das ursprünglich bīt auch. Dein Volk ist mein Volk, und dein aššur „Haus bzw. Tempel des A.“ hieß, Gott ist mein Gott.“), der Jahwe-Kult in wurde dann nachträglich in É.KUR Israel war ursprünglich ein Reichskult des („Berghaus“), wie der Tempel Enlils zu Königshauses, und er hatte eigentlich nur Nippur, umbenannt. Später, am Ende des eine abgestimmte Einflusssphäre (vgl. 1Kö 8. Jh.s im sargonidischen Zeitalter, fing 20,28: „Jahwe sei ein Gott der Berge und man an, seinen Namen AN.ŠÁR, „Himmel- nicht ein Gott der Gründe“; 2Kö 3,27 gesamtheit“, zu schreiben - ein keilschrift- usf.). Die biblische Erzählung hat man- liches Orthographiespiel -; dies war eigent- chen dazu verleitet, Moses Wirken mit dem lich ein urzeitlicher Gott frühbabyloni- ägyptischen Sonnenkult des Aton unter scher Theogonien, also eine Usurpation Amenophis IV., später Echnaton, im 14. (oder „Assurpation“?). Mit dieser Begriff- Jh. v.Chr. in Verbindung zu bringen, was lichkeit wurde also nicht nur die (Haupt)- aber textgenetisch und inhaltlich unmög- Stadt, das Reich (wie z.B. Rom) und der lich ist. Ohne hier eingehend diese schwie- Gott, notabene der Herrscher/Besitzer des rige Thematik behandeln zu können, ist es Reiches, genau genommen der Gesamtheit, durchaus möglich, diese Neugestaltung der angedeutet, treffender vielleicht ist hier offiziellen ägyptischen Religion nicht als der Begriff Kosmokrator. Der irdische einen Monotheismus (bzw. Henotheis- „König“ (häufig mit dem Gottesnamen als mus), sondern als einen Atheismus zu se- theophores Element, z.B. Aschurbanipal) hen, da Echnaton, der sich als dieses Got- wurde nicht mehr mit der gebräuchlichen tes Sohn ansah und Atons einziger Ver- Amtsbezeichnung šarrum („König“ - su- mittler war – eine Gottheit als eine totali- merisch LÚ.GAL) - angedeutet; dieser Titel täre Abstraktion: war für den Gott vorbehalten, stattdessen „Nach der Staatstheologie eroberte der Kö- hieß sein Amt iššiak (sumerisch Ensi) As- nig die Welt für den Gott, und die Hilfe des sur „Verwalter bzw. Vikar Assurs“, dem gegenüber er sich jährlich beim sog. Neu- imprimatur, Heft 4, 2019 Islamisches 287

jahrsfest verantworten musste, dessen nachfolgenden Reichen mehr oder weniger Oberpriester er zugleich war und nichts als eine Fortsetzung dieser Tradition dar. anders als der Ḫalīfat Allāh avant la lettre! Wie die Forschungen von Inârah gezeigt Sein eigentlicher Kult war die Welterobe- haben, entstand der Islam, just in dieser rung, er wurde nicht wie die anderen Göt- Gegend in Nordmesopotamien, und nahm ter des Zweistromlandes verehrt. Dies war Gestalt an im Abbasidenreich im 8./9. Jh. ein bedeutsamer Schritt auf dem Wege zum n. Chr. – des Reiches Hauptstadt war Bag- Monotheismus – durch seine Totalität wur- dad. Sie liegt wahrscheinlich auf den Rui- den die anderen Götter eigentlich zweit- nen der bisher nie gefundenen histori- rangig. Während die Assyrer eroberte Völ- schen Hauptstadt Mesopotamiens Akkad –. ker, wie die berühmten zehn Stämme des Der Islam entstand nicht etwa als eine Nordreiches, deportierten, gewährten sie persönliche Frömmigkeit, sondern als die ihren Göttern, die in assyrischer Vorstel- Reichsreligion der Abbasiden. Allah, ob- lung ihre Verehrer verlassen hatten, Zu- wohl etymologisch verwandt mit hebräisch flucht, in den Worten Asarhaddons: ilāni ʼělohīm und syrisch alāhā (möglicherweise mātāte ša ana māt Aššur iḫīšūni „Die Göt- gar eine Entlehnung von letzterer Form ter der Länder, die nach Assyrien eilten bzw., schwieriger, von al-ilāh ‚der Gott‘), ...“ Die unterworfenen Staaten und Völker hat inhaltlich gesehen viel mehr gemein- mussten Assur Treue (als Gott, Stadt, sam mit Aššur: gleiche Etymologie bedeu- Reich usw.) bei ihren eigenen Göttern tet nicht Funktionsgleichheit. Historisch schwören: ein Eidbruch beim eigenen Gott gesehen waren die Kalifen wie die assyri- ist faktisch Apostasie (im Islam Irtidād schen Könige totalitäre Herrscher, die ein bzw. Takfīr). Vereinfacht gesagt: in Juda Amt im Namen ihres Gottes wahrnahmen: wurde dies dadurch umgangen, dass die nur zu ihnen spricht Gott, sie allein ken- Subsistenz aller Götter außer Jahwe ein- nen seinen Willen, und sie allein sind be- fach verneint wurde (und später, nach der rechtigt, Wort und Willen Gottes zu inter- Tempelzerstörung, ihn im Himmel zu ver- pretieren – der irdische Herrscher wird orten). Wie bei Aten (oder Hobbes: Gott zum Gottesmittler; ihm allein offenbart des Gemeinwesens in seinem Buch Levia- sich Gott; er allein vermittelt den Willen than), war Aššur kein Gott, sondern die Gottes an das Volk (mit einem einzigen vergöttlichte assyrische Staatsraison – As- Reservat, dass in privater Frömmigkeit ein surbanipal, der Sohn Asarhaddons und Überrest der unmittelbaren Personalität letzter großer Herrscher des assyrischen Gottes übrigbleibt). In beiden Systemen Reiches wurde in Plastik verewigt, wie er bestanden keine ‚Bürger‘ im eigentlichen allerlei Aktivitäten ausführte, nur nicht Sinne, höchstens Untertanen, wovon man- bei Kulthandlungen und Tempelgründun- che bestimmte Privilegien erhalten konn- gen. Hier wiederum sehen wir ein totalitä- ten, ein egalitäres System in kommunisti- res Prinzip als Gottheit kaschiert, die tota- scher bzw. faschistischer Auffassung. litäre Umsetzung von Hegels These, dass Wie oben angedeutet, dass ein „Monothe- das Volk als Staat der Geist in seiner un- ismus“ nicht unbedingt eine Religion sein mittelbaren Wirklichkeit und daher die ab- muss, und eine Religion keinen Gott benö- solute Macht auf Erden sei bzw. bei Vöege- tigt (ein Prinzip wie just beschrieben lin (a.a.O. 13): „Die vollständig ausgeglie- reicht aus). Es ist auch deutlich, dass eine derte Schöpfungsordnung wird durch sie Philosophie (z.B. der Buddhismus) oder gleichsam dekapitiert und an die Stelle des eine Ideologie (z.B. Nationalsozialismus welttranzendenten Gottes tritt der Staat oder Kommunismus) faktisch zu einer Re- als die letzte Bedingung und der Ursprung ligion werden kann, genauerhin eine „poli- des eigenen Seins“; die Menschen „sinken tische Religion“, wie dies Voegelin (a.a.O. in das unpersönliche Nichts ihrer Instru- 12) zum Ausdruck brachte: „Um die poli- mentalität.“ Einfacher ausgedrückt: Es tischen Religionen angemessen zu erfas- gibt einen großen Unterschied zwischen sen, müssen wir daher den Begriff des Re- Reichsgott und dem Reich Gottes. ligiösen so erweitern, daß nicht nur die Man kann im Islam die Fortsetzung altori- Erlösungsreligionen, sondern auch jene entalischer Reichsreligion sehen. Der anderen Erscheinungen darunter fallen, Geist, einmal der Flasche entsprungen, die wir nicht in der Staatsentwicklung als stellt die Götterwirkmächtigkeit in den religiöse zu erkennen glauben; und wir

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müssen den Begriff des Staates daraufhin schränkung freier Wahl – wie auf der Farm prüfen, ob er wirklich nichts anderes be- („Wir Schweine sind Kopfarbeiter. Das ge- trifft als weltlich-menschliche Organisati- samte Management und die Organisation onsverhältnisse ohne Beziehung zum Be- dieser Farm hängen von uns ab. Tag und reich des Religiösen“ – er hatte vor allem Nacht überwachen wir ihr Wohlergehen. den deutschen Nazistaat (wie auch die Es ist DEINetwegen, dass wir diese Milch Sowjetunion) im Visier, was dann Speer trinken und diese Äpfel essen“), im Islam 1954 in seinen Erinnerungen des Reichs- die sog. ʿUlamā. Allen gemein ist zudem parteitages von 1938 unbewusst bestätigte: der Gedanke einer „Apokalypse als Offen- „Tatsächlich begann er sich zu Gunsten barung des Reiches“, als Kulmination oder des Ritus einzuschränken, die Möglichkei- Überwindung der Geschichte, indem man ten der Selbstdarstellung in Nürnberg den Himmel auf Erden zustande bringen nicht mehr ganz voll auszuspielen, Archi- will. tektur und Massenelemente in den Vor- In diesem Licht betrachtet, sollte man den dergrund zu rücken, bis die gewaltige Sze- Islam als Spätableger altorientalischer nerie der Feier gewissermaßen zur Feier Reichstheologien (keine Theologien im selber geworden war. Meine anfängliche christlich-westlichen Sinne) so betrachten, Verwunderung hatte vielleicht damit zu wie die vielen eingangs angedeuteten Strei- tun, daß ich soviel bescheiden wirkendes tigkeiten um den Platz des Islams in west- Zurücktreten mit dem ungeheuren An- lichen Gesellschaften verdeutlichen. Ein- spruch, den Hitler erhob, nicht recht in fachheitshalber zitieren wir hier Para- Einklang bringen konnte. Wahrscheinlich graph 24 der Kairoer Erklärung der Men- kommt mir unterdessen vor, daß er den schenrechte im Islam: „Alle in dieser Er- kleineren Anspruch des gefeierten Volks- klärung festgelegten Rechte und Freiheiten helden aufgab, um den weit größeren des unterliegen der islamischen Scharia.“ Und Religionsgründers zu erringen“ (Spandau- es gibt viele ‚Experten‘, die bereit sind, er Tagebücher, 403f.). dies zu verdeutlichen, was die „Scharia“ Hitler war natürlich nicht der erste inspi- (ein breiter Begriff) über jegliche Lebenssi- rierte Bandenführer, der sich zum Religi- tuation zu sagen hat. Das Verhältnis libe- onsgründer umwandelte. Umgekehrt kann ral-demokratischer Freiheit als Grund- sich dann auch eine Religion zu einer Ide- recht von Menschen mit dem Islam ist ologie umwandeln, bzw. in der Auffassung sehr problematisch, dieses Problem ver- Voegelins sind diese eigentlich nicht zu stehen Muslime sehr wohl, wie auch die trennen (a.a.O. 62f.): „Die Gemeinschaft Flüchtlingsämter westlicher Länder, wo ist auch ein Bereich religiöser Ordnung, kritische Stimmen aus dem Dār al-Islām und die Erkenntnis eines politischen Zu- ihr Heil suchen – dass manche Linke, die standes ist in einem entscheidenden Punkt selber implizit bzw. explizit die Universali- unvollständig, wenn sie nicht die religiö- tät solcher Grundrechte, weil angeblich sen Kräfte der Gemeinschaft und die Sym- „westlich“ bzw. „imperialistisch“, ableh- bole, in denen sie Ausdruck finden, mit nen, ist nicht weiter verwunderlich, da sie umfaßt, und sie zwar umfaßt, aber sie eine andere Gnosis verabreichen (wollen). nicht als solche erkennt, sondern in a-reli- Hierin sehen wir wohl auch den Grund, giöse Kategorien umsetzt.“ In seiner Auf- warum kritische Islamforschung, wie u.a. fassung ein morphologisches Kennzeichen die von Inârah, so problematisch ist für solcher totalitären Religionsideologien ist den Islam – man muss nicht mit allen un- die sog. Gnosis, „eine angebliche direkte, seren Forschungsergebnissen einverstan- unmittelbare Wahrnehmung oder Vision den sein, man kann aber, sicherlich nicht der Wahrheit, ohne dass es einer kriti- in der universitären Wissenschaftsarchi- schen Reflexion bedarf; das besondere Ge- tektur solches a priori versagen und sich schenk einer geistigen und kognitiven Eli- alleinig auf die (widersprechenden) Über- te“, also eine Kaste von Experten, mit Ge- lieferungen berufen. Die Verweigerung his- heimwissen ausgestattet, die besser bzw. torisch-kritischer Forschung seitens des am Besten wissen, wie man zu leben hat Islams, nicht aber vieler Muslime, ist ei- (wie etwa die Klimaaktivisten und wie al- nerseits durch eine Sprachkrise verur- lerlei andere Experten, Coaches und Bera- sacht, die angebliche Unübersetzbarkeit ter heutzutage), meistens durch die Ein- des Korans verhindert philologische Stu-

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dien und bewahrt das Monopol selbster- Kommunismus oder der Faschismus, kann nannter „Experten“ bzw. Gnostiker – zu- ohne sich selber zu verleugnen, den Un- gegeben kein Übersetzen kann das Original terschied zwischen Geschichte und Heils- ersetzen, aber gerade die Bestrebung nach geschichte machen: „Am Ende bleiben aus einer Übersetzung fordert Ringen mit dem unserer Geschichte nur noch Widukind, Textinhalt und der Textaussage des Origi- Heinrich der Löwe und Rosenberg übrig. nals, hieraus entsteht Kenntnis. Arabisch Das ist ein bißchen wenig. Da geht Musso- ist für die meisten Muslime eine Fremd- lini viel klüger vor. Er okkupiert die ganze sprache, Koranarabisch hingegen für alle Geschichte Roms von der frühesten Antike eine Geheimsprache. Das enge Bündnis angefangen, für sich. Wir sind demgegen- von Bildung und Glauben, mit wenigen be- über nur Parvenüs“ (Die Tagebücher von schämenden Ausnahmen, das eigentlich Joseph Goebbels, Teil 1, Band 5, München immer im Christentum besteht – gerade 2000, 334). Ein Totalitarismus bean- weil ein Christ nicht zum Glauben prädes- sprucht und (be)nötigt alles für sich, eben tiniert ist, muss er im Stande sein, Re- auch die Geschichte, die dann für seine chenschaft über sein Glauben abzulegen – Zwecke instrumentalisiert wird. Auch un- hat die Wissenschaft später erst ermög- möglich ist eine Machtteilung, Grundlage licht. Die vielen Debatten darum, wie ein der Freiheit. Dies ist, wie schon des öfte- „islamisches Schulcurriculum“ aussehen ren angemerkt, die eigentliche Inkompati- müsste (vergl. die jüngste Auseinanderset- bilität des Islams mit liberal-demokrati- zung in den Niederlanden, z.B. die Titelsei- schen Gebilden. Die Unterscheidung zwi- te des NRC-Handelsblads von 10.09.2019: schen „Kirche“ und „Staat“ ist nicht gege- „Salafistische scholen leren kinderen zich ben in der Zweiteilung von ʿUlamāʾ und af te keren van Nederland“) bestätigen nur Emirate, da diese in dîn wa-dawla („Reli- die Bildungsmisere in der islamischen gion und Politik“) untrennbar bleiben. Welt. Das Festhalten an islamischen Über- Letztgenannte stellt zwar eine Trennung lieferungen als geschichtliche Wahrheit dar, in etwa wie die von Partei und Staat erklärt sich auch hieraus, dass, wie eigent- in vergleichbaren Systemen – nicht alle lich in allen „politischen Religionen“, die Sonderungen aber sind gleichwertig wirk- Geschichte überflüssig ist, weil determi- sam. Freiheit kann nur im Spannungsfeld niert –. Wer sich vermeintlich auf dem We- zweier Pole, wie die der Weltlichkeit und ge zum Endsieg, zur Revolution oder Apo- die der Ewigkeit bzw. temporal und spiri- kalypse befindet, hat sie nicht nötig: wo ge- tual bestehen, wie dies Augustin in seinem hobelt wird, fallen Späne, Punkt aus bzw. Werk De civitate Dei behandelte. Die frei- in den Worten des sehr einflussreichen Ge- heitliche Abgrenzung von Kirche und Staat lehrten Abū l-Aʿlā Maudūdī in einem seiner ist ein Erbe das Christentums, das von An- verbreitetsten Werke (1903-1979): „Das fang an separat vom römischen Staat war, größte Opfer für die Sache Gottes wird im der nicht nur schon existierte, sondern Dschihad dargebracht, denn in diesem zudem Christen verfolgte – im Judentum Kampf gibt der Mensch nicht nur sein ei- hingegen entstand eine politische Macht, genes Leben und sein Hab und Gut hin, weil man sich der Thora näherte und eine sondern er vernichtet auch Leben und Ei- Barriere errichtete, um das einzige nach gentum anderer. Doch wie bereits darge- dem Verschwinden des jüdischen Staates legt, ist einer der Grundsätze des Islams, erhalten gebliebene Prinzip, nämlich das daß wir einen geringeren Verlust auf uns der Identität zu schützen; das heißt, das nehmen sollten, um uns vor einem größe- Fehlen einer politischen Dimension macht ren Schaden zu schützen. Was bedeutet der das Judentum aus. Das Christentum hat Verlust einiger Menschenleben, selbst somit nie aufgehört, einen konkreten Mo- wenn es einige Tausende oder mehr sein dus vivendi zwischen der religiösen und sollten, gegenüber dem Unheil, das die der politischen Dimension zu verhandeln. Menschheit befallen würde, wenn das Böse Wie dies geschehen ist, ist ein Paradox: Die über das Gute und der aggressive Atheis- Kirche hat den mittelalterlichen Staat sä- mus über die Religion Gottes den Sieg da- kularisiert, indem sie ihm einen eigenen vontragen würde?“ (Weltanschauung und Bereich zugewiesen hat, um den Frieden Leben im Islam, München 1994, 156f.). zu wahren. Was der Staat nicht wollte, da Der Islam, genauso wenig wie u.a. der er seinerseits nur von Sakralität träumte.

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So befremdend es auch sein mag, es ist die „Was bleibt?“ Der Kern des Islam besteht Handlung der Päpste, die ab dem 11. Jahr- aus dem Koran in überlieferter Auslegung hundert dazu tendierte, die politische und den Hadithen, woraus die Scharia sich Macht zu ‚laizifisieren‘, indem sie ihr jede tränkt („Die Scharia basiert auf dem Ko- Initiative in spirituellen Angelegenheiten ran und auf der sich ab der Mitte des 7. wegnahm. Erst aus dieser Unterscheidung Jahrhunderts herausbildenden Überliefe- ist es zudem möglich, Geschichte von rung vom normsetzenden Reden und Han- Heilsgeschichte zu trennen. Hiermit soll deln Mohammeds“ -T. Nagel, Kann es ei- nicht das Christentum verherrlicht wer- nen säkularisierten Islam geben? in: Rein- den, sondern lediglich an die historische hard C. Meier-Walser und Rainer Glagow Entwicklung kurz erinnert werden. (Hgg.): Die islamische Herausforderung – Die Überwindung der Geschichte, um den eine kritische Bestandsaufnahme von Kon- Himmel auf Erden zu schaffen, also der fliktpotenzialen, München, 2001, 15). Glaube an der perfectibilitas menschlicher Nun es gibt Reformer, die meinen, man Vernunft, führt utopisch zum Eschaton, sollte nur die sog. mekkanischen Suren um die letzte, himmlische Stufe der Ge- des Korans berücksichtigen, worin Mu- schichte, in der immanenten Welt herbei- hammad zu Mekka als ein Prophet agiert zuführen. Die Endzeiterwartung, das dritte haben soll; die nachfolgenden medinischen Reich Joachims von Fioris, das fortlebt in könnten keine dauerhafte Geltung für sich den drei Reichen der Marx-Engel‘schen beanspruchen, da Muhammad in Medina Geschichtsphilosophie, im dritten Reich ein Staatsmann war, und das Haltbarkeits- der Nationalsozialisten und im faschisti- datum dieses Gebildes längst abgelaufen schen dritten Rom, aber eben auch im ist. Hiermit aber wird die in der Exegese Glauben an das jüngste Gericht, im Islam (oft willkürlich) angewendete Abrogation der yaum al-qiyāmā. Das Christentum außer Wirkung gestellt (vgl. i.a. Sure lehnt die Idee eines solchen immanenti- 2,106; 16,101), womit dann aber die Of- sierten Eschatons (nach Voegelin) direkt fenbarungsanlässe, also die Biographie des ab. Die Vorstellung aber erklärt die hohe Propheten de facto ungültig gemacht wird. Gewaltbereitschaft im Islam sowie in an- Die Dschihadisten hingegen bevorzugen deren Ideologien: man muss die Menschen gerade die medinischen Texte, weil sie für zu ihrem Glück zwingen, der determinierte sie zweckerfüllender erscheinen. Man Lauf der Geschichte lässt sich nicht durch kann nicht behaupten, dass Letztere falsch persönliche Befindlichkeit aufhalten (s. liegen. Anderseits kann man aus der Fülle das obige Zitat von Abū l-Aʿlā Maudūdī). der Hadithe eine Auswahl treffen (s. z.B. Die Dschihadisten von heute waren die ‚Unauflösliches, wer löst es?‘, FAZ 31. Juli marxistischen Revolutionäre und Wegge- 2019, Seite N3: „Reformer des islamischen fährten der RAF-Terroristen in den 70er Familienrechts haben eine eindeutige und 80er Jahren … Wer unbedingt das Es- Agenda. Sie machen sich die Mehrdeutig- chaton immanentisieren möchte, findet keit der traditionellen Rechtslehren zu- immer eine Rechtfertigung und Weggefähr- nutze“). Beschrieben hier wird eine Art ten … Rosinenpicken, um so islamisches Recht Der Vergleich von Islam mit totalitären an die heute geltenden (westlichen) Nor- Ideologien der Vergangenheit wird viel- men anzupassen. Hiergegen ist nichts ein- leicht manchen Leser stören. Es soll aber zuwenden – nur kann man aber nicht oh- hier wieder deutlich gemacht werden: dies ne Weiteres behaupten, dass andere, stren- sagt nichts über Muslime aus. Die Debat- gere, Auffassungen somit ungültig wären. ten um die Ausgestaltung der Islamkonfe- Man sollte dabei aber bedenken, dass der renzen zeigen, wie wenig sie sich eigent- Islam gestalterische Freiheiten erlaubt, so lich durch den Islam als Institution des gab es z.B. hinsichtlich des Schleierverbo- Glaubens vertreten fühlen; aber auch in tes in Frankreich keinen offiziellen Pro- der sog. islamischen Welt, dank der neuen test, Mädchen entledigen sich ihrer Kopf- Medien, kündigt sich eine Geistesänderung tücher beim Betreten der Schule. Vielleicht an, besonders unter Jugendlichen. Kann aber bleibt der Protest aus, weil gerade bei dann der Islam reformiert werden? Die der Schulung für Mädchen das Problem Frage könnte vielleicht am Besten frei liegt? Die Begrifflichkeit von „Reform“ ist nach Christa Wolf beantwortet werden, beim Islam nicht ganz passend, wie Rémi Brague (Sur le « vrai » islam, Commentai- imprimatur, Heft 4, 2019 Islamisches / In eigener Sache / Die Glosse 291

re, 189, 2015, 11) bemerkte: „Das westli- In eigener Sache che Gewissen versteht eine Reform daher spontan als Rückkehr zu nicht verfälsch- ______ten Quellen: Der reine Ursprung wurde

durch Verrat verfälscht, die Inbrunst zur Gentrifizierung und so weiter“, und Re- Das bisherige Mitglied unserer Redaktion, form ist zudem nicht punktuell, sondern Horst Hohmann, gehört ihr von diesem prozessual, wie die Kirchengeschichte und Heft 4, 2019, nicht mehr an. Wir bedauern die Evolution des Rechtstaates sehen las- das und danken ihm für seine bisherige sen. Ein Islam ad fontes ist eigentlich das, engagierte Mitarbeit und für seine vielen was Al-Qaida, IS &Co. konsequent ausfüh- Beiträge, die in imprimatur publiziert ren – die „normsetzenden Reden und Han- wurden. deln Mohammeds“ stellen aber etwas an- ders dar als die Imitatio Christi. Die Scha- ria abschaffen hieße auch, die Hadithe ih- *** rer Rechtsverbindlichkeit zu entledigen und faktisch den Koran zu entkanonisie- ren, also Muhammad dem Müllhaufen der Geschichte zuführen. Aber wäre dies so Die Glosse schlimm? Zwischen den Weltkriegen war der Faschismus populär, spätestens nach Lieber Sepp, alter Sozi, 1945 hatte er abgedankt. So auch der jetzt kann ich mir vorstellen, wie Du zum Kommunismus bis zum Ende des Kalten Gewerkschafter mit Deiner radikalen Ge- Krieges. Gewiss haben diese heute immer sinnung geworden bist. noch Befürworter – in einem Freiheitsstaat kann man denken und glauben, was man Wenn unsere Kirch mit ihren elenden Ent- will – jedoch die Praxis, die Wirklichkeit scheidungen weitermacht, geh auch ich des Lebens selbst hat sie entkräftet. Die auf die Barrikaden. Ich nenne Dir nur jüngsten Ereignisse im Mittleren Osten ha- zwei von ihren neueren Klöpsen. ben gezeigt, was der Islam erzeugt, wenn 1. Wenn Pastöre sich an Kindern derart er regiert – die islamische Utopie ähnelt vergreifen, dass sie für ein Leben lang schrecklicherweise denen von Kommunis- hilfsbedürftig sind und monatlich auf ten und Nazis – Staaten mit muslimischer Unterstützung mit Geld angewiesen, hat Mehrheit, in denen der Rechtsstaat eini- die Hierarchie vor, zu einem Patentre- germaßen funktioniert, sind entweder sä- zept zu greifen. Nicht die Pastorenklicke kular oder haben säkulare Verfassungsor- mit ihrem dicken Gehalt im Vergleich zu gane, die aber von selbigen bedroht wer- meinem muss für die „Brüder“ einste- den. Verdient der Islam wirklich mehr hen, sondern ich armer Kirchensteuer- Respekt, nur weil wir ihn ausschließlich zahler soll wie auch beim Mautdebakel für das ansehen wollen, was er niemals der daran völlig unschuldige Steuerzah- sein kann, eine Religion im Sinne einer ler für das von Scheuer in den Sand ge- privat ausgelebten Glaubensüberzeugung? setzte Projekt berappen. Dass wir weiterhin friedlich mit muslimi- Sepp, wer soll noch die Scheuerpartei wäh- schen Bürgern zusammenleben, steht len, und wer mag noch zu dieser Kirch ge- nicht zur Diskussion, aber nur, wenn wir hören? uns auf unsere westlichen Werte zurück- besinnen – wobei ‚westlich‘ hier vielmehr Wichtiger aber ist mir das universell auf hellenistisch-christlicher 2. Beispiel mit der Synode zum seelsorger- Grundlage heißen sollte – sogar Nietzsche lichen Elend am Amazonas. Der Öster- sah das Christentum an als Platonismus reicher Erwin Kräutler, der dort unten für‘s Volk. Immerhin war der hl. Augus- seit Jahren Bischof ist und die Misere tin, quasi der Erfinder des Abendlandes, wie kein zweiter unter den Synodalen ein punischsprachiger Berber aus dem kennt. Dem hörte in der Synode kaum Maghreb. Borniertheit ist immer Dumm- einer zu, wenn er sagt „was brauchen heit. wir viri probati, wir haben die Frauen, die halten seit Jahren dort unten die *** Kirche am Leben. Die muss man zu imprimatur, Heft 4, 2019

Priestern weihen!“ Der Mann hat recht! Ich kann das nicht leiden, wenn sie die Frauen von Eva an durch den Dreck der

Sündigkeit ziehen. Diese Hierarchen bil- den sich tatsächlich ein, sie wären wür- dig fürs Priestertum und die Frauen we- gen ihrer Weiblichkeit auf gar keinen Fall. Sepp, mich packt die Wut, ich mach dieses Sepp, was mich empört, die machen dann unfaire Spiel nicht weiter untätig mit. Sag noch Jesus zum Komplizen für ihre Ge- mir, wie tät ein Gewerkschafter den Kampf ringschätzung der Frau. Der Pater Ge- in dieser Sache anpacken? Soll unsereiner scheitle, sicher kein Revolutionär, hat sich einfach in die Front der kämpfenden neulich eine Predigt gehalten mit dem Frauen einreihen, oder soll ich mich mit Thema „Jesus und die Frauen“. Er hat aus Gleichgesinnten zu einer Männerbrigade der Bibel vorgelesen und erklärt, wie ka- zusammenrotten, und dann die morschen meradschaftlich fair der Umgang von Je- Zölibatären Mores lehren. sus mit den Frauen war. Jesus hätt ge- Sepp, wir müssen im Kampf für Gerechtig- ahnt, dass sich die Apostel, sogar der Pet- keit gegenüber den Frauen in die Bresche rus, sobald es brenzlich würde, ihm zu fol- springen. Wie könnten wir sonst unseren gen, alle verdrücken täten, aber die Frau- Frauen noch ungeniert in die Augen en sind ihm bis unters Kreuz gefolgt. schauen! Daraus ziehen aber die alles bestimmen- Sepp, sei Kamerad und springe mir bei! den zölibatären Moralapostel in der Kirch keine Schlüsse, wohl weil sie ein Leben Es hofft auf Dich lang wegen dem Zölibat gegen ihre unaus- Dein Joseph rottbaren normalmännlichen Zuneigungen P.S.: Was sind eigentlich viri probati? zu Frauen kämpfen gemusst haben. Erfah- Sind das Männer, die alles Mögliche die rungsgemäß klappt dieser Kampf am bes- kreuzunddiequer ausprobiert (probati) ten, wenn man die Frauen schamlos her- haben und dabei irgendwie wirr (viri) zu abwürdigt und auf Abstand hält, d.h. z.B. keiner Lebensentscheidung gekommen ihnen das Amt verweigert. Dann braucht sind, am Schluss dann aber im Priesteramt man auch keines der schönen kirchlichen als Notnagel Verwendung finden sollen? Ämter mit den Frauen zu teilen.

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Die Redaktion sowie die Mitarbeiterinnen und Mitarbei- ter von "imprimatur" danken zum Jahresende 2019 allen Leserinnen und Lesern für ihre Treue und Verbundenheit.

Wir wünschen Ihnen, liebe Freundinnen und Freunde, besinnliche und erholsame Advents- und Weihnachtstage sowie ein gutes und gesundes Jahr 2020!