Nr. 36 / 1.9.2018 Deutschland €5,10 Slowakei € 6,60 Slowakei 185,- Kc Spanien € 6,50 Tschechien in Printed Slowenien € 6,30 Spanien/Kanaren Slowenien Ft 2350,- Ungarn € 6,70 Germany
Wenn Rechte nach der Macht greifen BeNeLux € 5,80 Finnland € 8,– NOK 82,– Griechenland € 7,– Norwegen ZL 32,– (ISSN00387452) Polen Dänemark dkr 53,– € 6,50 Frankreich Italien € 6,50 € 5,80 Österreich (cont) € 6,50 Portugal Dampfer, Heater, Zigarette Pflege Springreiten Wie sieht die Zukunft Besuch vom Medizinischen Dienst: Exzesse im Sport der des Rauchens aus? Der Gutachter spielt Schicksal feinen Gesellschaft Warum hatte man früher eigentlich Sparstrümpfe zum Sparen?
Wir können nicht alles erklären, aber wie man ab 25,– Euro im Monat zeitgemäß Geld ansparen kann, schon
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Knapp drei Monate lang recherchierten Marian Blasberg, Katrin Kuntz und Christoph digitalen Prozessen im Scheuermann, um die Geschichte von Levis Osorio Andino und ihrem Sohn Samir erzählen zu können: Mutter und Kind waren aus Honduras nach Texas geflohen, Unternehmen. wo die Polizei sie aufgriff und trennte – so sah es die Strategie der US-Regierung vor. Andino saß im Gefängnis und Samir fast 2000 Kilometer entfernt in einem Heim; erst nach 56 Tagen sahen sie sich wieder. »Die Familie ist schwer traumatisiert«, sagt Blasberg, »für sie ist das Drama noch nicht zu Ende.« Kuntz traf Samir und seine Mut- ter in New York. 3000 vergleichbare Fälle gab es in den Vereinigten Staaten, und noch
MERIDITH KOHUT / DER SPIEGEL MERIDITH KOHUT immer befinden sich mehr als 500 Kinder Kuntz, Samir in New York in der Obhut der Behörden. Seite 74
Als Volker Weidermann den schwe- dischen Autor Jonas Jonasson in Kenia traf, hatte ihm dessen deut- scher Verlag das erste Exemplar von Jonassons neuem Buch mitge- geben: die Fortsetzung des Bestsel- lers über einen Hundertjährigen, der aus dem Fenster stieg. Stolz
packte Jonasson die Ausgabe aus. / DER SPIEGEL BRIAN OTIENO Dass er sie später wieder abgeben Widmung für Merkel, Jonasson, Weidermann würde, lag daran, dass Weidermann ihm angeboten hatte, das Buch einer Protagonistin des Romans zu übergeben – Angela Merkel ist in dem Werk die Hoffnungsträgerin des Helden. Jonasson signierte das Buch und schrieb: »Liebe Kanzlerin Merkel, Sie sind die Hoffnung der Welt für eine gute Zukunft.« Geschenke zwischen Journalisten und Kanzlerin verbieten sich zwar, aber da Weider mann das Buch nun nicht mehr sein Eigen nennt, will er es bei nächster Gelegenheit abliefern. Seite 110
Der Medizinische Dienst der Krankenversicherung muss entscheiden, wie viel Geld jeder pflegebedürftige Mensch bekommen soll. Maik Großekathöfer hat in Branden- burg den Gutachter Kay Zimmermann begleitet, der sich bei Hausbesuchen ein Bild vom körperlichen und geistigen Zustand der Antragsteller machen muss. Fünf Termine am Tag sind die Regel, eine Beurteilung vor Ort soll nicht länger als 60 Minuten dauern. Großekathöfer ist der Frage nachgegangen, ob man einem kranken Menschen in einer Stunde gerecht werden könne. Seite 48 Egal, was Sie geschäftlich planen: Die dafür not- wendigen Freiräume verschaffen Sie sich mit durchgängig digitalen DATEV-Lösungen für Rauchen kann das Leben verkürzen, das steht sämtliche kaufmännischen Aufgaben. So kön- auf jeder Zigarettenpackung. Auch Tabakkon- nen Sie sich ganz auf das Wesentliche konzent- zerne wie Philip Morris streiten das nicht rieren – Ihr Unternehmen. mehr ab – weil sie Produkte auf den Markt gebracht haben, die die Zigarette ersetzen sol- len: Firmenchef André Calantzopoulos zog Digital-schafft-Perspektive.de
S. AGNETTI / 13PHOTO genüsslich an einem sogenannten Heater, Nezik, Calantzopoulos, Goos bei dem der Tabak nicht verbrannt wird, als Ann-Kathrin Nezik und Hauke Goos ihn in Lausanne trafen. Wie glaubwürdig dieser Strategiewechsel ist, haben sie in Europa recherchiert, wo der Zigarettenkonsum rückläufig ist, und in Afrika, einem der Zu- kunftsmärkte. Seite 66
DER SPIEGEL Nr. 36 / 1. 9. 2018 3 Wehretat /Zuwenig Personal iu nrg überfordern Visum anträge Sozialpolitiker gesehen: Moderne Narzissten Widerspruch von deneigenen opfer Schutz junger Missbrauchs - den besseren schen ausräumen Flüchtlingen undEinheimi- ständnisse zwischen Zohre Esmaeli willMiss ver- afghanische Model Nahles verteidigt im Volker Kauder Aufstand gegen Fraktionschef Protokoll Union Gesundheit Justiz Soziales Regierung Karrieren Meinung Extremismus Flügels, zum CDU- konservativen Spahn, dieNummer einsdes ein rechtes Problem hat SPIEGEL Beamten Balkan Botschaften aufdem für Abschiebungen / Rechnungshof kritisiert die Europawahl ziehen Manfred Weber in will mitdemCSU-Politiker Leitartikel Olaf Scholzbekommt überall attackiert dieGrünen und Rentenpläne 4 . Neue Plänefür Der dilettantische . . SPD-Chefin Andrea Im Zweifel links/So Das deutsch- -Gespräch ihre . Die Union Deutschland Finanzminister Chemnitz ist Wie sichJens mitfühlenden Warum Sachsen Titel wandelt ...... 40 37 34 33 30 29 26 22 10 8 6 Klimaschutz über denDingen zu schweben. SPD-Chefin Nahles legtim Rentenstreit nach.Um halten, will siemehrSteuergeld indie Sozialkassen Neonazis dieStraßen, zeigen denHitlergruß und Nachdem inChemnitzeinAsylbewerber einen Sachsen sindwiedereinmalüberfordert. »Der Sozialstaat war behäbig« das gesetzliche Altersgeld langfristigstabilzu bedrohen Migranten. Politik undPolizei in Sachsen undderrechte Mob Deutschen erstochen haben soll, belagern 72.Jahrgang 72.Jahrgang lenken. DenGrünenwirft sievor, beim Inhalt | Heft 36 | 1.September 2018 1.September
HERMANN BREDEHORST / DER SPIEGEL Seite 10 Seite 30
MICHAEL TRAMMER / IMAGO mit 61 Katzen zusammenlebte, fährlichkeit von Zucker Kindheit unddieGe - Guido Riegel überseine mit Haribo-ChefHans Suchtmittel Süßwaren Autoindustrie Arbeitsmarkt Kolumne Schicksale Geschichte Eine Meldungundihre Immobilien seine Würde verloren?seine Würde Rotlichtmilieu Knopfdruck /Hatdas Lebenspartner auf Früher schlechter: war alles Zu wenig Fluglotsen als Dreckschleudern / Wirkung /Feuerwehrautos Trumps Strafzölle zeigen urteilt Menschen pflegebedürftiger über Zustand undZukunft eines Gutachters, der Euro zahlen soll 50000 der USA kam es aufdieFlugverbotsliste als erlebte, Ehepaar begehrten Fachkraft wurde ling ausSyrien zur mit Seeblick Usedom Filetgrundstücke sicherten sichauf den Griff neuen Abgastest nichtin die Probleme mitdem Reisen der Zigarettenindustrie Doppelstrategie E SIGL Nr.36/ 1.9.2018 SPIEGEL DER . Was einStuttgarter Leitkultur . Gesellschaft SPIEGEL Wirtschaft Aus demAlltag Eine Frau, die CDU-Politiker Die fragwürdige . Wie ein Flücht- VW bekommt . . -Gespräch . . . . . 66 62 61 58 56 54 48 47 46 44 42 Ausland Kosmologie Leben wir in einem Universum, Polen will neue das es eigentlich gar nicht Reparationsmilliarden von geben kann? ...... 104 Deutschland fordern / Chinas Militärhilfe für Geschichte Warum Schweinen, Afghanistan ...... 72 Hunden und Ochsen bis in die Frühe USA Die Geschichte der Neuzeit der Prozess Honduranerin Levis gemacht wurde ...... 106 und ihres sechsjährigen Sohns Samir, die Donald Trump brutal Kultur voneinander trennen ließ . . . 74 Florian Illies wird Chef Diplomatie SPIEGEL-Gespräch des Rowohlt Verlags / mit Wolfgang Ischinger, Gefährdet eine Erdoğan- dem Vorsitzenden der Statue in Wiesbaden Münchner Sicherheitskon - die öffentliche Ordnung? /
ferenz, über eine aus RUSSLAN FÜR DEN SPIEGEL Kolumne: Besser weiß den Fugen geratene Welt . . . 82 ich es nicht ...... 108
Analyse Machtkampf im Enthemmt und brutal Autoren Auf Safari mit Vatikan ...... 85 dem schwedischen Die Eskapaden einer Clique junger Springreiter Erfolgsschrift steller Jonas Essay Der gute erschüttern die deutsche Reiterliche Vereinigung. Jonasson ...... 110 Republikaner – US-Autor Es geht um Alkoholexzesse und den Verdacht Roger Cohen zum Literatur SPIEGEL-Gespräch Tod von John McCain ...... 86 der sexuellen Nötigung und Vergewaltigung. Zwei mit dem Schauspieler Staatsanwaltschaften ermitteln. Seite 92 Burghart Klaußner über Russland Eine neue Generation seinen ersten Roman, junger, gut ausgebildeter der von der Magie des Auf- Technokraten rückt in poli- bruchs handelt ...... 114 tische Spitzenämter auf . . . . 88 »So kann man nicht führen« Pop Die britische Sängerin Anna Calvi verwischt Sport Der deutsche Diplomat Wolfgang Ischinger die Unterschiede zwischen bezeichnet die Weltlage im SPIEGEL-Gespräch Männern und Frauen ...... 118 Wo die besten Tennisspieler als »Epochenbruch«. Er kritisiert Deutschlands herkommen / Magische Islamkritiker »Feindliche Über- Momente: US-Boxprofi Curtis zögerliches Handeln und fordert eine europäische nahme«: Die große Harper über seine Außen- und Sicherheitspolitik. Seite 82 Sarrazin-Show geht wieder Flucht aus dem Ring ...... 91 los ...... 120
Affären Saufgelage, Über- Serienkritik Die verunglückte griffe – eine Clique Netflix-Produktion von Jungstars wird zum »Insatiable« ...... 123 Problem für den deutschen Springreitsport 92
Wissenschaft
Mehr Querdenker durch Großfamilien / Woher einst die Aubergine kam / Glosse: Der Herr der Gezeiten und der Uhrzeiten ...... 98 Herr der Gummibärchen Bestseller ...... 122 Schicksale Wie der junge Als Kind ist er in die Fabrik seines Vaters gegangen Impressum ...... 124 Maler Marc Jung und in den Drageekesseln Karussell Leserservice ...... 124 mit der Bedrohung lebt, gefahren. Jetzt ist Hans Guido Riegel selbst Chef Nachrufe ...... 125 vielleicht schon in Personalien ...... 126 wenigen Jahren sterben von Haribo. Ein Gespräch über Briefe ...... 128 zu müssen ...... 100 Zucker, Werbefiguren und Verantwortung. Seite 62 Hohlspiegel / Rückspiegel . . 130
5 Das deutsche Nachrichten-Magazin
Nach Chemnitz
Leitartikel Die Ausschreitungen von Neonazis müssen Politik und Bürgern ein Weckruf sein.
hemnitz ist ein Wendepunkt. Die Jagd auf Auslän- Verschiebungen in der Gesellschaft teilnahmslos und auf der, die Hemmungslosigkeit, mit der Neonazis und erschreckende Weise unpolitisch begleiteten. So ist die C ihre bürgerlichen Sympathisanten die Straße mangelnde Gegenwehr auch die Folge einer neuen Bieder- eroberten und eine Pogromstimmung entfachten, meierlichkeit, des Rückzugs in die private Behaglichkeit, in während die Polizei zusah, all das ist die Folge einer der, je nach Milieu, alles Mögliche relevant ist, der Zustand schleichenden Wiederannäherung Deutschlands an seine des Golfrasens, die Qualität der Yogakurse oder der Omega- braune Vergangenheit. 3-Anteil gewisser Nahrungsmittel. Es sind Probleme aus Von den vielen kleinen Zivilisationsbrüchen der vergange- einem saturierten Paralleluniversum, das um sich selbst nen Jahre war Chemnitz der heftigste. Bilder von Deutschen, kreist und in dem Flüchtlinge schon deshalb kein Problem die den Hitlergruß zeigen und Migranten bedrohen, gingen darstellen, weil es keinerlei Konkurrenzsituation und kaum um die Welt. Das gab es zwar schon, aber im Gegensatz zu Berührungspunkte gibt. In der Weimarer Republik war es den Gewaltexzessen in Hoyerswerda, Rostock oder Solingen auch die lethargische Mehrheit, die den Lauten und Radi- Anfang der Neunzigerjahre erfah- kalen die Straße und den Diskurs ren die heutigen Neonazis Rück- überließ, bis aus dieser Mehrheit halt aus Teilen des Bürgertums und eine Minderheit wurde. der Politik. Die AfD-Führung hat Der andere Teil einer einst die rassistische Gewalt nach der stabilen Mitte hat die Distanz tödlichen Messerattacke auf einen aufgegeben, die es früher zwi- Chemnitzer Bürger als »Selbstver- schen Konservativen und extre- teidigung« bagatellisiert und somit men Rechten gab. Diese Bürger legitimiert. Das macht die Situa - setzen falsche Prioritäten, sie tion weit gefährlicher als damals. üben legitime Kritik etwa an der Es mag kulturelle und histori- Flüchtlingspolitik, vernachläs- sche Gründe geben, warum die sigen aber die Verteidigung der Ideologie der Rechtsextremen in Demokratie selbst. Statt die Sachsen auf sehr fruchtbaren Grenze zwischen Kritik und De- Boden fällt. Aber die Renaissance struktion zu wahren, machen des Braunen ist kein sächsisches sie gemeinsame Sache mit den Phänomen. Chemnitz schlummert Radikalen, meist still, immer überall. öfter aktiv. In der aktuellen Ver-
Entscheidend ist nun, ob PRESS / ACTION VOLMAR TOBIAS fassung des Bürgertums wird Chemnitz das Ende einer geistig- diese Gesellschaft nur schwer unmoralischen Wende markiert, wieder ins Gleichgewicht finden. die mit Thilo Sarrazins erstem Buch begann. Oder ob es den Es braucht nun einen Aufstand der eigentlich Anständi- Auftakt zu einer antiliberalen, gar neofaschistischen Ära bil- gen, aber zuletzt Lethargischen. Es braucht Lichterketten, det. Ob Chemnitz zum Weckruf für Politik und Bürger wird, Demonstrationen, öffentliche Aufrufe, Konzerte, alles, was dem Rechtsruck bei gleichzeitiger Diskreditierung der Demo- laut und sichtbar ist. Abgeklärte Zyniker werden die Augen kratie entgegenzutreten. Oder ob jene, die Gegenwehr leis- rollen. Aber auch Abgeklärtheit und Zynismus sind in Zei- ten könnten, weiter in staatsbürgerlicher Apathie verweilen. ten wie diesen Helfer der Feinde einer liberalen Demokra- Versagt haben die Politik und ihre Organe. Die sächsi- tie. Natürlich machen Demos aus Nazis keine Demokraten. sche Polizei war, trotz Warnungen, so schlecht auf die Aber sie zeigen all den Schwankenden, dass es eine Alter- Aufmärsche vorbereitet, dass man sich unweigerlich fragt, native zu den Forschen und Lauten gibt. Erich Kästner hat was die Beamten beruflich machen und welche Politiker gesagt, dass die Nazizeit spätestens im Jahr 1928 hätte be- die Verantwortung für derartige Einsätze tragen. Aber die kämpft werden müssen, zu einer Zeit, als alles noch stabil Mitschuld der Politik reicht tiefer. Sie trifft eine Landes- wirkte, als es zwar Eruptionen des Hasses gab, wie jetzt in CDU, die das Problem des Rechtsextremismus bis heute Chemnitz, diese aber noch als Einzelfälle verniedlicht wer- verharmlost. Sie trifft auch CSU-Vorsitzende und Minister- den konnten. »Man darf nicht warten, bis aus dem Schnee- präsidenten, die Vokabular und Themen der Extremen ball eine Lawine geworden ist. Man muss den rollenden übernahmen und deren Anliegen so salonfähig machten. Schneeball zertreten. Die Lawine hält keiner mehr auf. Sie Versagt hat aber auch die Mitte der Gesellschaft, egal ruht erst, wenn sie alles unter sich begraben hat.« ob es die sogenannten Groß- oder Kleinbürger waren. Die Markus Feldenkirchen einen, weil sie als aktive Staatsbürger leider ausfielen. Weil sie die Demokratie als selbstverständlich empfanden ‣ Lesen Sie auch auf Seite 10: In Chemnitz lässt sich erahnen, und darüber deren Verteidigung verschliefen. Weil sie die was geschieht, wenn Rechte an Macht gewinnen.
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Jakob Augstein Im Zweifel links Warum moderne Narzissten es so schwer haben
Ausgerechnet dieser Papst G Man kennt das ja. Du wachst mor- gens auf, bist noch müde, hast einen Von Gott weiß man nicht Ich finde, man soll von niemandem sehr anstrengenden Job, alle zerren viel. Nur dieses: Wenn es Unmögliches verlangen. Immerhin an dir. Also möchtest du dich irgend- ihn nicht gäbe, würde er besitzt das Christentum seine ver- wie aufheitern. Narziss guckte sich in fehlen. Ich finde, das gilt krampfte Sexualmoral spätestens seit solchen Momenten sein eigenes Spie- auch für den Papst und Ter tullian – und der ist um das Jahr gelbild in einem Teich an. Wunder- überhaupt für die katholi- 220 gestorben. Eher vergessen die Mus- schön war das. Moderne Narzissten sche Kirche. Bei mir bewirkt die lime die Geschichte mit den 72 Jung- wanken ins Wohnzimmer, klappen inkarnierte Anziehungskraft der Ritua- frauen im Paradies, als dass die katholi- den Laptop auf und denken: Google le mehr als der habermassche Zwang sche Kirche ihren Frieden mit dem ich mich doch mal kurz selbst. des besseren Arguments. Ich mag den Sex macht. Und dann fallen sie fast um: Da Papst. Im Moment gibt es sogar zwei. Dennoch hatte der neue Papst vie- gibt es Leute, die sie als Idioten Der amtierende hat jetzt etwas ge- len Hoffnung gemacht. Vor ein paar beschimpfen! Dabei haben sie doch sagt, das man eher vom zurückgetrete- Jahren sagte er: »Wenn jemand homo- gar nichts gemacht, außer ein biss- nen erwartet hätte: Bei jüngeren Kin- sexuell ist und Gott sucht und guten chen Wahlkampfbetrug mit Russ- dern mit homosexuellen Neigungen Willens ist, wer bin ich, über ihn zu ließe sich »noch vieles machen, mit richten?« Das fand ich ziemlich christ- der Psychiatrie etwa«. Mit der lich. Damals begann ich, diesen Papst Homosexualität und der katholischen zu mögen, diesen fußwaschenden, un- Kirche ist es so eine Sache. Da muss orthodoxen, beinahe volksfrommen man sich nur den »Calendario Roma- Seelsorger im Vatikan. Und ausgerech- no« kaufen, der die schönsten Priester net dieser Papst offenbart nun ein tief Roms zeigt. Benedikt, der die Schön- sitzendes Missverstehen der Homose- heit italienischen Schuhwerks ebenso xualität, pathologisiert eine sexuelle zu schätzen wusste wie die Feinheit Orientierung – das hätte ich ihm nicht theologischer Disputationen, hielt es zu getraut. Was nun? seinerzeit sogar für nötig klarzustellen, Vielleicht wird ja eines Tages aus land, ein kleines Klimaabkommen dass praktizierende Homosexuelle Jorge Mario Bergoglio, dem Sohn ei- gekündigt, ein paar Handelskriege keine Priester sein können. nes kleinen Lebensmittelhändlers aus vom Zaun gebrochen. Vermutlich waren einige logisch be- Buenos Aires, doch noch der Franzis- Der moderne Narzisst hat es sehr sonders versierte Kandidaten auf die kus, den wir uns wünschen. Der Theo- schwer. Man konnte es diese Woche Idee gekommen, wenn Sex zwischen loge Karl Barth hat den Glauben mit an Trump sehen. Der googelte sich Männern laut christlicher Lehre nicht einem Vogel im Flug verglichen – bei- selbst, und es kam einfach nicht das als sexuelle Handlung akzeptiert wird, de könne man nicht anhalten. korrekte Bild, alles war komplett könne er als solche auch nicht sank - verzerrt, offensichtlich waren böse tioniert werden. Dieses scholastische An dieser Stelle schreiben Jakob Augstein, Jan Mächte am Werk. Es tat weh. Tech- Schlupfloch wurde gestopft. Fleisch hauer und Markus Feldenkirchen im Wechsel. nologie macht einem doch den gan- zen Selbstwert kaputt. Trump will jetzt dagegen vorgehen. Kittihawk Schlaue Menschen wie Bill Gates oder Mark Zuckerberg haben all das längst begriffen und beschränken den Zugang ihrer Kinder zur moder- nen Technologie strikt. Eine der beliebtesten Privatschulen im Silicon Valley ist eine Waldorfschule, die unter Zwölfjährigen Smartphones verbietet und den Kindern der Avant- garde von Ebay, Apple und Uber das Nähen und Holzschnitzerei beibringt. So gesehen könnte der US-Präsi- dent es noch mit einer altmodischen Trump-Statue versuchen, in Gold. Doch auch da besteht die Gefahr der Demontage, wie das Beispiel Erdoğan in dieser Woche gezeigt hat. Nicola Abé
8 DER SPIEGEL Nr. 36 / 1. 9. 2018 WIR LIEFERN DIE EINZIGE SPRACHE, DIE JEDER VERSTEHT, IN DIE GANZE WELT.
Für den weltgrößten Online-Musikhändler Thomann liefern wir jeden Tag mehrere Tausend Instrumente an Musikliebhaber in über 120 Ländern der Welt. So helfen wir Thomann, seine Leidenschaft für die universelle Sprache der Musik mit anderen zu teilen. Wie bei diesem Trompeter.
Das ist die Stärke des globalen Handels. Und DHL macht ihn möglich. globaltrade.dhl Titel »Wer das Sagen hat« Extremismus In Chemnitz bedrohen Neonazis und Hooligans Migranten. Politiker wollen härter gegen Radikale vorgehen und wirken doch hilflos. Die Geschehnisse in Sachsen geben eine Ahnung davon, was passiert, wenn Rechte an Macht gewinnen.
rei Orte in Deutschland, drei Ver- Boden, andere bedrohen Menschen, die Gesichtern, die meist Ordinäres rufen, ge- brechen. Freiburg, am 16. Okto- sie für Flüchtlinge halten. Am Abend da- gen ankommende Flüchtlinge oder die an- D ber 2016, der afghanische Asyl- rauf versammeln sich 6000 Rechte und kommende Kanzlerin. Die Migranten an- bewerber Hussein K. vergewal- Sympathisanten. »Wir kriegen euch alle«, greifen und durch die Stadt hetzen, die tigt eine 19-jährige Studentin, lässt sie schallen die Rufe, mancher zeigt den Hit- Asylbewerberheime anzünden oder in die bewusstlos am Ufer eines Flusses liegen, lergruß. In Chemnitz, so ist die Botschaft, Luft jagen wollen, die sich anscheinend in dem sie dann ertrinkt. Über Wochen ist haben Neonazis und Hooligans die Deu- von allem Menschlichen verabschiedet ha- die Beklemmung in der Stadt zu spüren. tungshoheit über die Tat gewonnen. ben, von der zivilisierten Auseinanderset- Eine Demonstration wird angemeldet, ge- Drei Taten, drei Reaktionen. Es gibt Ge- zung und auch vom politischen System der gen die Flüchtlingspolitik der Bundesre- meinsamkeiten: Wut, Empörung, Trauer, repräsentativen Demokratie. In ihren Köp- gierung, doch nur wenige schließen sich Ressentiments gegenüber Fremden und fen träumen sie vermutlich von einem an- an. Der Täter wird sechs Monate später auch die Frage, ob diese Taten in Verbin- deren Modell, nationalistisch, monoeth- zu lebenslanger Haft mit Sicherungsver- dung stehen könnten mit einer Flüchtlings- nisch, autoritär und antiliberal, ein biss- wahrung verurteilt, danach schwindet die politik, die das Land seit drei Jahren auf- chen wie Trump, ein bisschen wie Orbán. Beklemmung. Freiburg, so ist die Bot- wühlt und spaltet. Doch in Freiburg und Die Krakeeler stellen, ohne Frage, bei schaft, will liberal bleiben, trotz dieser Tat. Offenburg dominieren die Besonnenen, Weitem nicht die Mehrheit in Sachsen. Aber Offenburg im Westen Baden-Württem- die die Verbrechen als das sehen, was sie sie sind in diesen Tagen lauter als die Mehr- bergs, am 16. August 2018, ein 26-jähriger sind: Einzelfälle, traurig genug, doch nicht heit. Welche Wirkung sie haben, liest man Somalier ersticht einen Allgemeinmedizi- das Produkt einer verfehlten Politik. derzeit in kleinen Meldungen. Die Werbe- ner in dessen Praxis, eine Arzthelferin In Chemnitz dagegen formiert sich ra- agentur Wurzelschläger & Friends kündigte muss es mit ansehen. Ein Landtagsabge- sant eine Kampftruppe aus Neonazis, Hoo- an, sich aus der Bewerbung für die Image- ordneter der AfD schreibt der Landes- wie ligans, aus AfD-Anhängern und sogenann- kampagne der Investregion Leipzig zurück- der Bundesregierung »durch ten besorgten Bürgern, die zuziehen. »Unserer Meinung nach ist das ihre verfehlte Migrationspoli- alle Migranten in Sippenhaft Image Sachsens weltweit so nicht mehr ver- tik die direkte Mitschuld am nehmen und sie zu Freiwild mittelbar«, schreiben die Werber. Es ist eine Tod des Arztes« zu. erklären. Die Bilder, die sie Bankrotterklärung an den Freistaat, der ei- Die Partei ruft zu einem 56% schaffen, erinnern an über- nerseits als Musterschüler gilt, mit bester Protestmarsch auf, ein paar der Befragten in wunden geglaubte Zeiten, Wirtschaftslage, besten Pisa-Ergebnissen, Hundert kommen, doch es Sachsen meinen: an Rostock-Lichtenhagen, wo besten Besucherzahlen und der zweitnied- sind genauso viele Gegende- »Die Bundesrepublik 1992 ein Mob ein Wohnheim rigsten Arbeitslosigkeit in den fünf neuen ist durch die vielen monstranten. Später geden- für vietnamesische Arbeiter Ländern, der andererseits aber das braune Ausländer in einem ken gut 400 Menschen, da- gefährlichen Maß in Brand setzte und Nachbarn Sorgenkind ist. runter Asylbewerber wie überfremdet.« applaudierten. Der Mob ist Sachsen ist der Nährboden, aus dem Pe- Nachbarn, in einem stillen wieder da, sagen diese Bil- gida entwuchs und auf ihm bis heute ge- Trauermarsch dem beliebten der, so wie vor 26 Jahren. Wir deiht. Nur in Sachsen bekommt die soge- Arzt. Ein Verwandter des Ge- sind da, wo wir schon einmal nannte islamkritische Bewegung noch jede töteten veröffentlicht einen waren. Woche Hunderte Sympathisanten auf die Brief, gerichtet an den AfD- 62% Das Entsetzen darüber Straße. In Sachsen werden Reporter von Politiker. Der Arzt habe »zur denken: hörte man in vielen Stimmen, Demonstranten angegangen, wie zuletzt Integration beigetragen und »Die meisten hier der Kanzlerin, des Bundes- in Dresden von einem Angestellten des nicht wie Sie Hass und Ab- lebenden Muslime präsidenten, von Wirtschafts- Landeskriminalamts, dessen Deutschland- scheu gepredigt«. Offenburg, akzeptieren nicht vertretern, man hörte es in hut zur Ikone des rechtsdumpfen Protests unsere Werte.« so ist die Botschaft, lässt nicht den ratlosen Kommentaren wurde – bevor der Hitlergruß aus Chem- zu, dass die Tat politisch miss- im Ausland. Der hässliche nitz ihn ablöste. braucht wird. Deutsche, rassistisch, auslän- In Sachsen macht in zuverlässiger Re- Chemnitz, am 26. August derfeindlich, voller Ressenti- gelmäßigkeit auch die Polizei von sich re- 2018, der Iraker Yousif A. 38% ments, er ist zurück. Seine den, weil sie Journalisten von ihrer Arbeit und der Syrer Alaa S. werden sind der Meinung: Bühne fand er in Sachsen, abhält oder nicht genügend Kräfte vorhält verdächtigt, gegen drei Uhr »Muslimen sollte wieder einmal. Warum nur und deshalb oft tatenlos zusieht, wenn die nachts einen 35-jährigen die Zuwanderung immer Sachsen? Rechten marschieren und randalieren. Deutschkubaner erstochen nach Deutschland Bautzen, Freital, Heide- Rechtsextremismus sei ein bundesweites zu haben. Nur Stunden nach untersagt werden.« nau, Clausnitz und nun also Phänomen, kein spezifisch sächsisches, das der Tat marschieren 800 De- Umfrage von dimap; »Sachsen- Chemnitz, diese Orte stehen war jahrzehntelang das Mantra der politi- Monitor« im Auftrag der Sächsischen monstranten durch die Stadt, Staatskanzlei; 1006 Befragte vom für Szenen aufgebrachter schen Führung in Sachsen, wenn die Kritik einige stoßen Polizisten zu 20. Juli bis 24. August 2017 Menschen mit wutverzerrten zu nahe kam. Das ist halb richtig und halb
10 DER SPIEGEL Nr. 36 / 1. 9. 2018 SEAN GALLUP / GETTY IMAGES SEAN GALLUP Demonstranten in Chemnitz am Montag: Nach rechts orientieren
11 Titel JAN WOITAS / DPA WOITAS JAN Gedenkstätte für Daniel H. am Tatort: »Die Proteste hätte er niemals gewollt« falsch. Sachsen ist zur Keimzelle für rechte rechte – und das alles mit Duldung bis noch ist vieles unklar, es war wohl Alkohol Aktivisten geworden, hier haben sie schon Förderung durch die sächsische CDU, voll- im Spiel. Yousif A., der mutmaßliche kurz nach der Wende rechte Strukturen ge- endet durch Pegida/AfD und gewaltberei- Haupttäter, soll unvermittelt auf Daniel H. festigt, in keinem anderen Bundesland ist te Neonazis.« eingestochen haben. H. erlag kurz darauf die AfD so erfolgreich: Nach jüngsten Um- Selbst wenn man Wolffs Analyse nicht im Krankenhaus seinen Verletzungen. fragen würde sie bei der Landtagswahl im in allem zustimmt, stellt sich die Frage: Yousif A. war in Annaberg-Buchholz nächsten Jahr 26 der insgesamt 60 Direkt- Was nur ist passiert in den 29 Jahren nach gemeldet, einem Ort mit Kühen auf der mandate gewinnen, jeder Vierte würde dem Mauerfall, in Ostdeutschland, in Sach- Weide und Fachwerkhäusern. In einem sein Kreuz bei der AfD machen. sen? Die Frage ist nicht wirklich neu, man Mehrfamilienhaus lebte A. in einer Flücht- Man kann nicht gewalttätige Hooligans muss sie aber wieder stellen, nach der lings-WG mit drei anderen, einem Syrer, und Neonazis auf eine Stufe mit durchaus Eskalation am vergangenen Wochenende. einem Iraker und einem Iraner. A. hatte bürgerlichen Wählern der AfD stellen. Einem Wochenende, an dem Chemnitz ein Einzelzimmer, obwohl er nur zweimal Und dennoch haben sie etwas gemein- eigentlich nur feiern wollte. im Monat zum Schlafen vorbeikam. Den sam: Sie alle fühlen sich als Teil einer Re- Der 875. Stadtgeburtstag stand an, die Rest der Zeit wohnte er in Chemnitz, wohl bellion gegen den Westen, gegen dessen Veranstalter erwarteten mehr als 250000 bei einem Kumpel. tradierte Parteien, gegen die »Lügenpres- Besucher, es gab sechs Bühnen, ein Rie- Auch wenn sie ihn nicht gut kannten, be- se«, überhaupt gegen die liberalen, uni- senrad, mehr als 200 Buden. Die Rapperin schreiben ihn seine Mitbewohner als netten versalen Werte einer aufgeklärten und Namika trat auf, bunte Lichtkegel bestrahl- Typen, der gern trank, manchmal zu viel. weltoffenen Gesellschaft. Die Szenen aus ten das Rathaus. Yousif A. kam Ende Oktober 2015 über Chemnitz sind nur der hässliche Rand ei- Auch Daniel H., 35, war auf dem Fest- die Balkanroute nach Deutschland, wie so nes schleichenden Prozesses, der Ent- platz unterwegs, zusammen mit Freunden. viele Menschen aus dem Irak und Syrien kopplung heißt. Daniel H., der Sohn eines Kubaners und in jenen Wochen, es war die Hochphase Die Gewalt in Chemnitz sei »der be- einer Deutschen, ist in Chemnitz aufge- der Flüchtlingskrise. wusst erzeugte Höhepunkt einer Entwick- wachsen, er arbeitete seit zwei Jahren bei Ursprünglich, so geht es aus den Akten lung, die seit fast 30 Jahren absehbar der Gebäudereinigung »Hausgeister«. Die über ihn hervor, wollten die Behörden den war«, schreibt Christian Wolff, der ehe- Kollegen mochten ihn, bei Freunden galt jungen Iraker nach Bulgarien zurückschi- malige Pfarrer der Leipziger Thomaskir- er als »Gute-Laune-Bär«, der anderen im- cken, sie gingen davon aus, dass er dort che, auf seiner Website. »Die systemati- mer mit einem Lächeln begegnete. bereits Asyl beantragt hatte. Bulgarien hat- sche Implementierung des völkisch-rechts- Nachts, gegen drei Uhr, ging die Clique te dem schon zugestimmt, es ist unklar, nationalistischen Denkens in zu vielen auf der Brückenstraße wohl zu einem warum es dennoch nicht zur Abschiebung Köpfen und Herzen, Verachtung der frei- Geldautomaten. Dort traf sie auf Yousif A. kam. Nach Ablauf einer Frist im Herbst heitlichen Demokratie, militante Frem- und Alaa S. Sie gerieten in Streit, vielleicht 2016 war Deutschland für ihn zuständig. denfeindlichkeit, Aushebelung der Grund- wegen Geld, vielleicht wegen Zigaretten, Zweimal befragte ihn das Bundesamt für
12 DER SPIEGEL Nr. 36 / 1. 9. 2018 MICHAEL TRAMMER / IMAGO Aufmarsch von Rechten in Chemnitz: Alte Strukturen für Aktionen mobilisieren
Migration und Flüchtlinge (Bamf), zuletzt der Erzgebirgsstadt nachts gegen halb an die Nachricht des Messerangriffs: Da- wenige Wochen vor der Tat, fast drei Jahre vier betrunken vor einen Schneepflug niel H. habe eine Frau vor einer sexuellen nachdem er eingereist war. und weitere Fahrzeuge und wurde wegen Belästigung geschützt. Obwohl die Poli- Yousif A. erzählte den Beamten, warum gefährlichen Eingriffs in den Straßenver- zei deutlich macht, dass es dafür keine er angeblich aus der nordirakischen Pro- kehr zu einer Geldstrafe verdonnert. Die Hinweise gebe, hält sich das Gerücht. Es vinz Ninive fliehen musste: Mit Politik Staatsanwaltschaft ging davon aus, dass passt gut ins rechte Klischee des triebge- oder dergleichen habe das nichts zu tun er sich bei der Aktion das Leben nehmen steuerten Flüchtlings. Es weckt die Wut, gehabt. Er sei dort in ein Mädchen verliebt wollte. die Menschen brauchen, um auf die Stra- gewesen und habe Ärger mit dessen Vater Alaa S., der mutmaßliche Mittäter, galt ße zu gehen. und Onkel bekommen. Sie hätten ihn be- als umgänglich, zumindest bei Mohamed Noch bevor es die erste offizielle Mit- droht und verprügelt und ihn sogar mit ei- Yousif, dem Chef des Friseurladens Zana teilung der Polizei gibt, ruft die Hooligan- nem Messer verletzt, das sei »so eine in Chemnitz. Er brachte S. das Haare- Gruppe »New Society 2004« auf Face- Würdeangelegenheit gewesen«, sagte er. schneiden bei. Sie kannten sich, weil sie book zum Protestmarsch auf, die Nach- Für sonderlich glaubwürdig hielt das aus derselben Stadt in Syrien kommen. richt wird im Netz viel geteilt. »Unsere Amt diese Geschichte nicht. Und noch et- »Da habe ich mich ein bisschen um ihn ge- Stadt – unsere Regeln«. Und: »Lasst uns was ließ es an seiner Wahrhaftigkeit zwei- kümmert«, erzählt Yousif. Dass er mit ei- zusammen zeigen, wer in der Stadt das Sa- feln: Gleich zwei Personalpapiere, die er nem Messer jemanden angreifen könnte? gen hat!« Treffpunkt: 16.30 Uhr vor dem vorlegte, waren laut einer Untersuchung »Das passt einfach nicht«, sagt Yousif. Nischel, so nennen die Chemnitzer ihr durch das Bamf »Totalfälschungen«. Mit Vor zwei Wochen war S. aus dem Nord- Karl-Marx-Denkmal. Aus Angst vor An- Datum vom 29. August 2018 lehnte die irak zurückgekommen, wo er vermutlich griffen auf Festbesucher brechen die Or- Behörde den Asylantrag des 22-Jährigen seine Eltern besuchte. Sein Vater engagiert ganisatoren das Stadtfest am Sonntagnach- ab – drei Tage nachdem er in Chemnitz sich für eine prokurdische Partei. »Ich mittag ab. zugestochen haben soll. habe ihn gefragt: Warum bist du zurück- Etwa 800 Menschen versammeln sich, Yousif A. war zu diesem Zeitpunkt be- gekommen?« S. habe geantwortet: »In nur wenige Meter vom Tatort entfernt. reits vorbestraft, unter anderem wegen Deutschland habe ich eine Zukunft.« Seit Ohne Absprache mit der Polizei marschiert Körperverletzung. Schon wenige Monate Dienstag nun sitzt S. in Untersuchungshaft. die Gruppe los, einige Teilnehmer skandie- nach seiner Einreise war er erstmals in den Er habe gegenüber der Polizei ausgesagt, ren »Wir sind das Volk«. Flaschen fliegen. Fokus der deutschen Justiz geraten. Und heißt es. Die Polizei ist unterbesetzt, überfordert. danach immer wieder. Nach der blutigen Tat dauert es keine Verstärkung aus Leipzig und Dresden wird Einmal sprühte er im Asylbewerber- fünf Stunden, da berichtet das Onlinepor- angefordert, doch die Amateurvideos der heim in Annaberg-Buchholz zwei Flücht- tal tag24.de, eine Boulevardseite: »35- marodierenden Gruppen verbreiten sich lingen Pfefferspray ins Gesicht. Ein an- Jähriger stirbt nach Messerstecherei in schnell im Netz. Neonazis bedrohen Men- deres Mal, im Februar 2016, rannte er in der City.« Schnell heften sich Gerüchte schen, die sie für Zuwanderer halten.
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Für den nächsten Abend ruft die rechte Allerdings falle ihm auf, dass sich auch in einigen Jahren eine »national befreite Gruppe »Pro Chemnitz« zum Protest auf seinem Freundeskreis immer mehr Men- Zone« errichten. Über Monate gab es An- und mobilisiert 6000 Menschen. Das schen nach rechts orientierten. schläge auf alternative Cafés und Klubs. Bündnis »Chemnitz Nazifrei« organisiert Chemnitz und sein Umland sind schon Eine Abgeordnete der Linken musste sich eine Gegendemonstration, 1500 kommen. seit der Wiedervereinigung eine Hochburg ein neues Büro suchen. Nach 20 Anschlä- Dazwischen eine schmale Polizistenkette, der extremen Rechten, auch wenn der Ver- gen hatte ihr der Vermieter gekündigt. aus 591 Einsatzkräften, teilweise stehen fassungsschutz derzeit nur 150 bis 200 An- Im Chemnitzer FC, dem örtlichen Fuß- sich die gegnerischen Demonstranten di- hänger in der Stadt zählt. Die im Jahr ballverein, tummeln sich unter den Fans rekt gegenüber. 2000 verbotene Organisation »Blood & viele Neonazis. »Es existieren enge Ver- Böller und Rauchgranaten fliegen, auch Honour« (B&H) hatte ihren sächsischen bindungen zwischen Hooligans und Ka- Pflastersteine. Teilnehmer vermummen Schwerpunkt in Chemnitz und vertrieb meradschaften«, sagt der Hooligan-Exper- sich oder recken den rechten Arm. Wieder von hier aus bundesweit rechtsextreme te Robert Claus. ist die Polizei überfordert und löst die De- Musik. Die Stadt war 1998 nach der Flucht Eine Gruppe stand dabei im Vorder- monstration nicht auf. Sie lässt den Zug aus Jena der erste Anlaufpunkt von Beate grund: »HooNaRa«. Die Abkürzung steht einige Hundert Meter durch die Stadt mar- Zschäpe, Uwe Mundlos und Uwe Böhn- für »Hooligans Nazis Rassisten«. Offiziell schieren und rät Migranten, nach Hause hardt, den späteren Mitgliedern des »Na- hat sich der militant-rechte Zusammen- zu gehen. tionalsozialistischen Untergrunds« (NSU). schluss bereits 2007 aufgelöst. Doch die Die Ereignisse haben inzwischen den Die Szene verfügt bis heute über eigene Netzwerke seiner Mitglieder sind bis heu- Generalbundesanwalt auf den Plan geru- Läden in der Stadt und mit PC Records te aktiv. fen. Nach SPIEGEL-Informationen hat der über eines der wichtigsten rechtsextremen Dazu zählt die Fangruppe »New Socie- Karlsruher Chefankläger Vorermittlungen Musiklabels in Deutschland. »An den Teil- ty«, deren Mitglieder sich »NS-Boys« nen- eingeleitet. Intern heißt es in Karlsruhe, nehmern der Ausschreitungen konnte man nen. Ihr Logo zeigt das Konterfei eines man sei »besorgt« ob der Geschehnisse in sehen, dass die alten Strukturen noch im- Hitlerjungen. Ebenso wie die rechte Fan- Sachsen. Demnach interessiert die Behör- mer für Aktionen mobilisierbar sind«, sagt gruppe »Kaotic« mobilisierten Anhänger de vor allem die schnelle Mobilisierung Ulli Jentsch vom Antifaschistischen Pres- der »NS-Boys« über ihre Kanäle die aktu- der Rechtsextremen bei den Protesten in searchiv aus Berlin. ellen Aufmärsche in Chemnitz. Zwar wer- Chemnitz. Es gelte nun herauszufinden, Der Verein beobachtet die bundesdeut- den die beiden Gruppen vom Verfassungs- ob sich dahinter Strukturen verbergen und sche Szene seit fast drei Jahrzehnten, auch schutz beobachtet und haben seit Jahren welche das sein könnten. Die Bundesan- in Chemnitz. Das Spektrum an Akteuren Stadionverbot. Dennoch gilt ihr Einfluss waltschaft ist unter anderem zuständig für in der Region sei groß. »Von Funktionären auf die gemäßigte Szene als groß. die Verfolgung von Terrorgruppen. der Neuen Rechten über völkische Fami- Im zweiten Obergeschoss einer Villa Generalbundesanwalt Peter Frank hatte lien, Reichsbürger bis zum Dritten Weg, scrollt Andreas Löscher durch Twitter und kurz nach seinem Amtsantritt im SPIEGEL der Neonazipartei, gibt es dort alles«, sagt Facebook, um Berichte von Attacken auf eine härtere Gangart gegen Rechtsextre- Jentsch. Immer wieder werden Scheiben Migranten zu finden und zu verifizieren. misten angekündigt. Sollte es bei Strafta- bei Initiativen eingeschlagen, die sich ge- Er arbeitet als Sozialpädagoge bei der Op- ten gegen Flüchtlinge zu »pogromartigen gen rechte Umtriebe engagieren. Im No- ferberatung der RAA Sachsen, einem Pro- Szenen«, Toten oder Schwerstverletzten vember 2016 explodierte ein Sprengsatz jekt, das Betroffenen rassistischer Gewalt kommen, müsse der Staat »ein Gegenfa- im Schaufenster des Kulturzentrums Lo- hilft. Auf einem Blatt Papier hat Löscher nal« setzen (SPIEGEL 6/2016). komov, nachdem dort ein Theaterstück eine Liste angefertigt. »Übersicht Angriffe Die rechten Demonstranten nehmen zum NSU aufgeführt worden war. Im 26.8.2018« steht dort. Ein Syrer wurde zu das Opfer der Messerattacke zum Anlass Stadtteil Sonnenberg, wo das Lokomov Boden gerissen und getreten. Ein weiterer für eine Machtdemonstration. Als Märty- beheimatet ist, wollten Rechtsextreme vor Syrer bedrängt. Ein Bulgare hat Anzeige rer im rechten Sinne eignet sich Daniel H. erstattet wegen Nötigung. Insgesamt hat aber nicht. Gutmütig, fröhlich, politisch Löscher sieben Angriffe am Sonntag ge- eher links, so beschreiben ihn seine Freun- Umfrage in Sachsen zählt, Montag kamen weitere elf dazu. de. Auf Facebook gefielen ihm Bob Marley Auf das, was hier in Sachsen erreicht wurde, »Das sind bislang nur vorläufige Zahlen«, und Sahra Wagenknecht, er folgte Grup- kann man stolz sein. sagt Löscher. Und doch ist er sich sicher: pen wie »Kein Bock auf Nazis«. »Diese So etwas hat er in Chemnitz noch nicht er- Stimme voll/eher zu Rechten, die das als Plattform nutzen, mit 87% lebt. Löscher, 37, kennt die rechtsextreme denen mussten wir uns früher prügeln, Die wirtschaftliche Lage in Sachsen ist besser als Szene der Stadt seit gut 20 Jahren. Im ver- weil sie uns nicht als genug deutsch ange- in den anderen ostdeutschen Bundesländern. gangenen Jahr zählte er 20 Übergriffe, im sehen haben«, schrieb einer der Bekann- Jahr 2016 waren es 32. In diesem Jahr rech- ten von Daniel H. auf Facebook. 70% net er mit einer Steigerung angesichts der Dieser Freund, der ebenfalls Daniel vielen Vorfälle in den vergangenen Tagen. Es sollte mehr Geld für die deutsche Einheit als für heißt, kannte ihn seit fast 20 Jahren. Als die Integration von Ausländern ausgegeben werden. Am Montag hatte Löscher voraus- Teenager lernten sie sich auf einer Party schauend eine Warnung auf Facebook ge- kennen. Sie einte, dass ihre Väter in der 58% stellt. Auf dem Profil der Beratungsstelle DDR studieren konnten, weil sie aus dem schrieb er um zwölf Uhr: »Auch wenn es sogenannten sozialistischen Ausland ka- Nach der Wiedervereinigung der beiden deutschen uns schwerfällt, diesen Gedanken auszu- Staaten wurde vielfach neues Unrecht geschaffen. men. Der Vater dieses Freundes stammt sprechen, empfehlen wir Migrant_innen, aus Tansania, H.s aus Kuba. »Daniel war 58% die Innenstadt ab Nachmittag großflächig der Typ Mensch, der für seine Familie und zu meiden.« Eine No-go-Area für Aus- seine Freunde alles getan hätte«, sagt der Die Ostdeutschen sind in Deutschland länder, mitten in einer deutschen Univer- Kumpel, »die Proteste hätte er niemals ge- Bürger zweiter Klasse. sitätsstadt? »Für uns als Opferberatung wollt.« Warum trotzdem Bekannte seines 44% gleicht es einer Kapitulation«, sagt Lö-
Freundes zu Rache aufrufen, kann er sich Umfrage von dimap; »Sachsen-Monitor« im Auftrag der Sächsischen scher. »Aber wir können doch nieman- nicht erklären. »Deppen gibt es überall.« Staatskanzlei; 1006 Befragte vom 20. Juli bis 24. August 2017 den in Gefahr bringen.«
14 DER SPIEGEL Nr. 36 / 1. 9. 2018 TOBIAS VOLMAR / ACTION PRESS / ACTION VOLMAR TOBIAS RICO LOEB / DPA LOEB RICO Proteste in Chemnitz, geplante Unterkunft in Bautzen, Bus mit Flüchtlingen in Clausnitz*: Sachsen, braunes Sorgenkind
Wie schnell es in Chemnitz gefährlich selbst gezimmerte Möbel im Garten, Kat- sie trauten sich nicht mehr auf die Straße werden kann, berichten zwei junge Frauen, zen, die herumstreunen. Das »Kompott« aus Angst vor kriminellen Ausländern. die sich Antonia und Marie nennen. Allein, war immer wieder Ziel rechter Angriffe. Das machte ihn ratlos. dass sie nicht ihre echten Namen gedruckt 2017 warfen Nazis Steine in die Schaufens- »Jeder Übergriff ist einer zu viel und sehen wollen, hat etwas mit dieser Gefahr ter des Lesecafés. Eine Mutter und ihr schrecklich für die Betroffenen«, sagt Run- zu tun. Sohn saßen dahinter, glücklicherweise blie- kel. »Aber in jeder Stadt mit 250000 Ein- »Chemnitz ist ein großes Dorf«, sagt Ma- ben sie unverletzt. wohnern kommt es leider zu Tötungsde- rie. »Rechtsextremen begegnet man hier, Angst scheint ein beherrschendes The- likten oder Vergewaltigungen. Dass Flücht- sobald man aus der Haustür kommt. ma in Chemnitz zu sein. Miko Runkel ist linge dabei eine besondere Rolle spielen, Rechts sein ist in Chemnitz für viele abso- seit zehn Jahren Ordnungsbürgermeister kann ich nicht bestätigen.« Im Jahr 2015 lut kein Problem. Aber wer hier sein Ge- von Chemnitz, davor war er Staatsanwalt musste Chemnitz die Erstaufnahme von sicht zeigt, um sich für linke Politik einzu- und Richter. Er sah in diesen Tagen Bürger Flüchtlingen für den ganzen Freistaat leis- setzen, der läuft Gefahr, bedroht zu wer- seiner Stadt, wie sie im Fernsehen sagten, ten. »Da hatten wir 70000 Geflüchtete in den«, sagt Antonia. der Stadt«, sagt Runkel. »Klar gab es da Die beiden Frauen leben im »Kompott«, auch mal Handgreiflichkeiten.« Aber mitt- * Unten links: nach dem Anschlag 2016; unten rechts: einem linksalternativen Kultur- und Wohn- bei Versuchen, Flüchtlinge am Einzug zu hindern, lerweile habe sich die Lage entspannt. Aus projekt: viele Graffiti an den Wänden, 2016. den letzten Jahren kann Runkel sich an
15 ODD ANDERSEN / AFP Schweigeminute für Daniel H. im Chemnitzer Stadion*: »Wir können diesen Kampf gewinnen« keine Tat erinnern, die mit der jetzigen Bei den schweren Verbrechen Mord und che das ist.« Sie stammte vom Sächsi- vergleichbar wäre. Im Kriminalpräventi- Totschlag sind die Fallzahlen so gering, schen Landeskriminalamt. ven Rat der Stadt sind herumlungernde dass Schwankungen im Zufallsbereich lie- Die besagt allerdings auch: Etwa ein Jugendliche verschiedener Nationalitäten gen können. Im vergangenen Jahr gab es Fünftel aller Tatverdächtigen, nämlich ein Thema und eine bessere Beleuchtung 27 Morde und 69 Fälle von Totschlag. Zwi- 18949, sind Nichtdeutsche, knapp die im Park, nicht Messerstecher. schen 2011 und 2014 wurden in ganz Sach- Hälfte davon wiederum sind Zuwanderer. Zuletzt investierte die Stadt jährlich sen jeweils um die 110 Vergewaltigungen Mehr als 7000 Taten gehen laut Polizei 80000 Euro in Projekte für Aufklärung, und schwere sexuelle Nötigungen ange- auf das Konto von 677 Intensivtätern über- Demokratie, Toleranz und ein weltoffenes zeigt. 2015, im Jahr der großen Flüchtlings- wiegend aus Libyen, Marokko, Tunesien Chemnitz. Videokameras werden gerade welle, waren es 81. Die Zahlen von 2017 und Georgien. installiert, eine mobile Polizeiwache ist sind wegen Veränderungen im Sexualstraf- In rund 17 Prozent aller Fälle ging es eingerichtet, als Anlaufstelle für die Bürger. recht und der statistischen Zählweise nicht um Körperverletzung, Sexualstraftaten »Die Sicherheitslage in Chemnitz ist gut«, mehr vergleichbar. machten 1,5 Prozent der Taten aus, Straf- sagt Runkel. Aber was sind schon polizeiliche Sta- taten gegen das Leben: 0,2 Prozent. Aber Trotzdem wurde schon vor dem tödli- tistiken? Drei sächsische Bundestagsab- wer sind die Opfer? In der Statistik stecken chen Angriff auf Daniel H. in der Stadt geordnete der AfD jedenfalls scheren sich viele Auseinandersetzungen in Flüchtlings- über nichts so heftig diskutiert wie über nicht darum, sie machten in einer Presse- unterkünften, häusliche Gewalt. Wie viele Kriminalität und angebliche No-go-Areas konferenz eine eigene Rechnung auf: Bür- Deutsche Opfer von Zuwanderern werden, in der Innenstadt. Gastronomen blieb die ger hätten Angst um ihre eigene Sicher- sagt die Statistik nicht. Kundschaft weg. »Aber wenn man die heit und die ihrer Kinder, befand der stell- Zugleich liegt Sachsen bei der Zahl der Leute fragt, ist ihnen selbst nie was pas- vertretende Fraktionsvorsitzende Tino rechten Gewalttaten seit Jahren bundes- siert«, sagt Runkel. »Da ist viel gefühlte Chrupalla. »Vor allem in der schweren weit in der Spitzengruppe. 95 davon gab Bedrohung.« Kriminalität, Mord, Raub, Vergewalti- es laut Verfassungsschutzbericht dort 2017. Die sächsische Kriminalstatistik gibt gung«, sei eine Zunahme zu erkennen. Diejenigen, die dafür zu sorgen haben, dem Ordnungsbürgermeister recht. Da- Eine ARD-Korrespondentin fragte, wie dass die Chemnitzer Bürger ohne Angst nach sank die Zahl aller Straftaten im Frei- dies damit in Einklang zu bringen sei, in der Stadt leben können, müssen zurzeit staat Sachsen im vergangenen Jahr leicht, dass laut Statistik die Gewaltkriminalität erklären, warum sie das Ausmaß der rech- um 0,5 Prozent. Weniger Wohnungsein- in Sachsen zurückging. »Ich kenne jetzt ten Proteste unterschätzt haben. Obwohl brüche, weniger Kfz-Diebstähle, weniger Ihre Statistik nicht«, sagte Chrupalla. der Verfassungsschutz vor einer »mittleren Raubdelikte. Die Zahl der Straftaten in »Die müssten Sie mir mal vorlegen, wel- vierstelligen« Zahl an Protestierenden ge- den Gemeinden entlang der Grenzen zu warnt hatte, verzichtete die Chemnitzer Polen und Tschechien ist auf dem niedrigs- * Mit Ministerpräsident Michael Kretschmer (l.) am Polizei darauf, Verstärkung anzufordern. ten Stand seit mehr als zehn Jahren. 30. August. Die »hässlichen Bilder« aus Chemnitz hät-
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ten nur mit »erheblich stärkeren Kräften« fen und sich ehrenamtlich in der Arbeit Neun Jahre später behauptete er, die verhindert werden können, sagt Jörg Ra- mit Flüchtlingen engagiert. Darüber hätten sächsische Bevölkerung sei »völlig immun« dek, der stellvertretende Bundesvorsitzen- die überregionalen Medien nur nicht mehr gegenüber den rechtsradikalen Versuchun- de der Gewerkschaft der Polizei. »Diese berichtet, sagt der 40-Jährige. gen. In Sachsen hätten noch keine Häuser hätten sicherlich auch aus anderen Bun- Er weiß aber auch darum, wie groß das gebrannt, es sei auch noch niemand ums desländern und dem Bund angefordert rechtsextreme Problem in Sachsen noch Leben gekommen. Tatsächlich waren zu werden müssen.« Doch nichts geschah. immer ist. »Politische Bildung und das An- dem Zeitpunkt seit der Wende fünf Men- »Wir haben die Lage unterschätzt«, räumte sprechen und Diskutieren kontroverser schen durch rechtsmotivierte Taten getötet ein Polizeisprecher ein. Themen in der Schule« sei lange verpönt worden. Die Opposition diagnostizierte Es ist nicht das erste Mal, dass die säch- gewesen. »Parteipolitische Neutralität wur- schon damals Realitätsverlust. sische Polizei im Verdacht steht, gegen de als gesellschaftspolitische Neutralität Statt sich um die radikale Jugend in sei- rechts nicht mit dem nötigen Willen und missverstanden.« Die neue Landesregie- nem Land zu kümmern, pflegte Bieden- der nötigen Kraft vorzugehen. Die Polizei, rung unter CDU-Ministerpräsident Micha- kopf, gern als »König Kurt« verehrt, lieber so versucht ein Vollzugsbeamter des Hö- el Kretschmer habe das Thema nun end- einen heimeligen Regionalpatriotismus. heren Dienstes die AfD- und Pegida-Nähe lich in den Fokus gerückt und ein umfang- Eine »Sachsen-Tümelei, die in vielschich- einiger Kollegen zu erklären, spiegele die reiches Bildungsprogramm namens W wie tiger Weise die Sachsen als ein besonders Gesellschaft wider und auch deren Ent- Werte in den Schulen aufgelegt. Auch habe intelligentes, besonders heimatverbunde- wicklung. Die gesellschaftliche Mitte ero- Sachsen ostdeutschlandweit eines der um- nes, ein besonders liebenswertes Volk mit diere, während die Ränder erstarkten. Da- fassendsten Präventionsprogramme. einer wunderbaren Natur, mit einer groß- von bleibe die Polizei nicht unberührt. Die sächsische CDU und der Umgang artigen Technikergeneration hervorge- »Der Spagat wird immer größer«, sagt der mit dem Rechtsextremismus ist über weite kehrt hat«, wie es Frank Richter be- Beamte, »man ist entweder Willkommens- Strecken die Geschichte eines Versagens. schreibt, Theologe, DDR-Bürgerrechtler extremist oder Nazi.« Selbst Marco Wanderwitz, heute Parla- und langjähriger Chef der Landeszentrale Hinzu kommen Frust und Arbeitsüber- mentarischer Staatssekretär im Bundes - für politische Bildung. Der Tenor sei ge- lastung, Anfang der Zweitausenderjahre innenministerium, sagt: »Wir haben als wesen: »Ja, möglicherweise sind wir dann hatte Sachsen damit begonnen, systema- CDU in Sachsen beim Rechtsextremismus doch besser als andere.« Von Selbstkritik tisch Stellen bei der Polizei abzubauen. Je- viele Jahre nicht richtig hingeschaut und keine Spur. des Jahr wurden weniger Beamte einge- nicht richtig hingelangt.« Unter Biedenkopfs Nachfolger Georg stellt, als im selben Jahr in Pension gingen. Es begann gleich nach der Wende, als Milbradt änderte sich das Engagement ge- Reviere wurden geschlossen, ganze Land- Regierungschef Kurt Biedenkopf dem gen Rechtsextremismus kaum. 2007 griff striche waren quasi ohne Polizei. Fortbil- Land mit einem Wahlergebnis von 53,8 im sächsischen Mügeln ein rechtsextremer dung gebe es in der sächsischen Polizei Prozent vorstand. Damals, im September Mob eine Gruppe Inder an. Die Behörden kaum noch, klagt Hagen Husgen, Landes- 1991, randalierten 500 Menschen in mochten keinen rechtsextremistischen vorsitzender der Gewerkschaft der Polizei. Hoyerswerda vor zwei Ausländerwohn- Hintergrund erkennen, Milbradt sorgte Die politische Bildung sei »komplett auf heimen, es gab gespenstische Szenen. Bie- sich um das Image. Es habe keine Hetzjagd null« gefahren worden. denkopf erklärte in einem Interview, die in Mügeln, sondern »eine Hetzjagd auf Es gibt in Sachsen aber auch positive Menschen im Osten seien mit dem Zusam- Mügeln« gegeben. Veränderungen, Sebastian Reißig weiß da- menleben mit Menschen aus anderen Kul- Stanislaw Tillich, dem die eigenen Leute von zu erzählen. Er ist Geschäftsführer turen halt nicht vertraut. Das Gespräch teilweise das genuin Sächsische abspra- der »Aktion Zivilcourage« und hat 22 gipfelte in der Erkenntnis: »Das eigent- chen, weil er zur sorbischen Minderheit ge- hauptamtliche Angestellte. Vor 20 Jahren liche Problem ist die Einwanderung.« hört, veränderte zumindest die Wortwahl. startete die Aktion als ehrenamtliche Ju- Im Juli 2015 plädierte er in einer Regie- gendinitiative im sächsischen Pirna, als rungserklärung für Internationalität und Reaktion auf die Wahlergebnisse der Prävention gegen Weltoffenheit. Gewalt und Hass gegen NPD und Gewaltaktionen rechtsextremer Rechtsextremismus Flüchtlinge verurteilte er scharf: »Ich er- Gruppen wie der Skinheads Sächsische Ausgaben des Bundes für das Programm warte, dass alle im Freistaat Sachsen dem Schweiz. Reißig, damals 21 Jahre alt, war »Demokratie leben!« 2016 und 2017* entschieden entgegentreten. Hier hört jede bei der Gründung des Vereins dabei. Heu- Toleranz auf.« Kurz darauf kam es zu den te vermitteln er und seine Mitarbeiter die Mecklenburg-Vorpommern Übergriffen in Heidenau. Wieder reagierte Grundlagen der Demokratie und eines pro 1000 Einwohner: 1845€ Tillich deutlich: »Das ist nicht unser Sach- respektvollen Miteinanders an Schulen sen. Hier verstößt eine Minderheit brutal und in Kitas. »Die Unterstützung des Thüringen gegen Werte und Gesetze Deutschlands.« Staates ist gewachsen, der Bedarf aber 1828€ Das Problem war nur, dass er inzwischen auch«, sagt Reißig. ständig derartige Erklärungen herausgeben Dass die Arbeit langfristig wirke, zeige Sachsen-Anhalt musste. Weil es ständig an einer anderen sich in Pirna, wo es eine Vielzahl von en- 1329€ Ecke im Freistaat brannte. gagierten Organisationen und eine gute Um zu verstehen, warum vor allem der Zusammenarbeit zwischen staatlich Ver- Brandenburg Osten die hässlichen Bilder jagender Nazis antwortlichen und bürgerschaftlich Enga- 1023€ bietet, muss man auf die Geschichte bli- gierten gebe. cken: Pogrome gab es bereits unter der Sachsen Ausgaben Auch aus Heidenau, wo Hunderte De- für alle Länder Herrschaft der SED. Der Berliner Histori- monstranten versucht hatten, den Einzug 709€ 2016/17 ker Harry Waibel hat die ostdeutschen Ar- rund von Asylbewerbern in eine Halle zu ver- Bundesdurchschnitt chive durchforstet und listet mehr als 8600 hindern, weiß Reißig ein positives Beispiel 42 Mio. € neonazistische, rassistische und antisemi- zu nennen. Hunderte Menschen aus der 514€ tische Propaganda- und Gewaltdelikte in
Region seien einem Aufruf der Aktion Zi- *abgerufene Förderbeträge der Kommunen der DDR auf, mindestens zehn Menschen vilcourage gefolgt, viele hätten mitgehol- Quelle: Bundestagsdrucksache 19/1012 starben.
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Zu Zeiten der SED waren Ausländer, tischtour«. Am Dienstag stand das Möbel Nachwuchs, selbst haben wir ja nicht ge- meist aus sogenannten Bruderstaaten des hoch oben über Meißen, im Ballsaal des nug gemacht.« Ostblocks, in eigenen Wohnheimen unter- einst königlich-sächsischen Burgkellers. Immer wieder wird die AfD zum The- gebracht. Eine Verbrüderung mit der ein- Der Raum ist gut gefüllt, an Duligs Kü- ma. Dulig hakt ein. »Unser größter politi- heimischen Bevölkerung war nicht ange- chentisch stehen acht Stühle. Die örtliche scher Gegner ist nicht die AfD. Es ist die strebt. Waibel zeigt auf, dass es in der SPD-Bundestagsabgeordnete sitzt dabei, Angst. Der müssen wir Hoffnung und Zu- DDR seit 1975 fast 40 rassistische Angriffe Dulig und Frank Richter, der gern Ober- versicht entgegensetzen.« auf diese Wohnheime gab. In der Bundes- bürgermeister von Meißen werden will. Das dimap-Institut befragte im Sommer republik wurde bis 1992 »kein rassistischer Die freien Stühle können von interessier- 2017 im Auftrag der Sächsischen Staats- Angriff eines Mobs auf Wohnungen von ten Menschen aus dem Publikum besetzt kanzlei rund tausend Sachsen. Die Ergeb- Ausländern« bekannt, so Waibel. werden. Die Regeln sind übersichtlich. nisse offenbaren eigentümliche Widersprü- Die Gründe, die der Wissenschaftler für Nicht dazwischenrufen, ausreden lassen, che: Die überwältigende Mehrheit der Be- die Überfälle anführt, klingen bekannt: So- kurz fassen, sachlich bleiben. fragten hält Sachsen für ein gut regiertes zialneid und sozialdarwinistische Anschau- Natürlich muss es in dieser Woche um Bundesland – doch hegt abgrundtiefes ungen. Den Fremden wurde die falsche Chemnitz gehen. »Es bedrückt mich sehr«, Misstrauen gegenüber den »Politikern«. Einstellung zur Arbeit vorgeworfen, ihre sagt Dulig im Burgkeller. Er habe Mitge- 81 Prozent wünschen sich mehr direkte Ordnungs- und Sauberkeitsgewohnheiten fühl mit den Angehörigen des Todesopfers. Demokratie, aber wenn es darum geht, als »ekelerregend« abqualifi- ziert. Die Unzufriedenheit vie- ler Deutscher über ihre eigene politische und ökonomische Situation habe sich in Aggres- sionen gegen die Migranten entladen. Die Staatsmacht im Osten drückte dabei regel - mäßig beide Augen zu. Selbst die Parolen waren die gleichen wie heute. 1987 trafen in Leipzig 50 Deutsche und 50 Araber aufeinander, die Meute rief: »Deutschland den Deutschen«, »Ausländer raus«, »Deutschland erwa- che«. In Merseburg bei Halle hatte 1979 ein rasender Mob Kubaner vor sich her und in die Saale getrieben. Zwei Ku- baner ertranken. Niemand wurde zur Verantwortung gezogen. Mit Zustimmung der DDR-Generalstaatsan- waltschaft wurde das Ermitt-
lungsverfahren eingestellt, KIETZMANN BJOERN »zumal keine erheblichen ge- Wandbild in Dresden: Der hässliche Deutsche, er ist zurück sundheitlichen und materiel- len Schäden vorliegen«. Nun tobt wieder der Mob, und ein SPD- »Doch niemand hat das Recht auf Selbst- sich selbst politisch zu beteiligen, halten Politiker glaubt, dass auf Dauer nur eines justiz.« Richtig sei aber auch: Man könne sie sich lieber fern. hilft, um die demokratische Gesinnung den Kampf gegen rechts nicht nur an die Als wichtigstes Problem, vor der Alters- wieder unters Wählervolk zu bringen: re- Politik delegieren. armut oder der Infrastruktur, nennen sie den. Der sächsische Wirtschaftsminister Eine Frau kommt an den Tisch und will »Asylpolitik« und »Überfremdung«. 56 Martin Dulig findet als einer von wenigen wissen, ob sie der AfD mit Buhrufen be- Prozent halten die Zahl der Fremden im seit Jahren klare Worte, wenn es im Frei- gegnen könne. Manchmal, sagt Frank Rich- Land jetzt schon für »gefährlich« – dabei staat zu rechten Ausschreitungen kommt. ter, könne man das ruhig tun. Aber die geben die meisten an, kaum je persönlich Das hat auch mit einer persönlichen Er- Rechten verfolgten die Strategie, die Ge- Kontakt mit Ausländern zu haben. 38 Pro- fahrung zu tun: Im Juni 2015 schlugen sellschaft in den Kampfmodus zu treiben. zent würden gern Muslimen die Zuwan- Rechtsextreme mit Baseballschlägern auf Da helfe mitunter die Vogelperspektive derung nach Deutschland untersagen. ein Auto ein, in dem sie Unterstützer einer und vor allem die inhaltliche Auseinander- Dabei sind die meisten Bürger mit ihrer Flüchtlingsunterkunft in Freital vermute- setzung. »Bei lautem Widerstand bekom- eigenen Lebenssituation – Arbeit, Wohnen, ten. Unter den fünf Insassen war Duligs men die, was sie wollen.« Freizeit – zufrieden, optimistisch blicken Sohn. Ein Gastronom, der Beschäftigte aus al- die Sachsen in die Zukunft. Aber zugleich Vor zwei Jahren hat Dulig deshalb sei- ler Herren Länder hat, beklagt, dass Men- sind sie zutiefst davon überzeugt, nicht das nen Küchentisch in den Dienst der aufklä- schen nicht von Ausländern bedient wer- Stück vom Kuchen abzubekommen, das rerischen Sache gestellt. Mit ihm reist der den möchten. »Ich sage denen dann, dann gerecht wäre. Beharrlich fühlen sich viele Minister übers Land, um zuzuhören und müsst ihr wieder gehen.« Er plädiert für Sachsen als Bürger zweiter Klasse. zu unterstützen. 44-mal war er schon un- Zuwanderung, erinnert an die Überalte- »Diese Ambivalenz ist typisch für Sach- terwegs, das Ganze nennt sich »Küchen- rung der Gesellschaft. »Wir brauchen sen«, sagt Hans Vorländer. Der Dresdner
18 DER SPIEGEL Nr. 36 / 1. 9. 2018 Politikwissenschaftler bietet dafür eine Er- und Organisationen –, fand in der DDR Stimme, erklären ihnen die Welt. Die Mig- klärung an, die das Gefühl der Kränkung nicht statt. Das Bürgertum definierte sich ranten nehmen uns die Arbeitsplätze weg, in den Mittelpunkt rückt. Die erste Krän- in seinen Nischen über Kunst, Kultur, Wis- sie bedrohen unsere Kultur, sie bedrohen kung verortet der Professor in der Ge- senschaft, Literatur. Bis die Fremden aus unsere Frauen. Die Migranten müssen schichte des Landes: »Es gibt ein spezifisch dem Westen kamen und vieles rücksichts- weg, damit es uns wieder gut geht.« sächsisches Opfer-Narrativ. Es wurzelt im los und oft arrogant nach ihren Regeln um- Die AfD profitiert nachweislich von die- Mythos der unschuldigen, schönen Barock- krempelten – so zumindest die Wahrneh- sem Opfer-Narrativ. Laut Umfragen von stadt Dresden, von angloamerikanischen mung derjenigen, die noch 1990 zu den Infratest dimap im Auftrag des MDR leg- Bomberverbänden in Schutt und Asche Verlierern gehörten. ten die Rechtspopulisten in ganz Mittel- gelegt.« Die Nazis pflegten diesen Mythos, Inzwischen, betont Vorländer, stünden deutschland deutlich zu: In Thüringen der SED-Staat ebenso. Mit jedem Gedenk- viele Bürger auf gegen rechts, unterstütz- kommt die AfD in der Sonntagsfrage ak- tag an die Zerstörung Dresdens am 13. Feb- ten Geflüchtete, wollten Hass und Gewalt tuell auf 23 Prozent, eine Steigerung von ruar 1945 habe sich das Lebensgefühl fes- als Zivilgesellschaft nicht hinnehmen. 10 Prozentpunkten gegenüber dem Vor- ter eingenistet, Opfer unkontrollierbarer »Auch wenn sie weniger sichtbar sind: Sie jahr. In Sachsen landet sie bei 25 Prozent Vorgänge geworden zu sein. sind die Mehrheit.« (plus 4 Prozentpunkte) – gerade einmal Dann kam die Wende und mit ihr eine An vielen Stellen trete nun ein Riss her- 5 Prozentpunkte hinter der CDU. Die töd- Invasion von Fremden: Wessis, die alle vor, der mitten durch die sächsische bür- liche Messerattacke von Chemnitz ist bei den Erhebungen noch gar nicht berücksichtigt; dass sie aber die Pro-AfD-Stimmung weiter anheizen wird, ist unbe- stritten. Schon seit Längerem su- chen sich die Rechtspopulisten gezielt geeignete Gewaltver- brechen heraus, um politi- sches Kapital daraus zu schla- gen. Die Wortwahl ihrer Pro- paganda übertrifft dabei nicht selten den Hetzjargon der rechtsextremistischen NPD. So behauptete die Chefin der AfD-Bundestagsfraktion, Ali- ce Weidel: »Das Abschlachten geht immer weiter.« Der AfD- Bundestagsabgeordnete Mar- kus Frohnmaier twitterte: »Heute ist es Bürgerpflicht, die todbringende ›Messermigra- tion‹ zu stoppen.« Er forderte indirekt zur Selbstjustiz auf: Wenn »der Staat die Bürger
IMAGO nicht mehr schützen« könne, Polizisten während der Aufmärsche in Chemnitz: Darauf verzichtet, Verstärkung anzufordern gingen »die Menschen auf die Straße und schützen sich selber«. wichtigen Positionen besetzten und sich oft gerliche Mitte geht. So etwa in Dresden Als Kritik an Frohnmaiers Tweet auf- aufführten, als seien sie in allem überlegen. in der Auseinandersetzung der Schriftstel- brandete, versuchte AfD-Chef Alexander Diesmal habe sich das kränkende Gefühl, ler Durs Grünbein und Uwe Tellkamp, Gauland zu beschwichtigen. »Selbstvertei- unschuldig zurückgesetzt und abgestraft zu beide in Dresden geboren, aber sie ver- digung ist mit Sicherheit nicht Selbstjustiz. werden, auf ganz Sachsen übertragen. stehen sich nicht mehr: Grünbein, der Nichts anderes ist gemeint.« In Hessen Und schließlich die dritte Kränkung: die Kosmopolit mit Wohnsitzen in Berlin und fühlten sich AfD-Funktionäre durch die Zuwanderung zahlreicher muslimischer Rom, und Tellkamp, der sein Leben haupt- Ereignisse in Chemnitz gleich zu einem Migrantinnen und Migranten im Jahr 2015, sächlich in seiner akademischen Turmge- Generalangriff auf die Pressefreiheit und aus der Wahrnehmung vieler Sachsen die sellschaft am Dresdner Weißen Hirschen einer massiven Drohung gegen unliebsa- nächste Fremdinvasion: »Da brach für vie- verbracht hat. »Zwei unterschiedliche me Journalisten ermuntert. le endgültig eine Welt zusammen, die sich Welten stoßen hier aufeinander«, sagt Vor- »Staatsberichterstatter« hätten »noch sächsisch definiert.« länder. »Begriffe wie Heimat und eine die Chance, sich vom System abzuwenden Aber die Landesregierungen hätten die- sehr stark regional bestimmte Identität und die Wahrheit zu berichten!«, schrieb se Kränkungen und den Ruck nach rechts, auf der einen Seite, kosmopolitische Of- die AfD-Fraktion des Hochtaunuskreises der sich daran anschloss, ignoriert, auch fenheit auf der anderen.« bei Frankfurt am Main am Dienstag auf die bürgerliche Mitte habe in weiten Teilen Da kämen AfD und Pegida ins Spiel, ihrer Facebook-Seite und fügte als deutli- stillgehalten. »Es fehlte der bürgerliche Re- »mit ihrer Projektion auf den Fremden, che Warnung an: »Bei uns bekannten Re- sonanzboden, der sich deutlich artiku- den Muslim, den Schwarzen aus Afrika, volutionen wurden irgendwann die Funk- liert.« Was im Westen nach dem Krieg der Frauen sexuell belästigt«, sagt Vorlän- häuser sowie die Presseverlage gestürmt Jahrzehnte brauchte – das Wachsen einer der. »Das ist es, was die Rechtspopulisten und die Mitarbeiter auf die Straße gezerrt. Zivilgesellschaft mit starken Institutionen schaffen. Sie geben den Menschen eine Darüber sollten die Medienvertreter hier-
19 Titel zulande einmal nachdenken, denn wenn Templin eine kleine, piefige Welt, die sie stattfand, übernahm er die Schirmherr- die Stimmung endgültig kippt, ist es zu schnell hinter sich ließ, als die Mauer fiel. schaft der Gegenveranstaltung. Bei dem spät.« Auch hier distanzierte sich der hes- Die Nostalgie, die viele Ostdeutsche nach Friedensfest vor Ort rief er den Menschen sische Landesvorstand, der Eintrag wurde der Wende befiel, teilte sie nicht, im Ge- zu: »Lasst uns gemeinsam ein starkes Zei- gelöscht. genteil: Sie konnte ihre Verachtung für chen setzen.« Der Kampf gegen Rechtsex- Dabei handelt es sich bei den martiali- jene, die die Chancen der neuen Zeit nicht tremismus sei dann erfolgreich, wenn er schen Kommentaren der AfD-Leute offen- ergriffen, nie ganz verbergen. aus der Mitte der Gesellschaft komme. bar nicht nur um spontane Verbalausfälle. Aber nichts hat die Ostdeutschen mit Dann reihte er sich in eine Menschenkette Vertrauliche Unterlagen aus dem AfD- Merkel so entfremdet wie die Flüchtlings- ein. Am 1. Mai stand er in Chemnitz bei Konvent belegen, dass parteiintern bereits krise. Natürlich formierte sich auch im der Kundgebung des DGB auf der Tribüne früh überlegt wurde, wie man spektakulä- Westen schnell Widerstand gegen ihre Po- und rief alle Bürger dazu auf, sich gegen re Gewaltverbrechen strategisch nutzbar litik der offenen Grenzen, aber nirgendwo Rechtsextremismus einzusetzen. machen könnte. war der Protest so hasserfüllt wie im Osten. So nahm man Kretschmer ab, als er So planten führende Politiker der hessi- Es war eine beidseitige Entfremdung: nach den Randalen von Chemnitz sagte, schen AfD im Spätsommer 2016, nach »is- Merkel hatte keinerlei Verständnis für jene dieses Ereignis »muss uns alle aufrütteln«. lamistischen Anschlägen mit Todesopfern spezielle Mischung aus Selbstmitleid und Und man dürfe »im Kampf gegen Rechts- oder Schwerverletzten« gezielt Stimmung Aggressivität, die den Fremdenhass im Os- extremismus nicht nachlassen«. Kretschmer kommt aus Görlitz. Gern verweist er auf die Stadt, wenn es um rech- te Phänomene geht. Anfang der Neunzi- gerjahre habe es dort eine starke rechtsex- treme Szene gegeben. Durch kluge Prä- vention mit Polizei, Staatsanwaltschaft und Schulen habe man »Ruhe hineinge- bracht«. Das Konzept will er auf den Frei- staat übertragen: »Wir können diesen Kampf gewinnen.« Es sind erstaunlich optimistische Ziele in diesen Tagen, in denen in Chemnitz die pu- re Angst vorherrscht. Als der Ministerprä- sident am Donnerstag zum Bürgerdialog nach Chemnitz kam, einem Termin, der schon lange geplant war, hatte »Pro Chem- nitz« wieder zum Protest eingeladen. Eine Gegendemo gab es nicht. Man könne die Sicherheit der Teilnehmer nicht garantieren. Chemnitz gleicht einer Stadt in einem Polizeistaat: Nachdem Sachsen um Hilfe gebeten hatte, schickte die Bundespolizei Hunderte Beamte, auch aus anderen Bun- desländern rückte Verstärkung an. Polizis-
SINGER/EPA-EFE/REX/SHUTTERSTOCK ten stehen nun fast an jeder Kreuzung. Ein Plakat bei Pegida-Demonstration in Dresden: Von Merkel doppelt verraten privater Sicherheitsdienst bewacht den Sit- zungssaal im Rathaus. Dennoch trauen sich ausländische Stu- gegen die Kanzlerin zu machen. Dazu, so ten gedeihen ließ. Viele Ostdeutsche wie- denten der Technischen Universität nicht heißt es in einem Antrag an den Parteikon- derum fühlen sich von Merkel gleich dop- aus dem Haus, um in die Bibliothek zu ge- vent, sollten »professionelle Plakate/Ban- pelt verraten: weil sie nie als Anwältin des hen. Die Ballettdirektorin des Theaters ner« mit der Aufschrift »DANKE, FRAU Ostens auftrat und dann plötzlich in der empfahl ihren Tänzern, nicht allein durch MERKEL!« beschafft werden, die nach At- Flüchtlingskrise ein Herz für Menschen die Stadt zu laufen. Viele stammen aus an- tentaten »an stark frequentierten Orten zeigte, die kein Wort Deutsch sprechen. deren Ländern. aufgehängt« werden könnten. Die Trans- Aus dem hässlichen Wort »Volksverräte- In Chemnitz ist gerade klar, wer den parente seien »im typischen ›AfD-Look‹ rin«, das Merkel nun überall im Osten ent- Kampf gewinnt. zu gestalten«, an Landes- und Kreisver- gegenschlägt, spricht nicht nur Wut, son- Matthias Bartsch, Maik Baumgärtner, bände zu verteilen und dort »vorrätig« zu dern auch eine seltsame Kränkung, die Jörg Diehl, Jan Friedmann, Lothar Gorris, halten (SPIEGEL 38/2016). sich aus dem Glauben speist, gerade Mer- Nils Klawitter, Martin Knobbe, Beate Es ist nicht ohne Ironie, dass gerade die kel müsse doch besondere Rücksicht auf Lakotta, Katharina Meyer zu Eppendorf, Ostdeutsche Merkel in Ostdeutschland so die komplexe Gefühlslage ihrer Landsleu- René Pfister, Christopher Piltz, Sven Röbel, Fidelius Schmid, Charlotte Schönberger, leidenschaftlich gehasst wird. Es gibt kaum te nehmen. Andreas Ulrich, David Walden, Wolf einen öffentlichen Ort, an dem die Kanz- Auch Michael Kretschmer, seit Dezem- Wiedmann-Schmidt, Steffen Winter lerin ungestört auftreten kann. Sobald sie ber 2017 als Ministerpräsident im Amt, erscheint, sind Menschen zur Stelle, die steht vor der Herausforderung, welchen Be- mit sich überschlagender Stimme »Volks- dürfnissen seiner Landsleute er nachgeben Animation: Wie es den Sachsen geht – verräterin« brüllen. soll und wo er die roten Linien zieht. Im und wie sie sich fühlen Merkel hat nie Rücksicht auf die Befind- Kampf gegen Rechtsextremismus ist der 43- spiegel.de/sp362018sachsen lichkeiten der Ostdeutschen genommen. Jährige erstaunlich klar: Als im April ein oder in der App DER SPIEGEL Die DDR war für die junge Physikerin aus Rechtsrockkonzert im sächsischen Ostritz
20 DER SPIEGEL Nr. 36 / 1. 9. 2018 Ein Jahr nach der Bundestagswahl – ein halbes Jahr GroKo Ralf Juergens Ralf Christian Thiel Susanne KraussSusanne
Christiane Hoffmann Harald Schmidt Jan Fleischhauer
Bevor sie mit der Arbeit begonnen hatte, konnte die Große Koalition bereits mit einem Rekord aufwarten: Mehr Zeit hat sich noch nie eine Bundesregierung fürs Zusammenkommen genommen. Im September steht damit ein Doppeljubiläum an: ein Jahr Bundestagswahl, ein halbes Jahr GroKo. Gelegenheit für die SPIEGEL-Journalisten Jan Fleischhauer und Christiane Hoffmann zusammen mit SPIEGEL-Videokolumnist Harald Schmidt eine Bilanz zu ziehen. Hat sich das Warten gelohnt? Was waren die schönsten Überraschungen des Politjahres, was die größten Enttäuschungen? Wie geht es mit Angela Merkel und Horst Seehofer weiter? Bleibt die SPD zweistellig? Darf man mit der AfD Fußball spielen? Und wird der Grüne Robert Habeck zum deutschen Macron?
Moderation: Christina Pohl, SPIEGEL-Podcast-Redakteurin
Montag, 17. September, 19 Uhr, Spiegelsaal, Clärchens Ballhaus, Auguststraße 24, 10117 Berlin
Karten im Vorverkauf, an der Abendkasse und unter spiegel-live.de. Eintritt: 15 Euro, ermäßigt 12 Euro, Abonnenten 12 Euro, zzgl. Gebühren. Einlass ab 18 Uhr. Änderungen vorbehalten. Verpassen Sie keine Veranstaltung mehr, und melden Sie sich für unseren Newsletter unter spiegel-live.de an. Deutschland
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