Nr. 36 / 1.9.2018 Deutschland €5,10 Slowakei € 6,60 Slowakei 185,- Kc Spanien € 6,50 Tschechien in Printed Slowenien € 6,30 Spanien/Kanaren Slowenien Ft 2350,- Ungarn € 6,70

Wenn Rechte nach der Macht greifen BeNeLux € 5,80 Finnland € 8,– NOK 82,– Griechenland € 7,– Norwegen ZL 32,– (ISSN00387452) Polen Dänemark dkr 53,– € 6,50 Frankreich Italien € 6,50 € 5,80 Österreich (cont) € 6,50 Portugal Dampfer, Heater, Zigarette Pflege Springreiten Wie sieht die Zukunft Besuch vom Medizinischen Dienst: Exzesse im Sport der des Rauchens aus? Der Gutachter spielt Schicksal feinen Gesellschaft Warum hatte man früher eigentlich Sparstrümpfe zum Sparen?

Wir können nicht alles erklären, aber wie man ab 25,– Euro im Monat zeitgemäß Geld ansparen kann, schon

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Knapp drei Monate lang recherchierten Marian Blasberg, Katrin Kuntz und Christoph digitalen Prozessen im Scheuermann, um die Geschichte von Levis Osorio Andino und ihrem Sohn Samir erzählen zu können: Mutter und Kind waren aus Honduras nach Texas geflohen, Unternehmen. wo die Polizei sie aufgriff und trennte – so sah es die Strategie der US-Regierung vor. Andino saß im Gefängnis und Samir fast 2000 Kilometer entfernt in einem Heim; erst nach 56 Tagen sahen sie sich wieder. »Die Familie ist schwer traumatisiert«, sagt Blasberg, »für sie ist das Drama noch nicht zu Ende.« Kuntz traf Samir und seine Mut- ter in New York. 3000 vergleichbare Fälle gab es in den Vereinigten Staaten, und noch

MERIDITH KOHUT / DER SPIEGEL MERIDITH KOHUT immer befinden sich mehr als 500 Kinder Kuntz, Samir in New York in der Obhut der Behörden. Seite 74

Als Volker Weidermann den schwe- dischen Autor Jonas Jonasson in Kenia traf, hatte ihm dessen deut- scher Verlag das erste Exemplar von Jonassons neuem Buch mitge- geben: die Fortsetzung des Bestsel- lers über einen Hundertjährigen, der aus dem Fenster stieg. Stolz

packte Jonasson die Ausgabe aus. / DER SPIEGEL BRIAN OTIENO Dass er sie später wieder abgeben Widmung für Merkel, Jonasson, Weidermann würde, lag daran, dass Weidermann ihm angeboten hatte, das Buch einer Protagonistin des Romans zu übergeben – Angela Merkel ist in dem Werk die Hoffnungsträgerin des Helden. Jonasson signierte das Buch und schrieb: »Liebe Kanzlerin Merkel, Sie sind die Hoffnung der Welt für eine gute Zukunft.« Geschenke zwischen Journalisten und Kanzlerin verbieten sich zwar, aber da Weider mann das Buch nun nicht mehr sein Eigen nennt, will er es bei nächster Gelegenheit abliefern. Seite 110

Der Medizinische Dienst der Krankenversicherung muss entscheiden, wie viel Geld jeder pflegebedürftige Mensch bekommen soll. Maik Großekathöfer hat in Branden- burg den Gutachter Kay Zimmermann begleitet, der sich bei Hausbesuchen ein Bild vom körperlichen und geistigen Zustand der Antragsteller machen muss. Fünf Termine am Tag sind die Regel, eine Beurteilung vor Ort soll nicht länger als 60 Minuten dauern. Großekathöfer ist der Frage nachgegangen, ob man einem kranken Menschen in einer Stunde gerecht werden könne. Seite 48 Egal, was Sie geschäftlich planen: Die dafür not- wendigen Freiräume verschaffen Sie sich mit durchgängig digitalen DATEV-Lösungen für Rauchen kann das Leben verkürzen, das steht sämtliche kaufmännischen Aufgaben. So kön- auf jeder Zigarettenpackung. Auch Tabakkon- nen Sie sich ganz auf das Wesentliche konzent- zerne wie Philip Morris streiten das nicht rieren – Ihr Unternehmen. mehr ab – weil sie Produkte auf den Markt gebracht haben, die die Zigarette ersetzen sol- len: Firmenchef André Calantzopoulos zog Digital-schafft-Perspektive.de

S. AGNETTI / 13PHOTO genüsslich an einem sogenannten Heater, Nezik, Calantzopoulos, Goos bei dem der Tabak nicht verbrannt wird, als Ann-Kathrin Nezik und Hauke Goos ihn in Lausanne trafen. Wie glaubwürdig dieser Strategiewechsel ist, haben sie in Europa recherchiert, wo der Zigarettenkonsum rückläufig ist, und in Afrika, einem der Zu- kunftsmärkte. Seite 66

DER SPIEGEL Nr. 36 / 1. 9. 2018 3 Wehretat /Zuwenig Personal iu nrg überfordern Visum anträge Sozialpolitiker gesehen: Moderne Narzissten Widerspruch von deneigenen opfer Schutz junger Missbrauchs - den besseren schen ausräumen Flüchtlingen undEinheimi- ständnisse zwischen Zohre Esmaeli willMiss ver- afghanische Model Nahles verteidigt im Volker Kauder Aufstand gegen Fraktionschef Protokoll Union Gesundheit Justiz Soziales Regierung Karrieren Meinung Extremismus Flügels, zum CDU- konservativen Spahn, dieNummer einsdes ein rechtes Problem hat SPIEGEL Beamten Balkan Botschaften aufdem für Abschiebungen / Rechnungshof kritisiert die Europawahl ziehen Manfred Weber in will mitdemCSU-Politiker Leitartikel Olaf Scholzbekommt überall attackiert dieGrünen und Rentenpläne 4 . Neue Plänefür Der dilettantische . . SPD-Chefin Andrea Im Zweifel links/So Das deutsch- -Gespräch ihre . Die Union Deutschland Finanzminister Chemnitz ist Wie sichJens mitfühlenden Warum Sachsen Titel wandelt ...... 40 37 34 33 30 29 26 22 10 8 6 Klimaschutz über denDingen zu schweben. SPD-Chefin Nahles legtim Rentenstreit nach.Um halten, will siemehrSteuergeld indie Sozialkassen Neonazis dieStraßen, zeigen denHitlergruß und Nachdem inChemnitzeinAsylbewerber einen Sachsen sindwiedereinmalüberfordert. »Der Sozialstaat war behäbig« das gesetzliche Altersgeld langfristigstabilzu bedrohen Migranten. Politik undPolizei in Sachsen undderrechte Mob Deutschen erstochen haben soll, belagern 72.Jahrgang 72.Jahrgang lenken. DenGrünenwirft sievor, beim Inhalt | Heft 36 | 1.September 2018 1.September

HERMANN BREDEHORST / DER SPIEGEL Seite 10 Seite 30

MICHAEL TRAMMER / IMAGO mit 61 Katzen zusammenlebte, fährlichkeit von Zucker Kindheit unddieGe - Guido Riegel überseine mit Haribo-ChefHans Suchtmittel Süßwaren Autoindustrie Arbeitsmarkt Kolumne Schicksale Geschichte Eine Meldungundihre Immobilien seine Würde verloren?seine Würde Rotlichtmilieu Knopfdruck /Hatdas Lebenspartner auf Früher schlechter: war alles Zu wenig Fluglotsen als Dreckschleudern / Wirkung /Feuerwehrautos Trumps Strafzölle zeigen urteilt Menschen pflegebedürftiger über Zustand undZukunft eines Gutachters, der Euro zahlen soll 50000 der USA kam es aufdieFlugverbotsliste als erlebte, Ehepaar begehrten Fachkraft wurde ling ausSyrien zur mit Seeblick Usedom Filetgrundstücke sicherten sichauf den Griff neuen Abgastest nichtin die Probleme mitdem Reisen der Zigarettenindustrie Doppelstrategie E SIGL Nr.36/ 1.9.2018 SPIEGEL DER . Was einStuttgarter Leitkultur . Gesellschaft SPIEGEL Wirtschaft Aus demAlltag Eine Frau, die CDU-Politiker Die fragwürdige . Wie ein Flücht- VW bekommt . . -Gespräch . . . . . 66 62 61 58 56 54 48 47 46 44 42 Ausland Kosmologie Leben wir in einem Universum, Polen will neue das es eigentlich gar nicht Reparationsmilliarden von geben kann? ...... 104 Deutschland fordern / Chinas Militärhilfe für Geschichte Warum Schweinen, Afghanistan ...... 72 Hunden und Ochsen bis in die Frühe USA Die Geschichte der Neuzeit der Prozess Honduranerin Levis gemacht wurde ...... 106 und ihres sechsjährigen Sohns Samir, die Donald Trump brutal Kultur voneinander trennen ließ . . . 74 Florian Illies wird Chef Diplomatie SPIEGEL-Gespräch des Rowohlt Verlags / mit Wolfgang Ischinger, Gefährdet eine Erdoğan- dem Vorsitzenden der Statue in Wiesbaden Münchner Sicherheitskon - die öffentliche Ordnung? /

ferenz, über eine aus RUSSLAN FÜR DEN SPIEGEL Kolumne: Besser weiß den Fugen geratene Welt . . . 82 ich es nicht ...... 108

Analyse Machtkampf im Enthemmt und brutal Autoren Auf Safari mit Vatikan ...... 85 dem schwedischen Die Eskapaden einer Clique junger Springreiter Erfolgsschrift steller Jonas Essay Der gute erschüttern die deutsche Reiterliche Vereinigung. Jonasson ...... 110 Republikaner – US-Autor Es geht um Alkoholexzesse und den Verdacht Roger Cohen zum Literatur SPIEGEL-Gespräch Tod von John McCain ...... 86 der sexuellen Nötigung und Vergewaltigung. Zwei mit dem Schauspieler Staatsanwaltschaften ermitteln. Seite 92 Burghart Klaußner über Russland Eine neue Generation seinen ersten Roman, junger, gut ausgebildeter der von der Magie des Auf- Technokraten rückt in poli- bruchs handelt ...... 114 tische Spitzenämter auf . . . . 88 »So kann man nicht führen« Pop Die britische Sängerin Anna Calvi verwischt Sport Der deutsche Diplomat Wolfgang Ischinger die Unterschiede zwischen bezeichnet die Weltlage im SPIEGEL-Gespräch Männern und Frauen ...... 118 Wo die besten Tennisspieler als »Epochenbruch«. Er kritisiert Deutschlands herkommen / Magische Islamkritiker »Feindliche Über- Momente: US-Boxprofi Curtis zögerliches Handeln und fordert eine europäische nahme«: Die große Harper über seine Außen- und Sicherheitspolitik. Seite 82 Sarrazin-Show geht wieder Flucht aus dem Ring ...... 91 los ...... 120

Affären Saufgelage, Über- Serienkritik Die verunglückte griffe – eine Clique Netflix-Produktion von Jungstars wird zum »Insatiable« ...... 123 Problem für den deutschen Springreitsport 92

Wissenschaft

Mehr Querdenker durch Großfamilien / Woher einst die Aubergine kam / Glosse: Der Herr der Gezeiten und der Uhrzeiten ...... 98 Herr der Gummibärchen Bestseller ...... 122 Schicksale Wie der junge Als Kind ist er in die Fabrik seines Vaters gegangen Impressum ...... 124 Maler Marc Jung und in den Drageekesseln Karussell Leserservice ...... 124 mit der Bedrohung lebt, gefahren. Jetzt ist Hans Guido Riegel selbst Chef Nachrufe ...... 125 vielleicht schon in Personalien ...... 126 wenigen Jahren sterben von Haribo. Ein Gespräch über Briefe ...... 128 zu müssen ...... 100 Zucker, Werbefiguren und Verantwortung. Seite 62 Hohlspiegel / Rückspiegel . . 130

5 Das deutsche Nachrichten-Magazin

Nach Chemnitz

Leitartikel Die Ausschreitungen von Neonazis müssen Politik und Bürgern ein Weckruf sein.

hemnitz ist ein Wendepunkt. Die Jagd auf Auslän- Verschiebungen in der Gesellschaft teilnahmslos und auf der, die Hemmungslosigkeit, mit der Neonazis und erschreckende Weise unpolitisch begleiteten. So ist die C ihre bürgerlichen Sympathisanten die Straße mangelnde Gegenwehr auch die Folge einer neuen Bieder- eroberten und eine Pogromstimmung entfachten, meierlichkeit, des Rückzugs in die private Behaglichkeit, in während die Polizei zusah, all das ist die Folge einer der, je nach Milieu, alles Mögliche relevant ist, der Zustand schleichenden Wiederannäherung Deutschlands an seine des Golfrasens, die Qualität der Yogakurse oder der Omega- braune Vergangenheit. 3-Anteil gewisser Nahrungsmittel. Es sind Probleme aus Von den vielen kleinen Zivilisationsbrüchen der vergange- einem saturierten Paralleluniversum, das um sich selbst nen Jahre war Chemnitz der heftigste. Bilder von Deutschen, kreist und in dem Flüchtlinge schon deshalb kein Problem die den Hitlergruß zeigen und Migranten bedrohen, gingen darstellen, weil es keinerlei Konkurrenzsituation und kaum um die Welt. Das gab es zwar schon, aber im Gegensatz zu Berührungspunkte gibt. In der Weimarer Republik war es den Gewaltexzessen in Hoyerswerda, Rostock oder Solingen auch die lethargische Mehrheit, die den Lauten und Radi- Anfang der Neunzigerjahre erfah- kalen die Straße und den Diskurs ren die heutigen Neonazis Rück- überließ, bis aus dieser Mehrheit halt aus Teilen des Bürgertums und eine Minderheit wurde. der Politik. Die AfD-Führung hat Der andere Teil einer einst die rassistische Gewalt nach der stabilen Mitte hat die Distanz tödlichen Messerattacke auf einen aufgegeben, die es früher zwi- Chemnitzer Bürger als »Selbstver- schen Konservativen und extre- teidigung« bagatellisiert und somit men Rechten gab. Diese Bürger legitimiert. Das macht die Situa - setzen falsche Prioritäten, sie tion weit gefährlicher als damals. üben legitime Kritik etwa an der Es mag kulturelle und histori- Flüchtlingspolitik, vernachläs- sche Gründe geben, warum die sigen aber die Verteidigung der Ideologie der Rechtsextremen in Demokratie selbst. Statt die Sachsen auf sehr fruchtbaren Grenze zwischen Kritik und De- Boden fällt. Aber die Renaissance struktion zu wahren, machen des Braunen ist kein sächsisches sie gemeinsame Sache mit den Phänomen. Chemnitz schlummert Radikalen, meist still, immer überall. öfter aktiv. In der aktuellen Ver-

Entscheidend ist nun, ob PRESS / ACTION VOLMAR TOBIAS fassung des Bürgertums wird Chemnitz das Ende einer geistig- diese Gesellschaft nur schwer unmoralischen Wende markiert, wieder ins Gleichgewicht finden. die mit Thilo Sarrazins erstem Buch begann. Oder ob es den Es braucht nun einen Aufstand der eigentlich Anständi- Auftakt zu einer antiliberalen, gar neofaschistischen Ära bil- gen, aber zuletzt Lethargischen. Es braucht Lichterketten, det. Ob Chemnitz zum Weckruf für Politik und Bürger wird, Demonstrationen, öffentliche Aufrufe, Konzerte, alles, was dem Rechtsruck bei gleichzeitiger Diskreditierung der Demo- laut und sichtbar ist. Abgeklärte Zyniker werden die Augen kratie entgegenzutreten. Oder ob jene, die Gegenwehr leis- rollen. Aber auch Abgeklärtheit und Zynismus sind in Zei- ten könnten, weiter in staatsbürgerlicher Apathie verweilen. ten wie diesen Helfer der Feinde einer liberalen Demokra- Versagt haben die Politik und ihre Organe. Die sächsi- tie. Natürlich machen Demos aus Nazis keine Demokraten. sche Polizei war, trotz Warnungen, so schlecht auf die Aber sie zeigen all den Schwankenden, dass es eine Alter- Aufmärsche vorbereitet, dass man sich unweigerlich fragt, native zu den Forschen und Lauten gibt. Erich Kästner hat was die Beamten beruflich machen und welche Politiker gesagt, dass die Nazizeit spätestens im Jahr 1928 hätte be- die Verantwortung für derartige Einsätze tragen. Aber die kämpft werden müssen, zu einer Zeit, als alles noch stabil Mitschuld der Politik reicht tiefer. Sie trifft eine Landes- wirkte, als es zwar Eruptionen des Hasses gab, wie jetzt in CDU, die das Problem des Rechtsextremismus bis heute Chemnitz, diese aber noch als Einzelfälle verniedlicht wer- verharmlost. Sie trifft auch CSU-Vorsitzende und Minister- den konnten. »Man darf nicht warten, bis aus dem Schnee- präsidenten, die Vokabular und Themen der Extremen ball eine Lawine geworden ist. Man muss den rollenden übernahmen und deren Anliegen so salonfähig machten. Schneeball zertreten. Die Lawine hält keiner mehr auf. Sie Versagt hat aber auch die Mitte der Gesellschaft, egal ruht erst, wenn sie alles unter sich begraben hat.« ob es die sogenannten Groß- oder Kleinbürger waren. Die Markus Feldenkirchen einen, weil sie als aktive Staatsbürger leider ausfielen. Weil sie die Demokratie als selbstverständlich empfanden ‣ Lesen Sie auch auf Seite 10: In Chemnitz lässt sich erahnen, und darüber deren Verteidigung verschliefen. Weil sie die was geschieht, wenn Rechte an Macht gewinnen.

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Jakob Augstein Im Zweifel links Warum moderne Narzissten es so schwer haben

Ausgerechnet dieser Papst G Man kennt das ja. Du wachst mor- gens auf, bist noch müde, hast einen Von Gott weiß man nicht Ich finde, man soll von niemandem sehr anstrengenden Job, alle zerren viel. Nur dieses: Wenn es Unmögliches verlangen. Immerhin an dir. Also möchtest du dich irgend- ihn nicht gäbe, würde er besitzt das Christentum seine ver- wie aufheitern. Narziss guckte sich in fehlen. Ich finde, das gilt krampfte Sexualmoral spätestens seit solchen Momenten sein eigenes Spie- auch für den Papst und Ter tullian – und der ist um das Jahr gelbild in einem Teich an. Wunder- überhaupt für die katholi- 220 gestorben. Eher vergessen die Mus- schön war das. Moderne Narzissten sche Kirche. Bei mir bewirkt die lime die Geschichte mit den 72 Jung- wanken ins Wohnzimmer, klappen inkarnierte Anziehungskraft der Ritua- frauen im Paradies, als dass die katholi- den Laptop auf und denken: Google le mehr als der habermassche Zwang sche Kirche ihren Frieden mit dem ich mich doch mal kurz selbst. des besseren Arguments. Ich mag den Sex macht. Und dann fallen sie fast um: Da Papst. Im Moment gibt es sogar zwei. Dennoch hatte der neue Papst vie- gibt es Leute, die sie als Idioten Der amtierende hat jetzt etwas ge- len Hoffnung gemacht. Vor ein paar beschimpfen! Dabei haben sie doch sagt, das man eher vom zurückgetrete- Jahren sagte er: »Wenn jemand homo- gar nichts gemacht, außer ein biss- nen erwartet hätte: Bei jüngeren Kin- sexuell ist und Gott sucht und guten chen Wahlkampfbetrug mit Russ- dern mit homosexuellen Neigungen Willens ist, wer bin ich, über ihn zu ließe sich »noch vieles machen, mit richten?« Das fand ich ziemlich christ- der Psychiatrie etwa«. Mit der lich. Damals begann ich, diesen Papst Homosexualität und der katholischen zu mögen, diesen fußwaschenden, un- Kirche ist es so eine Sache. Da muss orthodoxen, beinahe volksfrommen man sich nur den »Calendario Roma- Seelsorger im Vatikan. Und ausgerech- no« kaufen, der die schönsten Priester net dieser Papst offenbart nun ein tief Roms zeigt. Benedikt, der die Schön- sitzendes Missverstehen der Homose- heit italienischen Schuhwerks ebenso xualität, pathologisiert eine sexuelle zu schätzen wusste wie die Feinheit Orientierung – das hätte ich ihm nicht theologischer Disputationen, hielt es zu getraut. Was nun? seinerzeit sogar für nötig klarzustellen, Vielleicht wird ja eines Tages aus land, ein kleines Klimaabkommen dass praktizierende Homosexuelle Jorge Mario Bergoglio, dem Sohn ei- gekündigt, ein paar Handelskriege keine Priester sein können. nes kleinen Lebensmittelhändlers aus vom Zaun gebrochen. Vermutlich waren einige logisch be- Buenos Aires, doch noch der Franzis- Der moderne Narzisst hat es sehr sonders versierte Kandidaten auf die kus, den wir uns wünschen. Der Theo- schwer. Man konnte es diese Woche Idee gekommen, wenn Sex zwischen loge Karl Barth hat den Glauben mit an Trump sehen. Der googelte sich Männern laut christlicher Lehre nicht einem Vogel im Flug verglichen – bei- selbst, und es kam einfach nicht das als sexuelle Handlung akzeptiert wird, de könne man nicht anhalten. korrekte Bild, alles war komplett könne er als solche auch nicht sank - verzerrt, offensichtlich waren böse tioniert werden. Dieses scholastische An dieser Stelle schreiben Jakob Augstein, Jan Mächte am Werk. Es tat weh. Tech- Schlupfloch wurde gestopft. Fleisch hauer und Markus Feldenkirchen im Wechsel. nologie macht einem doch den gan- zen Selbstwert kaputt. Trump will jetzt dagegen vorgehen. Kittihawk Schlaue Menschen wie Bill Gates oder Mark Zuckerberg haben all das längst begriffen und beschränken den Zugang ihrer Kinder zur moder- nen Technologie strikt. Eine der beliebtesten Privatschulen im Silicon Valley ist eine Waldorfschule, die unter Zwölfjährigen Smartphones verbietet und den Kindern der Avant- garde von Ebay, Apple und Uber das Nähen und Holzschnitzerei beibringt. So gesehen könnte der US-Präsi- dent es noch mit einer altmodischen Trump-Statue versuchen, in Gold. Doch auch da besteht die Gefahr der Demontage, wie das Beispiel Erdoğan in dieser Woche gezeigt hat. Nicola Abé

8 DER SPIEGEL Nr. 36 / 1. 9. 2018 WIR LIEFERN DIE EINZIGE SPRACHE, DIE JEDER VERSTEHT, IN DIE GANZE WELT.

Für den weltgrößten Online-Musikhändler Thomann liefern wir jeden Tag mehrere Tausend Instrumente an Musikliebhaber in über 120 Ländern der Welt. So helfen wir Thomann, seine Leidenschaft für die universelle Sprache der Musik mit anderen zu teilen. Wie bei diesem Trompeter.

Das ist die Stärke des globalen Handels. Und DHL macht ihn möglich. globaltrade.dhl Titel »Wer das Sagen hat« Extremismus In Chemnitz bedrohen Neonazis und Hooligans Migranten. Politiker wollen härter gegen Radikale vorgehen und wirken doch hilflos. Die Geschehnisse in Sachsen geben eine Ahnung davon, was passiert, wenn Rechte an Macht gewinnen.

rei Orte in Deutschland, drei Ver- Boden, andere bedrohen Menschen, die Gesichtern, die meist Ordinäres rufen, ge- brechen. Freiburg, am 16. Okto- sie für Flüchtlinge halten. Am Abend da- gen ankommende Flüchtlinge oder die an- D ber 2016, der afghanische Asyl- rauf versammeln sich 6000 Rechte und kommende Kanzlerin. Die Migranten an- bewerber Hussein K. vergewal- Sympathisanten. »Wir kriegen euch alle«, greifen und durch die Stadt hetzen, die tigt eine 19-jährige Studentin, lässt sie schallen die Rufe, mancher zeigt den Hit- Asylbewerberheime anzünden oder in die bewusstlos am Ufer eines Flusses liegen, lergruß. In Chemnitz, so ist die Botschaft, Luft jagen wollen, die sich anscheinend in dem sie dann ertrinkt. Über Wochen ist haben Neonazis und Hooligans die Deu- von allem Menschlichen verabschiedet ha- die Beklemmung in der Stadt zu spüren. tungshoheit über die Tat gewonnen. ben, von der zivilisierten Auseinanderset- Eine Demonstration wird angemeldet, ge- Drei Taten, drei Reaktionen. Es gibt Ge- zung und auch vom politischen System der gen die Flüchtlingspolitik der Bundesre- meinsamkeiten: Wut, Empörung, Trauer, repräsentativen Demokratie. In ihren Köp- gierung, doch nur wenige schließen sich Ressentiments gegenüber Fremden und fen träumen sie vermutlich von einem an- an. Der Täter wird sechs Monate später auch die Frage, ob diese Taten in Verbin- deren Modell, nationalistisch, monoeth- zu lebenslanger Haft mit Sicherungsver- dung stehen könnten mit einer Flüchtlings- nisch, autoritär und antiliberal, ein biss- wahrung verurteilt, danach schwindet die politik, die das Land seit drei Jahren auf- chen wie Trump, ein bisschen wie Orbán. Beklemmung. Freiburg, so ist die Bot- wühlt und spaltet. Doch in Freiburg und Die Krakeeler stellen, ohne Frage, bei schaft, will liberal bleiben, trotz dieser Tat. Offenburg dominieren die Besonnenen, Weitem nicht die Mehrheit in Sachsen. Aber Offenburg im Westen Baden-Württem- die die Verbrechen als das sehen, was sie sie sind in diesen Tagen lauter als die Mehr- bergs, am 16. August 2018, ein 26-jähriger sind: Einzelfälle, traurig genug, doch nicht heit. Welche Wirkung sie haben, liest man Somalier ersticht einen Allgemeinmedizi- das Produkt einer verfehlten Politik. derzeit in kleinen Meldungen. Die Werbe- ner in dessen Praxis, eine Arzthelferin In Chemnitz dagegen formiert sich ra- agentur Wurzelschläger & Friends kündigte muss es mit ansehen. Ein Landtagsabge- sant eine Kampftruppe aus Neonazis, Hoo- an, sich aus der Bewerbung für die Image- ordneter der AfD schreibt der Landes- wie ligans, aus AfD-Anhängern und sogenann- kampagne der Investregion Leipzig zurück- der Bundesregierung »durch ten besorgten Bürgern, die zuziehen. »Unserer Meinung nach ist das ihre verfehlte Migrationspoli- alle Migranten in Sippenhaft Image Sachsens weltweit so nicht mehr ver- tik die direkte Mitschuld am nehmen und sie zu Freiwild mittelbar«, schreiben die Werber. Es ist eine Tod des Arztes« zu. erklären. Die Bilder, die sie Bankrotterklärung an den Freistaat, der ei- Die Partei ruft zu einem 56% schaffen, erinnern an über- nerseits als Musterschüler gilt, mit bester Protestmarsch auf, ein paar der Befragten in wunden geglaubte Zeiten, Wirtschaftslage, besten Pisa-Ergebnissen, Hundert kommen, doch es Sachsen meinen: an Rostock-Lichtenhagen, wo besten Besucherzahlen und der zweitnied- sind genauso viele Gegende- »Die Bundesrepublik 1992 ein Mob ein Wohnheim rigsten Arbeitslosigkeit in den fünf neuen ist durch die vielen monstranten. Später geden- für vietnamesische Arbeiter Ländern, der andererseits aber das braune Ausländer in einem ken gut 400 Menschen, da- gefährlichen Maß in Brand setzte und Nachbarn Sorgenkind ist. runter Asylbewerber wie überfremdet.« applaudierten. Der Mob ist Sachsen ist der Nährboden, aus dem Pe- Nachbarn, in einem stillen wieder da, sagen diese Bil- gida entwuchs und auf ihm bis heute ge- Trauermarsch dem beliebten der, so wie vor 26 Jahren. Wir deiht. Nur in Sachsen bekommt die soge- Arzt. Ein Verwandter des Ge- sind da, wo wir schon einmal nannte islamkritische Bewegung noch jede töteten veröffentlicht einen waren. Woche Hunderte Sympathisanten auf die Brief, gerichtet an den AfD- 62% Das Entsetzen darüber Straße. In Sachsen werden Reporter von Politiker. Der Arzt habe »zur denken: hörte man in vielen Stimmen, Demonstranten angegangen, wie zuletzt Integration beigetragen und »Die meisten hier der Kanzlerin, des Bundes- in von einem Angestellten des nicht wie Sie Hass und Ab- lebenden Muslime präsidenten, von Wirtschafts- Landeskriminalamts, dessen Deutschland- scheu gepredigt«. Offenburg, akzeptieren nicht vertretern, man hörte es in hut zur Ikone des rechtsdumpfen Protests unsere Werte.« so ist die Botschaft, lässt nicht den ratlosen Kommentaren wurde – bevor der Hitlergruß aus Chem- zu, dass die Tat politisch miss- im Ausland. Der hässliche nitz ihn ablöste. braucht wird. Deutsche, rassistisch, auslän- In Sachsen macht in zuverlässiger Re- Chemnitz, am 26. August derfeindlich, voller Ressenti- gelmäßigkeit auch die Polizei von sich re- 2018, der Iraker Yousif A. 38% ments, er ist zurück. Seine den, weil sie Journalisten von ihrer Arbeit und der Syrer Alaa S. werden sind der Meinung: Bühne fand er in Sachsen, abhält oder nicht genügend Kräfte vorhält verdächtigt, gegen drei Uhr »Muslimen sollte wieder einmal. Warum nur und deshalb oft tatenlos zusieht, wenn die nachts einen 35-jährigen die Zuwanderung immer Sachsen? Rechten marschieren und randalieren. Deutschkubaner erstochen nach Deutschland Bautzen, Freital, Heide- Rechtsextremismus sei ein bundesweites zu haben. Nur Stunden nach untersagt werden.« nau, Clausnitz und nun also Phänomen, kein spezifisch sächsisches, das der Tat marschieren 800 De- Umfrage von dimap; »Sachsen- Chemnitz, diese Orte stehen war jahrzehntelang das Mantra der politi- Monitor« im Auftrag der Sächsischen monstranten durch die Stadt, Staatskanzlei; 1006 Befragte vom für Szenen aufgebrachter schen Führung in Sachsen, wenn die Kritik einige stoßen Polizisten zu 20. Juli bis 24. August 2017 Menschen mit wutverzerrten zu nahe kam. Das ist halb richtig und halb

10 DER SPIEGEL Nr. 36 / 1. 9. 2018 SEAN GALLUP / GETTY IMAGES SEAN GALLUP Demonstranten in Chemnitz am Montag: Nach rechts orientieren

11 Titel JAN WOITAS / DPA WOITAS JAN Gedenkstätte für Daniel H. am Tatort: »Die Proteste hätte er niemals gewollt« falsch. Sachsen ist zur Keimzelle für rechte rechte – und das alles mit Duldung bis noch ist vieles unklar, es war wohl Alkohol Aktivisten geworden, hier haben sie schon Förderung durch die sächsische CDU, voll- im Spiel. Yousif A., der mutmaßliche kurz nach der Wende rechte Strukturen ge- endet durch Pegida/AfD und gewaltberei- Haupttäter, soll unvermittelt auf Daniel H. festigt, in keinem anderen Bundesland ist te Neonazis.« eingestochen haben. H. erlag kurz darauf die AfD so erfolgreich: Nach jüngsten Um- Selbst wenn man Wolffs Analyse nicht im Krankenhaus seinen Verletzungen. fragen würde sie bei der Landtagswahl im in allem zustimmt, stellt sich die Frage: Yousif A. war in Annaberg-Buchholz nächsten Jahr 26 der insgesamt 60 Direkt- Was nur ist passiert in den 29 Jahren nach gemeldet, einem Ort mit Kühen auf der mandate gewinnen, jeder Vierte würde dem Mauerfall, in Ostdeutschland, in Sach- Weide und Fachwerkhäusern. In einem sein Kreuz bei der AfD machen. sen? Die Frage ist nicht wirklich neu, man Mehrfamilienhaus lebte A. in einer Flücht- Man kann nicht gewalttätige Hooligans muss sie aber wieder stellen, nach der lings-WG mit drei anderen, einem Syrer, und Neonazis auf eine Stufe mit durchaus Eskalation am vergangenen Wochenende. einem Iraker und einem Iraner. A. hatte bürgerlichen Wählern der AfD stellen. Einem Wochenende, an dem Chemnitz ein Einzelzimmer, obwohl er nur zweimal Und dennoch haben sie etwas gemein- eigentlich nur feiern wollte. im Monat zum Schlafen vorbeikam. Den sam: Sie alle fühlen sich als Teil einer Re- Der 875. Stadtgeburtstag stand an, die Rest der Zeit wohnte er in Chemnitz, wohl bellion gegen den Westen, gegen dessen Veranstalter erwarteten mehr als 250000 bei einem Kumpel. tradierte Parteien, gegen die »Lügenpres- Besucher, es gab sechs Bühnen, ein Rie- Auch wenn sie ihn nicht gut kannten, be- se«, überhaupt gegen die liberalen, uni- senrad, mehr als 200 Buden. Die Rapperin schreiben ihn seine Mitbewohner als netten versalen Werte einer aufgeklärten und Namika trat auf, bunte Lichtkegel bestrahl- Typen, der gern trank, manchmal zu viel. weltoffenen Gesellschaft. Die Szenen aus ten das Rathaus. Yousif A. kam Ende Oktober 2015 über Chemnitz sind nur der hässliche Rand ei- Auch Daniel H., 35, war auf dem Fest- die Balkanroute nach Deutschland, wie so nes schleichenden Prozesses, der Ent- platz unterwegs, zusammen mit Freunden. viele Menschen aus dem Irak und Syrien kopplung heißt. Daniel H., der Sohn eines Kubaners und in jenen Wochen, es war die Hochphase Die Gewalt in Chemnitz sei »der be- einer Deutschen, ist in Chemnitz aufge- der Flüchtlingskrise. wusst erzeugte Höhepunkt einer Entwick- wachsen, er arbeitete seit zwei Jahren bei Ursprünglich, so geht es aus den Akten lung, die seit fast 30 Jahren absehbar der Gebäudereinigung »Hausgeister«. Die über ihn hervor, wollten die Behörden den war«, schreibt Christian Wolff, der ehe- Kollegen mochten ihn, bei Freunden galt jungen Iraker nach Bulgarien zurückschi- malige Pfarrer der Leipziger Thomaskir- er als »Gute-Laune-Bär«, der anderen im- cken, sie gingen davon aus, dass er dort che, auf seiner Website. »Die systemati- mer mit einem Lächeln begegnete. bereits Asyl beantragt hatte. Bulgarien hat- sche Implementierung des völkisch-rechts- Nachts, gegen drei Uhr, ging die Clique te dem schon zugestimmt, es ist unklar, nationalistischen Denkens in zu vielen auf der Brückenstraße wohl zu einem warum es dennoch nicht zur Abschiebung Köpfen und Herzen, Verachtung der frei- Geldautomaten. Dort traf sie auf Yousif A. kam. Nach Ablauf einer Frist im Herbst heitlichen Demokratie, militante Frem- und Alaa S. Sie gerieten in Streit, vielleicht 2016 war Deutschland für ihn zuständig. denfeindlichkeit, Aushebelung der Grund- wegen Geld, vielleicht wegen Zigaretten, Zweimal befragte ihn das Bundesamt für

12 DER SPIEGEL Nr. 36 / 1. 9. 2018 MICHAEL TRAMMER / IMAGO Aufmarsch von Rechten in Chemnitz: Alte Strukturen für Aktionen mobilisieren

Migration und Flüchtlinge (Bamf), zuletzt der Erzgebirgsstadt nachts gegen halb an die Nachricht des Messerangriffs: Da- wenige Wochen vor der Tat, fast drei Jahre vier betrunken vor einen Schneepflug niel H. habe eine Frau vor einer sexuellen nachdem er eingereist war. und weitere Fahrzeuge und wurde wegen Belästigung geschützt. Obwohl die Poli- Yousif A. erzählte den Beamten, warum gefährlichen Eingriffs in den Straßenver- zei deutlich macht, dass es dafür keine er angeblich aus der nordirakischen Pro- kehr zu einer Geldstrafe verdonnert. Die Hinweise gebe, hält sich das Gerücht. Es vinz Ninive fliehen musste: Mit Politik Staatsanwaltschaft ging davon aus, dass passt gut ins rechte Klischee des triebge- oder dergleichen habe das nichts zu tun er sich bei der Aktion das Leben nehmen steuerten Flüchtlings. Es weckt die Wut, gehabt. Er sei dort in ein Mädchen verliebt wollte. die Menschen brauchen, um auf die Stra- gewesen und habe Ärger mit dessen Vater Alaa S., der mutmaßliche Mittäter, galt ße zu gehen. und Onkel bekommen. Sie hätten ihn be- als umgänglich, zumindest bei Mohamed Noch bevor es die erste offizielle Mit- droht und verprügelt und ihn sogar mit ei- Yousif, dem Chef des Friseurladens Zana teilung der Polizei gibt, ruft die Hooligan- nem Messer verletzt, das sei »so eine in Chemnitz. Er brachte S. das Haare- Gruppe »New Society 2004« auf Face- Würdeangelegenheit gewesen«, sagte er. schneiden bei. Sie kannten sich, weil sie book zum Protestmarsch auf, die Nach- Für sonderlich glaubwürdig hielt das aus derselben Stadt in Syrien kommen. richt wird im Netz viel geteilt. »Unsere Amt diese Geschichte nicht. Und noch et- »Da habe ich mich ein bisschen um ihn ge- Stadt – unsere Regeln«. Und: »Lasst uns was ließ es an seiner Wahrhaftigkeit zwei- kümmert«, erzählt Yousif. Dass er mit ei- zusammen zeigen, wer in der Stadt das Sa- feln: Gleich zwei Personalpapiere, die er nem Messer jemanden angreifen könnte? gen hat!« Treffpunkt: 16.30 Uhr vor dem vorlegte, waren laut einer Untersuchung »Das passt einfach nicht«, sagt Yousif. Nischel, so nennen die Chemnitzer ihr durch das Bamf »Totalfälschungen«. Mit Vor zwei Wochen war S. aus dem Nord- Karl-Marx-Denkmal. Aus Angst vor An- Datum vom 29. August 2018 lehnte die irak zurückgekommen, wo er vermutlich griffen auf Festbesucher brechen die Or- Behörde den Asylantrag des 22-Jährigen seine Eltern besuchte. Sein Vater engagiert ganisatoren das Stadtfest am Sonntagnach- ab – drei Tage nachdem er in Chemnitz sich für eine prokurdische Partei. »Ich mittag ab. zugestochen haben soll. habe ihn gefragt: Warum bist du zurück- Etwa 800 Menschen versammeln sich, Yousif A. war zu diesem Zeitpunkt be- gekommen?« S. habe geantwortet: »In nur wenige Meter vom Tatort entfernt. reits vorbestraft, unter anderem wegen Deutschland habe ich eine Zukunft.« Seit Ohne Absprache mit der Polizei marschiert Körperverletzung. Schon wenige Monate Dienstag nun sitzt S. in Untersuchungshaft. die Gruppe los, einige Teilnehmer skandie- nach seiner Einreise war er erstmals in den Er habe gegenüber der Polizei ausgesagt, ren »Wir sind das Volk«. Flaschen fliegen. Fokus der deutschen Justiz geraten. Und heißt es. Die Polizei ist unterbesetzt, überfordert. danach immer wieder. Nach der blutigen Tat dauert es keine Verstärkung aus Leipzig und Dresden wird Einmal sprühte er im Asylbewerber- fünf Stunden, da berichtet das Onlinepor- angefordert, doch die Amateurvideos der heim in Annaberg-Buchholz zwei Flücht- tal tag24.de, eine Boulevardseite: »35- marodierenden Gruppen verbreiten sich lingen Pfefferspray ins Gesicht. Ein an- Jähriger stirbt nach Messerstecherei in schnell im Netz. Neonazis bedrohen Men- deres Mal, im Februar 2016, rannte er in der City.« Schnell heften sich Gerüchte schen, die sie für Zuwanderer halten.

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Für den nächsten Abend ruft die rechte Allerdings falle ihm auf, dass sich auch in einigen Jahren eine »national befreite Gruppe »Pro Chemnitz« zum Protest auf seinem Freundeskreis immer mehr Men- Zone« errichten. Über Monate gab es An- und mobilisiert 6000 Menschen. Das schen nach rechts orientierten. schläge auf alternative Cafés und Klubs. Bündnis »Chemnitz Nazifrei« organisiert Chemnitz und sein Umland sind schon Eine Abgeordnete der Linken musste sich eine Gegendemonstration, 1500 kommen. seit der Wiedervereinigung eine Hochburg ein neues Büro suchen. Nach 20 Anschlä- Dazwischen eine schmale Polizistenkette, der extremen Rechten, auch wenn der Ver- gen hatte ihr der Vermieter gekündigt. aus 591 Einsatzkräften, teilweise stehen fassungsschutz derzeit nur 150 bis 200 An- Im Chemnitzer FC, dem örtlichen Fuß- sich die gegnerischen Demonstranten di- hänger in der Stadt zählt. Die im Jahr ballverein, tummeln sich unter den Fans rekt gegenüber. 2000 verbotene Organisation »Blood & viele Neonazis. »Es existieren enge Ver- Böller und Rauchgranaten fliegen, auch Honour« (B&H) hatte ihren sächsischen bindungen zwischen Hooligans und Ka- Pflastersteine. Teilnehmer vermummen Schwerpunkt in Chemnitz und vertrieb meradschaften«, sagt der Hooligan-Exper- sich oder recken den rechten Arm. Wieder von hier aus bundesweit rechtsextreme te Robert Claus. ist die Polizei überfordert und löst die De- Musik. Die Stadt war 1998 nach der Flucht Eine Gruppe stand dabei im Vorder- monstration nicht auf. Sie lässt den Zug aus Jena der erste Anlaufpunkt von Beate grund: »HooNaRa«. Die Abkürzung steht einige Hundert Meter durch die Stadt mar- Zschäpe, Uwe Mundlos und Uwe Böhn- für »Hooligans Nazis Rassisten«. Offiziell schieren und rät Migranten, nach Hause hardt, den späteren Mitgliedern des »Na- hat sich der militant-rechte Zusammen- zu gehen. tionalsozialistischen Untergrunds« (NSU). schluss bereits 2007 aufgelöst. Doch die Die Ereignisse haben inzwischen den Die Szene verfügt bis heute über eigene Netzwerke seiner Mitglieder sind bis heu- Generalbundesanwalt auf den Plan geru- Läden in der Stadt und mit PC Records te aktiv. fen. Nach SPIEGEL-Informationen hat der über eines der wichtigsten rechtsextremen Dazu zählt die Fangruppe »New Socie- Karlsruher Chefankläger Vorermittlungen Musiklabels in Deutschland. »An den Teil- ty«, deren Mitglieder sich »NS-Boys« nen- eingeleitet. Intern heißt es in Karlsruhe, nehmern der Ausschreitungen konnte man nen. Ihr Logo zeigt das Konterfei eines man sei »besorgt« ob der Geschehnisse in sehen, dass die alten Strukturen noch im- Hitlerjungen. Ebenso wie die rechte Fan- Sachsen. Demnach interessiert die Behör- mer für Aktionen mobilisierbar sind«, sagt gruppe »Kaotic« mobilisierten Anhänger de vor allem die schnelle Mobilisierung Ulli Jentsch vom Antifaschistischen Pres- der »NS-Boys« über ihre Kanäle die aktu- der Rechtsextremen bei den Protesten in searchiv aus . ellen Aufmärsche in Chemnitz. Zwar wer- Chemnitz. Es gelte nun herauszufinden, Der Verein beobachtet die bundesdeut- den die beiden Gruppen vom Verfassungs- ob sich dahinter Strukturen verbergen und sche Szene seit fast drei Jahrzehnten, auch schutz beobachtet und haben seit Jahren welche das sein könnten. Die Bundesan- in Chemnitz. Das Spektrum an Akteuren Stadionverbot. Dennoch gilt ihr Einfluss waltschaft ist unter anderem zuständig für in der Region sei groß. »Von Funktionären auf die gemäßigte Szene als groß. die Verfolgung von Terrorgruppen. der Neuen Rechten über völkische Fami- Im zweiten Obergeschoss einer Villa Generalbundesanwalt Peter Frank hatte lien, Reichsbürger bis zum Dritten Weg, scrollt Andreas Löscher durch Twitter und kurz nach seinem Amtsantritt im SPIEGEL der Neonazipartei, gibt es dort alles«, sagt Facebook, um Berichte von Attacken auf eine härtere Gangart gegen Rechtsextre- Jentsch. Immer wieder werden Scheiben Migranten zu finden und zu verifizieren. misten angekündigt. Sollte es bei Strafta- bei Initiativen eingeschlagen, die sich ge- Er arbeitet als Sozialpädagoge bei der Op- ten gegen Flüchtlinge zu »pogromartigen gen rechte Umtriebe engagieren. Im No- ferberatung der RAA Sachsen, einem Pro- Szenen«, Toten oder Schwerstverletzten vember 2016 explodierte ein Sprengsatz jekt, das Betroffenen rassistischer Gewalt kommen, müsse der Staat »ein Gegenfa- im Schaufenster des Kulturzentrums Lo- hilft. Auf einem Blatt Papier hat Löscher nal« setzen (SPIEGEL 6/2016). komov, nachdem dort ein Theaterstück eine Liste angefertigt. »Übersicht Angriffe Die rechten Demonstranten nehmen zum NSU aufgeführt worden war. Im 26.8.2018« steht dort. Ein Syrer wurde zu das Opfer der Messerattacke zum Anlass Stadtteil Sonnenberg, wo das Lokomov Boden gerissen und getreten. Ein weiterer für eine Machtdemonstration. Als Märty- beheimatet ist, wollten Rechtsextreme vor Syrer bedrängt. Ein Bulgare hat Anzeige rer im rechten Sinne eignet sich Daniel H. erstattet wegen Nötigung. Insgesamt hat aber nicht. Gutmütig, fröhlich, politisch Löscher sieben Angriffe am Sonntag ge- eher links, so beschreiben ihn seine Freun- Umfrage in Sachsen zählt, Montag kamen weitere elf dazu. de. Auf Facebook gefielen ihm Bob Marley Auf das, was hier in Sachsen erreicht wurde, »Das sind bislang nur vorläufige Zahlen«, und Sahra Wagenknecht, er folgte Grup- kann man stolz sein. sagt Löscher. Und doch ist er sich sicher: pen wie »Kein Bock auf Nazis«. »Diese So etwas hat er in Chemnitz noch nicht er- Stimme voll/eher zu Rechten, die das als Plattform nutzen, mit 87% lebt. Löscher, 37, kennt die rechtsextreme denen mussten wir uns früher prügeln, Die wirtschaftliche Lage in Sachsen ist besser als Szene der Stadt seit gut 20 Jahren. Im ver- weil sie uns nicht als genug deutsch ange- in den anderen ostdeutschen Bundesländern. gangenen Jahr zählte er 20 Übergriffe, im sehen haben«, schrieb einer der Bekann- Jahr 2016 waren es 32. In diesem Jahr rech- ten von Daniel H. auf Facebook. 70% net er mit einer Steigerung angesichts der Dieser Freund, der ebenfalls Daniel vielen Vorfälle in den vergangenen Tagen. Es sollte mehr Geld für die deutsche Einheit als für heißt, kannte ihn seit fast 20 Jahren. Als die Integration von Ausländern ausgegeben werden. Am Montag hatte Löscher voraus- Teenager lernten sie sich auf einer Party schauend eine Warnung auf Facebook ge- kennen. Sie einte, dass ihre Väter in der 58% stellt. Auf dem Profil der Beratungsstelle DDR studieren konnten, weil sie aus dem schrieb er um zwölf Uhr: »Auch wenn es sogenannten sozialistischen Ausland ka- Nach der Wiedervereinigung der beiden deutschen uns schwerfällt, diesen Gedanken auszu- Staaten wurde vielfach neues Unrecht geschaffen. men. Der Vater dieses Freundes stammt sprechen, empfehlen wir Migrant_innen, aus Tansania, H.s aus Kuba. »Daniel war 58% die Innenstadt ab Nachmittag großflächig der Typ Mensch, der für seine Familie und zu meiden.« Eine No-go-Area für Aus- seine Freunde alles getan hätte«, sagt der Die Ostdeutschen sind in Deutschland länder, mitten in einer deutschen Univer- Kumpel, »die Proteste hätte er niemals ge- Bürger zweiter Klasse. sitätsstadt? »Für uns als Opferberatung wollt.« Warum trotzdem Bekannte seines 44% gleicht es einer Kapitulation«, sagt Lö-

Freundes zu Rache aufrufen, kann er sich Umfrage von dimap; »Sachsen-Monitor« im Auftrag der Sächsischen scher. »Aber wir können doch nieman- nicht erklären. »Deppen gibt es überall.« Staatskanzlei; 1006 Befragte vom 20. Juli bis 24. August 2017 den in Gefahr bringen.«

14 DER SPIEGEL Nr. 36 / 1. 9. 2018 TOBIAS VOLMAR / ACTION PRESS / ACTION VOLMAR TOBIAS RICO LOEB / DPA LOEB RICO Proteste in Chemnitz, geplante Unterkunft in Bautzen, Bus mit Flüchtlingen in Clausnitz*: Sachsen, braunes Sorgenkind

Wie schnell es in Chemnitz gefährlich selbst gezimmerte Möbel im Garten, Kat- sie trauten sich nicht mehr auf die Straße werden kann, berichten zwei junge Frauen, zen, die herumstreunen. Das »Kompott« aus Angst vor kriminellen Ausländern. die sich Antonia und Marie nennen. Allein, war immer wieder Ziel rechter Angriffe. Das machte ihn ratlos. dass sie nicht ihre echten Namen gedruckt 2017 warfen Nazis Steine in die Schaufens- »Jeder Übergriff ist einer zu viel und sehen wollen, hat etwas mit dieser Gefahr ter des Lesecafés. Eine Mutter und ihr schrecklich für die Betroffenen«, sagt Run- zu tun. Sohn saßen dahinter, glücklicherweise blie- kel. »Aber in jeder Stadt mit 250000 Ein- »Chemnitz ist ein großes Dorf«, sagt Ma- ben sie unverletzt. wohnern kommt es leider zu Tötungsde- rie. »Rechtsextremen begegnet man hier, Angst scheint ein beherrschendes The- likten oder Vergewaltigungen. Dass Flücht- sobald man aus der Haustür kommt. ma in Chemnitz zu sein. Miko Runkel ist linge dabei eine besondere Rolle spielen, Rechts sein ist in Chemnitz für viele abso- seit zehn Jahren Ordnungsbürgermeister kann ich nicht bestätigen.« Im Jahr 2015 lut kein Problem. Aber wer hier sein Ge- von Chemnitz, davor war er Staatsanwalt musste Chemnitz die Erstaufnahme von sicht zeigt, um sich für linke Politik einzu- und Richter. Er sah in diesen Tagen Bürger Flüchtlingen für den ganzen Freistaat leis- setzen, der läuft Gefahr, bedroht zu wer- seiner Stadt, wie sie im Fernsehen sagten, ten. »Da hatten wir 70000 Geflüchtete in den«, sagt Antonia. der Stadt«, sagt Runkel. »Klar gab es da Die beiden Frauen leben im »Kompott«, auch mal Handgreiflichkeiten.« Aber mitt- * Unten links: nach dem Anschlag 2016; unten rechts: einem linksalternativen Kultur- und Wohn- bei Versuchen, Flüchtlinge am Einzug zu hindern, lerweile habe sich die Lage entspannt. Aus projekt: viele Graffiti an den Wänden, 2016. den letzten Jahren kann Runkel sich an

15 ODD ANDERSEN / AFP Schweigeminute für Daniel H. im Chemnitzer Stadion*: »Wir können diesen Kampf gewinnen« keine Tat erinnern, die mit der jetzigen Bei den schweren Verbrechen Mord und che das ist.« Sie stammte vom Sächsi- vergleichbar wäre. Im Kriminalpräventi- Totschlag sind die Fallzahlen so gering, schen Landeskriminalamt. ven Rat der Stadt sind herumlungernde dass Schwankungen im Zufallsbereich lie- Die besagt allerdings auch: Etwa ein Jugendliche verschiedener Nationalitäten gen können. Im vergangenen Jahr gab es Fünftel aller Tatverdächtigen, nämlich ein Thema und eine bessere Beleuchtung 27 Morde und 69 Fälle von Totschlag. Zwi- 18949, sind Nichtdeutsche, knapp die im Park, nicht Messerstecher. schen 2011 und 2014 wurden in ganz Sach- Hälfte davon wiederum sind Zuwanderer. Zuletzt investierte die Stadt jährlich sen jeweils um die 110 Vergewaltigungen Mehr als 7000 Taten gehen laut Polizei 80000 Euro in Projekte für Aufklärung, und schwere sexuelle Nötigungen ange- auf das Konto von 677 Intensivtätern über- Demokratie, Toleranz und ein weltoffenes zeigt. 2015, im Jahr der großen Flüchtlings- wiegend aus Libyen, Marokko, Tunesien Chemnitz. Videokameras werden gerade welle, waren es 81. Die Zahlen von 2017 und Georgien. installiert, eine mobile Polizeiwache ist sind wegen Veränderungen im Sexualstraf- In rund 17 Prozent aller Fälle ging es eingerichtet, als Anlaufstelle für die Bürger. recht und der statistischen Zählweise nicht um Körperverletzung, Sexualstraftaten »Die Sicherheitslage in Chemnitz ist gut«, mehr vergleichbar. machten 1,5 Prozent der Taten aus, Straf- sagt Runkel. Aber was sind schon polizeiliche Sta- taten gegen das Leben: 0,2 Prozent. Aber Trotzdem wurde schon vor dem tödli- tistiken? Drei sächsische Bundestagsab- wer sind die Opfer? In der Statistik stecken chen Angriff auf Daniel H. in der Stadt geordnete der AfD jedenfalls scheren sich viele Auseinandersetzungen in Flüchtlings- über nichts so heftig diskutiert wie über nicht darum, sie machten in einer Presse- unterkünften, häusliche Gewalt. Wie viele Kriminalität und angebliche No-go-Areas konferenz eine eigene Rechnung auf: Bür- Deutsche Opfer von Zuwanderern werden, in der Innenstadt. Gastronomen blieb die ger hätten Angst um ihre eigene Sicher- sagt die Statistik nicht. Kundschaft weg. »Aber wenn man die heit und die ihrer Kinder, befand der stell- Zugleich liegt Sachsen bei der Zahl der Leute fragt, ist ihnen selbst nie was pas- vertretende Fraktionsvorsitzende Tino rechten Gewalttaten seit Jahren bundes- siert«, sagt Runkel. »Da ist viel gefühlte Chrupalla. »Vor allem in der schweren weit in der Spitzengruppe. 95 davon gab Bedrohung.« Kriminalität, Mord, Raub, Vergewalti- es laut Verfassungsschutzbericht dort 2017. Die sächsische Kriminalstatistik gibt gung«, sei eine Zunahme zu erkennen. Diejenigen, die dafür zu sorgen haben, dem Ordnungsbürgermeister recht. Da- Eine ARD-Korrespondentin fragte, wie dass die Chemnitzer Bürger ohne Angst nach sank die Zahl aller Straftaten im Frei- dies damit in Einklang zu bringen sei, in der Stadt leben können, müssen zurzeit staat Sachsen im vergangenen Jahr leicht, dass laut Statistik die Gewaltkriminalität erklären, warum sie das Ausmaß der rech- um 0,5 Prozent. Weniger Wohnungsein- in Sachsen zurückging. »Ich kenne jetzt ten Proteste unterschätzt haben. Obwohl brüche, weniger Kfz-Diebstähle, weniger Ihre Statistik nicht«, sagte Chrupalla. der Verfassungsschutz vor einer »mittleren Raubdelikte. Die Zahl der Straftaten in »Die müssten Sie mir mal vorlegen, wel- vierstelligen« Zahl an Protestierenden ge- den Gemeinden entlang der Grenzen zu warnt hatte, verzichtete die Chemnitzer Polen und Tschechien ist auf dem niedrigs- * Mit Ministerpräsident Michael Kretschmer (l.) am Polizei darauf, Verstärkung anzufordern. ten Stand seit mehr als zehn Jahren. 30. August. Die »hässlichen Bilder« aus Chemnitz hät-

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ten nur mit »erheblich stärkeren Kräften« fen und sich ehrenamtlich in der Arbeit Neun Jahre später behauptete er, die verhindert werden können, sagt Jörg Ra- mit Flüchtlingen engagiert. Darüber hätten sächsische Bevölkerung sei »völlig immun« dek, der stellvertretende Bundesvorsitzen- die überregionalen Medien nur nicht mehr gegenüber den rechtsradikalen Versuchun- de der Gewerkschaft der Polizei. »Diese berichtet, sagt der 40-Jährige. gen. In Sachsen hätten noch keine Häuser hätten sicherlich auch aus anderen Bun- Er weiß aber auch darum, wie groß das gebrannt, es sei auch noch niemand ums desländern und dem Bund angefordert rechtsextreme Problem in Sachsen noch Leben gekommen. Tatsächlich waren zu werden müssen.« Doch nichts geschah. immer ist. »Politische Bildung und das An- dem Zeitpunkt seit der Wende fünf Men- »Wir haben die Lage unterschätzt«, räumte sprechen und Diskutieren kontroverser schen durch rechtsmotivierte Taten getötet ein Polizeisprecher ein. Themen in der Schule« sei lange verpönt worden. Die Opposition diagnostizierte Es ist nicht das erste Mal, dass die säch- gewesen. »Parteipolitische Neutralität wur- schon damals Realitätsverlust. sische Polizei im Verdacht steht, gegen de als gesellschaftspolitische Neutralität Statt sich um die radikale Jugend in sei- rechts nicht mit dem nötigen Willen und missverstanden.« Die neue Landesregie- nem Land zu kümmern, pflegte Bieden- der nötigen Kraft vorzugehen. Die Polizei, rung unter CDU-Ministerpräsident Micha- kopf, gern als »König Kurt« verehrt, lieber so versucht ein Vollzugsbeamter des Hö- el Kretschmer habe das Thema nun end- einen heimeligen Regionalpatriotismus. heren Dienstes die AfD- und Pegida-Nähe lich in den Fokus gerückt und ein umfang- Eine »Sachsen-Tümelei, die in vielschich- einiger Kollegen zu erklären, spiegele die reiches Bildungsprogramm namens W wie tiger Weise die Sachsen als ein besonders Gesellschaft wider und auch deren Ent- Werte in den Schulen aufgelegt. Auch habe intelligentes, besonders heimatverbunde- wicklung. Die gesellschaftliche Mitte ero- Sachsen ostdeutschlandweit eines der um- nes, ein besonders liebenswertes Volk mit diere, während die Ränder erstarkten. Da- fassendsten Präventionsprogramme. einer wunderbaren Natur, mit einer groß- von bleibe die Polizei nicht unberührt. Die sächsische CDU und der Umgang artigen Technikergeneration hervorge- »Der Spagat wird immer größer«, sagt der mit dem Rechtsextremismus ist über weite kehrt hat«, wie es Frank Richter be- Beamte, »man ist entweder Willkommens- Strecken die Geschichte eines Versagens. schreibt, Theologe, DDR-Bürgerrechtler extremist oder Nazi.« Selbst Marco Wanderwitz, heute Parla- und langjähriger Chef der Landeszentrale Hinzu kommen Frust und Arbeitsüber- mentarischer Staatssekretär im Bundes - für politische Bildung. Der Tenor sei ge- lastung, Anfang der Zweitausenderjahre innenministerium, sagt: »Wir haben als wesen: »Ja, möglicherweise sind wir dann hatte Sachsen damit begonnen, systema- CDU in Sachsen beim Rechtsextremismus doch besser als andere.« Von Selbstkritik tisch Stellen bei der Polizei abzubauen. Je- viele Jahre nicht richtig hingeschaut und keine Spur. des Jahr wurden weniger Beamte einge- nicht richtig hingelangt.« Unter Biedenkopfs Nachfolger Georg stellt, als im selben Jahr in Pension gingen. Es begann gleich nach der Wende, als Milbradt änderte sich das Engagement ge- Reviere wurden geschlossen, ganze Land- Regierungschef Kurt Biedenkopf dem gen Rechtsextremismus kaum. 2007 griff striche waren quasi ohne Polizei. Fortbil- Land mit einem Wahlergebnis von 53,8 im sächsischen Mügeln ein rechtsextremer dung gebe es in der sächsischen Polizei Prozent vorstand. Damals, im September Mob eine Gruppe Inder an. Die Behörden kaum noch, klagt Hagen Husgen, Landes- 1991, randalierten 500 Menschen in mochten keinen rechtsextremistischen vorsitzender der Gewerkschaft der Polizei. Hoyerswerda vor zwei Ausländerwohn- Hintergrund erkennen, Milbradt sorgte Die politische Bildung sei »komplett auf heimen, es gab gespenstische Szenen. Bie- sich um das Image. Es habe keine Hetzjagd null« gefahren worden. denkopf erklärte in einem Interview, die in Mügeln, sondern »eine Hetzjagd auf Es gibt in Sachsen aber auch positive Menschen im Osten seien mit dem Zusam- Mügeln« gegeben. Veränderungen, Sebastian Reißig weiß da- menleben mit Menschen aus anderen Kul- Stanislaw Tillich, dem die eigenen Leute von zu erzählen. Er ist Geschäftsführer turen halt nicht vertraut. Das Gespräch teilweise das genuin Sächsische abspra- der »Aktion Zivilcourage« und hat 22 gipfelte in der Erkenntnis: »Das eigent- chen, weil er zur sorbischen Minderheit ge- hauptamtliche Angestellte. Vor 20 Jahren liche Problem ist die Einwanderung.« hört, veränderte zumindest die Wortwahl. startete die Aktion als ehrenamtliche Ju- Im Juli 2015 plädierte er in einer Regie- gendinitiative im sächsischen Pirna, als rungserklärung für Internationalität und Reaktion auf die Wahlergebnisse der Prävention gegen Weltoffenheit. Gewalt und Hass gegen NPD und Gewaltaktionen rechtsextremer Rechtsextremismus Flüchtlinge verurteilte er scharf: »Ich er- Gruppen wie der Skinheads Sächsische Ausgaben des Bundes für das Programm warte, dass alle im Freistaat Sachsen dem Schweiz. Reißig, damals 21 Jahre alt, war »Demokratie leben!« 2016 und 2017* entschieden entgegentreten. Hier hört jede bei der Gründung des Vereins dabei. Heu- Toleranz auf.« Kurz darauf kam es zu den te vermitteln er und seine Mitarbeiter die Mecklenburg-Vorpommern Übergriffen in Heidenau. Wieder reagierte Grundlagen der Demokratie und eines pro 1000 Einwohner: 1845€ Tillich deutlich: »Das ist nicht unser Sach- respektvollen Miteinanders an Schulen sen. Hier verstößt eine Minderheit brutal und in Kitas. »Die Unterstützung des Thüringen gegen Werte und Gesetze Deutschlands.« Staates ist gewachsen, der Bedarf aber 1828€ Das Problem war nur, dass er inzwischen auch«, sagt Reißig. ständig derartige Erklärungen herausgeben Dass die Arbeit langfristig wirke, zeige Sachsen-Anhalt musste. Weil es ständig an einer anderen sich in Pirna, wo es eine Vielzahl von en- 1329€ Ecke im Freistaat brannte. gagierten Organisationen und eine gute Um zu verstehen, warum vor allem der Zusammenarbeit zwischen staatlich Ver- Brandenburg Osten die hässlichen Bilder jagender Nazis antwortlichen und bürgerschaftlich Enga- 1023€ bietet, muss man auf die Geschichte bli- gierten gebe. cken: Pogrome gab es bereits unter der Sachsen Ausgaben Auch aus Heidenau, wo Hunderte De- für alle Länder Herrschaft der SED. Der Berliner Histori- monstranten versucht hatten, den Einzug 709€ 2016/17 ker Harry Waibel hat die ostdeutschen Ar- rund von Asylbewerbern in eine Halle zu ver- Bundesdurchschnitt chive durchforstet und listet mehr als 8600 hindern, weiß Reißig ein positives Beispiel 42 Mio. € neonazistische, rassistische und antisemi- zu nennen. Hunderte Menschen aus der 514€ tische Propaganda- und Gewaltdelikte in

Region seien einem Aufruf der Aktion Zi- *abgerufene Förderbeträge der Kommunen der DDR auf, mindestens zehn Menschen vilcourage gefolgt, viele hätten mitgehol- Quelle: Bundestagsdrucksache 19/1012 starben.

17 Titel

Zu Zeiten der SED waren Ausländer, tischtour«. Am Dienstag stand das Möbel Nachwuchs, selbst haben wir ja nicht ge- meist aus sogenannten Bruderstaaten des hoch oben über Meißen, im Ballsaal des nug gemacht.« Ostblocks, in eigenen Wohnheimen unter- einst königlich-sächsischen Burgkellers. Immer wieder wird die AfD zum The- gebracht. Eine Verbrüderung mit der ein- Der Raum ist gut gefüllt, an Duligs Kü- ma. Dulig hakt ein. »Unser größter politi- heimischen Bevölkerung war nicht ange- chentisch stehen acht Stühle. Die örtliche scher Gegner ist nicht die AfD. Es ist die strebt. Waibel zeigt auf, dass es in der SPD-Bundestagsabgeordnete sitzt dabei, Angst. Der müssen wir Hoffnung und Zu- DDR seit 1975 fast 40 rassistische Angriffe Dulig und Frank Richter, der gern Ober- versicht entgegensetzen.« auf diese Wohnheime gab. In der Bundes- bürgermeister von Meißen werden will. Das dimap-Institut befragte im Sommer republik wurde bis 1992 »kein rassistischer Die freien Stühle können von interessier- 2017 im Auftrag der Sächsischen Staats- Angriff eines Mobs auf Wohnungen von ten Menschen aus dem Publikum besetzt kanzlei rund tausend Sachsen. Die Ergeb- Ausländern« bekannt, so Waibel. werden. Die Regeln sind übersichtlich. nisse offenbaren eigentümliche Widersprü- Die Gründe, die der Wissenschaftler für Nicht dazwischenrufen, ausreden lassen, che: Die überwältigende Mehrheit der Be- die Überfälle anführt, klingen bekannt: So- kurz fassen, sachlich bleiben. fragten hält Sachsen für ein gut regiertes zialneid und sozialdarwinistische Anschau- Natürlich muss es in dieser Woche um Bundesland – doch hegt abgrundtiefes ungen. Den Fremden wurde die falsche Chemnitz gehen. »Es bedrückt mich sehr«, Misstrauen gegenüber den »Politikern«. Einstellung zur Arbeit vorgeworfen, ihre sagt Dulig im Burgkeller. Er habe Mitge- 81 Prozent wünschen sich mehr direkte Ordnungs- und Sauberkeitsgewohnheiten fühl mit den Angehörigen des Todesopfers. Demokratie, aber wenn es darum geht, als »ekelerregend« abqualifi- ziert. Die Unzufriedenheit vie- ler Deutscher über ihre eigene politische und ökonomische Situation habe sich in Aggres- sionen gegen die Migranten entladen. Die Staatsmacht im Osten drückte dabei regel - mäßig beide Augen zu. Selbst die Parolen waren die gleichen wie heute. 1987 trafen in Leipzig 50 Deutsche und 50 Araber aufeinander, die Meute rief: »Deutschland den Deutschen«, »Ausländer raus«, »Deutschland erwa- che«. In Merseburg bei Halle hatte 1979 ein rasender Mob Kubaner vor sich her und in die Saale getrieben. Zwei Ku- baner ertranken. Niemand wurde zur Verantwortung gezogen. Mit Zustimmung der DDR-Generalstaatsan- waltschaft wurde das Ermitt-

lungsverfahren eingestellt, KIETZMANN BJOERN »zumal keine erheblichen ge- Wandbild in Dresden: Der hässliche Deutsche, er ist zurück sundheitlichen und materiel- len Schäden vorliegen«. Nun tobt wieder der Mob, und ein SPD- »Doch niemand hat das Recht auf Selbst- sich selbst politisch zu beteiligen, halten Politiker glaubt, dass auf Dauer nur eines justiz.« Richtig sei aber auch: Man könne sie sich lieber fern. hilft, um die demokratische Gesinnung den Kampf gegen rechts nicht nur an die Als wichtigstes Problem, vor der Alters- wieder unters Wählervolk zu bringen: re- Politik delegieren. armut oder der Infrastruktur, nennen sie den. Der sächsische Wirtschaftsminister Eine Frau kommt an den Tisch und will »Asylpolitik« und »Überfremdung«. 56 Martin Dulig findet als einer von wenigen wissen, ob sie der AfD mit Buhrufen be- Prozent halten die Zahl der Fremden im seit Jahren klare Worte, wenn es im Frei- gegnen könne. Manchmal, sagt Frank Rich- Land jetzt schon für »gefährlich« – dabei staat zu rechten Ausschreitungen kommt. ter, könne man das ruhig tun. Aber die geben die meisten an, kaum je persönlich Das hat auch mit einer persönlichen Er- Rechten verfolgten die Strategie, die Ge- Kontakt mit Ausländern zu haben. 38 Pro- fahrung zu tun: Im Juni 2015 schlugen sellschaft in den Kampfmodus zu treiben. zent würden gern Muslimen die Zuwan- Rechtsextreme mit Baseballschlägern auf Da helfe mitunter die Vogelperspektive derung nach Deutschland untersagen. ein Auto ein, in dem sie Unterstützer einer und vor allem die inhaltliche Auseinander- Dabei sind die meisten Bürger mit ihrer Flüchtlingsunterkunft in Freital vermute- setzung. »Bei lautem Widerstand bekom- eigenen Lebenssituation – Arbeit, Wohnen, ten. Unter den fünf Insassen war Duligs men die, was sie wollen.« Freizeit – zufrieden, optimistisch blicken Sohn. Ein Gastronom, der Beschäftigte aus al- die Sachsen in die Zukunft. Aber zugleich Vor zwei Jahren hat Dulig deshalb sei- ler Herren Länder hat, beklagt, dass Men- sind sie zutiefst davon überzeugt, nicht das nen Küchentisch in den Dienst der aufklä- schen nicht von Ausländern bedient wer- Stück vom Kuchen abzubekommen, das rerischen Sache gestellt. Mit ihm reist der den möchten. »Ich sage denen dann, dann gerecht wäre. Beharrlich fühlen sich viele Minister übers Land, um zuzuhören und müsst ihr wieder gehen.« Er plädiert für Sachsen als Bürger zweiter Klasse. zu unterstützen. 44-mal war er schon un- Zuwanderung, erinnert an die Überalte- »Diese Ambivalenz ist typisch für Sach- terwegs, das Ganze nennt sich »Küchen- rung der Gesellschaft. »Wir brauchen sen«, sagt Hans Vorländer. Der Dresdner

18 DER SPIEGEL Nr. 36 / 1. 9. 2018 Politikwissenschaftler bietet dafür eine Er- und Organisationen –, fand in der DDR Stimme, erklären ihnen die Welt. Die Mig- klärung an, die das Gefühl der Kränkung nicht statt. Das Bürgertum definierte sich ranten nehmen uns die Arbeitsplätze weg, in den Mittelpunkt rückt. Die erste Krän- in seinen Nischen über Kunst, Kultur, Wis- sie bedrohen unsere Kultur, sie bedrohen kung verortet der Professor in der Ge- senschaft, Literatur. Bis die Fremden aus unsere Frauen. Die Migranten müssen schichte des Landes: »Es gibt ein spezifisch dem Westen kamen und vieles rücksichts- weg, damit es uns wieder gut geht.« sächsisches Opfer-Narrativ. Es wurzelt im los und oft arrogant nach ihren Regeln um- Die AfD profitiert nachweislich von die- Mythos der unschuldigen, schönen Barock- krempelten – so zumindest die Wahrneh- sem Opfer-Narrativ. Laut Umfragen von stadt Dresden, von angloamerikanischen mung derjenigen, die noch 1990 zu den Infratest dimap im Auftrag des MDR leg- Bomberverbänden in Schutt und Asche Verlierern gehörten. ten die Rechtspopulisten in ganz Mittel- gelegt.« Die Nazis pflegten diesen Mythos, Inzwischen, betont Vorländer, stünden deutschland deutlich zu: In Thüringen der SED-Staat ebenso. Mit jedem Gedenk- viele Bürger auf gegen rechts, unterstütz- kommt die AfD in der Sonntagsfrage ak- tag an die Zerstörung Dresdens am 13. Feb- ten Geflüchtete, wollten Hass und Gewalt tuell auf 23 Prozent, eine Steigerung von ruar 1945 habe sich das Lebensgefühl fes- als Zivilgesellschaft nicht hinnehmen. 10 Prozentpunkten gegenüber dem Vor- ter eingenistet, Opfer unkontrollierbarer »Auch wenn sie weniger sichtbar sind: Sie jahr. In Sachsen landet sie bei 25 Prozent Vorgänge geworden zu sein. sind die Mehrheit.« (plus 4 Prozentpunkte) – gerade einmal Dann kam die Wende und mit ihr eine An vielen Stellen trete nun ein Riss her- 5 Prozentpunkte hinter der CDU. Die töd- Invasion von Fremden: Wessis, die alle vor, der mitten durch die sächsische bür- liche Messerattacke von Chemnitz ist bei den Erhebungen noch gar nicht berücksichtigt; dass sie aber die Pro-AfD-Stimmung weiter anheizen wird, ist unbe- stritten. Schon seit Längerem su- chen sich die Rechtspopulisten gezielt geeignete Gewaltver- brechen heraus, um politi- sches Kapital daraus zu schla- gen. Die Wortwahl ihrer Pro- paganda übertrifft dabei nicht selten den Hetzjargon der rechtsextremistischen NPD. So behauptete die Chefin der AfD-Bundestagsfraktion, Ali- ce Weidel: »Das Abschlachten geht immer weiter.« Der AfD- Bundestagsabgeordnete Mar- kus Frohnmaier twitterte: »Heute ist es Bürgerpflicht, die todbringende ›Messermigra- tion‹ zu stoppen.« Er forderte indirekt zur Selbstjustiz auf: Wenn »der Staat die Bürger

IMAGO nicht mehr schützen« könne, Polizisten während der Aufmärsche in Chemnitz: Darauf verzichtet, Verstärkung anzufordern gingen »die Menschen auf die Straße und schützen sich selber«. wichtigen Positionen besetzten und sich oft gerliche Mitte geht. So etwa in Dresden Als Kritik an Frohnmaiers Tweet auf- aufführten, als seien sie in allem überlegen. in der Auseinandersetzung der Schriftstel- brandete, versuchte AfD-Chef Alexander Diesmal habe sich das kränkende Gefühl, ler Durs Grünbein und Uwe Tellkamp, Gauland zu beschwichtigen. »Selbstvertei- unschuldig zurückgesetzt und abgestraft zu beide in Dresden geboren, aber sie ver- digung ist mit Sicherheit nicht Selbstjustiz. werden, auf ganz Sachsen übertragen. stehen sich nicht mehr: Grünbein, der Nichts anderes ist gemeint.« In Hessen Und schließlich die dritte Kränkung: die Kosmopolit mit Wohnsitzen in Berlin und fühlten sich AfD-Funktionäre durch die Zuwanderung zahlreicher muslimischer Rom, und Tellkamp, der sein Leben haupt- Ereignisse in Chemnitz gleich zu einem Migrantinnen und Migranten im Jahr 2015, sächlich in seiner akademischen Turmge- Generalangriff auf die Pressefreiheit und aus der Wahrnehmung vieler Sachsen die sellschaft am Dresdner Weißen Hirschen einer massiven Drohung gegen unliebsa- nächste Fremdinvasion: »Da brach für vie- verbracht hat. »Zwei unterschiedliche me Journalisten ermuntert. le endgültig eine Welt zusammen, die sich Welten stoßen hier aufeinander«, sagt Vor- »Staatsberichterstatter« hätten »noch sächsisch definiert.« länder. »Begriffe wie Heimat und eine die Chance, sich vom System abzuwenden Aber die Landesregierungen hätten die- sehr stark regional bestimmte Identität und die Wahrheit zu berichten!«, schrieb se Kränkungen und den Ruck nach rechts, auf der einen Seite, kosmopolitische Of- die AfD-Fraktion des Hochtaunuskreises der sich daran anschloss, ignoriert, auch fenheit auf der anderen.« bei Frankfurt am Main am Dienstag auf die bürgerliche Mitte habe in weiten Teilen Da kämen AfD und Pegida ins Spiel, ihrer Facebook-Seite und fügte als deutli- stillgehalten. »Es fehlte der bürgerliche Re- »mit ihrer Projektion auf den Fremden, che Warnung an: »Bei uns bekannten Re- sonanzboden, der sich deutlich artiku- den Muslim, den Schwarzen aus Afrika, volutionen wurden irgendwann die Funk- liert.« Was im Westen nach dem Krieg der Frauen sexuell belästigt«, sagt Vorlän- häuser sowie die Presseverlage gestürmt Jahrzehnte brauchte – das Wachsen einer der. »Das ist es, was die Rechtspopulisten und die Mitarbeiter auf die Straße gezerrt. Zivilgesellschaft mit starken Institutionen schaffen. Sie geben den Menschen eine Darüber sollten die Medienvertreter hier-

19 Titel zulande einmal nachdenken, denn wenn Templin eine kleine, piefige Welt, die sie stattfand, übernahm er die Schirmherr- die Stimmung endgültig kippt, ist es zu schnell hinter sich ließ, als die Mauer fiel. schaft der Gegenveranstaltung. Bei dem spät.« Auch hier distanzierte sich der hes- Die Nostalgie, die viele Ostdeutsche nach Friedensfest vor Ort rief er den Menschen sische Landesvorstand, der Eintrag wurde der Wende befiel, teilte sie nicht, im Ge- zu: »Lasst uns gemeinsam ein starkes Zei- gelöscht. genteil: Sie konnte ihre Verachtung für chen setzen.« Der Kampf gegen Rechtsex- Dabei handelt es sich bei den martiali- jene, die die Chancen der neuen Zeit nicht tremismus sei dann erfolgreich, wenn er schen Kommentaren der AfD-Leute offen- ergriffen, nie ganz verbergen. aus der Mitte der Gesellschaft komme. bar nicht nur um spontane Verbalausfälle. Aber nichts hat die Ostdeutschen mit Dann reihte er sich in eine Menschenkette Vertrauliche Unterlagen aus dem AfD- Merkel so entfremdet wie die Flüchtlings- ein. Am 1. Mai stand er in Chemnitz bei Konvent belegen, dass parteiintern bereits krise. Natürlich formierte sich auch im der Kundgebung des DGB auf der Tribüne früh überlegt wurde, wie man spektakulä- Westen schnell Widerstand gegen ihre Po- und rief alle Bürger dazu auf, sich gegen re Gewaltverbrechen strategisch nutzbar litik der offenen Grenzen, aber nirgendwo Rechtsextremismus einzusetzen. machen könnte. war der Protest so hasserfüllt wie im Osten. So nahm man Kretschmer ab, als er So planten führende Politiker der hessi- Es war eine beidseitige Entfremdung: nach den Randalen von Chemnitz sagte, schen AfD im Spätsommer 2016, nach »is- Merkel hatte keinerlei Verständnis für jene dieses Ereignis »muss uns alle aufrütteln«. lamistischen Anschlägen mit Todesopfern spezielle Mischung aus Selbstmitleid und Und man dürfe »im Kampf gegen Rechts- oder Schwerverletzten« gezielt Stimmung Aggressivität, die den Fremdenhass im Os- extremismus nicht nachlassen«. Kretschmer kommt aus Görlitz. Gern verweist er auf die Stadt, wenn es um rech- te Phänomene geht. Anfang der Neunzi- gerjahre habe es dort eine starke rechtsex- treme Szene gegeben. Durch kluge Prä- vention mit Polizei, Staatsanwaltschaft und Schulen habe man »Ruhe hineinge- bracht«. Das Konzept will er auf den Frei- staat übertragen: »Wir können diesen Kampf gewinnen.« Es sind erstaunlich optimistische Ziele in diesen Tagen, in denen in Chemnitz die pu- re Angst vorherrscht. Als der Ministerprä- sident am Donnerstag zum Bürgerdialog nach Chemnitz kam, einem Termin, der schon lange geplant war, hatte »Pro Chem- nitz« wieder zum Protest eingeladen. Eine Gegendemo gab es nicht. Man könne die Sicherheit der Teilnehmer nicht garantieren. Chemnitz gleicht einer Stadt in einem Polizeistaat: Nachdem Sachsen um Hilfe gebeten hatte, schickte die Bundespolizei Hunderte Beamte, auch aus anderen Bun- desländern rückte Verstärkung an. Polizis-

SINGER/EPA-EFE/REX/SHUTTERSTOCK ten stehen nun fast an jeder Kreuzung. Ein Plakat bei Pegida-Demonstration in Dresden: Von Merkel doppelt verraten privater Sicherheitsdienst bewacht den Sit- zungssaal im Rathaus. Dennoch trauen sich ausländische Stu- gegen die Kanzlerin zu machen. Dazu, so ten gedeihen ließ. Viele Ostdeutsche wie- denten der Technischen Universität nicht heißt es in einem Antrag an den Parteikon- derum fühlen sich von Merkel gleich dop- aus dem Haus, um in die Bibliothek zu ge- vent, sollten »professionelle Plakate/Ban- pelt verraten: weil sie nie als Anwältin des hen. Die Ballettdirektorin des Theaters ner« mit der Aufschrift »DANKE, FRAU Ostens auftrat und dann plötzlich in der empfahl ihren Tänzern, nicht allein durch MERKEL!« beschafft werden, die nach At- Flüchtlingskrise ein Herz für Menschen die Stadt zu laufen. Viele stammen aus an- tentaten »an stark frequentierten Orten zeigte, die kein Wort Deutsch sprechen. deren Ländern. aufgehängt« werden könnten. Die Trans- Aus dem hässlichen Wort »Volksverräte- In Chemnitz ist gerade klar, wer den parente seien »im typischen ›AfD-Look‹ rin«, das Merkel nun überall im Osten ent- Kampf gewinnt. zu gestalten«, an Landes- und Kreisver- gegenschlägt, spricht nicht nur Wut, son- Matthias Bartsch, Maik Baumgärtner, bände zu verteilen und dort »vorrätig« zu dern auch eine seltsame Kränkung, die Jörg Diehl, Jan Friedmann, Lothar Gorris, halten (SPIEGEL 38/2016). sich aus dem Glauben speist, gerade Mer- Nils Klawitter, Martin Knobbe, Beate Es ist nicht ohne Ironie, dass gerade die kel müsse doch besondere Rücksicht auf Lakotta, Katharina Meyer zu Eppendorf, Ostdeutsche Merkel in Ostdeutschland so die komplexe Gefühlslage ihrer Landsleu- René Pfister, Christopher Piltz, Sven Röbel, Fidelius Schmid, Charlotte Schönberger, leidenschaftlich gehasst wird. Es gibt kaum te nehmen. Andreas Ulrich, David Walden, Wolf einen öffentlichen Ort, an dem die Kanz- Auch Michael Kretschmer, seit Dezem- Wiedmann-Schmidt, Steffen Winter lerin ungestört auftreten kann. Sobald sie ber 2017 als Ministerpräsident im Amt, erscheint, sind Menschen zur Stelle, die steht vor der Herausforderung, welchen Be- mit sich überschlagender Stimme »Volks- dürfnissen seiner Landsleute er nachgeben Animation: Wie es den Sachsen geht – verräterin« brüllen. soll und wo er die roten Linien zieht. Im und wie sie sich fühlen Merkel hat nie Rücksicht auf die Befind- Kampf gegen Rechtsextremismus ist der 43- spiegel.de/sp362018sachsen lichkeiten der Ostdeutschen genommen. Jährige erstaunlich klar: Als im April ein oder in der App DER SPIEGEL Die DDR war für die junge Physikerin aus Rechtsrockkonzert im sächsischen Ostritz

20 DER SPIEGEL Nr. 36 / 1. 9. 2018 Ein Jahr nach der Bundestagswahl – ein halbes Jahr GroKo Ralf Juergens Ralf Christian Thiel Susanne KraussSusanne

Christiane Hoffmann Harald Schmidt Jan Fleischhauer

Bevor sie mit der Arbeit begonnen hatte, konnte die Große Koalition bereits mit einem Rekord aufwarten: Mehr Zeit hat sich noch nie eine Bundesregierung fürs Zusammenkommen genommen. Im September steht damit ein Doppeljubiläum an: ein Jahr Bundestagswahl, ein halbes Jahr GroKo. Gelegenheit für die SPIEGEL-Journalisten Jan Fleischhauer und Christiane Hoffmann zusammen mit SPIEGEL-Videokolumnist Harald Schmidt eine Bilanz zu ziehen. Hat sich das Warten gelohnt? Was waren die schönsten Überraschungen des Politjahres, was die größten Enttäuschungen? Wie geht es mit Angela Merkel und Horst Seehofer weiter? Bleibt die SPD zweistellig? Darf man mit der AfD Fußball spielen? Und wird der Grüne Robert Habeck zum deutschen Macron?

Moderation: Christina Pohl, SPIEGEL-Podcast-Redakteurin

Montag, 17. September, 19 Uhr, Spiegelsaal, Clärchens Ballhaus, Auguststraße 24, 10117 Berlin

Karten im Vorverkauf, an der Abendkasse und unter spiegel-live.de. Eintritt: 15 Euro, ermäßigt 12 Euro, Abonnenten 12 Euro, zzgl. Gebühren. Einlass ab 18 Uhr. Änderungen vorbehalten. Verpassen Sie keine Veranstaltung mehr, und melden Sie sich für unseren Newsletter unter spiegel-live.de an. Deutschland

Erstmals könnte wieder ein Deutscher in das wichtigste Amt Europas aufrücken. ‣S.26 JOHANNES MÜLLER / BUNDESWEHR Hubschraubereinsatz der Bundeswehr in Mali

Haushalt Rechnungshof kritisiert Wehretat Die für neues Gerät vorgesehenen Gelder bleiben teilweise liegen.

Der Bundesrechnungshof hat Zweifel daran, dass die Personalmangel im Beschaffungsamt und Lieferprobleme von Bundesministerin Ursula von der Leyen (CDU) durch - der Industrie seien »nicht kurzfristig abzustellen«. Statt- gesetzte Steigerung des Verteidigungsetats die Einsatzbereit- dessen erwartet der Rechnungshof, dass »erhebliche Mittel schaft der Bundeswehr verbessert. In ihrem Bericht vom für andere Zwecke eingesetzt oder in die Rücklage für Rüs- 29. August warnen die Experten, die vorgesehenen zusätzli- tungsinvestitionen fließen werden«. Von der Leyen hatte chen Mittel könnten womöglich zu großen Teilen nicht aus- die Zusatzmittel mit Verweis auf marodes Material und die gegeben werden. Das Verteidigungsministerium soll 2019 Nato-Forderung durchgesetzt, Deutschland solle zwei Pro- rund 42,9 Milliarden Euro bekommen, 9,5 Milliarden davon zent des Bruttoinlandsprodukts für die Verteidigung aus- sind für sogenannte verteidigungsinvestive Ausgaben vorge- geben. »Geld, das gar nicht ausgegeben werden kann, in den sehen. Der Rechnungshof hält es aber nach dem »stocken- Wehretat einzustellen, wirkt wie Zahlentrickserei, um dem den Mittelabfluss der letzten Jahre« für unwahrscheinlich, Zwei-Prozent-Ziel näherzukommen«, kritisiert der Grünen- dass das Geld tatsächlich für neues Gerät ausgegeben wird. politiker Tobias Lindner. MGB

Rüstungsexporte heißt es in einem Thesenpapier, das die tungsindustrien investiert wird, sollte die SPD fordert EU-Kontrolle SPD-Europaparlamentarier vor der Som- EU verbindliche Exportkriterien für Rüs- merpause verabschiedet haben. Dies soll tungsgüter haben«, sagt der verteidigungs- Die Europa-SPD setzt sich dafür ein, nach Willen der SPD-Parlamentarier auch politische Sprecher der SPD im Europa- dass die EU-Mitgliedstaaten ihre Richtlini- für Projekte gelten, die künftig aus dem parlament, Arne Lietz. Lietz drängt en für Rüstungsexporte angleichen. »Wir von der Kommission geplanten EU-Vertei- zudem auf »eine verbindliche europäische streben eine abgestimmte restriktive Rüs- digungsfonds finanziert werden. »Wenn Liste mit Staaten, an die keine Rüstungs- tungsexportpolitik in ganz Europa an«, europäisches Geld in europäische Rüs- güter geliefert werden dürfen«. MP

22 DER SPIEGEL Nr. 36 / 1. 9. 2018 Kleine Anfragen den. In der aktuellen Legislaturperiode Bundesregierung Zögerliche Antworten hat Schick nach eigenen Angaben elf Altmaier behält roten Kleine Anfragen gestellt. In allen Fällen Der Opposition arbeitet das Bundes - bis auf zwei bat das Ministerium um Frist- Chefökonomen finanzministerium zu langsam. Das Haus verlängerungen – im Schnitt um mehr als von Olaf Scholz (SPD) beantworte fünf Wochen. In zwei Fällen erhob Bundeswirtschaftsminister Peter Alt- Kleine Anfragen »massiv zeitverzögert, Schicks Fraktion jetzt Einspruch und maier droht mit einer Personalie seine knapp und ausweichend«, moniert der bestand auf eine frühere Beantwortung. Partei zu verärgern: Der Christdemo- grüne Bundestagsabgeordnete Gerhard »Das Fragerecht ist eines der zentralen krat hält an dem Sozialdemokraten Phi- Schick. Eigentlich müssen die Anfragen Rechte der Abgeordneten und dient der lipp Steinberg als Chefökonom seines laut Geschäftsordnung des Bundestags Kontrolle der Bundesregierung«, sagt Ministeriums fest. Der 44-jährige Berli- binnen zwei Wochen beantwortet wer- Schick. ASE ner wurde bereits von Altmaiers Vor- gänger Sigmar Gabriel (SPD) berufen. Altmaier hatte nach seinem Amtsantritt eine Neubesetzung der wichtigen Stelle Islamisten den des Bundes und des Landes veran- in Aussicht gestellt, wurde aber offen- »Zeitnahe Rückkehr« lasst werden«. Während eines möglichen sichtlich noch nicht fündig. Im Wirt- Rückflugs solle Sami A. durch die Bun- schaftsflügel der Union trifft die Perso- Die Behörden in Nordrhein-Westfalen despolizei bewacht werden. FIS nalie auf Unverständnis. »Ich kenne stellen sich auf eine »zeitnahe Rückkehr« und schätze Herrn Steinberg persön- des zu Unrecht abgeschobenen Islamis- lich«, sagt der wirtschaftspolitische ten Sami A. ein. Man unterliege einer Sprecher der CDU/CSU-Bundestags- »bestehenden rechtlichen Verpflich- fraktion, Joachim Pfeiffer. »Aber auf tung«, schreibt Bochums Stadtdirektor dieser Position, auf der ein Vater der Sebastian Kopietz in einem Brief an die sozialen Marktwirtschaft wie Alfred Staatssekretäre in Nordrhein-Westfalens Müller-Armack gewirkt hat, würde ich Ministerien für Flüchtlinge und Inneres, mir jemanden mit einer ausgeprägten der dem SPIEGEL vorliegt. Der als ordnungspolitischen Haltung wün- angeblicher Ex-Leibwächter Osama Bin schen.« Kritik kam auch aus der CSU. Ladens bekannt gewordene A. war Mitte »Es wäre schön, wenn man allmählich Juni in einer Nacht-und-Nebel-Aktion merken würde, dass die Union den nach Tunesien geflogen worden. Sowohl Wirtschaftsminister stellt«, sagt der das Verwaltungsgericht Gelsenkirchen stellvertretende Vorsitzende der Mittel- als auch das Oberverwaltungsgericht hat- standsvereinigung der Union, Hans ten dies als rechtswidrig bewertet und Michelbach. GT, RAN die Rückkehr A.s angeordnet. Kopietz fürchtet nun eine »Verunsicherung der Bevölkerung«. In einer Spitze gegen die Ministerien bittet er darum, »sicherzu- Bundespolizei stellen, dass alle sicherheitsrelevanten Zu wenig Personal für

Aspekte beleuchtet und erforderliche SERVICES GRABEN / FUNKE FOTO MATTHIAS Maßnahmen durch die Sicherheitsbehör- Sami A. Abschiebungen

Die Bundespolizei tut sich schwer, genügend Fachpersonal für die Liberale bislang größte Einzelspende an die Freien Abschiebung abgelehnter Asylbewer- Umtriebiger Spender Demokraten in diesem Jahr. Lindner ber zu finden. Für den nächsten geplan- kann es sich leisten, neben seinem Bun- ten Flug von München nach Afghanis- Mit einer hohen Zuwendung hat FDP- destagsmandat verdient der Fraktionsvor- tan am 11. September haben sich nach Chef Christian Lindner seine eigene Par- sitzende viel Geld mit Auftritten bei Informationen des SPIEGEL bislang zu tei beglückt. 50249 Euro und 17 Cent Unternehmen. Für bislang 17 Vorträge wenige Beamte gemeldet, die zuvor überwies Lindner laut Website des Bun- und ein Kamingespräch auf Empfängen, den Lehrgang »Personenbegleiter Luft« destags am Montag an die FDP. Es ist die Betriebsjubiläen oder Kongressen bei absolviert hatten. In der Vergangenheit Wirtschaftsunternehmen und Banken in musste die Bundespolizei unzulässiger- Deutschland und der Schweiz bekam er weise mehrfach Polizisten ohne sol- jeweils Honorare zwischen 3500 und chen Lehrgang einsetzen, darunter 15000 Euro. In der laufenden Legislatur Beamte der Beweissicherungs- und summieren sich die Einnahmen seiner Festnahmeeinheit aus Bayreuth. Auf veröffentlichten Nebentätigkeiten auf Kritik in der Polizei stoßen zudem mindestens 112000 Euro. Die Partei Pläne des Bundesinnenministeriums, kann die Spende gut gebrauchen. Laut künftig dauerhaft Bundespolizisten dem letzten Rechenschaftsbericht für das damit zu betrauen, Dublin-Fälle zur Jahr 2016 schuldeten die Liberalen »Kre- Rückführung aus den sogenannten ditinstituten« und »sonstigen Darlehens- Ankerzentren abzuholen. Da dies Auf- gebern« insgesamt 20,3 Millionen Euro. gabe der Landespolizei ist, gibt es in

AMIN AKHTAR / BERLINER MORGENPOST AMIN AKHTAR Lindner wollte sich auf Anfrage nicht zu der Bundespolizei rechtliche Bedenken Lindner seiner Spende äußern. CSC, SRÖ gegen solche Vorhaben. AUL

23 Westbalkan Visumanträge überfordern Botschaften

Die Auslandsvertretungen auf dem Balkan sind überfordert von der hohen Zahl der Anträge für Arbeitsvisa in Deutschland. Wie aus einem Vermerk des Auswärtigen Amts hervorgeht, hat sich die Zahl der bearbeiteten Visa in den sechs Staaten des Westbalkans im ersten Halbjahr 2018 auf rund 52000 erhöht. Das sind fast doppelt so viele wie im selben Zeitraum 2015. Die Nachfrage nach Terminen in den deut- schen Botschaften könne »bei Weitem

LARS BERG nicht befriedigt werden«, was zu einem Schweinestall in Nordrhein-Westfalen »stark steigenden Beschwerdeaufkom- men aus Wirtschaft, Politik und Zivilge- Landwirtschaft und Samenstränge den Ferkeln größere sellschaft« geführt habe. Um die Fünf Euro pro Ferkel Schmerzen als die bisherige Praxis ver - Antragsflut in den Griff zu bekommen, ursacht. Werner Schwarz, stellvertreten- müssten die Bearbeitungskapazitäten Mit falschen Informationen versuchen der Präsident des Deutschen Bauernver- in etwa vervierfacht werden, heißt es in der Bundesverband Rind und Schwein bands, diskreditierte kürzlich in einem dem Papier. Weil das unrealistisch ist, (BRS) und der Deutsche Bauernverband Interview die von Tierschützern und schlagen die Experten des von Heiko zu verhindern, dass männliche Ferkel – Experten favorisierte Immunokastration: Maas (SPD) geführten Auswärtigen wie gesetzlich vorgesehen – ab dem Sie bedeute, »Hormone zu spritzen«. Amts vor, das Prüfen der Anträge auf 1. Januar 2019 nur noch schmerzfrei kas- Tatsächlich werden bei dieser Impfung Behörden im Inland zu verlagern. triert werden dürfen. In Briefen an den keine Hormone gespritzt, allerdings kos- Dagegen sträubt sich das Bundesinnen- Einzelhandel bittet der BRS, die Abneh- tet sie inklusive Arbeitszeit etwa fünf mer des Fleisches sollten sich stattdessen Euro je Tier. Auf Anfrage lässt der Bau- für die Lokalanästhesie aussprechen. Die- ernverband ausrichten: »Die Aussage se ist allerdings nicht gesetzeskonform, von Präsident Schwarz war in der Tat da das mehrfache Spritzen in die Hoden nicht ganz präzise.« Er bedauere dies. RED

Mietmarkt nen Wohnung. Nur 12 Prozent erhalten Teure WG-Zimmer einen Platz in einem geförderten Studen- tenwohnheim. Die Wohnpauschale des Die Mieten in den deutschen Universi- Bundes, die den Bafög-Berechnungen

tätsstädten haben 2017 weiter angezogen. zugrunde liegt, geht von 250 Euro pro MICHAEL KAPPELER / DPA Wer über das Internet in München einen Monat aus, unabhängig vom Wohnort. Maas, Seehofer Platz in einer Wohngemeinschaft sucht, Der Bundesdurchschnitt liegt laut Studie findet Zimmer, die im Schnitt 600 Euro bei 363 Euro. »Die Kalkulationen der ministerium. Die Visumvergabe im Warmmiete pro Monat kosten. Das geht Politik entsprechen längst nicht mehr der Herkunftsstaat sei »ein wesentliches aus einer Studie des Berliner Moses-Men- Realität«, sagt Brauckmann. OLB Instrument der Zuwanderungssteue- delssohn-Instituts (MMI) hervor, die an rung, das wir nicht aus der Hand geben diesem Montag vorgestellt wird. Die WG-Zimmer-Preise Zunahme wollen«, heißt es aus dem Haus von gegenüber Experten untersuchten in Zusammenar- Durchschnittspreise der Angebote* 2013 Horst Seehofer (CSU). »Die Kritik am beit mit dem Portal wg-gesucht.de den Auswärtigen Amt ist nicht fair«, sagt Mietmarkt an 96 Standorten. Besonders München 600 € 20% hingegen Maas’ Staatsminister Michael angespannt ist die Lage auch in Roth. »Wenn wir ein modernes Einwan- Frankfurt am Main 480 20 oder Berlin sowie in traditionellen Uni- derungsland werden wollen, müssen versitätsstädten im Südwesten. Teuer Hamburg 450 13 wir die passenden bürokratischen sind zudem Ingolstadt oder Ludwigsburg. Stuttgart 450 25 Strukturen im Inland schaffen.« Für »In diesen Städten konkurrieren Studie- Bosnien, Serbien, Montenegro, das Ingolstadt** 430 16 rende mit Auszubildenden und Projekt- Kosovo, Mazedonien und Albanien gilt mitarbeitern großer Firmen vor Ort«, Berlin 420 25 seit 2016 eine Sonderregelung. Die erklärt Stefan Brauckmann, Direktor des Köln 420 17 deutschen Behörden gehen mit Asyl - Instituts. Am günstigsten lebt es sich in 420 22 anträgen aus diesen Ländern strenger Chemnitz: Hier müssen Studierende Konstanz um. Im Gegenzug dürfen deren Staats- monatlich nur 230 Euro für ein WG-Zim- Ludwigsburg 420 20 angehörige nach Deutschland kommen, mer einplanen. Dabei ist die WG nicht Freiburg im Breisgau 407 16 wenn sie ein Jobangebot vorlegen die beliebteste Wohnform. Fast 40 Pro- können. Meist geht es um Baugewerbe, * auf dem Immobilienportal wg-gesucht.de, Warmmiete, Stand: Mai 2018; zent der Studierenden leben in einer eige- ** 2015 erstmals erfasst; Quelle: MMI Gastronomie oder Pflege. CSC, COS, WOW

24 DER SPIEGEL Nr. 36 / 1. 9. 2018 Willkommen im Supermarkt des Todes.

„Dirty Dollars“

Die Doku-Reihe über das schmutzige Geschäft mit Waff en, modernen Sklaven, Organen und Drogen.

Ab 8. September, 20.15 Uhr und in der ZDFmediathek. Deutschland »Ein großes Ding« Karrieren Die Kanzlerin unterstützt den Plan des CSU-Politikers Manfred Weber, Spitzenkandidat bei der Europawahl zu werden. Führt bald ein Deutscher die EU-Kommission?

m Dienstag hatte Angela Merkel Spitze der Europäischen Zentralbank gem Stand aus der Europawahl als stärkste zwei Männer zu Gast im Kanz- (EZB) wäre nicht mehr möglich, wenn be- Parteienfamilie hervorgehen. Wie nach A leramt, die von ihr etwas erwar- reits ein anderer europäischer Spitzenjob der vergangenen Wahl 2014, in der sich teten, was sie sonst tunlichst ver- mit einem Deutschen besetzt ist. Jean-Claude Juncker und der spätere SPD- meidet: Sie sollte sich festlegen. Würde ein CSU-Mann als Spitzenkan- Chef Martin Schulz gegenüberstanden, Manfred Weber, CSU-Vize und Frak- didat antreten, hätte das für die Kanzlerin soll das Wahlergebnis neben dem Willen tionschef der Europäischen Volkspartei dagegen Vorteile. Weber vertritt sehr euro- der Staats- und Regierungschefs mit aus- (EVP) im EU-Parlament, hatte um das Tref- pafreundliche Positionen. Er hielt den ag- schlaggebend dafür sein, wer Kommis - fen gebeten. Zur Verstärkung hatte er den gressiven Kurs seiner Partei gegen Merkels sionschef wird. Chef des konservativen Parteienbündnisses Flüchtlingspolitik für falsch. Wird er nomi - »Ich werbe bei meinen Parteifreunden mitgebracht, den Franzosen Joseph Daul. niert, könnte die CSU im Wahlkampf des dafür, Webers Kandidatur zu unterstüt- Weber wollte von Merkel grünes Licht kommenden Jahres nicht gegen Merkels zen«, sagt der Chef der Unions-Europa- für sein Vorhaben, als Spitzenkandidat der Politik mobil machen. abgeordneten Daniel Caspary. »Ein Abge- EVP bei der Europawahl im nächsten Früh- Ein CSU-Mann als Waffe gegen die ordneter der Union hat die Chance, Num- jahr anzutreten. Er erwägt, seine Kandi- CSU: das ist eine Personalkonstellation mer eins in der EU zu werden. Das ist ein datur in den nächsten ein bis zwei Wochen ganz nach Merkels Geschmack. Weber soll großes Ding.« in der Brüsseler Parlamentsfraktion zu ver- deshalb antreten. Alles Weitere wird man Die Kanzlerin sieht das anders. Ihr passt künden. So hat er es Parteifreunden im später sehen. der Automatismus nicht, den die Abgeord- kleinen Kreis erzählt. Von Nervosität ist Manfred Weber am neten zwischen Spitzenkandidatur und Doch es ging um mehr als nur die Spit- Donnerstagabend nichts anzumerken. Der dem Amt des Kommissionspräsidenten zenkandidatur. Die beiden Männer erhoff- festschreiben wollen. Merkel hat gern freie ten sich von Merkel die Zusicherung, dass Hand; sich frühzeitig festzulegen ist gegen sich die Kanzlerin nach der Europawahl da- In Brüssel laufen sich ihre Natur. Hinzu kommt, dass ihr Vertrau- für einsetzen wird, dass Weber zum Kom- weitere Politiker für ter Peter Altmaier gern EU-Kommissar missionspräsidenten aufsteigt – vorausge- werden würde, es wäre für ihn die Erfül- setzt, die EVP wird stärkste Fraktion im den Posten des Spitzen- lung eines Lebenstraums. Das aber ginge Parlament. Es ist ein Mechanismus, den die kandidaten warm. nur, wenn Deutschland nicht den Kommis- Europaabgeordneten gern dauerhaft eta- sionspräsidenten stellt. blieren würden: Bei der letzten Europawahl Andererseits schätzt Merkel Webers un- wurde die EVP stärkste Fraktion, und ihr Fraktionschef kommt vom Treffen mit aufgeregte Art. Als einer der wenigen damaliger Spitzenkandidat Jean-Claude Mittelständlern im Gasthof Zum letzten CSU-Leute trifft der Europapolitiker Mer- Juncker anschließend Kommissionschef. Hieb in Gemünden am Main und ist un- kel regelmäßig unter vier Augen. Der Für Weber wäre es ein Aufstieg, wie ihn terwegs nach Bad Neustadt an der Saale, Flüchtlingsstreit zwischen CDU und CSU seit Jahrzehnten kein Deutscher mehr ge- wo er beim Kreisverband seiner Partei steht seiner Kandidatur daher nicht im schafft hat. Zum ersten Mal seit Walter Hall- über die Europapolitik sprechen will. Der Wege. Im Gegenteil: Merkel hofft, dass der stein, der die Kommission der damaligen CSU-Mann bestreitet schon länger nicht zurückhaltende CSU-Mann neue Brücken Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft von mehr, dass er Interesse an dem Topjob hat zu weit renitenteren Christsozialen wie 1958 bis 1967 führte, würde wieder ein (SPIEGEL 21/2018), auch wenn er sich Markus Söder oder Horst Seehofer bauen Deutscher in das wichtigste EU-Amt auf - noch nicht offiziell erklärt hat. Nach dem könnte. »Manfred Weber war in dieser An- rücken. Erstmals würde zudem ein CSU- Gespräch mit Merkel weiß er, dass er nun gelegenheit nun wirklich nicht die treiben- Mann die Brüsseler Topposition bekleiden. auch auf die Rückendeckung der CDU zäh- de Kraft«, sagt EU-Kommissar Oettinger. Die Sache hat nur einen Haken: Merkel len kann. Jetzt lotet er die Stimmung bei »Er steht ganz sicher für europäische Lö- will Weber die Garantien nicht geben, die den anderen Staats- und Regierungschefs sungen in der Migrationsfrage, genau wie er gern hätte. Sie hat nichts dagegen, dass aus. Wer mit Weber spricht, merkt, dass die Kanzlerin.« der CSU-Mann Spitzenkandidat wird. er sich über den Wahlkampf schon viele Trotzdem ließ Merkel Weber lange zap- Aber sie möchte sich in der Frage des Kom- Gedanken gemacht hat. peln. Sie würde sich die Entscheidung, wel- missionsvorsitzes nicht festlegen. Webers Lange wird sich Weber nicht mehr be- chen Topjob Deutschland in Europa an- Aufstieg würde für die CDU die Tür zu an- deckt halten können. Bereits am Mittag strebt und wen sie nach Brüssel schickt, deren reizvollen Posten verschließen, die des 17. Oktober endet die parteiinterne gern länger offenhalten. Die Nachfolge in Europa zu vergeben sind. Bewerbungsfrist, Anfang November dann Mario Draghis an der EZB-Spitze, die Fra- Die Frage etwa, wer Günther Oettinger könnte Weber beim EVP-Parteitag in ge, wer deutscher Kommissar wird oder als deutscher Kommissar nachfolgt, hätte Helsinki zum Spitzenkandidaten gekürt EU-Chefdiplomat, all das steht erst nach sich erledigt, wenn ein Deutscher Kom- werden. der Europawahl im Mai kommenden Jah- missionschef wird. Auch der von vielen Damit stiegen aus seiner Sicht die Chan- res an und nicht jetzt. Zumal es vor allem Unionsleuten erhoffte Aufstieg von Bun- cen deutlich, auch Kommissionspräsident im Wirtschaftsflügel der Union Stimmen desbankpräsident Jens Weidmann an die zu werden. Die EVP wird nach derzeiti- gibt, denen die EZB-Spitze weitaus wich-

26 DER SPIEGEL Nr. 36 / 1. 9. 2018 SVEN SIMON / IMAGO SVEN BLOOMBERG / GETTY IMAGES BLOOMBERG EVP-Fraktionschef Weber, EU-Parlament in Straßburg Ein CSU-Mann als Waffe gegen die CSU

27 Sache, das hat mit der komplizierten Ge- mengelage in Europa zu tun. In Brüssel laufen sich weitere Politiker für den Posten warm. Alexander Stubb, der ehrgeizige ehemalige finnische Premier und Vizechef der Europäischen Investitionsbank, wird wohl antreten. In den kommenden Wochen hat er um einen Termin mit den EU- Kommissaren der EVP gebeten, um seine Chancen auszuloten. Und dann ist da noch Michel Barnier, der Beauftrage der EU-Kommission für die Brexit-Verhandlungen. Der Franzose wollte bereits 2014 Spitzenkandidat wer- den, unterlag aber Juncker, allerdings mit einem überraschend knappen Ergebnis. Barnier schließt eine Bewerbung nicht aus; aber zum einen hat er Macron gegen sich. Und zum anderen ist derzeit keinesfalls klar, dass der Brexit-Vertrag bis Ende des Jahres steht, einem Zeitpunkt also, in dem

ZICK,JOCHEN / ACTION PRESS ZICK,JOCHEN / ACTION ein Kandidat spätestens in den Wahlkampf Kanzlerin Merkel: Schrittweises Vorgehen, wie üblich einsteigen müsste. Wird Weber nominiert, müsste er die nächste, größere Hürde nach der Europa- tiger ist. »Warum wir die Chance, den hofer verdorben, als er im jüngsten Kon- wahl im Mai überspringen. Da die EVP EZB-Präsidenten zu stellen, nicht ergrei- flikt um die Flüchtlingspolitik eher auf keine absolute Mehrheit der Sitze im Par- fen, erschließt sich mir nicht«, sagt Webers Merkels Seite stand – der Parteivorsitzen- lament erringen wird, müsste er sich um Parteifreund, der Mittelstandspolitiker de empfand das als Illoyalität. Am schlech- einen Koalitionspartner bemühen. Im Hans Michelbach. »Wir fordern dauernd testen ist die Beziehung zu Landesgrup- nächsten Europaparlament könnte es kom- eine bessere Stabilitätspolitik für den Euro. penchef Alexander Dobrindt. Der hegt pliziert werden, gegen die Populisten von Dann sollten wir die Chancen nutzen, da- grundsätzliche Einwände gegen Webers rechts und links eine tragfähige Mehrheit ran an führender Stelle mitzuwirken.« Europakurs, und als der Brüsseler Frak - zu finden. Ein Versuch Merkels, Altmaier als Kom- tionschef vor ein paar Monaten auf den Gut möglich, dass die Staats- und Re- missionschef in Stellung bringen, hat sich CSU-Chefposten strebte, bezeichnete gierungschefs im Falle eines guten Ab- bereits vor Monaten zerschlagen. Führen- Dobrindt das als »absurd«. schneidens der Populisten um Marine Le de Unionsleute hatten darauf gesetzt, dass In der CSU-Führung fürchtet man zu- Pen und Matteo Salvini mit dem Spitzen- sich Merkel und Emmanuel Macron ent- dem, dass der Kampf gegen die AfD in kandidatenmodell brechen, zumal Macron sprechend einigen würden, als sie in die- Bayern schwerer werden könnte, falls We- keinerlei Leidenschaft für das Konzept sem Frühjahr über die Reform der Euro- ber antritt. Neben Merkels Flüchtlings- erkennen lässt. Mit einer eigenen Grup- zone verhandelten. Doch es kam zu keiner politik ist die Kritik an der EU einer der pierung im Europaparlament könnte Absprache, jedenfalls nicht beim Personal. wichtigsten Themen der Rechtspopulisten. Frankreichs Präsident ein gewichtiges Auch in der CSU sieht man die Am - Ein Kommissionspräsident von der CSU Wort mitzureden haben bei der Frage, wer bitionen Webers nicht nur positiv. Partei- würde es der AfD leichter machen, die Kommissionschef wird. chef Seehofer hat zwar bei einem Treffen poli tische Konkurrenz im konservativen Erschwerend kommt hinzu, dass Weber mit den CSU-Europaparlamentariern am Lager anzugreifen. keinerlei Regierungserfahrung hat, nicht Montag klargemacht, dass er Webers Be- Webers stärkstes Pfund ist die Unterstüt- einmal ein bayerisches Landratsamt hat er werbung unterstützt. Doch es gibt auch zung seiner Fraktion im Europaparlament. bislang geführt. Manche Regierungschefs große Vorbehalte gegen den stellvertreten- Für viele Abgeordnete wäre es die Krö- sind nicht überzeugt davon, dass ein Mann den Parteichef. nung des europäischen Parlamentarismus, mit dieser Qualifikation eine Behörde mit Weber ist inhaltlich ein gutes Stück vom wenn einer der ihren an die Spitze der Exe- über 30000 Mitarbeitern führen kann. Mainstream der Partei entfernt. Bayerische kutive aufrücken würde. Kein Wunder, Merkel kennt die Vorbehalte, sie fürch- Ministerpräsidenten haben in der Vergan- dass Weber seine Kandidatur in der Frak- tet, dass Weber nach einem Wahlsieg der genheit gern auf Brüssel geschimpft, um tion verkünden will. Die CDU plant für EVP im Kreis der Regierungschefs nicht sich bei den Wählern beliebt zu machen. diesen Fall, ihre Führungsgremien in einer ohne Weiteres durchsetzbar sein wird. Da- Es ist nicht zu erwarten, dass Markus Söder Telefonschalte zusammenzutrommeln, um her zögert sie, schon jetzt zu viel politi- diese Tradition aufgeben wird. Nur ist das die Personalie abzusegnen. sches Kapital für Weber zu investieren. Wettern gegen die abgehobene EU-Kom- Auch jüngere EVP-Regierungschefs wie Stattdessen will Merkel, wie üblich, mission ungleich schwieriger, wenn deren Sebastian Kurz aus Österreich stehen auf schrittweise vorgehen. Geht es nach ihr, Chef aus den eigenen Reihen kommt. seiner Seite. Am Donnerstag und Freitag soll Weber jetzt mal als Spitzenkandidat Hinzu kommt, dass Weber zu den Füh- wird der Fraktionsvorstand der Konser- den Wahlkampf machen. Dann werde rungskräften seiner Partei ein schwieriges vativen in Wien tagen, als Ehrengast wird man weitersehen. Damit allerdings, das Verhältnis hat. Er ist ein Widersacher Weber-Fan Kurz erwartet. macht Weber klar, will er sich keinesfalls Söders und gehört zu einer Gruppe von Österreichs Kanzler geht ebenfalls davon begnügen. Er tritt an, um Kommissions - Politikern, die verhindern wollen, dass der aus, dass der CSU-Mann beste Chancen chef zu werden. Ministerpräsident auch noch Parteichef hat, Spitzenkandidat zu werden. Dennoch Peter Müller, Ralf Neukirch, Christoph Schult wird. Zugleich hat Weber es sich mit See- ist auch diese Personalie keine ausgemachte

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tion des eigenen Hauses aufs Spiel. Als Vi- ne Aussage, er werde die Bundesregierung zekanzler und Kanzlerkandidat in Lauer- auffordern, »ein plausibles Finanzierungs- Doppelter stellung gibt er sich allzeit bereit, die poli- modell« für seine Überlegungen vorzu - tische Agenda der SPD zu befeuern, koste legen. Der Appell richtete sich vor allem es, was es wolle. Das kollidiert, siehe Ren- an ihn selbst. Olaf tendebatte, mit seiner Aufgabe als Finanz- Die Doppelfunktion des Ministers prägt minister, das Geld zusammenzuhalten. auch die Arbeit an der Wilhelmstraße 97. Regierung Finanzminister Scholz Der Rollenkonflikt macht den doppel- Dem hergebrachten Finanzministerium stößt mit seinem Rentenplan ten Olaf entweder unglaubwürdig oder wurde ein Vizekanzleramt übergestülpt, nur eingeschränkt kampagnenfähig. Als 41 neue Stellen inklusive. Beide Einheiten auf Widerstand im eigenen Haus. Finanzminister verbietet es sich eigentlich, werkeln nun zuweilen unabgestimmt ne- Es ist nicht leicht, zugleich Vize- forsche Vorstöße zu wagen, ohne auf die beneinanderher. kanzler und Kassenwart zu sein. Kosten zu achten. Hätte er aber zuvor sei- Die Notwendigkeit der Konstruktion er- ne Fachleute konsultiert, hätte er die Idee schließt sich nicht jedem. So zieht der Bun- desrechnungshof in einem Bericht it sich und seinem Wirken an den Haushaltsausschuss in Zwei- ist Vizekanzler und Finanz- fel, ob der riesige neue Leitungsbe- M minister Olaf Scholz (SPD) reich wirklich notwendig ist. »Der in jüngster Zeit noch zufriedener als Bundesrechnungshof kann anhand sonst. Eine »schöne Debatte« habe der Angaben des BMF nicht beur- er angestoßen mit seinem Vorschlag, teilen, ob ein unabweisbarer Bedarf das Rentenniveau bis ins übernächs- für die bewilligten Stellen besteht«, te Jahrzehnt stabil zu halten. »Da heißt es dort. Die Prüfer fordern kommt noch mehr«, kündigt er froh- Scholz auf, die Begründung für das gemut an, wenn er mit seinen Ge- Postenplus nachzuliefern und un- treuen zusammensitzt. gerechtfertigte Stellen wieder zu Einen belastbaren Vorschlag, wie streichen. das Ganze zu bezahlen sei, meint Vor allem der Stammbelegschaft er damit wohl nicht. Während seine macht die neue Rolle zu schaffen. Fachleute glauben, dass das Vor- Mit Argwohn registrieren die haben nicht gelingen kann, ohne Beamten, wie Gefolgsleute von gleichzeitig Rentenbeiträge, Steuern Scholz, frisch ins Ministerium ge- und Lebensarbeitszeit zu erhöhen, kommen, an ihnen vorbei auf ein- setzt Scholz darauf, dass die erfor- flussreiche Posten befördert wur- derlichen Mittel wie Manna vom den. Hinzu kommt, dass das Vize- Himmel fallen. Jedes Jahr wachse kanzleramt, das für die politische der Bundeshaushalt dank üppiger Planung und Positionierung des Steuereinnahmen gleichsam auto- Ressorts zuständig ist, noch immer matisch um 10 Milliarden Euro, sagt weitgehend ein Eigenleben führt. er. 2030 dürfte er bei rund 500 Mil- Die zuständigen Experten in den liarden Euro liegen statt derzeit bei drei betroffenen Fachabteilungen etwas mehr als 340 Milliarden Euro. erfuhren vom Rentenvorstoß aus Mit dem zusätzlichen Geld ließe der Zeitung. sich doch prima ein höherer Bundes- Irritiert hat die Finanzministe- zuschuss zur Rente finanzieren, fin- rialen auch, dass sie nun aufgefor- det Scholz. Dabei gehen dafür schon dert werden, in ihre Papiere Anre-

heute fast 30 Prozent des Bundes- HANNES JUNG / DER SPIEGEL gungen, Gedanken oder Zitate aus haushalts drauf. Minister Scholz dem jüngsten Buch des neuen Mi- Die Argumentation des Vizekanz- »Da kommt noch mehr« nisters aufzunehmen. Das vor an- lers offenbare eine Rechenschwäche derthalb Jahren erschienene Werk des Finanzministers, finden dessen mit dem programmatischen Titel Beamte. Wenn Scholz das zusätzliche Geld kaum vorgebracht, weil sie unweigerlich »Hoffnungsland« ist im Scholz-Ressort im Wesentlichen für den Rentenzuschuss mit Zumutungen wie höheren Abgaben mittlerweile in den Rang einer Pflichtlek- ausgeben will, bleibt ihm nämlich kaum und längerem Arbeiten verbunden wäre. türe aufgestiegen. Immer wieder gehen etwas übrig, um die damit in den kommen- Bei langgedienten Mitarbeitern des Fi- Vorlagen zurück, weil sie ohne die licht- den Jahren zwangsläufig steigende Ver- nanzministeriums wächst deshalb die Sor- vollen Gedanken des Ministers auskom- gütung der Bundesbeamten zu bezahlen, ge, dass der stolze Titel »Vizekanzleramt« men. Mitarbeiter müssen sich von Scholz- höhere Zinsen zu bedienen oder Investi- ihnen das Geschäft eher erschwert als er- Getreuen die Mahnung anhören, endlich tionen aufzustocken, wie es Scholz selbst leichtert. Einem Außen- oder Wirtschafts- das Buch zu lesen. angekündigt hat. Ganz zu schweigen da- minister, der das Amt zusätzlich zu seinen Den Erfolg des Werks hat das bisher von, dass chronisch steigende Steuer- Aufgaben bekleidet, fällt es leichter, teure allerdings nicht sonderlich befördert. Die einnahmen kein Naturgesetz sind, irgend- Vorhaben anzukündigen, die sein Kollege Verkaufszahlen verharren trotz der amt - wann kommt der nächste Abschwung. im Finanzressort später wieder schrumpft lichen Schützenhilfe auf niedrigem Niveau. Der neue Mann an der Spitze des Bun- oder einsammelt. Auf der Bestsellerliste bei Amazon ran- desfinanzministeriums (BMF), so fürchten Scholz muss diesen Zielkonflikt mit sich giert das Buch auf Platz 187479. viele Fachbeamte, setzt im Spagat zwi- selbst ausmachen, und das klappt nicht im- Christian Reiermann schen seinen beiden Ämtern die Reputa - mer. Nichts machte dies deutlicher als sei-

DER SPIEGEL Nr. 36 / 1. 9. 2018 29 Deutschland »Da will ich ran«

SPIEGEL-Gespräch SPD-Chefin Andrea Nahles, 48, über die umstrittenen Pläne für ein höheres Rentenniveau, ihre Haltung zu Gerhard Schröders politischem Erbe und ihr Bekenntnis zur Braunkohle HERMANN BREDEHORST / DER SPIEGEL HERMANN BREDEHORST Sozialdemokratin Nahles: »Da hat die Agenda 2010 durchaus Gutes bewirkt«

30 DER SPIEGEL Nr. 36 / 1. 9. 2018 SPIEGEL: Frau Nahles, beim Mitglieder- lichen Rente. Sie bringt aktuell und in Zu- Die zentrale Säule der Altersvorsorge ist entscheid über die Große Koalition war kunft eine rechnerische Rendite von zwei die gesetzliche Rente. Wir wollen sichern, ein Drittel der Genossen gegen das Bünd- bis drei Prozent, das schaffen Sie am Ka- dass das so bleibt. nis. Was meinen Sie – wie wäre das Ergeb- pitalmarkt nicht. Es kann der umlagefinan- SPIEGEL: Die Rentengarantie, die Sie ab- nis heute, wenn noch einmal abgestimmt zierten Rente auch nicht passieren, dass geben wollen, würde aber nach Einschät- würde? bei einem Börsencrash über Nacht die ge- zung von Experten Hunderte Milliarden Nahles: Nicht anders. samte Altersvorsorge vernichtet wird. Da- Euro kosten. Woher soll das Geld dafür SPIEGEL: Würden Sie persönlich noch mal raus müssen wir Konsequenzen ziehen. kommen? mit der gleichen Vehemenz für dieses SPIEGEL: Wollen Sie die Riester-Rente, die Nahles: Zunächst mal: Es ist völlig klar, Bündnis werben? die SPD einst selbst einführte, abschaffen? dass wir alle in diesem Jahrhundert mehr Nahles: Natürlich, denn ich habe nicht ver- Nahles: Riester-Rente und betriebliche Al- Geld für die Alterssicherung aufbringen gessen, in welch schwieriger Lage unser tersvorsorge sind immer zusätzlich on top. müssen als in der Vergangenheit. Das liegt Land war, als die Jamaikaverhandlungen an der demografischen Entwicklung. Klar scheiterten. Wir haben Verantwortung Mehrkosten des ist auch, dass dieses Geld immer von den übernommen, als andere sich davon- Bürgerinnen und Bürgern kommt. Auch gemacht haben. Und wir wollen sie nut- SPD-Rentenvorschlags die private Altersvorsorge gibt es ja nicht zen, um das Leben der Menschen ganz Jährliche Mehrkosten bei einer Festlegung des zum Nulltarif. Anstatt aus dieser Tatsache konkret besser zu machen. Es freut mich, Rentenniveaus auf 48 Prozent des Durch- aber die notwendigen Entscheidungen ab- dass wir in dieser Woche einige wichtige schnittsverdienstes bis 2040, in Mrd. Euro zuleiten, folgt die Union einem Renten - sozialpolitische Maßnahmen auf den Weg fatalismus nach dem Motto: Im Alter muss bringen konnten. man halt irgendwie sehen, wie man SPIEGEL: Die Koalition hat sich auf das 3,5 zurechtkommt – und im Zweifel länger ar- Niveau der Altersgelder bis 2025 und hö- 29 beiten. Die logische Folge: 91 Prozent der 2025 here Mütterrenten geeinigt. Trotzdem ist 30- bis 49-Jährigen fürchten, dass ihre Ren- die Stimmung im Bündnis schlecht, es 63 te im Alter nicht reicht. wirkt, als kämpfe jeder Koalitionspartner 2030 SPIEGEL: Ist das die neue Marschroute der für sich allein. Können Sie verstehen, dass Sozialdemokraten: Geld spielt keine Rolle? 2035 die Bürger das Vertrauen in die schwarz- Nahles: Nein, aber niemand von denen, rote Regierung verlieren? die immer nur auf die Kosten verweisen, Nahles: Nach dem ganzen Theater in den 89 hat eine Antwort auf die simple Frage, wo- Vorsommerwochen: ja. Quelle: Prof. Martin Werding, von denn alte Menschen in Deutschland im SPIEGEL: Woran liegt es aus Ihrer Sicht, Ruhr-Universität Bochum Jahr 2040 oder 2050 leben sollen. Ich ak- dass die Regierung so schleppend voran- zeptiere diese Rhetorik der Alternativlosig- 2040 kommt? keit nicht. Es geht um politische Prioritä- Nahles: Die Union hat sich viel zu lange tensetzung. Die SPD sagt klar: Wir müssen mit internen Diadochenkämpfen beschäf- ab jetzt anfangen, aus Steuermitteln stärker tigt, statt den Koalitionsvertrag abzuarbei- für die Sicherung des Rentenniveaus vor- ten. Ein Mindestmaß an Disziplin kann Die Anzahl der zusorgen. Dazu hat die Regierung erst kürz- man auch von CDU und CSU erwarten. Personen, die Hartz-IV- lich eine neue Demografierücklage geschaf- Wir haben eine Bringschuld gegenüber den Leistungen beziehen, fen. Die muss gut ausgestattet werden. Bürgerinnen und Bürgern und müssen jetzt liegt seit 2012 bei SPIEGEL: Die Steuereinnahmen sprudeln ran an die Themen, die wichtig sind: Rente, zwar, aber so sehr sprudeln sie nun auch Pflege, bezahlbares Wohnen, Stärkung der wieder nicht. Familien. Ich will, dass die Regierung in ca. 6 Mio. Nahles: Das sehe ich anders. Die Größen- diesem Herbst sozialpolitisch liefert. ordnung, über die wir reden, ist vergleich- SPIEGEL: Derzeit ist es eher die SPD, die Quelle: Bundesagentur für Arbeit bar mit den Steuersenkungen, die die FDP Sand ins Getriebe streut. Indem Sie das stets vor jeder Wahl in Aussicht stellt oder Rentenniveau bis 2040 stabil halten wol- Löhne und gesetzliche Renten den 40 Milliarden Euro, um die CDU und len, gehen Sie deutlich über den Koali- CSU gerne den Rüstungsetat steigern Veränderung gegenüber dem Jahr 2005 tionsvertrag hinaus. Warum provozieren wollen. Außerdem fließt das Geld, das wir Sie die Union, wo das Bündnis doch ange- +28% in die Renten stecken, eins zu eins wieder schlagen genug ist? in den Wirtschaftskreislauf zurück. Gute Nahles: Die Stabilisierung bis 2025, die Löhne* Renten sind auch gute Umsätze, Steuer- wir jetzt durchgesetzt haben, ist nur der einnahmen und Arbeitsplätze. Anstatt uns erste Schritt zur langfristigen Sicherung kaputtzusparen, sollten wir lieber dafür +19% des Rentenniveaus. Der Konflikt, den wir sorgen, dass in Deutschland Einkommen führen, betrifft die weitere Zukunft des und Kaufkraft stimmen. Systems, und er speist sich aus einer fun- SPIEGEL: Sie haben versprochen, die SPD damentalen Erkenntnis der vergangenen zu erneuern – und landen beim Retro-The- Jahre: Die gesetzliche Rente hat sich als ma Rente. Sieht so der Neustart Ihrer Par- das überlegene System erwiesen. tei aus? SPIEGEL: Wie meinen Sie das? Nahles: Angesichts der zunehmenden An- Nahles: Zur Jahrtausendwende wollten Gesetzliche zahl älterer Menschen und einer weiter viele die private Zusatzvorsorge ausbauen, Rente steigenden Lebenserwartung ist die Frage, weil uns die Ökonomen erzählt haben, sie wie wir ein gutes und sicheres Leben im sei das rentablere System. Heute sehen wir 2005 2017 Alter ermöglichen, alles andere als retro. die Vorteile der umlagefinanzierten gesetz- *Bruttolöhne je Arbeitnehmer (VGR), alte Bundesländer Es ist eine der zentralen gesellschaftspoli-

31 tischen Fragen dieses Jahrhunderts in un- Nahles: Die Verengung der Klimaproble- serem Land. matik auf die Braunkohle ist für uns nicht SPIEGEL: In Ihrer Partei ist noch ein anderer akzeptabel. Niemand bestreitet, dass wir Vorschlag sehr populär: zugunsten der Rent- da aussteigen müssen. Aber für eine Blut- ner die Gutverdiener stärker zu belasten. grätsche gegen die Braunkohle steht die Nahles: In der Rentendebatte geht es auf SPD nicht zur Verfügung. Wir können die- absehbare Zeit um Umschichtungen im se Technologie nicht einfach abknipsen. Haushalt und nicht um Steuererhöhungen. An der Kohle hängen Lebensläufe und SPIEGEL: Klar ist damit aber auch: Für / DER SPIEGEL HERMANN BREDEHORST ganze Regionen. Steuersenkungen, wie sie viele in der Nahles, SPIEGEL-Redakteure* SPIEGEL: Sie sind also gegen einen raschen Union wegen der guten Haushaltslage for- »Massiver Eingriff« Braunkohleausstieg? dern, ist derzeit kein Platz. Nahles: Die Menschen in der Lausitz oder Nahles: Wir schaffen eine massive Entlas- Nahles: Das ist eine Binsenweisheit – ab- im Rheinland wissen selbst, dass die tung von zehn Milliarden Euro, indem wir solut richtig. Braunkohle nicht die Energie der Zukunft den Soli für 90 Prozent der Bürgerinnen SPIEGEL: Finanzminister Olaf Scholz for- ist. Aber die Frage ist doch: Wie können und Bürger abschaffen. An die Adresse dert deshalb, den Mindestlohn auf zwölf wir den Strukturwandel erfolgreich gestal- der Union kann ich nur sagen: Mehr ist Euro anzuheben. Sie auch? ten? Wir wollen den Menschen in der mit uns nicht drin. Wir brauchen massive Nahles: Ich möchte, dass die Löhne ins- Region eine Chance geben, sodass die Investitionen in Bildung, Sicherheit, Infra- gesamt steigen. Zum Beispiel, dass wir für Region überleben kann und die Beschäf- struktur und bezahlbares Wohnen, wie wir die Beschäftigten in Kitas oder Altenhei- tigten nicht nur irgendwelche Billigjobs es vereinbart haben. men eine Offensive starten für bessere als Alternative vorfinden, sondern gut be- SPIEGEL: Als Gerhard Schröder die Agen- Löhne. Wir brauchen einen Tarifvertrag zahlte Arbeit. Das geht. Strukturwandel da 2010 auf den Weg brachte, sagte er, der Soziales, vernünftige Tariflöhne in der muss neue Ideen nutzen, um Klimaschutz Staat müsse seine Leistungen zurückfah- Pflege und in den Gesundheitsberufen. und Arbeitsplätze zu verbinden, zum Bei- ren und mehr Eigenverantwortung von SPIEGEL: Das ist eine durchaus berechtigte spiel mit CO -freien Speicherkraftwerken. ² den Bürgern einfordern. Diese Zeiten, so Forderung, aber damit gewinnen Sie doch Auch die Betreiber sehe ich hier in der Ver- entnehmen wir Ihren Ausführungen, sind keine Bundestagswahl. Warum scheuen antwortung. Wir müssen diese Regionen endgültig vorbei. Sie die markante Forderung nach einer kla- wirklich ernst nehmen. Nahles: Damals gab es Massenarbeitslo- ren Anhebung des Mindestlohns, wie sie SPIEGEL: Das sagen doch alle Parteien sigkeit, Rekordverschuldung und Löcher der Vizekanzler erhebt? irgendwie. in den Sozialkassen. Der Sozialstaat war Nahles: Auch ich wäre für zwölf Euro Min- Nahles: Die Grünen betreiben Klima- behäbig, bevormundend und paternalis- destlohn, wenn ich es mir wünschen könn- schutz durch das staatlich angeordnete Ab- tisch. Arbeitslosigkeit wurde verwaltet, te. Das haben die Menschen verdient, da schalten von Kohlekraftwerken, ohne sich und Kinderbetreuung war ein Fremdwort. stimme ich Olaf Scholz zu! Aber eine sol- um die Menschen vor Ort zu kümmern. Da hat die Agenda 2010 angesetzt und che Festlegung wäre ein massiver Eingriff CDU-Wirtschaftsminister Peter Altmaier durchaus Gutes bewirkt, aber nicht alle in die Lohnfindung in Deutschland, die taucht ab. Er verspricht per Interview blü- Antworten waren richtig. Heute sind die wir aus guten Gründen Gewerkschaften hende Landschaften, ohne sich vor Ort um Menschen durch den entgrenzten Kapita- und Arbeitgeberverbänden übertragen ha- den Strukturwandel oder die Einhaltung lismus und die fortschreitende Digitali - ben. Deshalb möchte ich zunächst nach der Klimaschutzziele zu kümmern. Die sierung aller Lebensverhältnisse derart anderen Wegen suchen, um die Löhne zu AfD leugnet einfachen Klimawandel und herausgefordert, dass der Staat unbedingt steigern. Wir diskutieren das. Wenn wir gefährdet und riskiert damit unser aller neue Sicherheitsgarantien geben muss. Die feststellen, dass wir hier nicht weiterkom- Zukunft. Die SPD ist die einzige Partei, Bürgerinnen und Bürger wollen selbstbe- men, müssen wir über den gesetzlichen die Strukturwandel und Klimaschutz zu- stimmt und sicher leben. So muss dann Mindestlohn neu nachdenken. sammendenkt. eben auch der Sozialstaat aussehen. SPIEGEL: Zusammenfassend kann man SPIEGEL: Aber die Grünen sind derzeit SPIEGEL: Große Teile der Partei würden also sagen: Sie wollen die SPD wieder stär- äußerst populär. Was kann die SPD von lieber mit Hartz IV brechen, und zwar so ker zum Anwalt der kleinen Leute machen. ihnen lernen? Vielleicht, dass man nicht radikal wie möglich. Nahles: Nein. Das ist eine wirklich schlim- ganz so konkret werden muss, wenn man Nahles: Es geht um die Frage: Was kommt me Formulierung: die kleinen Leute. Wer in der Politik Erfolg haben will? nach Hartz IV, wie muss der Sozialstaat soll das denn sein? Mein Vater? Meine Nahles: Wir haben mit konkreter Politik der Zukunft aussehen? Hartz IV war nie Mutter? Die habe ich nie als klein emp- Erfolg in vielen Kommunen und Ländern, als dauerhafte Lebensabsicherung gedacht, funden. Sie sind auf ihre Weise sehr große daran arbeiten wir auch im Bund. aber inzwischen wissen wir, dass viele Men- Menschen, in ihrer Leistung, ihrer Red- SPIEGEL: Manche sehen die Grünen schon schen nicht aus diesem System herauskom- lichkeit und Loyalität gegenüber ihren als neue linke Volkspartei. men. Hartz IV ist auch nie als Familienleis- Kindern und Angehörigen. Was wir wol- Nahles: Dazu gehört mehr. Die grüne Par- tung gedacht gewesen, aber wir stellen fest, len, ist, dass niemand vergessen wird. Ein teiführung hat einen guten Lauf, das kann dass ganze Familien mittlerweile von dem Beispiel: Wie die Grünen sehen wir den ich anerkennen. Aber gute Sonntags - System abhängig sind. Das Absurde ist Klimaschutz als enorm wichtig an. Aber umfragen machen noch keine Volkspartei. doch: Hartz IV ist teuer, teurer jedenfalls wir schweben nicht über den Dingen. Wir SPIEGEL: Frau Nahles, wir danken Ihnen als die frühere Arbeitslosenunterstützung. sind immer auf der Seite der Arbeit - für dieses Gespräch. Trotzdem fühlen sich viele Menschen ge- nehmer. gängelt und traktiert. Da kann also etwas SPIEGEL: In diesem Fall auf der Seite der Video nicht stimmen. Da will ich ran. Beschäftigten in der Braunkohleindustrie. Worauf Nahles keine SPIEGEL: Es gibt auch Stimmen in Ihrer Wollen Sie tatsächlich so tun, als wäre die Antwort findet Partei, die sagen: Wir brauchen dringend Kohle kein Problem für das Klima? spiegel.de/sp362018nahles höhere Löhne, allein schon, um ausrei- oder in der App DER SPIEGEL chende Renten zu gewährleisten. * Michael Sauga und Veit Medick in Berlin.

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belastend sein. Noch schwieriger ist es für wälte, die dort arbeiten, sollen fortgebildet Panik vor Kinder und Jugendliche, die oft gegen Fa- werden. Und sie sollen sich vernetzen mit milienmitglieder aussagen müssen. jenen, die für Kinder- und Jugendschutz Die Unabhängige Kommission zur Auf- zuständig sind. Die Verfahren sollen kür- Gericht arbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs, zer werden und die Gebäude so ausgestat- die von der Bundesregierung 2016 einge- tet, dass rechtlich einwandfreie Videover- setzt wurde, hat sich mit den Belastungen nehmungen durchgeführt werden können. Justiz Strafprozesse sind für für die Betroffenen beschäftigt, sie ange- Betroffene müssten in den meisten Fällen Missbrauchsbetroffene oft eine hört und Experten befragt. Nun schlägt sie dann nur einmal von ihren Erlebnissen be- eine Reihe von Maßnahmen vor. richten, die Aussage könnte im Anschluss Qual. Die zuständige Regierungs- Die Kommission fordert, Kompetenz- mehrfach verwendet werden. kommission will die juristischen zentren einzurichten, sodass »nicht mehr Die Rechtsanwältin Christina Clemm Verfahren reformieren. jedes der über 600 Amtsgerichte und jedes ist seit 20 Jahren Fachanwältin für Straf- der über 100 Landgerichte in Deutschland und Familienrecht, sie vertritt Miss- brauchsbetroffene vor Gericht iebenmal musste Vanessa und führt Anhörungen für die S Knapp aussagen. Einmal Kommission durch. Sie hält die bei der Polizei, einmal Kompetenzzentren für einen beim Gutachter und fünfmal vor guten Vorschlag. »Es geht um Gericht. höchst sensible und komplexe »Jedes Mal war es eine Tor- Verfahren, für die alle Beteilig- tur«, sagt sie. Im Detail zu be- ten Fachwissen benötigen«, sagt schreiben, was der Stiefvater ihr sie. Wenn das fehlt, kann es angetan hatte, während er nur schwerwiegende Folgen haben. wenige Meter entfernt im Ge- Clemm musste ihre Mandanten richtssaal saß, ihr Fragen stellte, schon häufig aus dem Gericht in »das hat mich fertig gemacht«, die Notaufnahme begleiten, we- sagt Knapp. Der Stiefvater hatte gen Panikattacken oder Nerven- sie missbraucht, vergewaltigt, zu zusammenbrüchen. Hause, im Auto, im Urlaub. Es Vielerorts fehlt es zudem an begann, als sie vier Jahre alt war, Personal, Gerichte sind überlas- und hörte erst auf, als sie mit 16 tet, Staatsanwaltschaften ebenso, von zu Hause auszog. und es gibt zu wenige Gutachter Die Termine vor Gericht ha- und psychosoziale Betreuer. Des- ben sie retraumatisiert, sagt halb fordert die Kommission in Knapp, die eigentlich anders ihrem Papier auch, die Justiz bes- heißt. Sie bekam Panikattacken, ser auszustatten: »Wirksam ver- eine posttraumatische Belas- netzte und hochprofessionell tungsstörung wurde diagnos - agierende Strafverfolgungsbe- tiziert, jetzt ist sie erwerbsunfä- hörden und Gerichte sind kein hig, trotz abgeschlossenen Stu- verzichtbarer Luxus«, sondern diums. seien »Verantwortung und Ver- Knapp möchte das Thema ab- pflichtung des Staats«. schließen, ihre Anzeige liegt »Das ist ein dickes Brett, das schon neun Jahre zurück, sie wir da zu bohren haben«, sagt ist mittlerweile 32. Erst musste die Kommissionsvorsitzende sie zwei Jahre auf die Anklage- Andresen. Sie will nun bei Jus- schrift warten, dann zwei weite- tiz- und Innenministerium Un- re auf die erste Gerichtsverhand- terstützung suchen. Schließlich lung. Der Stiefvater ist bis heute ginge es auch um das Vertrauen

auf freiem Fuß, obwohl er 2014 NORA KLEIN / DER SPIEGEL in den Rechtsstaat, was viele zu acht Jahren Haft verurteilt Betroffene Knapp: Vom Rechtsstaat im Stich gelassen Missbrauchsbetroffene verlieren. wurde. Doch er ging immer wie- So wie Knapp, die seit neun der in Revision, jetzt liegt das Jahren auf ein rechtskräftiges Verfahren beim Bundesgerichtshof. Und mit Jugendschutzverfahren beschäftigt Urteil wartet. »Der Rechtsstaat lässt mich Knapp wartet. wäre«, heißt es in einem Papier der Kom- im Stich«, sagt sie. Sie will zwar noch bis Betroffene sexualisierter Gewalt berich- mission. Stattdessen soll es Schwerpunkt- zum Ende kämpfen, aber ihr Motiv hat ten immer wieder, wie unsensibel und un- staatsanwaltschaften und -gerichte geben, sich geändert: Anfangs wollte sie Gerech- professionell die Justiz mit ihren Fällen in denen alle Missbrauchsfälle einer Re- tigkeit, doch daran glaubt sie nicht mehr. umgeht: traumatisierende Befragungen gion bearbeitet werden. Jetzt will sie nur noch Ruhe. und lange Verfahrensdauern, Polizisten, »Die Kompetenzzentren könnten sicher- Ann-Katrin Müller Staatsanwälte und Richter, die sich mit stellen, dass Kinder und Jugendliche nach Mail: [email protected] dem Thema nicht auskennen, Gutachter, besten Standards behandelt werden«, sagt die oftmals zu viel Macht haben. die Kommissionsvorsitzende Sabine An - ‣ Lesen Sie auch auf Seite 92: Schon für Erwachsene, die über die dresen. Missbrauchsvorwürfe gegen deutsche Schrecken ihrer Kindheit berichten müs- Die Zentren sollen gleich mehrere Pro- Springreiter sen, kann das Gerichtsverfahren äußerst bleme lösen: Die Richter und Staatsan-

DER SPIEGEL Nr. 36 / 1. 9. 2018 33 Deutschland Im Abklingbecken Gesundheit Jens Spahn versucht sich an einer schwierigen Imagekorrektur. Aus dem ehrgeizigen Machttaktiker und Merkel-Kritiker soll ein empathischer Sozialpolitiker werden. Im Zweifel mit den Themen der SPD. Von Cornelia Schmergal

»Was Du nicht aufhalten kannst, ziemlich genau zehn Jahren wollte die Ver- Jungen, und die Wirtschaftspolitiker der kannst Du auch gleich begrüßen.« einigung der Graumelierten den Jungpoli- Partei blickten mit Wohlwollen auf ihn. tiker Spahn noch »ungespitzt in den Bo- Im Jahr 2018 hat sich die Wahrnehmung Facebook-Seite von Jens Spahn, Rubrik »Lieblingszitate« den rammen«, wie der damalige Vorsit- umgekehrt. Wirtschaftspolitiker können zende polterte. Spahn hatte es gewagt, die kaum glauben, dass ausgerechnet der Rentengarantie der Großen Koalition zu selbst ernannte Generationenanwalt die uf den Tischen brennen weiße kritisieren. In der Union stand er mit sei- Beiträge für die Pflegeversicherung noch Kerzen, in kleinen Vasen haben ner Kritik ziemlich allein. Aber er stand stärker erhöhen will als geplant. Dagegen A die Kellner Rosen arrangiert. aufrecht. entdecken Pflegelobbyisten und Senioren Durch die bodentiefen Fenster Den wütenden Protestbrief einer Rent- ungeahnte Sympathien. Spahn, der aus- fällt der Blick ins Grüne. Normalerweise nerin heftete er an eine Pinnwand in sei- gabefreudige und interventionswillige finden in dem Festsaal Hochzeiten statt. nem Berliner Büro. Jede Anfeindung war Sozialpolitiker – das ist ein Bruch mit vie- An diesem Augustnachmittag beschwört für ihn auch eine Auszeichnung. Spahn ge- lem, wofür er bisher stand. Offensichtlich die Senioren-Union Borken einen Treue- fiel sich als Querdenker, als Anwalt der arbeitet der CDU-Politiker an einem bund. Der Auserwählte ist neuen Image: dem des em- Jens Spahn. pathischen Konservativen. Am Rednerpult steht ein Kaum ein Wort verwen- hochgewachsener 72-jähri- det Spahn derzeit öfter als ger Herr mit Schnurrbart. »Vertrauen«. In der Pflege sei Helge Benda ist der nord- über die Jahre »viel Vertrau- rhein-westfälische Landes- en verloren gegangen«, sagt vorsitzende der CDU-Ver- er bei der Senioren-Union einigung. Er kenne Jens im Kreis Borken. Die Pflege- Spahn schon lange, sagt er, kräfte, fürchtet er, »glauben als Gesundheitsminister ha - nicht daran, dass der Minis- be Spahn ihn aber noch ein- ter überhaupt eine Idee mal »positiv überrascht«. davon hätte, wie es ihnen Spahn habe gesehen, dass geht«. Jetzt gehe es darum, in der Pflege ein Schatz »Vertrauen zurückzugewin- schlummere. »Viel Geld nen«. Gemeint ist auch: Ver- wird da gebunkert, und auf trauen in Jens Spahn. der anderen Seite wird es ge- Auch da ist viel kaputtge- braucht«, sagt Benda. Und gangen. Spahn hatte seine Spahn gibt das Geld jetzt Ernennungsurkunde als Mi- aus. »Er ist an der richtigen nister noch gar nicht erhal- Stelle«, ruft Benda ins Mi- ten, da irritierte er mit miss- krofon. verständlichen Aussagen zu Den Applaus, der im Saal Armut und Islam. Er suchte aufbrandet, hört der Kontakte zu Rechtspopulis- Gesundheitsminister schon ten wie dem damaligen US- nicht mehr. Das Treffen der Präsidentenberater Stephen Senioren-Union in seinem Bannon, dinierte in der Villa Wahlkreis hat er nach einem des umstrittenen US-Bot- Grußwort und einem Glas schafters Richard Grenell Wasser verlassen. Während und ließ sich mit dem rechts- Benda spricht, sitzt Spahn konservativen österreichi - bereits in einem dunklen schen Kanzler Sebastian Auto, um sich zum nächsten Kurz beim Treffen in der Termin im Westmünsterland Berliner Cordobar ablichten. chauffieren zu lassen. Es Es wirkte, als habe er sich geht um die Pflege, wieder einem internationalen Netz- einmal. werk der Merkel-Gegner an- Jens Spahn und die Senio- geschlossen. ren-Union – das ist ein er- HC PLAMBECK / DER SPIEGEL Sogar Parteifreunde gin- staunliches Bündnis. Vor CDU-Politiker Spahn: »Vertrauen zurückgewinnen« gen auf Abstand. Im Streit

34 DER SPIEGEL Nr. 36 / 1. 9. 2018 von CDU und CSU um die Flüchtlings - Vorteil: An Geld herrscht derzeit kein Man- Spahn verleiht an diesem Mittag Urkun- frage wähnten sie Spahn im Lager der gel. Die gesetzlichen Kassen haben Milli- den mit glänzendem Bundesadler. Geehrt Scharfmacher, die das Bündnis der arden angehäuft. In der Gesundheitspolitik werden sieben junge Pflegekräfte – einzig Schwesterparteien aufs Spiel setzten. In ist das ein seltener Glücksfall. dafür, dass sie eine aufbauende Geschichte der Partei hat ihm das geschadet. Der Im Erdgeschoss des Ministeriums hän- aus ihrem Alltag eingesendet haben. Er Mann, der immer wieder als Merkel-Nach- gen die Fotos der Vorgänger von Spahn. wolle »ein positives Bild der Pflege« ver- folger gehandelt wurde, hatte sich in der Sie zeigen viele ernste Gesichter in mitteln, sagt Spahn. Vor allem will er für Wahrnehmung als eiskalter Machttaktiker Schwarz-Weiß. Ulla Schmidt, SPD, wurde mehr Personal sorgen – in Altenheimen erwiesen. Ein Bild, das Spahn nicht gefal- zur Hassfigur einer ganzen Nation, weil und Krankenhäusern. »Kein Klinik - len konnte. sie die Praxisgebühr einführte und den geschäftsführer soll sich mehr damit he- Die Rolle des Rebellen und Querden- Zahnersatz aus dem Kassenkatalog strich. rausreden können, dass es kein Geld für kers mag für junge Politiker stimmig sein, Damals sammelte das Ministerium die die Pflege gebe«, sagt Spahn. Der Minister, die provozieren müssen, um auf sich auf- Wutbriefe in Säcken. Philipp Rösler, FDP, so die Botschaft, sieht sich als Anwalt der merksam zu machen. Doch wer in einer brachte die Pharmaindustrie mit Spar - Pflegenden. Partei nach ganz oben will, darf nicht paketen gegen sich auf. Und Hermann Dumm nur, dass das im Publikum noch radikal und rebellisch sein, sondern muss Gröhe, CDU, setzte eine große Pflege - nicht angekommen ist. Von hinten brüllt auch eine verlässliche, gemäßigte Seite reform auf, nach der das schale Gefühl ein Altenpfleger aus dem Zuschauerraum: zeigen. blieb, in den Heimen herrsche weiter der »Das ›Sofortprogramm Pflege‹ wird schon Spahn hat das inzwischen verstanden. Notstand. seit Herbst 2017 verkündet. Wann wird In den vergangenen Wochen ist es auf- Am letzten Sonntag im August ist Grö- denn endlich die erste zusätzliche Fach- fällig ruhig geworden um den Gesundheits- hes Foto von einem Regal mit Werbeflyern kraft in einem Heim arbeiten?« minister. Er schwieg zur Zukunftsdiskus- verdeckt. Jens Spahn lädt zum Tag der of- Zweimal schaltet sich der Mann laut- sion der Partei. Er schaltete sich nicht in fenen Tür in sein Ministerium. Er will, dass stark ein, er ist dafür aus Essen angereist. die Rentendebatte von Olaf Scholz ein. Er das Land über seine Reformen spricht. Er habe es satt, dass der Minister auf der hielt sich bedeckt in der Diskussion um Selbst dann, wenn das Parlament sie noch Bühne für Fotos posiere, während in den Bündnisse mit der Linkspartei. gar nicht beschlossen hat. Heimen und Pflegediensten nichts gesche- Öffentlich äußert er sich hen sei, wird er hinterher er- vor allem zu den emotiona- klären. len Themen seines Ressorts: »Ich mache die Gesetze. zum Vertrauensverlust in Ich stelle nicht ein«, sagt der Pflege, den Ängsten der Spahn vorn auf der Bühne. Patienten vor chronisch Es klingt wie eine Entschul- unterbesetzten Klinikstatio- digung. nen, dem Gefühl, es gebe in Der Imagewandel vom den Wartezimmern eine Marktliberalen zum Herz- Zweiklassenmedizin. Früher Jesu-Konservativen gelingt erinnerte Spahn manchmal nicht von heute auf morgen. an Wolfgang Bosbach. Heu- Hilfreich ist allerdings ein te klingt er eher wie Norbert Koalitionsvertrag, der in Blüm. weiten Teilen die Hand- »Jens Spahn muss jetzt schrift der SPD trägt. Karl zeigen, dass er auch mit Lauterbach, Spahns ewiger Menschen kann«, sagt ein Kontrahent in der Gesund- Fraktionskollege. Dabei heitspolitik, hat dort einige könnte ihm ausgerechnet seiner Lieblingsprojekte ver- die Gesundheitspolitik hel- ankert: kürzere Wartezeiten fen, die so oft als Haifisch- für gesetzlich Versicherte becken beschrieben wurde. und längere Arbeitszeiten Spahn definiert die Sache für Ärzte; die Rückkehr zur augenscheinlich etwas an- hälftigen Finanzierung der ders: Ihm dient sie jetzt als gesetzlichen Kassenbeiträge Abklingbecken. durch Arbeitnehmer und Ar- Es ist eine paradoxe Ent- beitgeber sowie höhere Löh- wicklung. Viele in der Union ne in der Pflege. hielten es für reine Boshaf- Der Minister von der CDU tigkeit der Bundeskanzlerin, ist offensichtlich entschlossen, als sie ihren mächtigsten Kri- das Beste daraus zu machen tiker zum Gesundheitsminis- und die Lorbeeren für die po- ter machte. Kaum ein Res- pulären Projekte nicht den sort ist anspruchsvoller, Sozialdemokraten zu überlas- kaum eines stärker von Lob- sen. »Jens Spahn ist umge- byinteressen getrieben, kei- schwenkt und macht sich nes prägt zugleich das Leben jetzt die Forderungen der von fast 83 Millionen Ein- SPD zu eigen«, ätzt SPD- wohnern. Fraktionsvize Lauterbach. Allerdings genießt Jens / REUTERS CHARISIUS / POOL CHRISTIAN Im Willy-Brandt-Haus Spahn einen entscheidenden Pflegeexperte Spahn: »Kein Klinikgeschäftsführer soll sich rausreden« schaut man irritiert auf

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Saal. Sie streben an die Theke. Vom Podium blicken die vier verbliebenen Dis - kutanten ratlos in den halb leeren Raum. Spahn hängt nur wenige Kilometer ent- fernt im Fraktionssaal der Union fest. Hin- terher wird es heißen, er habe in einer Sit- zung zum Thema Direktversicherung und Betriebsrenten vortragen müssen. Das stimmt. Es stimmt aber auch, dass an die- sem Tag die Flüchtlingsdebatte in der Frak- tion hochkocht. Die Union blickt in den Abgrund. Als die Bundeskanzlerin in jener Wo- che das CDU-Präsidium in einer Telefon- konferenz auf ihre Linie einschwören will, widerspricht Spahn. Später interveniert er in einer Fraktionssitzung, als die De- batte in Merkels Richtung läuft. Es ist der Tag, an dem der letzte Abgeordnete ahnt, dass Spahn auch für die eigene Zukunft

BILD plant. Merkel-Kritiker Kurz, Spahn am 12. Juni: Treffen in der Berliner Cordobar Sein Ministerium hat er für seine Be- dürfnisse bereits umgebaut. Es gibt Beam- te, die kaum glauben können, wie viel Auf- Spahn. Die letzte CDU-Größe, die den Ge- So birgt Spahns Strategie der neuen Em- merksamkeit ihre Arbeit heute genießt. In nossen die Themen stahl, war Bundes- pathie auch Gefahren. In Umfragen mag Teilen des Hauses sei »kein Stein mehr auf kanzlerin Angela Merkel. Sie war damit ein weicheres Profil die Popularitätswerte dem anderen geblieben«, klagte der Per- ziemlich erfolgreich. Und Spahn lernt of- des Gesundheitsministers steigern. Die sonalrat im Frühjahr in einem internen fensichtlich schnell. Christlich-Demokratische Arbeitnehmer- Schreiben. Es wirkt, als wäre das Gesund- Manchmal geht er inzwischen sogar schaft jubelt über Spahns Politik. Doch da- heitsministerium viel zu klein für Spahns über den Koalitionsvertrag hinaus. Gesetz- für könnte er das konservative Lager ver- Ambitionen, als zwänge es ihn in ein zu liche Personaluntergrenzen in der Pflege? stören, das die Grenzen zwischen den Par- schmales Jackett, das in den Schultern Führt Spahn im Schnellverfahren per Mi- teien wieder deutlicher sichtbar machen zwickt und ihn hindert, nach ganz vorn nistererlass ein. Ein 8000-Stellen-Sofort- will. Die Junge Union und der Wirtschafts- zu greifen. Nach der Macht. programm für die Altenpflege? Spahn er- flügel zählen zu Spahns eifrigsten Unter- Spahn hat einen langjährigen Vertrau- höht auf 13000. stützern. Gibt er sich auf Dauer zu sozial- ten zum Vordenker im Leitungsstab Es ist eine Politik, die kostet. Im Juni demokratisch, vergrätzt er diese Verbün- gemacht und einen erfahrenen »Bild«- hatte Spahn noch davon gesprochen, dass deten. Journalisten zum Pressesprecher. Ein Re- der Beitragssatz zur Pflegeversicherung Schon jetzt zeigen sich Wirtschafts - dakteur der »Bild am Sonntag«, Experte um 0,3 Prozentpunkte steigen müsse. Nun lobbyisten irritiert über Spahns neue Linie. auch für Europa und die AfD, wird als geht er von 0,5 Punkten aus. Anders als Referent für politische Planung im Okto- in anderen sozialpolitischen Bereichen ber seinen Dienst antreten. Und als seien die Menschen durchaus gewillt, für Es wirkt, als wäre das Redenschreiber beschäftigt Spahn den die Pflege mehr Geld zu zahlen. Es gebe Gesundheitsministerium ehemaligen Schäuble-Mitarbeiter Jens eine hohe Akzeptanz für mehr Ausgaben Nordalm, der gelegentlich in der »Welt« gerade in der Pflege, sagt Spahn. »Gene- viel zu klein für veröffentlicht. Im Februar erschien dort rationenübergreifend.« Spahns Ambitionen. sein Text: »Was wirklich rechts ist. Und Anfangs versuchte er gegenzusteuern: was wirklich links ist.« In das Gesetz zur Wiedereinführung der Man darf vermuten, dass Spahn es nicht Parität schrieb er einen Passus, um gesetz- Inzwischen sei der Gesundheitsminister lange im Abklingbecken aushalten wird. liche Kassen mit hohen Reserven dazu zu ziemlich teuer geworden, heißt es bei Ar- Am kommenden Samstag wird er voraus- zwingen, ihre Beiträge zu senken. Aller- beitgeberverbänden und unionsnahen Mit- sichtlich bei einem konservativen Netz- dings hatte Spahn die Pläne vorab nicht telständlern. werktreffen in Paderborn zu Gast sein. Ein- mit seiner eigenen Fraktion abgestimmt. Im Juni ist Spahn als Redner auf dem geladen hat der CDU-nahe Publizist Klaus Die Gesundheitspolitiker versagten ihm CDU-Wirtschaftstag eingeladen. Schon Mi- Kelle, der einen bürgerlich-konservativen die Gefolgschaft. Die Entlastung kommt nuten vor Beginn drängen sich die Gäste Blog betreibt und der zu den leidenschaft- jetzt erst ein Jahr später als geplant. im Saal eines Berliner Kongresshotels. Von lichen Merkel-Kritikern zählt. Für Unionsabgeordnete gibt es genug der Decke baumeln Kristalllüster, die Wän- Auf dem Programm stehen Vorträge Gründe, über Spahn zu staunen. Als er in de sind mit goldfarbenen Tapeten bespannt, wie »50 Jahre Umerziehung – die 68er einem Interview sagte, »zweistellige Ren- auf denen Taubenpaare schnäbeln. Die und ihre Hinterlassenschaften«. Oder: diten« privater Investoren von Pflegehei- Gäste starren zur Tür, sie warten auf Spahn. »Christdemokratie neu erfinden – der Weg men seien »nicht die Idee einer sozialen »Beginnen wir mit den schlechten Nach- des Sebastian Kurz«. Pflegeversicherung«, er denke über eine Re- richten«, sagt der Moderator auf der Büh- Spahn hat sich für ein vergleichsweise gulierung nach, witterten Wirtschaftsexper- ne schließlich. »Der Bundesgesundheits- weiches Thema entschieden: »Deutsch- ten sozialistische Umtriebe. Pflege sei kein minister kann auf keinen Fall kommen.« land 2030 – für eine neue Politik der Markt wie jeder andere, konterte Spahn. Es Ein Murren geht durch die Reihen, zu Mitte.« gehe um schutzbedürftige Patienten. Dutzenden verlassen die Teilnehmer den

36 DER SPIEGEL Nr. 36 / 1. 9. 2018 Union Ralph Brinkhaus will neuer Chef der CDU/CSU-Fraktion war unter den Abgeordneten bekannt. Rätselhaft erschien den meisten eher der im Bundestag werden. Daraus wird wohl nichts. Zeitpunkt der Attacke. Kauder ist in der Fraktion schon län- ger nicht mehr unumstritten. Viele Abge- Das Aufständchen ordnete werfen ihm vor, er setze vor allem die Regierungspolitik um, statt die Rolle der Parlamentarier zu stärken. Quer durch die Lager gibt es einen Wunsch Es war ein ungewöhnlicher Vorschlag, Ein Treffen mit Kauder im Anschluss nach Erneuerung. Bei der letzten Wahl den der Mann der Kanzlerin an diesem verlief für Brinkhaus kaum erfreulicher. des Fraktionschefs vor einem Jahr erzielte Montag unterbreitete. Die Bundestags- Er werde sich am 25. September wieder Kauder mit 77,3 Prozent sein bislang fraktion müsse neu motiviert werden, zur Wahl stellen, kündigte der amtierende schlechtestes Ergebnis. sagte er – und legte Angela Merkel gleich Fraktionschef an. Er habe nicht nur die Allerdings hat sich der Merkel-Vertrau- einen Plan vor, wie dies gelingen könne: Unterstützung der Kanzlerin, sondern te seither stabilisiert. Kritiker wie Spahn Er sei bereit, als Vorsitzender der CDU/ auch die von CSU-Chef Horst Seehofer. oder Mittelstandschef Carsten Linnemann CSU-Bundestagsfraktion zu kandidieren, Mit dem hatte Kauder vor dem Besuch sind in wichtige Positionen in Regierung sagte er. »Frau Bundeskanzlerin, es gibt von Brinkhaus gesprochen. Seehofer oder Fraktion aufgerückt. Es gibt nach ein anderes Angebot.« sicherte dem Fraktionsvorsitzenden zu, dem erbitterten Streit zwischen CDU und Ralph Brinkhaus ist ein in seiner Frak - dass er sich für ihn einsetzen werde. CSU über die Flüchtlingspolitik unter den tion geschätzter Parlamentarier. Er gilt als Seit Brinkhaus’ Vorstoß durch einen Abgeordneten wenig Lust auf eine neue ehrliche Haut und als Kenner der Haus- Bericht der »Welt« bekannt wurde, rät- Auseinandersetzung. halts- und Finanzpolitik. Die Frage, ob er seln die Unionsabgeordneten nun, was Zudem haben Spahn und andere derzeit ein großer Machtstratege ist, wird seit die- der Abgeordnete bezweckt haben könnte. kein Interesse daran, dass der Posten des ser Woche unter seinen Fraktionskollegen Brinkhaus hatte vor seiner Aktion nur Fraktionschefs neu besetzt wird. Wenn dagegen eher mit Nein beantwortet. wenige Kollegen eingeweiht. Selbst Ver- Brinkhaus das Amt eroberte, hätte er gute Merkel teilte ihrem Parteifreund kurz traute, die seine kritische Sicht auf Kauder Chancen, es über die nächste Bundestags- und bündig mit, was sie von seinem teilen, etwa Gesundheitsminister Jens wahl hinaus zu behalten. Das würde man- Vorstoß hält. Volker Kauder habe ihre Spahn, waren überrascht. che Karriereplanung zunichte machen. volle Unterstützung, erwiderte sie, sie Es waren weniger die Ambitionen des Wie Brinkhaus weiter vorgehen wird, werde ihn daher erneut als Fraktionschef Finanzexperten, die seine Fraktionskol - ist offen. Im Gespräch mit Kauder ließ vorschlagen. Mehr hatte sie Brinkhaus legen verwunderten. Dass Brinkhaus sich er nicht erkennen, ob er zu einer Kampf - nicht zu sagen. als möglichen Nachfolger Kauders sah, kandidatur bereit ist. Auch bei einem Telefonat mit CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt äußerte er sich nicht zu seinen Plänen. Tatsächlich hatte er sich bis zum Donnerstagabend noch nicht entschieden. Zwar erhielt er Anrufe von Abgeordne- ten, die ihm ihre Unterstützung zusicher- ten. Allerdings will er nicht kandidieren, wenn die Botschaft am Ende lauten sollte: Brinkhaus stürzt Merkel. Darauf würde es bei einer Kampfkan- didatur aber unweigerlich hinauslaufen. Sollte Brinkhaus gegen den erklärten Favoriten der Kanzlerin antreten, dann würde sich bei dieser Abstimmung auch deren Schicksal entscheiden. Gewönne Brinkhaus, wäre Merkel politisch am Ende. Das will in Fraktion und Partei derzeit niemand. Die ohnehin schwierige Lage der Union bei den Landtagswahlen in Bayern und Hessen würde noch schwieri- ger. Kauder kann schon deshalb mit einem guten Ergebnis rechnen, weil die meisten Abgeordneten die Lage nicht weiter chaotisieren wollen. Brinkhaus will erst abwarten, wie die Kanzlerin sich öffentlich einlässt, bevor er sich erklärt. Dabei scheint die Sache ziemlich klar zu ein. Es spricht wenig dafür, dass der nächs- JENS JESKE / IMAGO te Unionsfraktionschef Ralph Brinkhaus Kontrahenten Kauder, Brinkhaus: »Es gibt ein anderes Angebot« heißen wird. Ralf Neukirch

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Hier in Deutschland darf niemand über den anderen bestimmen, keiner ist dem anderen selbstverständlich verpflichtet. Man kann Flücht- lingen vermitteln, dass die ruhige, sachliche Art der Problemlösung hier eine gute Sache ist. Dass ein soziales Nie gelernt, allein Netz, das Schwächere auffängt, ebenso eine Form von Solidarität ist, vielleicht sogar die nachhaltigere. Die Missverständnisse beginnen bei den Begrifflichkei- zu leben ten. Das Wort »Hartz IV« oder »Sozialhilfe« wird im Per- sischen und auch auf arabischen Schildern in deutschen Behörden immer wieder mit dem Wort »Gehalt« über- Protokoll Warum es zwischen Deutschen setzt. So entsteht in den Herkunftsländern die Vorstel- und Flüchtlingen so viele Missverständnisse lung, dass Deutschland jedem ein »Gehalt« bezahlt. Wie sollen deutsche Beamte den Empfängern erklären, dass gibt – und wie sie sich aufklären lassen diese Hilfe vorübergehend sein soll, bis sie eine Arbeit finden? Manche glauben: Wenn sie auf Kosten von »Ungläubigen« lebten, rechnet ihnen Gott das nicht als Sünde an. Die Idee der Solidargemeinschaft, in der ein enn wir die freie, tolerante Gesellschaft bleiben Bedürftiger Anspruch auf Unterstützung hat, aber auch wollen, die wir heute sind, müssen wir die die Pflicht, wieder sein Auskommen zu finden, ist weithin W Herausforderung ernst nehmen, die durch den unbekannt und somit unverstanden. Zuzug von mehr als einer Million Asylbewer- Viele Deutsche haben Angst vor dem Islam. Aber bern entstanden ist. Wir müssen handeln. Aber die Deut- wenn die Religion diesen muslimischen Menschen tatsäch- schen haben Angst, Gesetze an die neue Situation anzupas- lich so wichtig wäre, gingen sie in ein Nachbarland, nicht sen. Das hat dazu geführt, dass die liberale Mitte untätig ins Land der Ungläubigen. Die Religion steht also nicht erstarrte und ein anderer Teil der Bürger sich radikalisierte, an erster Stelle der Bedürfnisse. Das erste Ziel ist ein bes- weil diese Menschen glauben, dass ihre Sorgen nicht gehört seres Leben. Aber wenn diese Menschen das Gefühl von werden. Fremdheit nicht überwinden, fällt ihnen plötzlich Gott Ich kenne beide Welten: die des Flüchtlingskindes, das ein, dann schimpfen sie über die angeblich billige Kultur Schreckliches erlebt hat, ich war im Asylbewerberheim, des Westens. Sie haben ja nichts anderes, das ihnen Iden- wurde ausgestoßen, verlacht, in der Schule gehänselt. Ich tität und Halt gibt, es bleibt nur der Glaube. kenne aber auch die Welt der Deutschen. Ich bin heute Auch die Deutschen müssen dazulernen. Ein Deutscher, eine von ihnen, eine Geschäftsfrau, die sich etwas aufge- der einen allein geflüchteten Jugendlichen aus Afghanis- baut hat und die dieses Land liebt, das mir diese Chance tan oder Syrien aufnimmt und fördert, verdient höchste gegeben hat. Wertschätzung. Wenn die jugendlichen Neuankömmlinge Ich kam zu Fuß nach Deutschland, aus Afghanistan. hören, dass der Staat für sie pro Monat mehrere Tausend Sechs Monate lang waren meine Familie und ich unter- Euro ausgibt, glauben sie, dass ihr Schutzpatron sich aus wegs. Das ist genau 20 Jahre her. Die Bundesrepublik finanziellen Gründen für sie engagiert. Daraus entspringt Deutschland war eine völlig fremde Welt für mich. Der manchmal eine seltsame Anspruchshaltung. Es liegt jen- Staat kann Heime zur Verfügung stellen, Schulen, Be - seits der Vorstellungen der meisten, dass reiche Europäer hörden für die Menschen, die kommen. Aber Beamte sich für sie einsetzen, einfach so. Sie fragen sich, was das und Sozialpädagogen gehen auch nach acht Arbeits - für ein sonderbares Land ist, das Hunderttausende Aus- stunden in den Feierabend. Und woher sollten Politiker länder aufnimmt, sie mit Sozialhilfe und kostenloser Ge- und Beamte wissen, welche Probleme unterschiedliche sundheitsfürsorge versorgt. Wo ist hier der Haken? Gruppen der Flüchtlinge haben? Ich plädiere für einen einheitlichen, verpflichtenden Integrationskurs für uch die Liebe wird gänzlich anders geregelt, die Zohre Esmaeli, Migranten und Flüchtlinge, der so tiefe Erfahrung, dass man jemanden liebt um 33, kam im Alter von 13 Jah- lange dauert, bis der Dozent sagt, die A seiner selbst willen, ist äußerst selten. Ein Mann ren als Flüchtling aus Afgha- Teilnehmer haben die Inhalte wirk- mit traditionellem islamischen Hintergrund zeigt nistan nach Deutschland. lich verstanden. Die Kursleiter sollten seine Liebe, indem er Geschenke macht, bezahlt, sich Heute ist sie Deutsche und selbst Einwanderer sein, mehrspra- kümmert. Umgekehrt kann damit ein Besitzanspruch ein- das einzige international er- chig und mit beiden Kulturen ver- hergehen. Wenn solche Männer verlassen werden, ent- folgreiche afghanischstämmi- traut. Das fehlt heute. Wir, die vor steht oft ein Problem. Sie haben nicht gelernt, mit Verlust ge Model. Sie arbeitet als langer Zeit Eingewanderten, kennen umzugehen, fühlen sich dann wertlos, haben vor den Botschafterin der Antidiskri- die Schwierigkeiten der Flüchtlinge, Freunden ihr Gesicht verloren. Deshalb muss der Mann minierungsstelle des Bundes wir kennen aber auch die Tricks von die Frau zurückerobern, seine Ehre wiederherstellen, oft und ist seit 2017 das Gesicht manchen unter ihnen. Wir wissen von mit Terror am Telefon oder Stalking. der Kampagne »Deutschland den Vorbehalten der Deutschen, von Wenn ein Junge ein Mädchen mit Telefonterror verfolgt, – Land der Ideen« der Bun- denen viele hilfsbereit sind, aber auch ist es ratsam, sofort die Polizei einzuschalten und Alarm desregierung. Sie gründete schnell frustriert, wenn sich Flüchtlin- zu schlagen. Lieber die Unversehrtheit des Mädchens die Organisation »Cultural ge anders verhalten als erwünscht: schützen als zu denken, es wird schon nichts passieren. Coachs«, in der ehemalige undankbar, unpünktlich, unnahbar. Mädchen sollten eine Beziehung mit Neuankömmlingen Migranten Flüchtlingen hel- Orientalische Familien schwanken erst mal vorsichtig angehen, Grenzen setzen und dem Jun- fen wollen, sich in Deutsch- oft zwischen inniger Umarmung und gen erklären, wie das hier funktioniert. Sie sollten testen, land zurechtzufinden. Streit. Das geht einher mit Erwartun- wie eifersüchtig er ist, ob er aggressiv reagiert, wenn sie

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ten, die sie in einem muslimischen Aufnahmeland niemals wagen würden. Wenn jemand dort zum Vergewaltiger wird oder zum Totschläger, würde er gesteinigt oder geköpft werden. Dies ist kein Plädoyer für härtere Gesetze, aber wir müssen solche Taten konsequent ahnden. Der abgescho - bene Asylbewerber Jamal Mahmodi hat sich in Kabul das Leben genommen, weil er in Deutschland kriminell und dro- gensüchtig geworden war. Hier hätte er vielleicht so recht und schlecht weiterleben können. Seinem Vater in Afghanis- tan konnte er so nicht unter die Augen treten. Dort hatte Jamal das Gesicht verloren und damit sein Leben verwirkt.

iner der größten kulturellen Unterschiede zwi- schen einer traditionell-muslimischen und einer E aufgeklärten Gesellschaft ist das Konzept der Selbstbestimmung. Natürlich wollen alle frei sein von Restriktionen, Befehlen und Strafen. Aber der Umgang mit dieser Freiheit hier ist sehr kompliziert. Viele Einwanderer haben auch nie gelernt, allein zu leben, sie bekommen Depressionen, wenn sie nicht mit ihren Verwandten aufeinanderhängen, Blödsinn machen und so den Tag vergeuden. Sie wollen keine Individualität und müssen sie doch lernen. Erst in der Einsamkeit lernt man sich wirklich kennen. Diese Krise bleibt kaum einem erspart, sie ist für jeden Einwanderer ein gefährlicher Moment. Ich selbst habe mich erst von meiner Familie entfernen müssen, um ankommen zu können. Das war nicht leicht, inzwischen haben wir uns versöhnt. Die Regierung macht es richtig, den Menschen Aufent- halt zu gewähren und Arbeitserlaubnisse, aber ein Pass ist etwas anderes. Der deutsche Pass ist der Joker, dafür müs- sen die Menschen auch etwas tun, sonst schätzen sie ihn nicht. Es wäre nicht fair gegenüber den früheren Migran- ten, die dafür kämpfen mussten.

JENS GYARMATY / VISUM JENS GYARMATY Es ist auch wichtig zu verstehen, warum ein 17-jähriger Deutschafghanin Esmaeli Flüchtling seine erste deutsche Freundin sofort heiraten möchte. In Afghanistan oder Syrien ist man mit 15 Jahren kein Kind mehr, vor allem auf dem Land haben manche weiterhin ihre Freunde trifft. Es ist wichtig, deutlich zu dann schon selbst Kinder. Eine Kindheit, wie wir sie hier machen, dass man hier nicht heiratet, bevor man eine kennen, gibt es dort nicht. Die existenziellen Probleme Ausbildung abgeschlossen hat. Die Eltern sollten darauf der Familie werden vor deinen Augen verhandelt, die Ge- bestehen, den Jungen kennenzulernen. walt siehst du jeden Tag. Ich war anfangs furchtbar eifer- Kinder in Afghanistan und Syrien wachsen mit dem süchtig, als ich sah, wie sorglos Kinder hier aufwachsen. Glauben auf, der Westen sei schuld an der Zerstörung ih- Natürlich ahnen die wenigsten, aus welchen Beweggrün- rer Länder. Die Menschen lernen, dass der Westen etwa den viele Eltern ihre Söhne und Töchter hierhergeschickt nach Saudi-Arabien Waffen verkauft, an ein Land, von haben. Die Kommandozentrale dieser Halbwüchsigen ist dem es heißt, es unterstütze die Taliban und den »Islami- nicht das Jugendamt oder der Sozialpädagoge, sondern schen Staat«. Auf diese Weise rechtfertigen Flüchtlinge der Onkel oder Vater Tausende Kilometer entfernt. Um den Anspruch, in Deutschland Schutz und finanzielle Un- den Jungen hierherzuschicken, haben sie möglicherweise terstützung zu finden. Speziell nach Deutschland kom- das Haus verkauft, ihr Erspartes geopfert, Geld geliehen. men die Menschen wegen des guten Sozialsystems. Nie- Deshalb dirigieren sie diese Kinder wie mit der Fernbedie- mand sonst bietet Flüchtlingen so viele Chancen. nung. Es gibt nur ein Ziel: Sie müssen Geld verdienen für Ich will die Probleme, die diese Zuwanderung bringt, die Familie zu Hause. Trotzdem könnten gerade diese nicht kleinreden. Aber wir sind in Deutschland unglaub- unbeglei teten Minderjährigen eine Elitegeneration von lich verwöhnt. Wir haben mehr als 80 Millionen Einwoh- Einwanderern werden, Deutschlands Zukunft. ner, sind gebildet, haben eine funktionierende Wirtschaft, Deutschland ist jetzt meine Heimat. Deutschland hat Universitäten. Verglichen mit einem Land, in dem die mir die Möglichkeit gegeben, als Frau respektiert zu wer- Menschen nichts zu essen finden, haben wir Luxussorgen. den. Aber meine Herzensangelegenheit ist es, Einwande- Viele kritisieren, was Kanzlerin Angela Merkel getan hat, rer so zu schulen, dass sie Neuankömmlinge über kulturel- es macht uns Angst, kostet Kraft und Nerven. Die Zuwan- le Unterschiede aufklären, bis die Botschaft angekommen derung zwingt uns zur Veränderung, aber sie wird die ist: das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung, was Religi- Lücken in unserer Bevölkerung schließen. onsfreiheit bedeutet, wie Ehe und Familie hier funktionie- Die Eingliederung so vieler Menschen, die jahre- oder ren, welchen Stellenwert die Ehre eines Menschen hat jahrzehntelang Krieg erlebt haben, ist eine Form von und welchen die Gesetze haben. Kampf. Junge Männer aus Kriegsgebieten begehen hier Ta- Aufgezeichnet von Susanne Koelbl

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Seitdem gilt für beide Paare ein lebenslan- ges Einreiseverbot in die Türkei. »Wir Kur- Objekt fremder Mächte den sind so etwas gewohnt«, sagt D., »aber für die Marnissis tut es mir leid, dass sie jetzt Nachteile haben, nur weil sie mit uns Reisen Wenn Europäer auf der Flugverbotsliste unterwegs waren.« der USA landen, haben sie kaum eine Chance, sich zu wehren. Die Marnissis sind Muslime. Das Ehe- Ein Ehepaar aus Stuttgart musste erleben, was das bedeutet. paar sagt über sich selbst, »total unpolitisch« zu sein. Ein hochrangiger Sicherheitsbeam- ter sagt, die Namen Erbil D. und Marnissi arina Marnissi und ihr Mann Isam Die Marnissis sagen, sie hätten nur eine seien seiner Behörde nicht bekannt. hatten sich sehr auf ihren Kuba- einzige Erklärung, warum sie auf der so- Die drei vermuten, dass es einen Aus- K urlaub gefreut. Sie wollten weit genannten No-Fly-List der USA gelandet tausch zwischen den türkischen und den weg, in die Karibik, entspannen unter Pal- sein könnten: Es müsse einen Zusammen- amerikanischen Sicherheitsbehörden gibt. men und den Charme Havannas genießen. hang zu einem Vorfall in der Türkei im Darauf deutet auch ein anderer Fall hin: Am 20. Juli waren sie mit Tickets und Visa vergangenen Jahr geben. Dort hätten sie, Anfang des Jahres schilderte ein irischer in der Tasche aus Stuttgart zum Münchner so erzählen sie es, schon einmal erleben Kriegsreporter in der »New York Times«, Flughafen gefahren, eingecheckt hatten sie müssen, was staatliche Willkür bedeutet. dass er kein Visum mehr für die USA be- schon. Am Eurowings-Schalter wollten sie Im März 2017 hatten sie geplant, ge- komme, seitdem die Türkei wegen angeb- nun ihr Gepäck für den Flug nach Vara - meinsam mit einem befreundeten türkisch- licher Sicherheitsbedenken einen Ein - dero aufgeben. Doch die beiden sollten stämmigen Pärchen nach Istanbul zu rei- reisestopp gegen ihn verhängt habe. Die das Flugzeug nie betreten. sen. Die beiden Männer wollten ihren Organisation »Reporter ohne Grenzen« Als sie an den Schalter gekommen seien, Freundinnen am Bosporus einen Heirats- veröffentlichte 2016 zudem den Fall eines habe ein Zettel neben der Tastatur der antrag machen. Bis zum Istanbuler Flug- spanischen Journalisten und Historikers, Eurowings-Mitarbeiterin gelegen. Darauf hafen schaffte es die Reisegruppe noch, in der mutmaßlich nicht mehr in die USA ein- seien handschriftlich ihre beiden Namen der Schlange vor der Passkontrolle war reisen durfte, weil er häufig über Kurden notiert gewesen, erzählt Isam Marnissi, dann aber Schluss. berichtete. der Deutscher ist und tunesische Wurzeln Polizisten in Zivil machten Stichproben- Wenn die Türkei als ein verbündetes hat. »Da dachten wir uns schon, o je, da kontrollen und erkannten am Vornamen Land der USA einen Terrorverdacht mit- stimmt was nicht.« Sie hätten ihre Pässe des Freundes der Marnissis, dass er kurdi- teile, »dann würde das sicherlich zu einer überreicht, und die Frau am Schalter habe sche Wurzeln hat. Sein Name ist Erbil D., Platzierung auf der Liste führen«, sagt der irgendjemanden angerufen und ihre Daten so heißt auch die Hauptstadt der kurdi- US-Anwalt Shane Kadidal von der Bürger - durchgegeben. rechtsorganisation CCR Justice. Er wäre Ob sie Waffen im Gepäck hätten, habe nicht verwundert, wenn die USA solche sie zwischendurch gefragt. »Natürlich hat- »Wie eine Fahrt Informationen aus der Türkei »routinemä- ten wir das nicht«, sagt Marnissi. »Eine durch den Nebel. ßig als korrekt behandeln würden, selbst absurde Vorstellung.« Trotzdem hatte die wenn man ihnen die zugrunde liegenden Eurowings-Mitarbeiterin keine guten Nur ganz selten Fakten gar nicht mitgeteilt hat«. Nachrichten für das Paar. Die Vereinigten lichtet er sich.« Der Ort, an dem die Flugverbotsliste Staaten untersagten es den Marnissis, die entsteht, ist ein unscheinbares Gebäude Reise anzutreten. Ein Flug nach Kuba in , einem Vorort der Hauptstadt durchquere auch den US-Luftraum. schen Autonomieregion im Irak. Offenbar Washington, drei Stockwerke hoch, kein Wie bitte, fragten sich die beiden. Dür- fanden türkische Sicherheitskräfte das per Schild am Eingang. Allerdings liegt ein lau- fen die Vereinigten Staaten zwei Deut- se verdächtig. Präsident Erdoğan hat in den tes Summen in der Luft, 24 Stunden am schen verbieten, Urlaub in der Karibik zu vergangenen Jahren zahlreiche oppositio- Tag, verursacht von 230 Ventilatoren der machen? Zufriedenstellende Antworten nelle kurdische Politiker als vermeintliche Klimaanlage, die zahllose Computer küh- bekamen sie bis heute nicht. Weder von Terroristen verhaften lassen. Viele Kurden len müssen. Nur weil Nachbarn sich beim der Fluggesellschaft Eurowings noch von klagen über Repressalien. Stadtrat beschwerten, kam heraus, wer einer anderen Stelle. Zurück blieb nur der Die Sicherheitsbeamten führten Erbil hier residiert: das »Terrorist Screening Ärger darüber, dass mehr als tausend Euro D., seine Freundin und die Marnissis aus Center« des FBI, eine der unbekannteren für Flug und Unterkünfte verloren waren – der Passkontrolle ab. Ihre Handys wurden Abteilungen der US-Bundespolizei. Ihre und das Gefühl, auf deutschem Boden konfisziert, die Pincodes dazu mussten sie Aufgabe: Namen von möglichen Terroris- zum Spielball geworden zu sein, zum auf einen Zettel schreiben. Er sei nach sei- ten sammeln, in der »Terrorist Screening Objekt fremder Mächte. Denn verantwort- ner Familie und seiner Herkunft befragt Database«. lich dafür, dass die Marnissis auf der Flug- worden und auch zu seiner politischen Ab 2003 sollten Polizei und Geheim- verbotsliste landeten, war offenbar die Einstellung, sagt Erbil D., der seinen vol- dienste in den USA nachholen, was die türkische Regierung von Recep Tayyip len Namen nicht veröffentlicht sehen will, Behörden im Vorfeld der Anschläge vom Erdoğan. weil nationalistische Türken ihn auch in 11. September 2001 versäumt hatten: die Deutsche Juristen macht die Geschichte Deutschland bedrohten. »Ich habe im Ver- Daten von Terrorverdächtigen umfassend fassungslos. Der Bremer Strafverteidiger hör zugegeben, dass ich kein Erdoğan-Fan erheben und mit denen anderer staatli- Bernhard Docke, Anwalt des ehemaligen bin«, sagt er. »Das hat denen natürlich cher Stellen zusammenführen. Über die Guantanamo-Häftlings Murat Kurnaz, nicht gefallen und uns viel Ärger einge- Jahre entstand eine monströse Daten- nennt den Vorgang »grotesk«. Sein Kolle- bracht.« sammlung. Die Sicherheitsbehörden sol- ge Gerhard Hillebrand, Fachanwalt für Nach stundenlangen Gesprächen sei ih- len Hunderttausende Identitäten gespei- Verkehrsrecht, findet, die Geschichte der nen mitgeteilt worden, sie stellten eine Ge- chert haben. Aus diesem Megadatensatz Marnissis klinge wie aus einem Roman fahr für die öffentliche Sicherheit dar und entstehen kleinere Beobachtungslisten von George Orwell. müssten das Land sofort verlassen, sagt D. wie die No-Fly-List.

42 besucht hatten. Eine Gerichtsentscheidung steht noch aus. Einer malaysischen Staatsbürgerin ge- lang es, erfolgreich gegen ihre Nennung auf der No-Fly-List zu klagen. Sie war darauf geraten, weil ein FBI-Mitarbeiter einen falschen Haken auf einem Doku- ment gesetzt hatte. Haben also auch die Marnissis die Chan- ce, sich juristisch zu wehren? Keinesfalls, sagen Experten. Die Malaysierin hatte ein gültiges Studienvisum für die USA, zudem ist ihre Tochter amerikanische Staatsbür- gerin. »Die Rechtsprechung gilt nicht für deutsche Staatsbürger«, sagt Wizner. »Mein Rat an die Deutschen, die von dem Flugverbot betroffen sind: Sie sollten die Botschaft oder ein Konsulat aufsuchen und ihren Fall schildern.« Manchmal treffe man dort auf auskunftsfreudige Beamte. Wizners Kollege Jeffrey Kahn, Jurapro- fessor an der Southern Methodist Univer- sity in Texas, ist weniger optimistisch. Auf einer Beobachtungsliste zu stehen sei für Nichtamerikaner »wie eine Fahrt durch den Nebel. Nur ganz selten lichtet er sich. Nämlich dann, wenn man versucht, in ein Flugzeug zu steigen«. Auch von den Fluggesellschaften kön- nen die Marnissis keine Hilfe erwarten. Sie seien »verpflichtet, die Einreisebestimmun- gen des Ziellandes einzuhalten, andernfalls droht hohes Bußgeld oder bei Häufung von Fällen ein Einflugverbot«, sagt ein Sprecher der Lufthansa, des Mutterkon- zerns von Eurowings. »Zu dem Grund einer Einreisesperre liegt der Fluglinie keinerlei Information vor.« Darüber, wie vielen Pas- sagieren das Einsteigen verweigert werde, lägen ebenfalls keine Zahlen vor. Es handle sich aber nur um wenige Fälle. Der Münchner Anwalt Magnus von Treyer traut Fluglinien sogar zu, sich den Informationsnebel um die No-Fly-Lists ganz profan zunutze zu machen. Treyer vertritt ein bayerisches Ehepaar im Rechts- streit gegen eine spanische Fluggesell- schaft. Seine Mandanten hätten im vergan- genen Jahr über Madrid nach Kuba fliegen wollen, erzählt er. In Spanien habe man

JULIAN RETTIG / DER SPIEGEL ihnen allerdings den Weiterflug verwei- Ehepaar Marnissi: Zufriedenstellende Antworten bekamen sie bis heute nicht gert – laut dem Ehepaar mit der Begrün- dung, die USA erlaubten es nicht. Im US-Konsulat hätten seine Mandan- ten dann aber die Information bekommen, Im September 2014 enthielt die Liste troffene die Nennung von Gründen ein - sie stünden auf keiner Watchlist. Die Flug- derer, die nicht in die USA oder durch fordern, sofern diese nicht als geheim gesellschaft bestreite nun, jemals etwas in amerikanischen Luftraum fliegen dürfen, eingestuft sind, und haben die Möglichkeit, diese Richtung behauptet zu haben. Die 64000 Namen. Vor 9/11 waren es lediglich überprüfen zu lassen, ob ihr Name gestri- Passagiere seien zu spät für den Anschluss- 16 Personen. Über die Gründe, wie man chen werden kann«, sagt Ben Wizner, flug gewesen. Anwalt Treyer hingegen ins Visier gerät, hüllt sich die US-Regie- Anwalt bei der US-Bürgerrechtsorgani- glaubt, dass die Maschine schlicht über- rung in Schweigen. sation ACLU. bucht war und das Flugpersonal mithilfe 2014 verfügte ein Richter, dass die Re- Die ACLU prozessiert seit 2010 im Na- einer Ausrede wieder Platz schaffte. gierung zumindest ihren eigenen Bürgern men von 13 amerikanischen Bürgern. Vie- Nur: Beweisen lässt sich nichts. Weder und Menschen, die dauerhaft in den USA le davon sind Veteranen. Einige durften die eine noch die andere Geschichte. wohnen, sagen muss, ob sie auf der Liste nicht mehr in ihre Heimat zurückfliegen, Katrin Elger, Dietmar Hipp, Martin Knobbe stehen oder nicht. »Außerdem dürfen Be- nachdem sie etwa Verwandte im Jemen

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ßen«. Nun beantrage er den Erwerb einer Fläche am Seesteg »zur privaten Nutzung«. Im Schilfgürtel Schon damals hatte Caffier politischen Einfluss. Als CDU-Abgeordneter saß er seit vielen Jahren im Landtag, 2005 war Immobilien Auf der Ostseeinsel Usedom sicherten sich CDU-Politiker er zum CDU-Generalsekretär aufgerückt, Filetgrundstücke mit Seeblick – eines der im November 2006 wurde er Innenminis- Wochenendhäuser gehört Innenminister Lorenz Caffier. ter der Großen Koalition. Sein Kaufantrag war kaum eingegangen, da formulierte ein Beamter für Schröder er Himmel ist groß über Usedom. Naturschutz Deutschland (BUND) in bereits die positive Beschlussempfehlung: Riesige Wolken wie auf Ölgemäl- Schwerin. »Die Gemeindevertretung beschließt, eine D den niederländischer Landschafts- In Benz auf Usedom hat Bürgermeister noch zu vermessende Parzelle an Herrn maler ziehen über den Himmel, dazwi- Karl-Heinz Schröder, 66, das Sagen. Der Lorenz Caffier zu verkaufen.« Auch der schen blitzt die Sonne hervor. Am Seesteg CDU-Politiker ist Amtsvorsteher von Kaufpreis stand da schon fest, 50 Euro pro von Neppermin schaukeln an diesem Som- 15 Gemeinden im Süden der Insel. Schröder Quadratmeter. Unterschrieben: Schröder, mertag zwei kleine Motorboote in den regiert hier seit mehr als 20 Jahren hemds- Bürgermeister. Man habe sich am damali- Wellen, von hier blickt man über das Ach- ärmelig, er gilt als Mann, der Dinge gern gen Bodenrichtwert von 35 Euro orien- terwasser Richtung Zinnowitz, dahinter mal auf dem kurzen Dienstweg erledigt. tiert, sagt Rene Bergmann, Leitender Ver- liegt die Ostsee. Am Nepperminer See hatte die Ge- waltungsbeamter im Amt Usedom Süd. Lorenz Caffier, 63, kann von seinem meinde Benz schon im Jahr 2006 unter Doch warum wurde kein Bieterverfahren Grundstück direkt in sein Motorboot stei- Amtschef Schröder einen Bebauungsplan ausgelobt, um für die Gemeinde höchst- gen. Dass Caffier, Innenminister und stell- aufgelegt, um, so heißt es, die alten Dat- mögliche Einnahmen zu erzielen? vertretender Ministerpräsident von Meck- schen aus DDR-Zeiten dort »zu regulieren Und woher wusste Caffier überhaupt lenburg-Vorpommern, gern Urlaub auf und städtebaulich zu ordnen«. Doch was von dem Seegrundstück? Er habe »im Usedom macht, ist bekannt. Doch wie er war das überwiegende öffentliche Interes- Rahmen meiner Besuche« davon gehört, an das idyllisch gelegene Wochenendhaus se daran, damit Neubauten im Gewässer- schrieb er im Antrag. Auf Nachfrage sagt mit eigenem Seezugang kam, wirft Fragen schutzstreifen zu ermöglichen, für die eine Caffier heute, er habe »durch die ortsübli- auf. Warum durfte dort überhaupt gebaut Ausnahmeregelung nötig war? Das kann che Bekanntmachung der Gemeinde« von werden, im sensiblen Uferbereich, der ei- die Gemeinde bis heute nicht schlüssig der Offerte erfahren. Ihm »unterstellte per- gentlich geschützt sein sollte? darlegen. sönliche Verbindungen« hätten »ohnehin »Naturschutz und Landschaftspflege Ein besonders schönes Grundstück be- nichts genutzt«. Denn nicht die Gemeinde spielen in Mecklenburg-Vorpommern kam auch die Gattin des Bürgermeisters, sei für die Einhaltung der rechtsverbind- eine besondere Rolle«, verkündet die direkt neben Caffier. Und nur wenige Kilo- lichen Vorgaben verantwortlich, sondern Landesregierung von Ministerpräsidentin meter weiter, am Balmer Seeufer, hat inzwi- der Landkreis. Die Planungshoheit, betont Manuela Schwesig (SPD) auf ihrer Inter- schen Wirtschaftsstaatssekretär Stefan Ru- dagegen ein Sprecher des Landkreises, lie- netseite. Doch ihr Stellvertreter von der dolph (CDU) ebenfalls ein Wochenendhäus- ge allein bei der Gemeinde. »Weitere na- CDU entspannt sich auf einem Grund- chen. Im Amtsblatt ausgeschrieben, wie es turschutzrechtliche Fragen«, sagt Caffier, stück im Vogelschutzgebiet, das mit drei bei anderen Verkäufen durchaus schon ge- hätten sich nicht gestellt, es habe zum Be- weiteren ins Schilf gebaut wurde. Nach schah, war auch dieses Grundstück nicht. bauungsplan ja ein umfassendes Beteili- Recherchen von SPIEGEL und NDR Caffier bewarb sich im August 2006 um gungs- und Anhörungsverfahren gegeben. wurden dabei Planvorgaben missachtet, den Baugrund mit Seeblick. Er sei »seit Auf der Gemeindevertretersitzung am Röhricht zerstört und Straßenaushub ver- 15 Jahren Dauercamper« auf dem Camping- 4. September 2006 jedenfalls läuft alles kippt. Naturschützer sprechen von einem platz in Neppermin, schrieb er an die Ge- nach Plan. Unter Tagesordnungspunkt 9 »Skandal«: »Das ist Naturzerstörung mit meinde. Auch in diesem Jahr habe er »die ruft Schröder überraschend den Kauf - Duldung der Behörden«, sagt Corinna Gelegenheit genutzt, um die wunderschö- antrag von Caffier auf. Einstimmig billigen Cwielag vom Bund für Umwelt und ne Landschaft und Umgebung zu genie- die Gemeindevertreter den Verkauf.

44 DER SPIEGEL Nr. 36 / 1. 9. 2018 JENS KOEHLER Seegrundstücke auf Usedom: »Sensibler Naturraum«

Auch Bürgermeistergattin Gerlinde Verfüllung widerspricht somit den Fest - antwortlichen müssten zur Rechenschaft Schröder bekommt ihr Grundstück. We- setzungen des Bebauungsplanes und führt gezogen werden. gen »Befangenheit« verlässt der Bürger- zu einem Verstoß.« Er beklagt die »Zer- Mit dem zweimal geänderten Bebau- meister vor der Abstimmung ordnungs - störung des angrenzenden Röhrichtbestan- ungsplan sind schließlich die vergrößerten gemäß den Raum, so vermerkt es das Pro- des« und fragt nach dem Verursacher, um Grundstücke von Caffier, Schröder und tokoll. Kurz zuvor in der Sitzung hatte er einen Rückbau anzuordnen. ihren Nachbarn 2010 offiziell abgesegnet, die Gemeindevertreter »mit Partner« noch Was tut der Bürgermeister und Ehe- inklusive Aufschüttung und eigener Boots- rasch zu einer Ausflugsfahrt auf dem his- mann der Grundstückskäuferin Schröder? zufahrt durchs Schilf. Bald danach füllen torischen Segelboot »Weiße Düne« einge- Ganz einfach: Er sichert dem Bauamts - Arbeiter erneut das Baufeld auf, diesmal laden. Frau Schröder, so heißt es dann wei- leiter auf einem Ortstermin eine Änderung sogar mit womöglich verunreinigtem Stra- ter, wolle eine der Parzellen erwerben, um des Bebauungsplans zu. Der stellt nach ei- ßenaushub. Fotos, die im Amt damals vor- darauf einen Imbiss zu betreiben. ner amtlichen Vermessung fest: Ein Rück- liegen, zeigen Erdhaufen mit Stücken von Warum wies die Gemeinde ein neues bau wäre »unverhältnismäßig«, da es nur Straßenbelag. Das sei »irrtümlich ver- Baugebiet aus, in einem »insgesamt als um einen »geringfügigen« Flächenverlust kippt« und wieder beseitigt worden, be- sehr sensibel zu bewertenden Naturraum«, gehe. Nach dem Motto: Wen kümmert das hauptet Bergmann. wie das Umweltamt Uckermünde feststell- bisschen Schilf? Um den Eingriff in die Natur durch den te? Der Beamte Bergmann sagt, mit dem So genehmigt der Landkreis 2010 den gesamten Bebauungsplan auszugleichen, Bebauungsplan habe man den »Altbe- erweiterten Bebauungsplan – trotz des zer- legen die Behörden Kompensationsmaß- stand« der DDR-Bauten erneuern können. nahmen fest: ein Landschaftsstück zu re- Doch wo die neuen Seegrundstücke für naturieren, Feldhecken sowie eine Baum- vier Wochenendhäuser entstanden, gab es Die Bebauung im Schilf reihe anzupflanzen. Aufkommen dafür keine Datschen, bloß einen alten Fischer- müsse rückgängig muss die Gemeinde. Das Amt sagt, die schuppen, das sagt auch der Landkreis. Maßnahmen seien umgesetzt worden. Zu Ende 2007 legte Bürgermeister Schrö- gemacht werden, sehen ist davon nichts. der nach. Die Gemeinde wolle das Gebiet fordern Naturschützer. Drei Jahre später, 2013, erwarb Caffiers um den Seesteg Neppermin »wirtschaft- Kabinettskollege Rudolph sein schönes lich und touristisch stärken«, erklärte er Ufergrundstück in Balm. Er habe sich um in einer Beschlussvorlage für die Gemein- störten Röhrichts, eigentlich ein gesetzlich eine Fläche »innerhalb des veröffentlich- devertretung. Vom Bau einer Fischräuche- geschütztes Biotop. Die Bestände dort ten und rechtskräftigen Bebauungsplanes« rei ist die Rede, einem Informationszen- seien ohnehin schon »stark vorbelastet« beworben, sagt Rudolph. Der Plan wurde trum. An einer »touristischen Erlebnisstre- gewesen durch den Bootssteg und einen allerdings noch mal geändert, nun hat auch cke« sollen Verkaufsbuden entstehen. Radweg, rechtfertigt ein Sprecher heute er Seeblick. Das moderne Häuschen ist Nach mehr als hundert Einsprüchen ge- die Entscheidung. Es handle sich ins - längst fertig, der Garten liegt direkt am gen den Bebauungsplan, der sogar Ferien- gesamt um einen »relativ geringen Flä- Schilf. häuser im Wasser vorsieht, wird fast nichts chenverlust«. 320 Quadratmeter sind es Anwohner beschwerten sich nach Bau- davon gebaut, lediglich die Häuschen von immerhin, so steht es im Umweltbericht. beginn über die Zerstörung von Röhricht. Caffier, Schröder und den Käufern zweier Und schützenswerte Tiere? Im betroffenen Schröders Amt erklärt, nicht am Bau- Grundstücke nebenan. Schilf siedelten nur Brutvögel »mit relativ grund, sondern auf einer Gemeindefläche Schon wenige Wochen nach dem Ge- geringen Ansprüchen an Qualität und Min- sei damals Schilf abgemäht worden. meindebeschluss im Herbst 2006 rollten destgröße des Habitats«, so der Sprecher. Und was sagt der Bürgermeister zu all- Lkw an. Sie schütteten Sand und Kies ins »Das ist falsch«, sagt BUND-Geschäfts- dem? Wie begegnet er dem Verdacht, dass Schilf und vergrößerten damit die Grund- führerin Cwielag. Im Schilfgürtel am Ach- er privates Interesse mit seinem Amt ver- fläche für Schröder und Caffier. Die Auf- terwasser brüteten empfindliche Vögel, für mischte, weil er vom Verkauf des Gemein- schüttungen reichten »weit über die fest- die es »fatal« sei, wenn die Röhrichte klei- degrunds profitierte? Auf alle Fragen des gesetzte Baugrenze (ca. 13 Meter) hinaus«, ner würden. Sie sieht einen Verstoß gegen SPIEGEL dazu sagt er: nichts. monierte der Leiter des Kreisbauamtes in Naturschutzgesetze. Die Bebauung im Annette Großbongardt, Horand Knaup Anklam bei Bürgermeister Schröder: »Die Schilf müsse rückgängig gemacht, die Ver-

45 Gesellschaft

61,25 Punkte heißt: Pflegegrad drei. »Mehr ist nicht drin«, sagt der Gutachter. ‣S.48

durch Freunde in Bars/Restaurants während des Studiums

Früher war alles schlechter Nº 140: Wie Paare sich finden in der Schule

über Nachbarn durch Arbeitskollegen durch die Familie online

Klick zum Glück. Verglichen mit Tieren – sagen wir: Hunden, Match.com oder Tinder; bei gleichgeschlechtlichen Partner - Hasen, Hühnern –, finden Menschen ja nur sehr zögerlich zu - schaften sind es annähernd 70 Prozent. Vermittlungshelfer, die einander. Das mag vor ein paar Zehntausend Jahren noch ein - dagegen an Bedeutung verloren haben, sind die Kirche (ach?), facher gewesen sein, als der Höhlenmann die Höhlenfrau schlicht der Arbeitsplatz, die Schule/Uni und der analoge Freundeskreis bei den Haaren griff und in die Höhle schleppte. Seitdem diese – der allerdings bei Heteropaaren immer noch die verbreitetste Methode, falls es sie je gab, nicht mehr zur Verfügung steht, ist Form des Kennenlernens geblieben ist. Ist die digital angebahnte es kompliziert geworden. Man schreibt Gedichte, kauft Blumen, Liebe besser oder schlechter als die Zufallsbekanntschaft in der trinkt Alkohol, redet dummes Zeug. So ging das ein paar Jahr- Bar? Unmöglich zu sagen. Einige signifikante Effekte von hunderte lang. Bis das Onlinedating kam und alles effi zienter Onlinepaarungen glauben Forscher beobachtet zu haben: Sie machte. Wissenschaftler der Stanford-Universität haben unter- führen schneller zur Ehe; sie scheinen stabiler zu sein als tradi - sucht, wie Paare sich in den USA im Laufe der vergangenen tionelle Verbindungen; sie bringen mehr Vermischung, da Jahrzehnte kennengelernt haben. Inzwischen macht ein Viertel unterschiedliche Ethnien und Hautfarben besser zusammen - von ihnen Bekanntschaft übers Internet mittels Portalen wie finden. [email protected]

Stil noch Glitzerbuden mit Ramsch aus China. gepflegt. Die kauften Cowboystiefel aus Hat das Milieu seine Würde Hier geht es mittlerweile schlimmer zu als Pythonleder oder schwarz-weiße Slipper. auf der Schinkenstraße auf Mallorca: Die Albaner, die den Kiez übernommen verloren, Frau Lawrence? Junggesellenabschiede, Gegröle, Saufen. haben, haben keinen Stil. Alles ist schmutzig und ver- SPIEGEL: Was tragen die Susan Lawrence, 59, Inhaberin des müllt, die Leute verrichten für Schuhe? ältesten Schuhgeschäfts in Hamburg, ihr Geschäft auf der Straße, Lawrence: Sneaker, wie über den Wandel der Reeperbahn die pinkeln sogar vor meine jeder heutzutage. Haupt - Ladentür. Entsetzlich. sache billig. Die Prostituier- SPIEGEL: Frau Lawrence, Ihren Laden SPIEGEL: Das klingt, als ten kaufen inzwischen im gibt es seit 175 Jahren, er liegt auf der hätte die Reeperbahn ihre Netz. Früher haben die Reeperbahn, mitten im Rotlichtviertel. Er Würde verloren. Damen noch Wert gelegt ist eine Institution auf dem Kiez. Warum Lawrence: Udo Lindenberg auf Qualität, die Babsi müssen Sie schließen? hat bei mir Schuhe gekauft, und die Moni, das waren Lawrence: Der Kiez hat sich verändert, er Freddy Quinn auch. Früher Stammkundinnen. Die geht durch die Ballermannisierung kaputt. kamen die Zuhälter mit den wollten High Heels aus SPIEGEL: Was meinen Sie damit? Liebesdamen zu uns: der Lack und Leder. Das Einzi- Lawrence: Früher gingen die Leute auf schöne Klaus, Lackschuh- ge, was die Prostituierten der Reeperbahn shoppen, da gab es edle Dieter, Harry, der Hundert- bei mir noch kaufen, sind

Modegeschäfte, man konnte Schmuck jährige, und wie sie alle / DER SPIEGEL HELENA LEA MANHARTSBERGER Strumpfhosen. Aber davon und Pelzmäntel kaufen. Jetzt gibt es nur hießen. Die waren sehr Lawrence kann man nicht leben. RED

46 mit Garten. Sie sagt, sie habe immer von einer großen Familie Eine Meldung und ihre Geschichte geträumt, die sie nie hatte. Sie zäunte zunächst nur ein kleines Stück des Gartens ein; die Katzen sollten an der frischen Luft leben und gleichzeitig Cats in Sicherheit sein. Die Katzen wuchsen, und bald war der ganze Garten gesichert. Die Kunde, dass Martina Kraft Katzen hilft, kranken, ge- Warum die Stadt Bielefeld einer lähmten, blinden, nahm ihren Lauf auch über die deutsche Frau 61 Katzen wegnahm Grenze hinweg, irgendwann kamen, vermittelt über Face- und jetzt 50000 Euro von ihr fordert book, Katzen aus Rumänien, Griechenland, Bulgarien. Und so wuchs der Bestand. Im Frühjahr 2016 kam ein gan- zer Schub Jungtiere in Bielefeld an, mit kranker Nase und s war ein Märztag des Jahres 2017, als Martina Kraft, krankem Maul. Martina Kraft zog sie alle mit der Flasche auf. E eine Frau, die in ihrem Leben immer nur Gutes tun Zuletzt hütete sie 61 Tiere. Die Sache war irgendwie außer wollte, von einer anonymen Anzeige aus ihrem Leben Kontrolle geraten. Sie hatte ein Katzenhospiz gegründet und gerissen wurde. Vor ihrer Haustür standen, ohne Voran - es das »Catdorado« genannt. Einmal, im Winter, war die Hei- meldung, Leute vom Veterinäramt der Stadt Bielefeld, sie zung in ihrem Haus ausgefallen, da lagen sie alle gemeinsam waren bewaffnet mit Netzen und Körben, sie stürmten hi- vor dem Ofen. Das war, sagt Martina Kraft, das Paradies. nein und gingen auf die Jagd, es war ein großes Schreien Dann kam die anonyme Anzeige, und das Paradies wurde und Kratzen, und nach einer Stunde war alles vorbei. Mar- evakuiert. tina Kraft stand in ihrem Haus, allein. Um sie herum war Fast anderthalb Jahre sind seitdem vergangen, ein August- es still geworden. Es roch ein bisschen streng, aber das nachmittag, wolkig, die ersten Blätter wehen durch die Stra- nahm sie schon lange nicht mehr so ßen. Martina Kraft, 53 Jahre alt, eine recht wahr. schmale Frau, kinnlange, blonde Haare Die Geschichte, die an diesem Tag so mit pinkfarbener Strähne und wasser- kalt endet, beginnt, als Martina Kraft, blaue Augen, steht in der Diele ihres Hau- damals noch ein Kind, Urlaub in Öster- ses und bittet herein. Katzensachen über- reich macht. Sie hatte dort Fröschen all: Katzenregale, Körbchen, Kratzbäume, über die Straße geholfen und gemerkt, im Garten Katzentunnel, Klettergerüste, dass sie das glücklich macht. Nach die- Klingelmäuse, Federangel, Ritterburg. sem Urlaub hielt sie Ausschau nach Ge- Das Amt hat ihr verboten, überhaupt legenheiten, sich um notleidende Tiere noch Tiere zu halten. Also hat sie die kümmern zu können. Sie trug, in ihrer Zäune im Garten abgebaut, damit die damaligen Heimat Berlin, verletzte Vö- Nachbarskatzen kommen können. Mar- gel in die Wohnung, legte sie auf den tina Kraft bekocht sie mit Hühnerherzen Küchentisch, sah ihre Mutter an und bat und feiner Leber. um Hilfe. Und die Mutter half, weil sie Sie selbst isst schon lange nur noch Tü- alles tat für ihre Tochter, Scheidungs- tensuppen, sagt sie, und sie verreist auch kind, Schlüsselkind. nicht mehr. Die Hose, die sie trägt, In der Schule setzte sich Martina für stammt aus einem Secondhandladen und Schwache ein, sie lieh Kindern Geld, das hat 1,50 Euro gekostet. Sie arbeitet nach sie meistens nicht zurückbekam. Da war wie vor im Krankenhaus, aber nur noch etwas bei Martina, das immer an ihr zog. halbtags. Es ist schwer zu sagen, wann Sie wollte anderen helfen. Kraft genau sie ihr Leben gegen das für die Sie machte Abitur und wurde, schlüs- Tiere getauscht hat. sigerweise, Krankenschwester. Im Haus hat sie 52 Katzenklos, vier Für einen Mann zog sie nach Biele- Waschmaschinen, vier Trockner, drei feld, sie nahmen zwei Katzen auf, Mü- Reinigungswagen, zwei Kärcher. Als die nos und Puma, beide unheilbar erkrankt 61 Katzen noch bei ihr waren, putzte sie an Leukose. Puma starb nach neun Mo- täglich zwei Stunden. naten, Münos nach sechs Jahren. Marti- Von der Website Bild.de »Was ist das für ein Geknalle?«, fragt na Kraft hatte sie bis zum letzten Tag sie, läuft ins Wohnzimmer, blickt in eine gepflegt. Wenn sie im Urlaub war, sie und der Mann reisten Ecke und sagt: »Ach, ihr tobt!« Es sind die Nachbarskatzen. gern in die Ferne, nach Costa Rica, Malaysia, rief sie alle Sie lächelt. zwei Tage zu Hause an, beim Katzensitter. Die Stadt Bielefeld behauptet, dass viele der Katzen, die Als sie den Tod der beiden ersten Katzen verwunden hatte, bei Frau Kraft wohnten, krank waren, dass vier von ihnen bekam sie zwei neue, Mijou und Percy, und die Liebe war noch an dem Tag, als sie ins Tierheim verbracht wurden, ein- dieselbe. Eines Tages war Percy verschwunden, und natürlich geschläfert werden mussten. Die kranken Katzen, heißt es, suchte Martina Kraft wochenlang nach ihm, sie machte Aus- hätten die gesunden jederzeit anstecken können. hänge, sie rief in Versuchslaboren an. Martina Kraft hat sich inzwischen einen Anwalt genom- So war ihr Leben, und es war glücklich. Später, im Thai- men. Denn der Streit hört nicht auf. Sie hat neulich Rech- landurlaub, half sie bei einer Tierschutzorganisation, und es nungen bekommen, danach soll sie 50568,30 Euro bezahlen. war folgerichtig, dass sie schon bald die erste Katze von dort So viel haben ihre 61 Katzen angeblich die Tierheime in der nach Hause holte. Gegend gekostet, für Ärzte, Kost, Logis. Martina Kraft wehrt Im Jahr 2013 besaß Martina Kraft sechs Katzen. Sie wollte sich auch dagegen. Hat sie keinen Erfolg, muss sie ihr Haus den Tieren ein besseres Zuhause geben und kaufte ein Haus verkaufen. Barbara Hardinghaus

DER SPIEGEL Nr. 36 / 1. 9. 2018 47 Gutachter Zimmermann

Wer ihn bestellt, der bittet ihn, ein Leben zu betrachten, in dem es nicht weitergeht wie bisher.

48 FOTOS: MILOS DJURIC / DER SPIEGEL Gesellschaft Besuch von Herrn Zimmermann

Schicksale In Deutschland leben 3,3 Millionen pflegebedürftige Menschen. Der Medizinische Dienst stellt fest, wie viel Geld jeder Einzelne von der Krankenkasse bekommen soll. An jedem Hausbesuch hängt ein Schicksal. Unterwegs mit einem Gutachter. Von Maik Großekathöfer

n einem wolkenlosen Mittwoch- Frau Bielau wischt sich Tränen aus den sung in die Häuslichkeit in weiter beste- morgen im Juli, gegen elf Uhr, Augen und nickt. hendem erheblich reduzierten Allgemein- A parkt Kay Zimmermann seinen »Ist nicht schlimm«, sagt Zimmermann. zustand sowie Geh- und Stehunfähigkeit.« schwarzen Peugeot vor einem Kay Zimmermann ist MDK-Gutachter, Zimmermann beugt sich im Stuhl vor. Haus in Liebenwalde, einer Stadt in Bran- wer ihn zu sich nach Hause bestellt, der »Wohnen Sie allein hier?«, fragt er. denburg. Bevor er aussteigt, desinfiziert bittet ihn, ein Leben zu betrachten, in dem »Meine Tochter wohnt unten.« er die Hände, er reibt sie so lange mit einer es nicht weitergeht wie bisher. Er besucht »Ihre Tochter hilft aber schon?« klaren Flüssigkeit ein, bis sie wieder tro- Menschen, die bei ihrer Krankenkasse ei- »Nein. Die ist doch von morgens sieben cken sind. Das Fläschchen steckt er zurück nen Pflegeantrag gestellt haben, weil sie bis abends acht weg. Die will sich nicht in die Aktentasche, zu den blauen Einweg- nicht mehr in der Lage sind, sich allein zu so festlegen mit mir. Die hat auch einen schuhüberziehern. Die hat er dabei, weil versorgen. Zimmermann muss sich ein Freund, da ist sie manchmal tagelang.« er sich nie sicher sein kann, was ihn hinter Bild von ihrem körperlichen und geistigen Frau Bielau weint jetzt wieder. den Türen erwartet, an denen er klingelt. Zustand machen, um zu entscheiden, ob »Allet jut, Frau Bielau«, sagt Zimmer- »Dann wollen wir mal«, sagt er. An seinem sie einen der fünf Pflegegrade erhalten. mann. Sein Gesicht bleibt regungslos, kein Hemd hängt ein Namensschild: »Kay Zim- 60 Minuten hat er dafür Zeit, das kalku- Lächeln, kein Augenzwinkern. mermann. MDK – Medizinischer Dienst liert der MDK so. Dann steht die Pflegerin im Türrahmen, der Krankenversicherung«. Von seinem Urteil hängt ab, wie viel ihre Unterarme sind tätowiert, eine Maske Zimmermann steht jetzt vor einem nied- Geld diese Leute bekommen, damit sie ei- bedeckt Mund und Nase. Sie kommt zwei- rigen Hoftor, das Tor ist zugezogen, aber nen Pflegedienst bezahlen oder die Ange- mal am Tag, um Frau Bielau zu waschen nicht abgeschlossen, er könnte einfach auf hörigen entschädigen können, die sich um und die wund gelegene Stelle am Steiß zu das Grundstück gehen, das macht er aber sie kümmern müssen. Er ist zuständig für verbinden. 1800 Euro zahlt Frau Bielau nicht, er will nichts tun, was man ihm nach- die fünf Brandenburger Landkreise Ober- im Monat hierfür, bei 1300 Euro Rente. her vorwerfen könnte. Er kennt einen Kol- havel, Prignitz, Ost prignitz-Ruppin, Bar- Für sie geht es um ihre Existenz. legen, den man angezeigt hat, weil er beim nim und Uckermark. Fünf Hausbesuche Zimmermann ist ein beeindruckend un- Hausbesuch eine Vase verschoben hat. macht Zimmermann am Tag – und an je- aufgeregter Mann, ihn schockt wenig, weil Er greift zum Handy und ruft die Dame dem hängt ein Schicksal. er schon viel gesehen hat. Er ist 50 Jahre an, die in dem Haus wohnt: »Frau Bielau? Gitta Bielau hat ihren Antrag vor fünf alt, Single, scharf rasierter Kinnbart, ecki- Hier Zimmermann vom MDK. Ich stehe Wochen gestellt, Auftragsnummer 641542, ge Brille. Könnte auch gut Finanzbuchhal- draußen … ja, ja, Sie können nicht laufen sie ist 76 Jahre alt, leidet an Rheuma, hat ter sein. Er hat noch in der DDR Heizungs- … ich komme dann mal rein, ja?« Arthrose im linken Ellenbogen und in bei- installateur gelernt, dann schulte er um Er geht über den Hof, tritt ins Haus und den Knien künstliche Gelenke, seit 2011 auf Krankenpfleger, er hat im Operations- steigt eine gewendelte Holztreppe hinauf hat sie links eine künstliche Hüfte. Vor drei saal gearbeitet und auf der chirurgischen in den Flur. Im ersten Zimmer links liegt Monaten ist sie in der Küche zusammen- Intensivstation, später für vier Jahre in der Gitta Bielau* in einem Krankenbett mit gesackt. ambulanten Pflege. 2005 wechselte er als Seitengitter. Der Geruch von Urin beißt in Während sie ihre Krankengeschichte er- Gutachter zum MDK. der Nase. In dem Zimmer stehen ein mo- zählt, schreibt Zimmermann hastig mit, er »Wie groß sind Sie denn, Frau Bielau?« biler Toilettenstuhl, ein Rollator und ein hackt mit den Zeigefingern in die Tastatur, »Einsfünfundsechzig.« Fernseher, vor dem Fenster hängen graue »Krankenhauseinweisung bei dann festge- »Und was wiegen Sie?« Gardinen. »So schönes Wetter draußen, stellter Koxarthrose rechts«, der Kopf des »Sechzig.« und ich habe nichts davon«, sagt Gitta Oberschenkelknochens war abgenutzt. »Wie ist es mit der Luft? Kriegen Sie Bielau. Als sie im Krankenhaus auf die Opera- gut?« Zimmermann nimmt Platz auf einem tion gewartet hat, verabreichten ihr die »Das geht.« Stuhl am Bett, holt den Laptop aus der Ärzte das Rheumamittel täglich, obwohl »Wenn Sie aufstehen könnten, könnten Aktentasche, stellt ihn auf seinen Schoß, sie es nur wöchentlich schlucken muss, was Sie dann das Wasser halten? Oder würde klappt ihn auf. »Frau Bielau, Sie wissen ja, zu einer Vergiftung des Knochenmarks es tröpfeln?« weshalb ich hier bin«, sagt er. »Ich stelle führte. Sie musste künstlich ernährt wer- »Nee, das ginge.« Ihnen jetzt ein paar Fragen, ja? Viel mehr den und steckte sich mit MRSA an, einem »Die Windeln, die tragen Sie, weil Sie passiert auch nicht. Einverstanden?« antibiotikaresistenten Erreger. Operiert nicht laufen können?« wurde Frau Bielau noch nicht. Zimmer- »Ja, das ist doch das Schlimme.« * Die Namen aller Antragsteller sind geändert. mann schreibt: »Mitte Juni 2018 Entlas- »Besteck können Sie halten?«

DER SPIEGEL Nr. 36 / 1. 9. 2018 49 Gesellschaft

»Geht, ja. Ich kriege aber keine Brause- flasche auf, da fehlt die Kraft.« Was Zimmermann macht, ist eine Mus- terung für Gebrechliche und Kranke. Er sagt kein Wort zu viel, keines zu wenig. Er wendet sich an die Pflegerin. »Haus- wirtschaft – was machen Sie da?« Die Pflegerin nimmt den Mundschutz ab. »Noch nichts«, sagt sie. Mittags schaut sie zwar kurz vorbei, um die Mahlzeit auf- zuwärmen, die »Essen auf Rädern« liefert. »Aber das ist freiwillig, das zahlt keiner.« Nach 55 Minuten klappt Zimmermann seinen Laptop zu. »Das war’s schon, Frau Bielau. Ihre Krankenkasse meldet sich bei Ihnen und schickt den Bescheid.« Er steckt den Laptop in die Tasche und steht auf. Gitta Bielau will sich im Bett aufrichten, schafft es aber nicht. Sie guckt Zimmer- mann an und fragt mit zittriger Stimme: »Können Sie mir schon was sagen?« »Nein.« »Wenn Sie ablehnen, komme ich nicht aus den Schulden raus.« Zimmermann schweigt. In den Augen der Antragsteller hat ein Gutachter des MDK viel Macht. Zimmer- mann sieht das anders. Er meint, ein Kran- kenpfleger habe Macht, der sei unmittel- ten macht er immer zu Hause fertig. Er ist Bielau in Pflegegrad drei; sie erhält von bar für das Wohl eines Patienten verant- ein pragmatischer Typ, der seine Duftwäs- der Krankenkasse künftig 1298 Euro im wortlich, er nicht. serchen im Bad nach Größe der Flakons Monat für den Pflegedienst. Zimmermann »Alles Gute, Frau Bielau«, sagt Zimmer- sortiert, die DVDs neben dem Fernseher sagt: »Ich kriege so einen Hals, wenn ich mann. Er gibt ihr die Hand und sitzt kurz sind auf Kante gestapelt, Zimmermann daran denke, was sie über ihre Tochter er- darauf wieder im Auto, auf dem Weg zum führt ein Leben, in dem immer alles kor- zählt hat.« nächsten Termin. rekt sein muss. Er will seine Arbeit gut machen, das Beim MDK arbeiten gut 2300 angestell- Laut Dienstplan, den ihm die Zentrale heißt für ihn, dass er das richtige Maß fin- te Gutachter, die laut Gesetz unabhängig am Vortag auf sein Handy geschickt hat, den muss zwischen Mitgefühl und Distanz, von den Interessen der Pflegebedürftigen hat er für die Nachbereitung des Haus - zwischen Wohlwollen auf der einen Seite und denen der Krankenkasse ihr Urteil besuches bei Frau Bielau exakt 32 Minuten und Pflegebedürftigkeitsrichtlinien auf der fällen müssen. Im vergangenen Jahr haben Zeit. Er ruft im Laptop das Dokument auf, anderen. Wahrscheinlich pendelt man in sie 1,8 Millionen Anträge geprüft. Gutachten 707-5644155. Er liest noch ein- seinem Beruf immer hin und her. Nach Ansicht des Bundesrechnungshofs mal, was er am Morgen geschrieben hat, Bei seinem letzten Termin an diesem ist der MDK wegen Personalmangels völ- verbessert Tippfehler, streicht hier einen Tag stand er vor einem rotgeklinkerten lig überlastet. In einem anonymen Schrei- Halbsatz, ergänzt an anderer Stelle. Im Neubau in Rheinsberg, er rauchte und trat ben beklagten Gutachter des MDK-Nord, Gutachten heißt es: »Feste Mahlzeiten von einem Fuß auf den anderen. »Jetzt der Hamburg und Schleswig-Holstein ab- müssen klein geschnitten werden. Brote bin ich mal gespannt«, sagte er. Für einen deckt, es herrsche unter den Prüfern »ein können belegt werden. Getränke müssen Augenblick, bevor die Frau, die er gleich Zustand der Angst, Verzweiflung und Re- eingegossen werden.« begutachten musste, zu einer abstrakten signation«, der Zeitdruck wirke sich auf Zum Auftrag gehört, dass er die Ergeb- Fallzahl im Gesundheitssystem wurde, die Qualität der Gutachten aus. nisse der Begutachtung in langen Check- Auftrag 649076, war sie ein Mensch, mit Inzwischen ist jeder fünfte Mensch in listen festhält. 78 Fragen muss Zimmer- dem er Mitleid hatte. Deutschland älter als 65, in zehn Jahren mann beantworten, sie sind aufgeteilt in Zimmermann, die Aktentasche in der wird jeder Dritte über 60 sein, der Bedarf sechs Themenfelder, jeweils vier Antwor- linken Hand, drückte die Klingel neben an Pflegeleistungen wird weiter steigen. ten stehen zur Auswahl, für die es unter- dem Namen »Stöbe«. Die Tür summte auf. Auf Kay Zimmermann kommt noch mehr schiedlich viele Punkte gibt. Im Hochparterre erwartete ihn ein drah- Arbeit zu. Interaktion in direktem Kontakt? Selbst- tiger Herr mit Halbglatze und Sandalen Was sollte, was kann ein Gutachter leis- ständig. Null Punkte. an den Füßen. »Komm Se rin«, sagte Rolf ten? Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, Positionswechsel im Bett? Überwiegend Stöbe. »Ich bin Fußballer. Vor Ihnen steht dass er zu hart urteilt oder zu weich? selbstständig. Ein Punkt. jemand mit über tausend Pflichtspielen.« Reicht eine Stunde aus, um einem Men- Waschen des Intimbereichs? Überwie- Herr Stöbe erweckte nicht den Eindruck, schen gerecht zu werden? Oder ist das Pro- gend unselbstständig. Zwei Punkte. als sei er mit einer Frau verheiratet, die zedere unwürdig? Treppensteigen? Unselbstständig. Drei vielleicht nicht mehr lange lebt, aber es Nachmittags um halb vier sitzt Zimmer- Punkte. kann auch sein, dass er einfach nervös war. mann in seiner Maisonettewohnung auf Die Punkte werden addiert und gewich- Rita Stöbe saß im Wohnzimmer auf ei- dem Balkon, er hat sich umgezogen, steckt tet, es ist ein kompliziertes Verfahren. Am nem Samtsessel, mit einer Haut wie Perga- in T-Shirt und Shorts. Zimmermann wohnt Ende, nach 25 Minuten, kommt Zimmer- ment. Sie trug einen rosafarbenen Pullover in Bergfelde bei Oranienburg, die Gutach- mann auf 47,5 Punkte, damit landet Gitta und einen Rock mit Blumenmuster. Auf

50 DER SPIEGEL Nr. 36 / 1. 9. 2018 Am Nachmittag, auf seiner Terrasse, öff- net er das Gutachten 707-349288, Rita Stöbe. Zimmermann schreibt: »Das Ge- hen ist mit personeller Begleitung mit Hilfsmittel möglich. Das Gangbild ist un- sicher. Das Stehen ist mit zweihändigem Festhalten möglich.« Dafür erhält sie 7,5 Punkte. Er attestiert tägliche Angst- zustände, macht 11,25 Punkte. Er findet, sie könne selbstständig essen und trinken, sich ansonsten aber nicht allein versor - gen: 30 Punkte. Am Ende kommt er auf 61,25 Punkte, Pflegegrad drei. »Mehr ist nicht drin«, sagt Zimmermann. Er macht eine kurze Pause, dann sagt er: »Leider.« Wenn seine Gefühle den Richtlinien ge- genüberstehen, müssen die Richtlinien ge- winnen. 61,25 Punkte sind 61,25 Punkte. Zimmermann sagt, es sei kaum möglich, jemandem Pflegegrad vier oder fünf zu ge- ben, der kognitiv keine Einschränkungen habe, sich orientieren und erinnern könne, der Verwandte und Freunde erkenne. Wenn seine Gefühle den Richtlinien gegenüberstehen, Für Menschen, die von Kay Zimmer- mann Besuch bekommen, geht es darum, müssen die Richtlinien gewinnen. einen möglichst schlechten Eindruck zu machen, um das bestmögliche Ergebnis zu erzielen. Für Zimmermann geht es darum dem Tisch stand ein Teller mit Keksen und Rücken kommt. Es spielte keine Rolle, bei herauszufinden, was echt ist und was insze- das gute Kaffeeservice. Rührte Zimmer- der Diagnose. niert. Er hat es meistens mit alten Men- mann nicht an, macht er nie. Zimmermann tippte ein paar Sätze in schen zu tun, deren Welt nicht immer sofort »Tag, Frau Stöbe«, sagte Zimmermann, seinen Laptop, man hörte nichts, außer zu verstehen ist. Es sind stolze Menschen. er setzte sich ihr gegenüber an den runden dem Klackern der Tastatur und dem Ti- Wenn sie Besuch bekommen, ziehen sie Tisch mit dem Kerzenständer und holte cken der Wanduhr. Man konnte sich gut die feine Garderobe an, sie räumen die den Laptop raus. vorstellen, was in diesem Moment in den Wohnung auf, damit der Gast einen guten »Na, dann fragen Sie mal«, sagte Frau Köpfen der Stöbes vorging. Eindruck bekommt, sie reden nicht über Stöbe. »Wenn ich nicht weiterweiß, gebe »Mit den Schmerzmitteln kommen Sie Schmerzen, weil sie im Leben nie geklagt ich Bescheid.« zurecht?«, fragte Zimmermann. haben. Sie riskieren, dass man sie für ge- Rita Stöbe kam Heiligabend 1937 zur »Morphium brauche ich nicht, wenn Sie sünder hält, als sie sind. Sie sind manchmal Welt, sie ist seit 57 Jahren verheiratet, war das meinen«, antwortete Frau Stöbe. »Nach schwerer zu durchschauen als die, die es Lehrerin für Russisch und Sport. Sie war der Palliativ kommt das Hospiz. Ich habe so umgekehrt machen. Zimmermann meint, immer kerngesund, hat früher Volleyball feine Hobbys und kann keins mehr machen.« er habe ein ganz gutes Gespür für die Wirk- gespielt und ist Ski gefahren, bis sie 2015 Ihr Mann sagte: »Dafür kannst du dich lichkeit. einen Hautkrebs am linken Oberarm be- gut artikulieren.« Er ist einer, der von seiner Entscheidung, kam. »Dann ging’s los.« Frau Stöbe fragte: »Wie weit wird der ist sie einmal getroffen, nicht mehr ab- Obwohl Zimmermann die Krankenge- geistige Zustand berücksichtigt?« weicht. Eine Stunde hält er für »völlig aus- schichte schon aus der Akte kannte, sprach »Immer, im Hintergrund«, sagte Zim- reichend«, um einen kranken Menschen er sie noch einmal mit Frau Stöbe durch: mermann. In sein Gutachten schrieb er: zu klassifizieren, sogar für »hochgegrif- Operation des Melanoms, Stammzellen - »Die Antragstellerin ist bewusstseinsklar, fen«. Ihm sei bewusst, sagt er, dass er »un- infusion, Krebszellen in den Lymphknoten in allen Bereichen orientiert und am Tages- ser aller Geld« verteile. »Ich bin entgegen- der linken Brustseite, Operation, im April geschehen interessiert.« kommend, aber nicht großzügig. Zu ver- 2018 stellten die Ärzte in der Berliner Cha- Der Pflegedienst kommt dreimal täglich, schenken habe ich nichts. Ich sage gern: rité dann Metastasen in der Lunge fest, im gibt ihr Thrombosespritzen, sortiert die Me- Die Pflegeversicherung ist Teilkasko.« Bauchfell, in den Wirbelkörpern. »Aktuell dikamente, wäscht sie. »Geld ist überhaupt Es gab eine Zeit, in der hat Zimmermann fühle sich die Versicherte erheblichst ge- nicht mehr wichtig«, sagte Frau Stöbe. »Ich in einem Monat 138 Gutachten erstellt, schwächt«, schrieb Zimmermann. sollte noch mal nach Usedom fahren, aber 7 pro Tag also. Und trotzdem, sagt er, habe Frau Stöbe sagte: »Meine Hausärztin ich komme nicht mal allein zu Lidl.« er es nie bereut, zum MDK gewechselt zu meint, ich hätte dreimal ›hier‹ geschrien.« Zimmermann ging ins Bad, guckte sich sein. Er wird besser bezahlt als ein Pfleger, »So wat macht man ja auch nicht«, sagte um. »Sie brauchen einen Wannenlifter«, ein MDK-Gutachter mit mehr als zehn Jah- Zimmermann. sagte er zu Frau Stöbe, als er zurück ins ren Berufserfahrung verdient 3859 Euro Herr Stöbe sagte: »Ich spiele noch jede Wohnzimmer kam. »Ich beantrage einen im Monat, er hat keinen Schichtdienst, son- Woche, Ballschlepper im Mittelfeld.« für Sie. Der ist dann auch gleich bewilligt.« dern Gleitzeit, er muss keine kranken Men- Zimmermann fragte nach Größe und »Donnerlittchen«, sagte Frau Stöbe. schen waschen, heben oder drehen; er legt Gewicht, verzichtete aber darauf, sich zei- Zimmermann packte seine Sachen zu- fest, wie oft ein Pfleger kommen darf, um gen zu lassen, wie hoch Frau Stöbe die sammen, zum Abschied sagte er den übli- zu waschen, heben, drehen. Arme heben kann. Ihn interessierte auch chen Spruch auf: »Sie kriegen dann Be- Er checkt noch einmal seine Mails, die nicht, ob sie mit den Händen hinter den scheid von der Kasse.« Zentrale hat ihm die nächsten Aufträge

51 Gesellschaft

»Herr Decker, warum haben Sie denn einen neuen Antrag gestellt?«, fragt Zim- mermann, nun lauter. Die Lebensgefährtin nimmt Deckers Hand, sie sagt: »Mein Pflegeantrag wurde ja abgelehnt. Aber ich kann nicht mehr. Wenn er umkippen tut, kann ich ihn nicht halten.« Zimmermann schaut vom Laptop auf. »Ich habe doch den Herrn Decker gefragt, oder? Was ist denn nun schlechter ge- worden?« »Na, so der Allgemeinzustand«, sagt De- cker und zuckt mit den Schultern. »Ich bin immer so erschöpft.« Zimmermann blickt Decker an, es ist unmöglich zu sagen, was er gerade denkt. »Haben Sie so ein Kribbeln in den Fin- gern?« »Schon, ja.« »Luft? Wird knapp?« Decker schüttelt den Kopf. »Wie viel trinken Sie so am Tag?«, fragt Der Wecker klingelt um 4.15 Uhr. Zimmermann macht Zimmermann. sich einen Kaffee und setzt sich an den Rechner. »Er tut wenig trinken«, sagt die Freun- din. Zimmermann lässt Decker einmal ins Bad und zurück gehen, er guckt sich die geschickt. Er muss zu einem 30-jährigen wird, wohnt in der zweiten Etage. Auch Dusche an und fragt, warum Decker fünf- Mann, bettlägerig nach einem Autounfall. ihn soll Zimmermann höherstufen, von mal im Monat zum Hausarzt gehe. »Was Zu einem 77-Jährigen, dement, in der Mail Pflegegrad eins auf zwei: Das wären 316 wollen Sie da denn immer?« Er fragt, wer steht der Hinweis: »keine hellen Sachen Euro mehr. Er zündet sich eine Zigarette den Einkauf erledige. anziehen«. Was bedeutet, dass die Woh- an, er raucht rote Pall Mall. »Das ist ein Decker erzählt, dass er mit dem Roll- nung völlig verdreckt ist. Manchmal packt alter Russenblock«, sagt er. »Hier wohnen stuhl zum Netto fahre. »Manchmal nehme Zimmermann Wechselwäsche ein. Und er viele Hartzer. Die brauchen das Geld.« ich auch das Auto.« muss nach Eberswalde, erst zu Frau Hilbig, Er tritt die Kippe aus, desinfiziert seine »Auto geht? Wie weit fahren Sie so?« danach zu Herrn Decker. Hände, klingelt. Es ist 11.43 Uhr. »40 Kilometer ab und zu.« Wenn er mit seinem Wagen unterwegs Die Lebensgefährtin des Antragstellers »Ach.« ist, fährt er grundsätzlich vorschriftsmäßig. öffnet die Tür, eine dicke Frau mit Krücke. Nach einer halben Stunde greift Zim- Seine Zentrale arbeitet mit einer Software Sie führt Zimmermann ins Wohnzimmer, mermann seine Aktentasche. Draußen für Tourenoptimierung, die Zimmermann wo ihr Freund auf dem Sofa sitzt: Wolf- zündet er sich erst mal eine Zigarette an vorschreibt, wie lange er für einen Weg gang Decker trägt Unterhemd und kurze und sagt: »Entweder hat der beim ersten benötigen darf. Innerorts rechnet das Pro- Hosen, der Fernseher läuft, eine Spielshow Antrag gut geschauspielert, oder die Gut- gramm mit Tempo 45, außerhalb mit 80. auf ZDFneo. Weil Haustiere weggesperrt achterin war sehr kulant. Der kommt doch Der Besuch bei Frau Hilbig war wieder werden müssen, wenn ein Gutachter prima selbst zurecht.« einer von denen, wo die Gefühle hoch- kommt, döst der Hund in der Küche. Dann fährt er nach Hause. kamen. Die Diagnosen, mit der die Pfle - Zimmermann setzt sich in einen Sessel Auf dem Balkon bearbeitet er den ge bedürftigkeit begründet worden war, und fährt den Laptop hoch. Höherstufungsantrag von Greta Hilbig, er hießen: »Polyarthrose mit schmerzhaften Wolfgang Decker ist Jahrgang 1951 und schreibt: Es besteht eine Störung der Bewegungseinschränkungen« und Inkon- hat als Kraftfahrer gearbeitet, seit vier Feinmotorik beider Hände bei Gefühls - tinenz. Sie hatte einen Antrag auf Hö - Jahren ist er Rentner. Laut Akte leidet er störungen. Der Nackengriff ist rechts nicht herstufung gestellt, von Pflegegrad zwei an Typ-2-Diabetes, »Hörverlust, nicht und links bis zum Ohr möglich. Halten auf drei. Zimmermann verbrachte eine nä her bezeichnet« und einer »chroni- einer stabilen Sitzposi tion: selbstständig. volle Stunde bei ihr. Damit sie Messer schen ischämischen Herzkrankheit«. De- Körperpflege im Bereich des Kopfes: und Gabel besser halten kann, empfahl cker ist 1,87 Meter groß und wiegt 98 Kilo - überwiegend unselbstständig. Mundge- er ihr, die Griffe des Bestecks mit Rohr- gramm. rechtes Zubereiten der Nahrung: über- isolierung aus dem Baumarkt zu um- Zimmermann blättert durch den Medi- wiegend unselbstständig. Zimmermann wickeln. »Ist praktisch und kostet nur ein kamentenplan, er sagt: »Sie haben ja seit errechnet 43,75 Punkte, Pflegegrad zwei, paar Cent.« Oktober 2017 Pflegegrad eins. Was macht keine Höherstufung. Es fehlen 3,75 Im Auto sagt er, solche Ratschläge wür- der Pflegedienst denn?« Punkte. den zynisch klingen, seien aber gut gemeint. »Na ja, alle 14 Tage kommt jemand und »Ziemlich dicht dran«, sagt Zimmer- Es sind nur drei Kilometer bis zum macht sauber.« mann. »Tut mir in der Seele weh.« nächsten Ziel, sieben Minuten Fahrzeit Die Freundin sagt: »Können Sie bitte Dann schreibt er das Gutachten von sind von der Zentrale errechnet worden. lauter reden, der Wolfgang tut nicht mehr Wolfgang Deckert. Zimmermann raucht Schafft er. so gut hören.« dabei sechs Pall Mall. »Pflegezustand nicht Zimmermann parkt vor einem Platten- Decker zeigt mit dem Finger auf sein zu beanstanden«, tippt er, »der Antragstel- bau. Der Mann, den er jetzt besuchen Hörgerät. ler ist bewusstseinsklar, kann Aufforderun-

52 DER SPIEGEL Nr. 36 / 1. 9. 2018 gen bei sehr lauter Ansprache verstehen und umsetzen.« Dann öffnet er im Laptop das Erstgut- achten, bei dem Decker den Pflegegrad eins bekommen hat. Zimmermanns Kollegin war der Meinung, Decker sei eingeschränkt beim Waschen des Intimbereichs, beim Du- schen und Bekleiden des Unterkörpers. »Bei einer internen Qualitätsprüfung wäre das eine Drei«, sagt Zimmermann. Eine Drei bedeutet, das Gutachten ent- spricht nicht den Anforderungen. Eine Zwei heißt, es erfüllt sie mit Abstrichen. Eine makellose Prüfung hat eine Eins. »Eine Drei hatte ich noch nie«, sagt Zim- mermann. »Und die Zweien kann ich an einer Hand abzählen.« Vermutlich gibt es keine größere Bestätigung für ihn. Aber was macht er mit Decker? Er will noch mal eine Nacht drüber schlafen. Um 21 Uhr geht Zimmermann ins Bett. Am nächsten Morgen klingelt der We- cker um 4.15 Uhr. Draußen dämmert es. Zimmermann macht sich einen Kaffee und setzt sich an den Rechner. In einem Arztbericht liest er, dass De- cker bei einer Physiotherapie war, mit de- ren Hilfe er beweglicher geworden sei. Hat- FORSCHER te er gestern übersehen. Jetzt hat er einen »Besserungsnachweis« in der Hand. Ein Besserungsnachweis bedeutet, dass Zim- mermann Punkte abziehen kann. VERPACKUNGS- Bei den Fragen zum »An-/Auskleiden des Unterkörpers« und »Waschen des In- timbereichs« löscht Zimmermann das KÜNSTLER Kreuz bei »überwiegend selbstständig« und wählt »selbstständig«. Das Programm errechnet für Wolf - gang Decker, Auftrag 1857649, schließlich 7,5 Punkte. Das reicht nicht mehr für Pfle- gegrad eins. Für ihn gibt es demnächst kein ALTANA – global führend in reiner Spezialchemie. Wir setzen Geld mehr von der Krankenkasse. weltweit auf die Kunst, genau auf den Kundenbedarf zuge- Dann liest Zimmermann noch mal das Gutachten, das er über die 84-jährige Frau schnittene Produkte zu entwickeln. Deswegen entwickeln un- Hilbig geschrieben hat. 43,75 Punkte. Es sere Experten an rund 50 Standorten weltweit nicht nur die war ganz knapp. passende chemische Formel, sondern die optimale Lösung, Gestern war er der Ansicht, sie könne damit zum Beispiel Verpackungen nicht nur schön aussehen, selbstständig telefonieren und sich allein sondern jeder nur denkbaren Belastung standhalten. beschäftigen. Heute früh findet er, sie brau- che jemanden, der fremde Telefonnum- mern für sie eintippt und ihr einen Stift Entdecken Sie dieses Plus für Ihr Geschäft: oder eine Zeitung bereitlegt. Er setzt zwei Kreuzchen um, der Computer kommt nun www.altana.de/plus auf 50 Punkte: Pflegegrad drei statt zwei. Zimmermann lädt das Gutachten auf den Server der Leitstelle, von dort wird es an die Krankenkasse geschickt. In drei Tagen wird der neue Leistungs- bescheid bei Greta Hilbig im Briefkasten MARCEL ALTENBURG, FORSCHER IM GESCHÄFTSBEREICH ACTEGA liegen.

Video Unterwegs mit dem Medizinischen Dienst spiegel.de/sp362018pflege oder in der App DER SPIEGEL

53 Gesellschaft

An einem anderen heißen Vormittag dieses endlosen deut- »Sack« schen Sommers wartete ich beim Easyjet-Check-in des Flug- hafens Schönefeld. Es war mein letzter Tag in Berlin. Ich stand in der Schlange für Speedy Boarding. So heißt der Leitkultur Alexander Osang über kleine Vorsprung, den man sich bei Easyjet kaufen kann. Man ist schneller im Flugzeug als der Rest. Vor dem Speedy-Boar- die besonderen Momente, ding-Schalter standen zwei Rollstuhlfahrer. Fitte Rollstuhlfah- in denen sich deutsche Wut entlädt rer. Durchtrainierte Oberarme, entspannte Mienen. Ihre Roll- stühle waren mit verschiedenen Stickern beklebt. Sie sahen aus, als wären sie auf den Flughäfen der Welt zu Hause. Aller- n einem heißen Nachmittag dieses endlosen Sommers dings war das nicht ihr Schalter, dachte ich. Ihr Schalter war A lief ich auf der Höhe des Monbijouparks über die Ora- der Special-Assistance-Schalter von Easyjet gleich nebenan. nienburger Straße. Aus Richtung der Synagoge kam Auf dem Special-Assistance-Schalter stand ein Schild:»Vo- mir ein roter Golf entgegen, auf Breitreifen. Ich blieb auf der rübergehend geschlossen«. Dahinter saß eine Frau und machte Straßenmitte stehen, um ihn vorbeizulassen. Der Golf stopp- Schreibkram. Natürlich hätten auch die Rollstuhlfahrer ein te, der Fahrer sah aus dem Fenster schläfrig zu mir herüber. Speedy-Boarding-Ticket besitzen können, wahrscheinlicher Er war Mitte dreißig, dick und bärtig, kein Hipsterbart, ein aber war, dass sie zum Nebenschalter ausgewichen waren. Mei- gestutzter Bart, zurechtgeschnitten wie eine Hecke. nem Schalter. Ich spürte eine leichte Unzufriedenheit in mir Ich nickte. aufsteigen – über die Frau hinterm Special-Assistance-Schalter, Er sagte: »Sack.« über die Ungewissheit, vor allem aber über mich, meine Ge- Nur das eine Wort. Sack. Dann gab er Gas. danken und die Unmöglichkeit, sie auszusprechen. Über die Ich fühlte mich, als hätte mich jemand geschlagen. Es war bescheuerte Bezeichnung »Speedy Boarding«. Über alles. mein erster Tag in Berlin, nach Monaten. Ich dachte: Viel- So fängt es an. Drei Tage später schnauzt man dann in einem leicht war in meiner Abwesenheit irgendeine neue Regel auf- anderen Land eine langsame Supermarktkassiererin an. gestellt worden, die ich missach- Ich beobachtete die Rollstuhl- tet hatte. Vielleicht hatte er mei- fahrer und sagte zu meiner Frau: ne Brille nicht gemocht. Ich den- »Larry David hätte ein Fass auf- ke immer, es liegt an mir. In der gemacht.« Subway Station 42nd Street in Larry David ist ein Comedy- New York hat mir mal eine ältere writer, der die Fernsehserie »Sein- schwarze Frau ihre Handtasche feld« schrieb und später Held ei- über den Kopf gezogen. Ansatz- ner eigenen Sitcom wurde: »Curb los, mit voller Wucht. Sie sang Your Enthusiasm«. Er spielt da ein Lied dabei und war offen- einen New Yorker Juden in Los sichtlich verwirrt. Auch das war Angeles, dessen Problem ist, dass nicht schön, aber die Aktion er sagt, was er denkt. Das ist in wirkte, als hätte sie mehr mit der L.A. nicht besonders populär, Frau zu tun als mit mir. Das half. auch in Berlin-Schönefeld nicht. Ich sah dem Golf hinterher Es gibt eine Episode, in der Larry und dachte kurz darüber nach, David die Behindertentoilette

mir die Nummer zu merken. / DER SPIEGEL ALEXANDER OSANG besucht, weil alle anderen Klos Aber wozu? Der Fahrzeughal- Exponat einer Ausstellung in Berlin besetzt sind. Als er rauskommt, ter hat mich Sack genannt, Herr erwartet ihn ein verärgerter Roll- Wachtmeister? stuhlfahrer. David sagt ihm, er Es war ein Golf GTD. Ich habe später auf der VW-Website habe bislang noch nie einen Rollstuhlfahrer in einer öffent- nachgesehen, was das Besondere am Golf GTD ist. Da steht lichen Toilette getroffen. Es wird alles nur noch schlimmer. gleich am Anfang: »Leistungsstark und effizient, ohne es »Ich habe aber nicht Larry David geheiratet, und wir haben allzu offensichtlich zeigen zu müssen.« Vielleicht kam der Zeit«, sagte meine Frau. Fahrer mit dem Understatement der Firma Volkswagen nicht Die Rollstuhlfahrer alberten mit der Frau am Speedy-Boar - klar. Vielleicht wollte er die Leistungsstärke demonstrieren, ding-Schalter, für den wir bezahlt hatten. Ihre Kollegin am die sein Wagen nicht »allzu offensichtlich« zeigte. Vielleicht Special-Assistance-Schalter schien über irgendetwas Wichti- lag es auch am Dieselskandal, der Mann hatte den Bart und ges nachzudenken. Sie sah versonnen an die Decke. den Bauch, aber plötzlich das Gefühl, mitten in Berlin im fal- Von hinten drängelte sich ein älterer Mann an uns vorbei, schen Auto zu sitzen. im Schlepptau seine Frau. Deutsche Wut entlädt sich oft spät und in unerwarteten Er sah mich kurz an und sagte: »Ich habe für Speedy Boar- Zusammenhängen. ding bezahlt.« Ich hatte mal einen Chefredakteur, der, wenn er zwei »Ich auch«, sagte ich. Schnäpse getrunken hatte, die Vertreter des Hamburger Ver- »Die Rollstuhlfahrer sind in der falschen Schlange«, sagte er. lags, der unsere Tageszeitung gekauft hatte, »die Säcke« »Die Frau bei Special Assistance sollte ihre Arbeit machen.« nannte. Er sagte es ihnen nicht ins Gesicht. Er sagte es mir. Er sprach Englisch mit einem hebräischen Akzent. Er woll- Wir hatten über irgendetwas anderes geredet, eine Entlas- te nach Tel Aviv. Wie wir. Ich dachte an die Studie, die ich sung oder eine große Anzeige auf der Seite drei unserer Zei- neulich gelesen hatte. Nach der sind Israelis deutlich glückli- tung, und plötzlich rief er: »Die Säcke«. Es kam aus der Tiefe cher als Deutsche. Trotz all des Ärgers, den sie haben. Ein seines Herzens. Zwei Wörter, mit denen er eine Gesellschafts- paar Leute in den anderen, den normalen Schlangen schüt- ordnung kritisierte, einen Zeitenwandel geißelte, sich als telten den Kopf. Eine Geste, die ich in Israel noch nie gesehen Outcast porträtierte. Die Säcke wissen es bis heute nicht, habe. Ich lächelte dem Mann aufmunternd zu, der es wagte, glaube ich. meine Gedanken auszusprechen. I

54 DER SPIEGEL Nr. 36 / 1. 9. 2018

Wirtschaft

Wann wollen Sie aufhören? »Ich hoffe, lebend.« ‣S.62 RALF ROTTM / FUNKE FOTO SERVICES / FUNKE FOTO RALF ROTTM

Handelskonflikt Metallindustrie leidet unter Strafzöllen Unternehmen rechnen mit Umsatzeinbußen im nächsten Jahr.

Vor rund drei Monaten verhängte US-Präsident Donald Trump würden. Verbandspräsident Martin Iffert warnt vor einer »Zu- Strafzölle auf Stahl und Aluminium aus der EU, nun bekommen spitzung der Wettbewerbssituation«. Die Strafzölle hinterließen hiesige Hersteller die Folgen zu spüren. Laut einer Umfrage in den USA und Europa Verlierer, der lachende Dritte sei China: unter den Mitgliedern der Wirtschaftsvereinigung Metalle, dazu »Das kann nicht im Sinne der USA sein.« gehören etwa Aluminiumhütten, erwarten rund 40 Prozent der Auch in der Stahlindustrie sind die Auswirkungen der Zölle deut- Unternehmen, dass ihre Umsätze im kommenden Jahr sinken. lich spürbar. So haben die Importe aus Drittländern, hauptsächlich Knapp zwei Drittel der Befragten rechnen damit, dass noch aus der Türkei und Russland, zugenommen; für 2018 rechnet die mehr Ware aus Drittstaaten auf den deutschen Markt drängen Wirtschaftsvereinigung Stahl mit einem Plus von rund sieben Mil- wird, insbesondere aus China und Russland. Drei Viertel der lionen auf dann 47,7 Millionen Tonnen. Zudem zeichnet sich ab, Betriebe geben an, dass es Konsequenzen für ihr Geschäft hätte, dass die USA ihre Importe um 2,1 Millionen Tonnen senken können. wenn die USA Zölle auf Autoimporte aus Europa verhängen Beim Stahlverband erwartet man, dass der Trend anhält. AJU, FDO

Euro Stabilität des Euroraums einher«, heißt es die BMF-Fachleute in ihrer Vorlage. »So Sorgen um Zusammenhalt in einem Papier des Bundesfinanzminis - haben die protektionistischen Tendenzen teriums (BMF), das Chancen und Risiken zugenommen, und die Gefahr eines globa- Angesichts des Vormarschs populisti- für die wirtschaftliche Entwicklung in len Handelskonflikts hat sich erhöht.« scher Bewegungen in Europa sorgen sich Deutschland auflistet. Ohne das Land Auch der noch immer unklare Brexit er - Experten von Finanzminister Olaf Scholz explizit zu erwähnen, bezieht sich die höhe die Risiken. »Nicht zuletzt könnte (SPD) um den Zusammenhalt der Wäh- Aussage vor allem auf Italien, wo eine sich die Verschärfung geopolitischer rungsunion. »Die politischen Entwicklun- eurokritische Allianz aus linken und rech- Konflikte oder eine Wachstumsverlang- gen in einigen Ländern des Euroraums ten Populisten regiert. Die Risiken für die samung in den Schwellenländern negativ gehen mit Unsicherheiten hinsichtlich Konjunktur bestünden »insbesondere im auf die deutsche Wirtschaft auswirken«, ihrer möglichen Auswirkungen auf die außenwirtschaftlichen Umfeld«, schreiben heißt es in dem Papier weiter. REI

56 Umwelt Greser & Lenz Mit Blaulicht und Abgasfahne

Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer (CSU) will kommunale Diesel- fahrzeuge mit Stickoxidkatalysatoren nachrüsten. Dabei dürfen in vielen Bundesländern immer noch Feuerwehr - autos mit hohem Schadstoffausstoß neu zugelassen werden. Grund sind Aus- nahmen, die in vielen Bundesländern gelten, auch in Scheuers Heimat Bay- ern. Dort sind die Sonderrechte im Sommer sogar noch einmal verlängert worden. In Bayern, aber auch in Nie- dersachsen, wo es ebenso eine Aus- nahmegenehmigung für Feuerwehren gibt, könnte die Rücksichtnahme auf die eigene Autoindustrie ein Motiv für die laschen Bestimmungen sein. Beide Bundesländer beheimaten namhafte Hersteller dieser Spezialfahrzeuge. GT

Luftverkehr Verkehrsmenge verzögerungsfrei abzu- ten schon 2017 bei fast 70 Prozent aller Chaos am Himmel hält an arbeiten«. Auch für die nahe Zukunft malt Firmen wichtige Treffen aufgrund von ver- Maas schwarz. Kurzfristig sei keine Lö - späteten oder annullierten Flügen abge- Reisende müssen auch in den kommen- sung möglich, da sich die Ausbildung jun- sagt werden. Bei den meisten Unterneh- den Jahren damit rechnen, dass ihre Flüge ger Nachwuchslotsen ab der Anwerbung men fielen sogar mehrere Konferenzen häufig verspätet sind oder gestrichen wer- vier bis fünf Jahre hinziehe. aus. Im laufenden Jahr dürfte den, weil die Zahl der Fluglotsen weiter- Welchen Schaden das Chaos sich die Zahl noch deutlich hin nicht ausreichen werde – das schreibt am Himmel bei den Firmen erhöht haben. Wie aus der Stu- der Vorsitzende der Lotsengewerkschaft anrichtet, geht aus einer aktu- die weiter hervorgeht, haben GdF, Matthias Maas, im Mitgliedermaga- ellen Umfrage des Deutschen inzwischen 42 Prozent aller zin der Organisation. Demnach gibt es Reiseverbandes unter Travel- Geschäftsreisenden »große

in Deutschland und in »fast ganz Europa« managern großer Unterneh- / DPA RUMPENHORST F. oder sogar sehr große Angst« derzeit »nicht genügend Lotsen, um diese men hervor. Demnach muss- Flugkontrollmonitor bei dienstlichen Trips. DID, GT

Kommentar Reiner Populismus

Der Hambacher Forst wird zum umkämpften Symbol für den Kohleausstieg – das wäre nicht nötig gewesen.

Sie sagen, es gehe ums Klima – und die Kulisse ist wie gemalt. Arbeit der Kohlekommission, greift zu kurz. Die soll nämlich Mit Seilen festgezurrte Aktivisten auf Baumhäusern, entschlos- kein Konzept für einen sofortigen Stopp vorlegen, sondern einen sen, das Wäldchen auch mit Gewalt gegen den Energiekonzern Plan für einen mittelfristig verträglichen Ausstieg. Bis dahin wer- RWE zu verteidigen. Da zeigt und äußert man sich gern, als Chef den – so bitter das ist – auch noch Braunkohlekraftwerke von eines Umweltverbandes oder als Bundestagsabgeordneter der RWE Strom produzieren. Darauf hat das Unternehmen einen Grünen oder der SPD. Schnell sind Sätze gefunden, die den ver- Anspruch. Und der Betrieb der Anlagen lohnt noch, weil es SPD, meintlichen Irrsinn der Situation vor Augen führen: Während CDU und Grüne nicht geschafft haben, den Ausstoß von CO2 – die Kohlekommission über den Ausstieg berate, fälle RWE etwa über den Emissionshandel – so teuer zu machen, dass sich unverdrossen Bäume, um seine schädlichen Kohlekraftwerke der Einsatz von Braunkohle nicht mehr rechnet. weiter zu befeuern. Das klingt plausibel, ist in Wahrheit jedoch RWE wird also nicht freiwillig verzichten. Eine vernünftige Poli- Populismus. Ausgerechnet Bundesumweltministerin Svenja tik sollte darauf zielen, alte und besonders dreckige RWE-Kraft- Schulze (SPD) und der grüne Energieexperte Oliver Krischer werke früher vom Netz zu nehmen. Dazu wäre der Konzern be- rufen nun am lautesten nach einem Moratorium. Sie stammen reit, und das würde den CO2-Ausstoß unmittelbar senken. Teile aus NRW und waren Mitglied oder Mitarbeiter der rot-grünen des Waldes, um den es geht, sind schon jetzt kaum noch zu retten, Landesregierung von NRW, die die Abbaupläne beschlossen hat. selbst wenn der Tagebau eingestellt würde. Dazu sind die Bagger Auch das zentrale Argument der Protestler, der Verweis auf die bereits zu nah an den Forst herangekommen. Frank Dohmen

DER SPIEGEL Nr. 36 / 1. 9. 2018 57 Wirtschaft Gut vermittelt

Arbeitsmarkt Vor zweieinhalb Jahren war Mohamad Shadi Alabojumaa noch ein Flüchtling mit ungewisser Zukunft. Heute ist er eine begehrte Fachkraft. Eine Geschichte aus der ostdeutschen Provinz zeigt, wie Integration in politisch aufgeheizten Zeiten gelingen kann.

om ersten Geld, das er in Deutsch- Das Institut für Arbeitsmarkt- und Be- Wachstumsregion. In ganz Deutschland land verdient hat, bezahlte er rufsforschung geht davon aus, dass es 2018 ist nur in fünf Landkreisen die Beschäfti- V Schulden ab. Ungewöhnliche einen neuen Beschäftigungsrekord geben gungsquote höher als im Kreis Sonneberg, Schulden, denn mit dem Geld hat- wird und die Zahl der unbesetzten Stellen zu dem Neuhaus-Schierschnitz gehört. ter er die Flucht seiner Frau und seiner in den Betrieben weiter steigen wird. Und PWG stellt Aluminiumteile für Auto- drei Kinder finanziert, die im Jahr 2017 das Problem wird sich verschärfen, weil schiebedächer und Cabrioverdecke her, ein nachkamen. nun die geburtenstarken Jahrgänge nach Weltmarktführer. Es mangelt dem Unter- Später kaufte sich Mohamad Shadi Ala- und nach in Rente gehen werden. nehmen nicht an Aufträgen, sondern seit bojumaa ein gebrauchtes Auto, mit dem Allerdings wirkt ein Fachkräftezuwan- Jahren an Arbeitskräften, die sie erledigen er seine Söhne Hassan und Obadan zur derungsgesetz erst in der Zukunft. Es gibt können. Gut 400 Menschen arbeiten bei Grundschule fährt, zu Fuß hätten sie eine keine Antwort, wie die Integration der PWG: Gelernte und Ungelernte, Junge und halbe Stunde gebraucht. »Ein langer Weg Menschen gelingen kann, die bereits hier Alte, Pendler, Einheimische, Tschechen, für kleine Jungs«, sagt er. leben. Die Koalition diskutiert deshalb die Spanier. Im vergangenen Jahr haben sie es Alabojumaa gehört zu der rund eine Möglichkeit eines »Spurwechsels«: Er soll erstmals auch mit Flüchtlingen versucht. Million Flüchtlinge, die binnen eines Jah- abgelehnten Asylbewerbern ein Bleibe- Und doch kam auch das Projekt bei res nach Deutschland kam, bevor die Bal- recht geben, wenn sie bereits gut integriert PWG eher zufällig zustande. Im Novem- kanroute im März 2016 geschlossen wur- sind und einen Job haben. ber 2016 besuchte Raimund Becker, Vor- de. Er kommt aus Aleppo in Syrien, 3500 Im Kern geht es noch immer um die Fra- stand der Bundesagentur für Arbeit, die Kilometer sind es von dort bis ins thürin- ge, ob die Flüchtlinge eher Belastung oder Firma, um sich über den Fachkräftenot- gische Neuhaus-Schierschnitz, wo er beim eine Chance für das Land sind. Es würde stand zu informieren. Ob er schon an Automobilzulieferer PWG anfing. einen Blick von Berlin nach Sonneberg Flüchtlinge als Arbeitskräfte gedacht habe, Es ist die Geschichte eines persönlichen lohnen, um festzustellen, dass die Integra- fragte Becker den PWG-Geschäftsführer. Erfolgs, vor allem aber erzählt sie davon, tion der Flüchtlinge in den Arbeitsmarkt Theoretisch ja, antwortete Christoph Ren- wie es gelingen kann, die Menschen, die und damit in die Gesellschaft nicht so aus- ner, praktisch nein. Am Ende legte das Job- auf lange Zeit hier leben werden, zu inte- sichtslos ist, wie sie vielen scheint. Ein center für PWG ein eigenes Projekt auf. grieren, sie in Arbeit zu bringen. Blick dorthin also, wo der Weg von Ala- »Wenn ich ehrlich bin, dachten wir damals In diesem Sommer machte Alabojumaa bojumaa in Deutschland begonnen hat. an ein paar Praktikanten«, sagt Renner. den nächsten Schritt. Er wechselte seinen In der Grenzregion von Bayern und In den ersten Wochen des Projekts küm- Arbeitsplatz. Er ging zum Isolatorenher- Thüringen lassen sich die Folgen des Fach- merte sich das Jobcenter um die passenden steller Elektrokeramik Sonneberg (EKS). kräftemangels seit Langem besichtigen. Kandidaten. Den Bewerbungsgesprächen Nicht, weil er musste, sondern weil er es Das Gebiet ist eine mittelständische in der Firma folgte ein Praktikum. Wer ge- konnte. Gut zweieinhalb Jahre brauchte eignet erschien, erhielt einen Jahresver- er vom syrischen Flüchtling zur begehrten trag, dem gegebenenfalls ein zweiter folg- Fachkraft in der ostdeutschen Provinz. Beschäftigungsquoten te, dann die Entfristung. Etwa 400 Flücht- Allein bei PWG und EKS in Thüringen von Geflüchteten linge waren Ende 2016 in Sonneberg arbeiten mittlerweile 70 Flüchtlinge mit in Deutschland, nach Staatsangehörigkeit im registriert. Das Jobcenter schickte insge- festen Arbeitsverträgen. Menschen aus Sy- Mai 2018, in Prozent samt 80 Profile an PWG, Personalchefin rien, dem Irak, Afghanistan. Sie sind nicht Sandra Brieskorn wählte 55 Bewerber für nur Hilfskräfte, sondern dringend gesuchte Pakistan 41,7 ein Praktikum aus. Heute haben 24 Flücht- Mitarbeiter mit Potenzial. linge einen Arbeitsplatz. Noch im Juni stand die Große Koalition Nigeria 37,8 »Bevor die ersten Praktikanten kamen, in Berlin wegen der Flüchtlingspolitik vor haben wir die Mitarbeiter informiert«, sagt dem Bruch. Es ging nicht nur, aber auch Iran 35,9 Brieskorn. Die Geschäftsleitung warb um um Menschen wie Alabojumaa. Es ging Verständnis und Mithilfe. »Im Rückblick um die Frage, wer noch nach Deutschland Eritrea 31,5 ist das Auffälligste, wie unauffällig die In- darf, und wer von denen, die schon da sind, tegration in den Betrieb funktioniert.« wieder weggeschickt werden soll. Afghanistan 28,7 Auf den Fluren gab es Fragen: Werden Kaum zwei Monate ist das her, und vie- einige Muslime für die täglichen Gebete les ist plötzlich anders. Das Innen-, Wirt- Irak 25,2 den Teppich ausrollen? Was ist mit Frauen schafts- und Arbeitsministerium haben als Vorgesetzten? gemeinsam ein Eckpunktepapier für ein Somalia 24,2 Es gab Probleme im Alltag, aber sie wa- Gesetz vorgelegt, das künftig die Zuwan- ren andere als gedacht. Behördentermine derung von Fachkräften regeln soll. Syrien 22,6 während der Arbeitszeit oder Papiere, die Deutschland hat ein Problem, es mangelt man benötigt. Dass man sich abmelden an Fachkräften. Quelle: Bundesagentur für Arbeit muss, wenn man krank wird.

58 DER SPIEGEL Nr. 36 / 1. 9. 2018 Alabojumaa ist ein eher kleiner, musku- löser Mann von 37 Jahren, zurückhaltend mit freundlichem Blick. Der Anfang in der Firma war nicht einfach. In den ersten zwei Monaten saß er meist allein in der Pause. »Ich habe immer ›Hallo‹ gesagt, nur wenige haben ›Hallo‹ geantwortet«, sagt Alabojumaa. Also hat er immer weiter »Hallo« gesagt. »Dann haben auch die an- deren gegrüßt, alles ist gut.« Er lernte schnell. Nach einem halben Jahr durfte er nicht mehr nur einfache Hel- fertätigkeiten machen, sondern auch die Werkzeuge an seiner Maschine wechseln und Störungen selbstständig beheben. Alabojumaa hat in Syrien studiert, arbei- tete danach zwölf Jahre als Fahrer und Me- chaniker. Seine Frau hat an einer Hauptschu - le in Aleppo als Englischlehrerin gearbeitet. Sie besucht Deutschkurse an der Volkshoch- schule. Sie will auch in Deutschland arbei- ten, am liebsten wieder als Lehrerin. Bei PWG wird im Vier-Schicht-Betrieb rund um die Uhr an sieben Tagen in der Woche produziert. Als Alabojumaas Familie nach Deutschland kam, wurde das kompliziert. Fünf Menschen lebten auf 40 Quadratmetern. Der Vater wollte schla- fen, die Kinder spielen, und die Mutter musste alles unter einen Hut bringen. »Das war schwer«, sagt er, »viel Stress für die Familie.« Doch weil er einen Arbeitsver- trag hatte, fand er eine größere Wohnung. Er hat eine Aufenthaltserlaubnis für drei Jahre. Nächstes Jahr läuft sie aus. Seine Frau und die Kinder dürfen jetzt zunächst zwei Jahre bleiben. Wer als Flüchtling einen gesicherten Status besitzt, hat Anspruch auf Grundsi- cherung, Hartz IV genannt, er darf dann auch arbeiten. Im Mai 2018 hatten knapp 930 000 Flüchtlinge einen solchen An- spruch, rund 619 000 von ihnen sind er- werbsfähig. Doch 244 000 Flüchtlinge ha- ben mittlerweile eine sozialversicherungs- pflichtige Beschäftigung. Damit liegt die Beschäftigungsquote bei 27,8 Prozent. Zwei Monate bevor sein Vertrag auslief, ging Alabojumaa im März zu seinen Vor- gesetzten. Er wollte nicht weniger arbeiten, aber er wollte aus dem Vier-Schicht-Be- trieb, wenigstens an den Wochenenden. »Ich wollte ein wenig mehr Zeit für meine Familie«, sagt er. Brieskorn hätte ihn gern gehalten. Aber das enge Korsett in der Pro- duktion erlaubt keine Ausnahmen. Also hörte Alabojumaa am 15. Mai bei PWG auf und machte den nächsten Schritt. Er fing zwei Wochen später bei EKS in Sonneberg an. Das Unternehmen stellt Keramikisola- toren her. Es ist ein Mix aus Hightech, handwerklicher Erfahrung und harter kör- perlicher Arbeit wie vor hundert Jahren. In den insgesamt 56 000 Quadratmeter CHRISTIAN A. WERNER / DER SPIEGEL CHRISTIAN großen Hallen kommt man durch alle Kli- Arbeitnehmer Alabojumaa: »Ich wollte ein wenig mehr Zeit für meine Familie« mazonen der Industriearbeit – von nasser

59 Kälte über feuchte Wärme bis zu tro- ten Arbeitsmarkt bringen, schließlich ckener Hitze vor den Brennöfen. wurden es 138. Bis zur Mitte dieses Alabojumaa arbeitet nun im Drei- Jahres hat es bereits wieder 70 Flücht- Schicht-Betrieb an fünf Tagen. Er hat linge vermittelt. Mittlerweile ist die einen der anspruchsvolleren Jobs bei Vermittlungsquote höher als bei den der Prüfung der Isolatoren. EKS hat Deutschen. Allerdings waren in der Re- einen Tarifvertrag. Alabojumaa erhält gion Sonneberg im Juli nur noch etwa einen höheren Stundenlohn, 11,41 170 Langzeitarbeitslose gemeldet. Euro. Da er jedoch weniger Zuschläge Nun wird der Erfolg zum Problem. bekommt, verdient er im Monat etwa Weniger Flüchtlinge und deutsche das Gleiche wie vorher. Sein Vertrag Langzeitarbeitslose, die betreut wer- ist bis Ende des Jahres befristet. den müssen, bedeuten weniger Haus- In der DDR war EKS ein Vorzei- haltsmittel für das Jobcenter. Den gebetrieb mit 2600 Mitarbeitern. Vertrag von Udechukwu verlängerte Nach der Wende schrumpfte die Fir- die Bundesagentur nicht, jetzt be- ma und wechselte die Besitzer, heute zahlt sie das Landratsamt Sonneberg. gehört sie zur internationalen Fir- Es ist ein Fehler im System. Denn mengruppe PPC Insulators. Irgend- weniger Fälle bedeuten nicht weni- wann war EKS bei 250 Mitarbeitern ger Arbeit. Im Gegenteil. Nun müs- angekommen, hielt sich mit einem sen sich die Vermittler um Menschen Standardprodukt über Wasser – bis kümmern, von denen viele nur mit 2015 Großaufträge wegbrachen. intensiver Betreuung eine Chance ha- Als Personalchef Alexander Lut- ben werden, gleich, ob Ausländer hardt vor gut einem Jahr bei EKS an- oder Deutscher. fing, hatte die Firma noch 150 Mitar- In den Betrieben rund um Sonne- beiter und schrieb rote Zahlen. Die berg entwickelt sich eine neue Nor- neue Geschäftsführung erweiterte malität. Zur ihr gehört, dass Norma- die Produktpalette, legte ein Restruk- lität für viele Flüchtlinge noch immer

turierungsprogramm auf und ge- A. WERNER / DER SPIEGEL CHRISTIAN ein relativer Begriff ist. Nicht nur wann im internen Standortwettbe- Vermittlerin Udechukwu: »Verständnis und klare Ansagen« wegen der Schreckensbilder aus der werb. Es wurden zwei Werke in Heimat, die noch immer auf Handys Österreich und Schweden geschlos- kommen. sen. Die Auftragsbücher füllten sich wie- Udechukwu ist eine Frau mit freund- Auf einem Überwachungsvideo ent- der, Luthardt brauchte Arbeitskräfte. lichem und selbstbewusstem Auftreten. deckte EKS-Personalchef Luthardt vor Seit dem Frühjahr kommen Iraker, Syrer »Wenn Sie mit Flüchtlingen arbeiten, müs- einiger Zeit, wie ein syrischer Mitarbeiter und Afghanen über ein vergleichbares Pro- sen Sie Verständnis mitbringen, aber auch an einem Wochenende vergebens versuch- gramm wie bei PWG in die Firma. Sie in zur klaren Ansage fähig sein«, sagt sie. te, in die leere Fabrik zu kommen. Es stell- den Betrieb zu integrieren ist aufwendig. Am Anfang wählte Udechukwu auf te sich heraus, dass er nur seine kleinen Manche haben keine Maßeinheiten in der Wunsch von PWG die fachlich Besten aus. Kinder duschen wollte. Die Verhältnisse Schule gelernt. Anderen mangelt es an Doch die erste Gruppe scheiterte bereits für seine Familie waren in der Sammelun- Sprachkenntnissen. »Die benötigen sie im Praktikum, ihr Deutsch war zu schlecht. terkunft so erbärmlich, dass die Mutter die aber, um zu verstehen, was sie machen »Seitdem wissen wir, dass für die Integra - Kinder im nahe gelegenen Fluss wusch. sollen«, sagt Luthardt, »aber alle sind un- tion in den Betrieb nicht vor allem die Qua- Es ist Donnerstag vergangener Woche. glaublich motiviert.« Es sind auch ehema- lifikation oder das Alter entscheidend sind, Die Frühschicht von Alabojumaa ist vor- lige Lehrer oder angehende Juristen unter sondern die Sprachkenntnisse«, sagt sie. bei. Auf seinem Handy zeigt er Bilder von ihnen und damit potenzielle Fachkräfte. Vor allem schickt das Jobcenter die Kan- der Familie und Freunden in Syrien. Von Mittlerweile arbeiten wieder 205 Men- didaten nicht unvorbereitet in die Firma. seiner zerstörten Wohnung in Aleppo. Er schen bei EKS, 31 von ihnen sind Flücht- Ein Bildungsträger bereitet die Menschen könne und wolle nicht mehr zurück, sagt er. linge. Von den 20 Leiharbeitern in der Fir- auf die Gespräche vor und das, was sie in Er wolle bleiben, hier sehe er die Zukunft ma kommen 15 aus dem Irak, Syrien und dem Unternehmen erwartet. Denn selbst seiner Familie. Wenn er in drei Jahren seine Afghanistan. Für Luthardt ist damit die jene, die in ihrer Heimat als Fachkräfte tä- Kinder fragen werde, was Syrien sei, sagt Grenze erreicht. Nicht nur, weil er Grup- tig gewesen sind, hatten niemals zuvor im er, hätten sie keine Antwort. Es werde für penbildung verhindern will. Vor allem ist industriellen Schichtbetrieb gearbeitet. sie ein fremdes Land sein. »Meine Tochter es schwierig, in den Teams noch die richti- Auch am Arbeitsplatz werden sie von dem kann dann Deutsch, aber kein Arabisch.« ge Balance aus erfahrenen und unerfahre- Bildungsträger weiter betreut, als An- Alabojumaa ist ein Stück weiter auf sei- nen Mitarbeitern herzustellen. »Allerdings sprechpartner und Mittler bei Problemen. nem Weg. Vergangene Woche kam Perso- sind die Mitarbeiter, die wir haben, ein Ge- Bis Anfang des Jahres hat das Projekt nalchef Luthardt während der Schicht zu winn«, sagt er, »ohne die Migranten wäre das Jobcenter 80000 Euro gekostet. Doch ihm in die Halle. Er sagte ihm, dass sein unser Aufschwung mangels Arbeitskräften im Gegenzug hatte es über 100000 Euro Vertrag zum Jahresende entfristet werde. schon wieder vorbei.« eingespart, die es sonst etwa für Hartz IV Markus Dettmer Integration, das ist in Sonneberg zu be- hätte zahlen müssen. »Und bis heute ist das sichtigen, ist ein lohnendes Unterfangen, Plus größer geworden«, sagt Jobcenter-Lei- aber ein mühseliges. Das Gelingen hängt ter Andreas Karl. Vor allem haben die Flücht- Video Von Aleppo nach nicht allein von Strukturen ab, sondern linge keine Sonderleistungen erhalten: Thüringen auch von den Menschen, die darin arbei- »Wir haben nur die Programme genutzt, die spiegel.de/sp362018integration ten. Dazu zählt auch Kristina Udechukwu, allen unseren Kunden zustehen.« 64 Flücht- oder in der App DER SPIEGEL die im Jobcenter das Projekt betreut. linge wollte das Jobcenter 2017 in den ers-

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halten kann, zeigen andere Autohersteller: Am Donnerstag schickte VW seinen Die schwedische Marke Volvo oder der Vertriebsleiter Thomas Zahn vor, um Kun- Friedhof der französische PSA-Konzern haben ihre Mo- den und Mitarbeiter zu besänftigen. Der delle rechtzeitig an die neuen Anforderun- Abgastest sei eine »große Herausforde- gen angepasst. Auch BMW scheint besser rung«. Er sei aber »optimistisch«, den Neuwagen vorbereitet als Daimler oder Volkswagen. Wechsel auf die neuen Tests zeitnah zu In der VW-Belegschaft fürchten viele, meistern. Die Auftragslage bleibe gut, Kun- Autoindustrie VW bekommt die dass der Konzern die Probleme auch künf- den sprängen nur in Einzelfällen ab. Probleme mit den neuen Abgas- tig nicht in den Griff bekommt, dass wei- VW-Händler zeichnen ein pessimisti- tere Ausfälle drohen – womöglich bis ins scheres Bild. Demnach gehen Verkaufs- tests nicht in den Griff. Die Jahr 2019. Viel zu oft hat sich das Manage- und Absatzzahlen merklich zurück. Im Branche hatte sich darauf ver- ment in Ausreden oder unrealistische Ver- Händlerverband kursieren Prognosen von lassen, dass die Politik ihr hilft. sprechen geflüchtet. Zunächst beklagte der Rückgängen bis zu 20 Prozent für das Konzern, er habe nicht genügend Prüfstän- zweite Halbjahr 2018. Dazu kommen de, um seine Motoren auf die strengeren hohe Rabatte, die sie gewähren müssen, m 1. September passiert, was nach Tests auszurichten. Wahr ist aber auch, um überhaupt noch Autos zu verkaufen. Auffassung der früheren VW-Füh- dass VW lange an eigenen Prüfständen ge- Auch das wichtigste Ziel der neuen Ab- A rung nicht hätte geschehen dürfen. spart hatte. Das rächt sich jetzt. gastests könnte die Autoindustrie verfehlen: Alle Autohersteller müssen in Europa von Aufsichtsräte bei der VW-Tochter Audi Ehrlichkeit. Denn das neue Gesetz bietet der diesem Samstag an strengere Abgastests erinnern sich, die Verantwortlichen mehr- Industrie ein Schlupfloch. Zwar bestreiten bestehen. Das neue Verfahren namens fach auf die neuen Abgastests angespro- die Hersteller, bei den CO2-Angaben zu trick- WLTP bringt Volkswagen seit Monaten in chen zu haben. Man habe alles im Griff, sen. Doch die EU-Kommission kam zu an- Schwierigkeiten. lautete die Standardantwort. Bis Ende deren Resultaten. Eine Analyse ergab, dass Der größte Autobauer der Welt kommt 2017 seien alle Risiken eingedämmt. Autohersteller die Umstellung auf das neue mit der Zertifizierung seiner Modelle nicht Noch im Juni 2018 hatte der VW-Mar- Testverfahren nutzten, um die Emissions- nach. Produktionen fallen aus, Bänder ste- kenvorstand kalkuliert, Anfang Septem- werte künstlich hochzurechnen. Sie bestück- hen still, riesige Parkplätze müssen ange- mietet werden, um Zigtausende unver- käuflicher Autos bis zur Genehmigung zwischenzulagern. Selbst die Gewinnziele scheinen gefährdet. Es ist der erste Härte- test für Konzernchef Herbert Diess. Innerhalb des Konzerns hat bereits die Suche nach Schuldigen begonnen. Techni- ker und Topmanager hätten schon vor Jahren erkennen müssen, dass strengere CO2-Regeln auf sie zukommen. Doch die Auto industrie vertraute stattdessen auf Lobbyisten – und auf die Politik. Matthias Wissmann, damals Präsident des Automobilverbands VDA, sollte gelin- gen, was seit Jahrzehnten problemlos im- mer wieder geklappt hatte: eine Abschwä- chung, zumindest aber eine Verschiebung der ungeliebten Abgasgesetze. Wissmann gab sich zuversichtlich, erin- nern sich Gesprächspartner. Er werde bei

der Kanzlerin vorsprechen. Angela Merkel / GETTY IMAGES SEAN GALLUP solle sich bei der EU-Kommission für die VW-Fahrzeuge am Flughafen BER: Ausfälle womöglich bis ins Jahr 2019? Autoindustrie starkmachen. Auf diese Wei- se werde man die Übergangsfristen ver- schieben können, zumindest um ein halbes ber würden in Deutschland mehr als ten Testfahrzeuge mit halb leeren Batterien, Jahr. Die strengen WLTP-Tests unter Real- 60 Prozent der Motoren und Getriebe des schalteten die Start-Stopp-Funktion aus oder bedingungen hätten die Konzerne in die- Modelljahres 2019 verfügbar sein. Im Au- meldeten schlicht besonders hohe Werte, um sem Fall erst 2019 schaffen müssen. gust sank die prognostizierte Quote dann so den Ausstoß auf dem Papier zu steigern. Der VDA sagt dazu, er habe sich stets auf rund 40 Prozent. In Märkten wie Dahinter steckt Kalkül: In Zukunft müs- für das neue Testverfahren WLTP ausge- Großbritannien, Frankreich oder Spanien sen die Hersteller den CO2-Ausstoß nicht sprochen. Allerdings hätte die EU-Kom- sieht die Lage noch schlechter aus. mehr auf einen absoluten Wert senken, mission nach Ansicht des Verbands stärker In internen Sitzungen warnen Unter- sondern nur noch prozentual reduzieren. auf die »technische Machbarkeit« der Fris- nehmensvertreter nun vor einem »starken Wer von einem künstlich erhöhten Basis- ten achten müssen, vor allem bei der Ein- Einbruch« im September. Die Ziele für das wert startet, kann ihn leichter reduzieren. führung realitätsnaher Straßentests. vierte Quartal seien »risikobehaftet«. Of- Die Politiker in Brüssel hatten nicht da- Der Einwand blieb folgenlos. Durch die fiziell hält der Autokonzern noch an seiner mit gerechnet, dass Hersteller ihre Autos Dieselaffäre hatten Wissmann und seine Gewinnprognose für 2018 fest. Gleichzei- zur Not auch mal schmutziger ausweisen Schützlinge jegliches Vertrauen verspielt, tig räumt VW aber ein, dass die Liefer - würden, als sie tatsächlich sind. die Autoindustrie fand in der Politik kein probleme den Ertrag erheblich schmälern Frank Dohmen, Simon Hage Gehör mehr. Dass man die Vorgaben ein- könnten, um etwa eine Milliarde Euro.

DER SPIEGEL Nr. 36 / 1. 9. 2018 61 Wirtschaft

ich Zeit mit meinem Vater verbringen konnte, der ja immer viel gearbeitet hat. »Haribo ist ein Er hat sich mit den Technikern unterhalten, und ich bin durch die Hallen geturnt. Das ist eine meiner schönsten Kindheitserin- nerungen. Natürlich war mir später, als Ju- demokratisches gendlicher, bewusst, dass mein Elternhaus in manchen Dingen anders ist als das mei- ner Mitschüler. Aber das hatte für mich keine besondere Relevanz. Produkt, SPIEGEL: Ging es im Leben Ihres Vaters mehr um die Goldbären als um die eige- nen Kinder? Riegel: In einer Unternehmerfamilie dreht es muss aber nicht sich quasi alles um das Unternehmen, das ist einfach so. Außerdem waren das ande- re Zeiten: Das Reisen war langwieriger, die Kommunikationsmittel waren andere. politisch sein« Nicht zuletzt reden wir hier von einer Ge- neration, in der Männer es nicht gerade als ihre Hauptaufgabe verstanden haben, sich um die Kinder zu kümmern. Ich habe SPIEGEL-Gespräch Haribo-Chef Hans Guido Riegel über seine das aber nicht als Defizit begriffen, das war einfach so. Kindheit in der Gummibärchenfabrik und die Frage, SPIEGEL: Haben Sie daraus die Lehre ge- wann ein Unternehmer an die Nachfolger abgeben sollte zogen, es selbst einmal anders zu machen? Riegel: Ja und nein. Ich versuche Zeit mit meiner Tochter zu verbringen. Aber natür- lich habe auch ich eine Verantwortung un- serem Unternehmen gegenüber. SPIEGEL: In den vergangenen Jahren war man sich als Beobachter nicht immer si- cher, ob alle Familienmitglieder Verant- wortung ähnlich wichtig nehmen. Ihr On- kel Hans und Ihr Vater Paul haben sich über die Frage, wer das Unternehmen nach ihnen führen soll, jahrelang gestritten und nicht mehr miteinander gesprochen. Hans soll nicht einmal zur Beerdigung Ih- res Vaters gekommen sein. Riegel: Das ist eine der vielen Mythen um uns und Haribo, aber die Geschichte stimmt nicht, er war da. In der Tat gab es unterschiedliche Meinungen darüber, wie das Unternehmen in Zukunft geführt wer- den soll. Wer beide gekannt hat, weiß, dass sie Vollblutunternehmer waren, und jeder von ihnen wollte nur das Beste für das Un- ternehmen. Sie hatten darüber beide eine sehr feste Meinung. Im Ergebnis haben sie Mit Hans Guido Riegel zu sprechen ist nicht SPIEGEL: Herr Riegel, Ihre Mitschüler sich damit gut ergänzt. Der Tod meines ganz einfach: Der 52-Jährige hat wenig müssen Sie als Kind beneidet haben. Vaters hat bei meinem Onkel dann für Interesse an Berichterstattung über seine Riegel: Warum sollten sie? nachhaltige Bestürzung gesorgt, das hat Person, will potenzielle Interviewpartner SPIEGEL: Na ja, wer kann von sich schon etwas aufgebrochen. erst mal kennenlernen. Nach einer gemein- sagen: Mein Vater macht Gummibärchen? SPIEGEL: Nach einer Schlichtung ist eine samen Führung durch die alten Produk- Riegel: Wahrscheinlich nicht viele. Aber neue Konstruktion entstanden. Es wurde tionshallen in Bonn-Kessenich besteht zu- das war, ehrlich gesagt, kein Thema, viele ein Aufsichtsrat gegründet, und Sie wur- mindest eine gewisse Sympathie. Ein paar Mitschüler wussten das auch gar nicht. Ich den zum Geschäftsführer bestellt. Wie Wochen später führt Riegel stolz durch die habe das damals nicht als etwas Besonde- schwierig ist es, das Unternehmen zu mo- gerade eingeweihte neue Firmenzentrale res empfunden, für mich war das Norma- dernisieren? in Grafschaft bei Bonn. Beim anschließen- lität. Riegel: Wie kommen Sie darauf, dass es den Gespräch wird er schmallippig sein, SPIEGEL: Dass man am Samstag mit dem modernisiert werden muss? beim Gang durch die Produktionshallen Vater in eine Gummibärchenfabrik geht SPIEGEL: Weil man lesen konnte, dass Ihr aber wirkt er vergnügt. Man kann ihn da- und in den Dragee-Kesseln Karussell fährt, Onkel noch selbst die Briefe an alle Mit- bei beobachten, wie er seine Finger in eben hielten Sie für normal? arbeiter geöffnet hat, es kein Intranet und gegossene Tropifrutti-Gummis steckt und Riegel: Sie werden lachen, aber ja: Ich keine E-Mail-Adressen für Mitarbeiter genüsslich ableckt. habe diese Wochenenden genossen, weil gab.

62 DER SPIEGEL Nr. 36 / 1. 9. 2018 Riegel: Das ist auch eine dieser Mythen. sere Marke hervorragend, die Amerikaner SPIEGEL: Warum reduzieren Sie dann Sie können versichert sein, dass wir auf ticken ähnlich wie wir. In China gibt es nicht überall den Zucker? der Höhe der Zeit kommunizieren. Unsere vergleichbare Produkte, aber mit asiati- Riegel: Weil wir finden, dass das der Ver- Aufgabe heute ist es, die Weichen für die schen Fruchtaromen und in anderen Kon- braucher selbst entscheiden sollte. In Eng- Zukunft zu stellen. Das bedeutet insbeson- sistenzen. Wir sind dort anfangs zweiglei- land diskutieren wir gerade, ob wir den dere eine stärkere Internationalisierung sig gefahren: Zum einen sind wir über Zuckergehalt über das ganze Sortiment re- mit allen Auswirkungen, die das für ein lokale Distributoren in der Region Schang- duzieren. Aber da reden wir über wenige Unternehmen hat. Darauf bereiten wir Ha- hai und Guangdong in den Markt gekom- Prozent, nicht über 30. Wir sind in unserer ribo bereits seit einiger Zeit vor – struk- men, zum anderen hatten wir schon ein Kundenkommunikation sehr ehrlich: Wir turell, organisatorisch und vor allem Onlinevertriebsmodell aufgesetzt. Heu- machen keine Gesundheitsversprechen, kulturell. Das ist die große Aufgabe, te sehen wir, dass wir mit dem Online- wir werben nicht mit Vitaminen. Und wir der wir uns in dieser Generation stel- handel erfolgreicher sein können. informieren auf der Packung, was eine Por- len und für die ich stehe. SPIEGEL: Das heißt, die Chinesen be- tionsgröße ist. SPIEGEL: Sie stellen die Geschäftsfel- stellen über die Onlineplattform Ali- SPIEGEL: Müsste man auf Ihre Packungen der völlig neu auf, steuern erstmals baba ihre Gummibärchen? nicht ähnlich abschreckende Fotos dru- viele Bereiche zentral. Riegel: Wir legen uns nicht auf ei- cken wie auf Zigarettenpackungen? Riegel: Wir haben uns eine neue Hol- nen Kanal fest, aber ja, im Prinzip Riegel: Wir sollten die Kirche im Dorf las- dingstruktur gegeben, um diese Möglich- läuft das so. Das ist der größte Online- sen: Ich sehe keine vergleichbare Gesund- keit zu haben. Trotzdem arbeiten die Lan- markt der Welt. heitsgefährdung. desgesellschaften nach wie vor unabhängig. SPIEGEL: Was genau wollen Sie da lernen? SPIEGEL: Diabetes ist eine Volkskrankheit. Dass das funktioniert, zeigt zum Beispiel Riegel: Die Chinesen beherrschen das On- Riegel: Hat das nicht auch etwas mit dem unser Wachstum in den USA. Das ist in- linegeschäft wie kein anderer. Da können Ausmaß des Konsums zu tun? zwischen unsere drittgrößte Gesellschaft. wir alles für unser internationales Geschäft SPIEGEL: Wie viele Gummibärchen sind Seit letzter Woche sind wir dort übrigens lernen. Wir hätten das schon vor drei Jah- denn gesund? Marktführer im Fruchtgummibereich. ren forcieren sollen. Riegel: Da gibt es WHO-Empfehlungen. SPIEGEL: Sie arbeiten auch an der Verein- SPIEGEL: Warum sollte ein Chinese Hari- Wichtig ist uns, den Verbraucher im be- heitlichung der Marke. Was heißt das? bo essen? wussten Umgang mit Themen wie Riegel: Die Marke Haribo hat, auch inter- Riegel: Wir werden dort als westliche Zucker zu unterstützen. national betrachtet, einen starken Kern Marke wahrgenommen, als etwas, das SPIEGEL: Wie viele Gummibärchen und ein ganz besonderes, zentrales Pro- aus Deutschland kommt. In vielen am Tag erlauben Sie Ihrer Tochter? dukt: Der Goldbär ist eine Ikone, er steht europäischen Ländern ist das aber Riegel: Das kommt darauf an, was für kindliche Freude. Er muss deshalb auf anders. Die Franzosen glauben, Ha- sie sonst gegessen und getan hat. der ganzen Welt gleich aussehen und ribo sei eine französische Marke, die SPIEGEL: Vergangenes Jahr hat Ihnen gleich schmecken. Das gilt aber nicht für Skandinavier glauben, Haribo käme der WDR in einer Dokumentation alle Produkte. Das dürfen die Länder aus dem Norden. vorgeworfen, bei der Produktion von selbst bestimmen. SPIEGEL: Ist das ein Vor- oder ein Nachteil? Gelatine nicht auf die Einhaltung von Tier- SPIEGEL: Welchen Anteil am Gesamtum- Riegel: Eine Konsumentenwahrnehmung rechten zu achten. satz hat der Goldbär? als lokale Marke schafft einerseits Vertrau- Riegel: Das hat mich ehrlich bestürzt, weil Riegel: Den größeren Anteil. en und Akzeptanz. In China hingegen ha- wir dieses Thema schon länger sehr ernst SPIEGEL: Ist das neben der ominösen Wi- ben wir uns auf die deutsche Marke, die nehmen. Wir kennen unsere Lieferanten, ckelmaschine für Lakritzschnecken Ihr deutsche Rezeptur, die deutsche Qualität auch unsere Vorlieferanten. Wir haben größtes Betriebsgeheimnis? fokussiert. Und das scheint bei den chine- nach der Ausstrahlung der Sendung sofort Riegel: Wir reden generell nicht über alle sischen Kunden gut zu funktionieren. begonnen, das Ganze nachzuvollziehen. Zahlen. Aber Sie können davon ausgehen, SPIEGEL: In den USA diskutieren alle über Gelatine ist ein Beiprodukt der Fleisch - dass unsere Innovationen nicht bei der Fettleibigkeit. Kein Problem für Sie? industrie. Wir kontrollieren schon heute Lakritzwickelmaschine stehen geblieben Riegel: Selbstverständlich beobachten wir unsere Lieferkette sehr genau. Wir wissen, sind. gesellschaftliche Themen und Strömungen dass auch die vorgelagerten Stufen in einer SPIEGEL: Ihre Zurückhaltung bei den Zah- wie diese immer genau, die sich ja auch zugegebenermaßen komplexen, mehrstu- len bedauern wir. Wie unterschiedlich sind international zum Teil sehr unterschiedlich figen Lieferkette noch transparenter ge- die Geschmäcker in den einzelnen Län- entwickeln. Unser Fruchtgummi hat im staltet werden müssen. dern? Wettbewerbsvergleich den geringsten Zu- SPIEGEL: Sie als einer der größten Abneh- Riegel: Sehr. Schon in Deutschland gibt ckergehalt … mer haben aber eine besondere Verant- es ein klares Geschmacksgefälle: Im Nor- SPIEGEL: 46 Prozent! wortung. den wird viel Lakritz gegessen, ab Frank- Riegel: (verzieht das Gesicht) Kennen Sie Riegel: Die haben wir, und wir versuchen, furt quasi nicht mehr. Und je weiter Sie ein Fruchtgummi, das weniger hat? Hari- ihr gerecht zu werden: Wir kaufen Ge- nach Südeuropa kommen, desto süßer bo-Produkte sind und bleiben eine Süß- latine als Granulat. Unsere Qualitäts- und wird es. Oder nehmen Sie Brasilien: Dort ware und stehen für eine kleine Freude Nachhaltigkeitsmanager gehen zu den sind die Aromen viel intensiver und orien - im Leben. Zulieferern und kontrollieren dort. Aber tieren sich an lokalen Früchten. SPIEGEL: Aber Sie bieten eine Variante das heißt trotzdem definitiv nicht, dass SPIEGEL: Der deutsche Markt ist gesättigt, mit 30 Prozent weniger Zucker an. Warum? wir hier direkten Einfluss auf die vorge- deshalb liegt das Wachstumspotenzial Riegel: Damit bieten wir dem Ver- lagerten Prozesse nehmen können. Wir in China und in den USA. Was mögen braucher Auswahl und eine Alterna- arbeiten mit Hochdruck daran, Maßnah- die Menschen dort? tive. Aber dies tun wir nur, weil wir men zur weitergehenden Rückverfolg- Riegel: Es stimmt, der deutsche Süß- inzwischen auch bei der zuckerre - barkeit mit unseren direkten Lieferan- warenmarkt ist weitestgehend ge- duzierten Variante eine Qualität ga- ten zu entwickeln. Sicher ist: Sobald wir sättigt und hoch kompetitiv. Am US- rantieren können, mit der wir zufrie- von Missständen erfahren, stellen wir Süßwarenmarkt entwickelt sich un- den sind. sie ab.

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Haribo-Besitzverhältnisse mens waren er und mein Vater sehr prä- sent und sind es heute noch. Paul Riegel Holding Dr. Hans Riegel Holding SPIEGEL: Trotzdem war es Ihr Onkel, der mit Thomas Gottschalk durchs Werbefern- Hans Guido Riegel 28,6% 99,99% Dr. Hans Riegel- sehen spaziert ist. Stiftung, Riegel: Das hat ja auch gepasst. Hans Arndt Riegel Bonn und Kinder 28,6% SPIEGEL: Zu wem? Riegel: Zu beiden. Wir hatten ja mit Tho- Andrea Depkat mas Gottschalk eine Werbefigur, die 25 und Kinder 28,6% Dr. Hans Riegel- Privatstiftung, Jahre lang die Marke glaubwürdig vertre- Hans-Jürgen Riegel 14,2% 0,01% Österreich ten hat. und Kinder SPIEGEL: Warum hat man sich von ihm getrennt? 50% 50% Haribo Holding Riegel: Gottschalk war irgendwann weni- ger im deutschen Fernsehen präsent, und Aufsichtsrat wir haben zusammen entschieden, dass es Hans Arndt Riegel (Vorsitz), Peter May, Klaus-Peter Meier, Reinhard Schneider Zeit ist, unsere Werbung anders auszurich- ten. Weil die Verbraucher aber damals in Geschäftsführung Umfragen gesagt haben, dass sie weiterhin Hans Guido Riegel (Produktion), Michael Phiesel (Finanzen), Dariusz Kucz (Marketing und Vertrieb) gern ein Testimonial als Markenbotschaf- ter wollen, haben wir von da an mit Bully Herbig gearbeitet. Inzwischen erklärt sich SPIEGEL: War Ihnen klar, wie kritisch die Talkshows, etwa wenn es darum geht, die die Marke aber von selbst, wir prüfen des- Gelatine als Bestandteil ist? Lebensmittelindustrie zu verteidigen? halb, wie wir in Zukunft werben. Riegel: Für uns ist Gelatine ein wertvoller Riegel: Ich würde es tun, wenn es erfor- SPIEGEL: Was heißt das konkret? Rohstoff. Und natürlich ist uns nach zwei derlich wäre. Aber in diesem Thema sehe Riegel: Wir möchten vorerst mit Kampa- BSE-Skandalen klar, dass das ein sensibler ich uns durch die Verbände gut vertreten. gnen ohne Testimonial arbeiten. Hierfür Rohstoff ist. SPIEGEL: Warum sind Sie so zaghaft? testen wir derzeit verschiedene Konzepte. SPIEGEL: Hat diese Berichterstattung dem Riegel: Warum ist das zaghaft? Ich bin da- SPIEGEL: Die Goldbären spazieren jetzt Image geschadet? von überzeugt, dass das richtig ist. Haribo also allein? Riegel: Das ist schnell hochgekocht und soll im Vordergrund stehen, nicht ich. Riegel: Noch nicht. Aber der Vertrag mit Bul- dann schnell wieder verebbt. Trotzdem SPIEGEL: Sie könnten durch öffentliche ly Herbig läuft nur noch bis Jahresende. müssen wir Vertrauen in unsere Lieferket- Auftritte etwas bewirken, Vorbild sein. Ha- SPIEGEL: Der Goldbär hat eine Marken- te schaffen, dieses Thema hatte bei uns ben Sie als Unternehmer, der für so eine bekanntheit von 99 Prozent. Muss der auch schon vor der Berichterstattung Prio- bekannte Marke steht, nicht auch eine überhaupt noch beworben werden? rität. Qualität ist eines unserer zentralen gesellschaftliche Verantwortung? Riegel: Jede Marke braucht Werbung, vor Markenattribute. Riegel: Die haben wir, und der stellen wir allem wenn Sie die 99 Prozent Marken- SPIEGEL: Gab es Umsatzrückgänge? uns auch. Aber wir äußern uns nicht poli- bekanntheit halten wollen. Riegel: Nein. Es gab Zacken in der Mar- tisch. Das wird es bei uns nicht geben. Ha- SPIEGEL: Ihr Onkel hat das Unternehmen kenbeliebtheit, aber nur temporär. ribo ist ein demokratisches Produkt, aber bis zu seinem Tod im Alter von 90 Jahren SPIEGEL: Gehen Sie deshalb mehr in die es muss nicht politisch sein. geleitet. Wann wollen Sie aufhören? Öffentlichkeit als früher? Braucht es Ihre SPIEGEL: Was heißt demokratisch? Riegel: Ich hoffe, lebend. Glaubwürdigkeit? Riegel: Dass wir eine große Auswahl an SPIEGEL: Für Sie gibt es also ein Leben Riegel: Nein. Aber die Verbraucher wollen verschiedensten Produkten – etwa klassi- nach Haribo? mehr als früher wissen, wofür eine Marke schen Fruchtgummi-, zuckerreduzierten Riegel: O ja. Ich habe eine tolle Frau, eine steht. Wichtig ist für mich vor allem die oder auch vegetarischen Varianten – bie- gesunde Tochter, ich will reisen und etwas interne Ausrichtung des Unternehmens. ten zu Preisen, die sich jeder leisten kann. von der Welt sehen. Wir haben erstmals eine Wertediskussion SPIEGEL: Ihr Onkel hatte weniger Hem- SPIEGEL: Haben Sie eine Abmachung mit geführt und diese festgeschrieben. Zurzeit mungen, als das Gesicht von Haribo nach Ihrer Frau, wann das der Fall sein wird? arbeiten wir ebenfalls zum ersten Mal mit außen aufzutreten. Riegel: Ja. Aber die habe ich schon zwei- Hochdruck an einer Nachhaltigkeitsstra- Riegel: Das mag nach außen hin so wahr- mal gebrochen. tegie. Beide Themen werden wir übrigens genommen worden sein. Er hat das ja auch SPIEGEL: Und jetzt legen Sie sich nicht Anfang nächsten Jahres auch extern kom- sehr gut gemacht. Innerhalb des Unterneh- mehr fest? munizieren. Und da werde ich auch per- Riegel: Ein paar Sachen will ich hier noch sönlich Position beziehen, weil mir diese erledigen, das gilt insbesondere dafür, die Themen besonders am Herzen liegen. Weichen für die zukünftige weitere Inter- SPIEGEL: Tun Sie das? Wir haben eher den nationalisierung erfolgreich zu stellen. Eindruck, dass Sie als Geschäftsführer in SPIEGEL: Haben Sie keine Angst, dass Sie der Öffentlichkeit eigentlich nicht existieren. die Kurve genauso wenig kriegen wir Ihr Riegel: Ich gehe der Öffentlichkeit nicht Onkel? aus dem Weg, wenn es dem Unternehmen Riegel: Glauben Sie, dass das erblich ist? dient. Aber ich suche sie nicht. SPIEGEL: Wir befürchten es fast. SPIEGEL: Das muss uns entgangen sein. Riegel: Wenn Sie das so sagen, dann ma- Warum gehen Sie beispielsweise nicht in chen Sie mir Angst. SPIEGEL: Herr Riegel, wir danken Ihnen * Susanne Amann und Alexander Kühn in Grafschaft Riegel, SPIEGEL-Redakteure* für dieses Gespräch. bei Bonn. »Sie machen mir Angst«

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Wirtschaft Neue Reue, alter Rauch

Suchtmittel Die Tabakkonzerne müssen weg vom Image der Krankmacher. Sie geben sich bußfertig und preisen elektronische Dampfer als Alternative. Zumindest in Europa und den USA. In Afrika setzen sie weiter darauf, immer mehr Menschen zu Rauchern zu machen.

n der Zentrale des Zigarettenherstel- ration-Produkten: Sie setzen entweder haben. Calantzopoulos bringt das Kunst- lers Philip Morris, Avenue de Rhoda- aufs Erhitzen (wie Philip Morris), aufs Ver- stück fertig, gleichzeitig selbstbewusst und I nie 50 in Lausanne, ein paar Gehmi- dampfen (wie Imperial Brands) oder auf skrupulös zu wirken. nuten nur vom Genfer See entfernt, beides (wie British American Tobacco). In der Vergangenheit lief es so, dass die führen sie derzeit ein bemerkenswertes Next Generation ist der Versuch, end- Industrie die Gefahren des Rauchens ein- Stück auf. Es trägt den Titel »Geläuterter lich wieder ins Helle zu gelangen. fach leugnete. Der Zusammenhang zwi- Tabakkonzern rettet die Raucher der Ein technologischer Wettstreit ist das schen Rauchen und Sterben sei nicht er- Welt«, es handelt von einer Zigarettenfir- und ein strategischer dazu: Ist es sinnvoll, wiesen, die Risiken nicht ausreichend er- ma, die keine Zigarettenfirma mehr sein auf die Disruption der Branche zu setzen, forscht, das war in etwa die Haltung. Noch will. Die Hauptrolle ist mit André Calan - auf radikale Neuerung? 1994 schworen sieben Zigarettenmanager tzopoulos großartig besetzt: Der Grieche, André Calantzopoulos hat sich dafür bei einer Kongressanhörung in den USA, seit 2013 Vorstandsvorsitzender von Philip entschieden. Er hoffe, der Abschied von wider besseres Wissen, dass Nikotin nicht Morris International, hat mit dem Rau- der Zigarette werde bald kommen, sagte abhängig mache. chen aufgehört, so sagt er das, weil er et- er vor knapp zwei Jahren der BBC. »Das Inzwischen weiß jeder, dass Rauchen was Besseres, Gesünderes entdeckt habe – Ziel ist es, so viele Raucher wie möglich das Leben verkürzen kann, es steht auf das Erhitzen, englisch »Heating«. von der Zigarette wegzubekommen«, sagt jeder Packung, auf jedem Plakat. Die Auf- Beim Heating wird der Tabak nicht ver- Calantzopoulos heute – und sie hin zu gabe der Tabakkonzerne besteht darin, brannt, sondern erhitzt, auf etwa 300 Iqos und anderen rauchfreien Alternativen Tabak wieder cool und begehrenswert zu Grad. Das führt dem Raucher das Nikotin zu bewegen. Anfang Januar buchte Philip machen. zu wie bei der Zigarette, gleichzeitig soll Morris ganzseitige Anzeigen in britischen Für ihre Offensive brauchen die Kon- es ihn vor den krebserregenden Stoffen Zeitungen. »Unser Vorsatz für das neue zerne die Gesundheitspolitiker, das ist neu. bewahren, die im Zigarettenrauch enthal- Jahr«, stand dort in Großbuchstaben: »Wir Die Politik soll bestätigen, dass die neuen ten sind. Praktischerweise ist Calantzo- versuchen, mit den Zigaretten Schluss zu Produkte weniger gefährlich sind als die poulos auf ein Produkt umgestiegen, das machen.« Zigarette, künftig soll sie Verbündeter der er selbst auf den Markt gebracht hat und Ein Versprechen, nicht weniger. Und so Tabakfirmen sein, nicht länger deren Geg- das sie bei Philip Morris Iqos nennen: im sitzt Calantzopoulos am Konferenztisch ner. Wir helfen Rauchern, die nicht auf- Innern eine wiederaufladbare Lithium- in Lausanne, zwischen den Fingern ein hören können oder wollen, das ist die Bot- Ionen-Batterie, ein Temperaturregler und Iqos-Gerät, er bläst Rauch aus der Nase, schaft der Industrie an die Politik. Dafür ein Heizplättchen aus Gold, Platin und der nicht nach Rauch riecht und deshalb helft ihr uns bitte mit Iqos. Keramik, außen minimalistisches Design. auch nicht Rauch genannt werden soll, und Damit das klappt, haben die Konzerne Iqos gibt es bereits in Deutschland und wirft ein paar Zahlen in den Raum: Bis zu eine Aufrichtigkeitsoffensive gestartet. Sie Großbritannien, in Japan, Italien und 95 Prozent weniger Schadstoffe habe das streiten nicht länger ab, dass Rauchen ge- 38 weiteren Ländern. Das Gerät, so heißt neue Produkt; 70 bis 90 Prozent der Ziga- sundheitsschädlich ist. Stattdessen warnen es, erfülle einen alten Raucherwunsch und rettenraucher, die mit dem Rauchen auf- sie vor dem Rauchen – auch deshalb, weil zugleich einen Menschheitstraum: Tabak- hören und zu Iqos wechseln, blieben dabei. sie mit den Heatern und mit den Dampf- konsum ohne Rauch, Gestank und Krank- »Unser Ziel ist es, dass bis 2025 30 Prozent geräten endlich Produkte haben, die die heit, Genuss ohne Reue. unserer Raucher zu rauchfreien Alternati- Zigarette ersetzen könnten. Die Tabakindustrie steckt in der Krise, ven wechseln – dies entspricht mehr als Manager wie Calantzopoulos, Konzer- sie muss sich wandeln, wenn sie überleben 40 Millionen Konsumenten.« ne wie Imperial Brands, BAT oder eben will. Einerseits rauchen weltweit immer Sie versprächen sich so viel von Iqos, Philip Morris geloben plötzlich Aufrichtig- noch 1,1 Milliarden Menschen, im Jahr sagt Calantzopoulos, dass sie beschlossen keit und Transparenz: Dialog statt Droh- macht das 5,7 Billionen Zigaretten; für die hätten, vorerst kein Geld mehr in die Wer- gebärden. Man habe aus den Fehlern der fünf größten Konzerne kamen 2017 etwa bung für Marlboro zu stecken, die erfolg- Vergangenheit gelernt, versichern sie, alle 27 Milliarden Dollar zusammen; Gewinn reichste Zigarettenmarke weltweit. Forschungsergebnisse seien fortan öffent- wohlgemerkt, nicht Umsatz. Calantzopoulos wurde in Griechenland lich, man sehe sich in der Verantwortung, Andererseits rauchen in den Industrie- geboren, er hat in Lausanne und später in verloren gegangene Glaubwürdigkeit wie- ländern immer weniger Menschen. Jugend- Paris studiert, seinen ersten Job fand er in derherzustellen. liche wollen heute gesund leben und vor der Autoindustrie. Er lässt den Iqos-Nicht- Es ist ein Stilwechsel und ein ziemlich allem gesund aussehen, das unterscheidet Rauch aus seinem Mund entweichen, als radikaler Strategiewechsel, für den sich sie von der Generation ihrer Eltern. Einer säße er auf einer Bühne. Anfangs war Ca- Philip Morris, BAT und Imperial Brands Umfrage zufolge raucht in Deutschland nur lantzopoulos Zigarrenraucher, mit 27 Jah- entschieden haben. Eine Art Neustart. noch jeder 13. 12- bis 17-Jährige. 40 Prozent ren wechselte er zur Zigarette. Er hat eine Konkret erhofft sich Philip Morris, dass der 18- bis 25-Jährigen haben noch nie ge- angenehme Raucherstimme und spricht die staatlichen Auflagen für die neuen Pro- raucht – ein historisch niedriger Stand. leise, ganz anders als die Tabakmanager, dukte gelockert werden. Dass nicht mehr Mittlerweile forschen alle großen Kon- die man aus den Prozessen kennt, die Rau- auf jedem Iqos-Plakat, auf jedem Flyer zerne deshalb an sogenannten Next-Gene- cher gegen die Tabakindustrie angestrengt und auf jeder Schachtel der Satz »Rauchen

66 DER SPIEGEL Nr. 36 / 1. 9. 2018 SEBASTIEN AGNETTI / 13PHOTO / DER SPIEGEL AGNETTI / 13PHOTO SEBASTIEN ROMAIN GAILLARD ROMAIN / REA LAIF Philip-Morris-Chef Calantzopoulos, Iqos-Gerät: »Wie Sex mit vier Kondomen«

67 DAVID LEVENE / EYEVINE LAIF DAVID Raucherin in der kenianischen Hauptstadt Nairobi: Das Problem mit moralischen Kampagnen ist – sie sollten stimmen ist tödlich« stehen muss. Und dass ihnen chen; wie sehr sie die Fehler bedauern, die In der Branche ist der Vorstoß von Philip am Ende, nach allen Studien und Lang- die Tabakindustrie in der Vergangenheit Morris umstritten. Philip Morris mache zeituntersuchungen, vielleicht sogar von gemacht habe, die man aber leider nicht »unhaltbare Versprechungen«, das schade den Aufsichtsbehörden erlaubt wird, mit ungeschehen machen könne. der gesamten Industrie, sagt beispielsweise der Behauptung zu werben, die neuen Pro- Und am Ende fragt einen der Assistent, Jan Mücke, Geschäftsführer des Deutschen dukte seien »risikoreduziert«. der über lange Flure hochführt zu Calan - Zigarettenverbands DZV. Calantzopoulos’ Drei Milliarden Euro hat die Entwick- tzopoulos, tatsächlich, ob man rauche. Vorgehen mache die Branche als Ganzes lung von Iqos angeblich gekostet, zehn Nein? »Gut. Fangen Sie nicht damit an.« unglaubwürdig. Man muss wissen, dass Jahre hat sie gedauert. Calantzopoulos hat Im Gespräch führt Calantzopoulos dann Philip Morris schon vor Jahren aus dem Wissenschaftler, Marketingexperten und vor, wie die neue Nachdenklichkeit kon- Verband ausstieg, der Konkurrent BAT Designer eingestellt, die Iqos (Firmenspott: kret aussieht. Wie schnell sich Iqos durch- Deutschland (»Lucky Strike«, »Dunhill«, »wie Sex mit vier Kondomen«) ein irgend- setzen wird? Keine Ahnung, sagt Calan - »Pall Mall«) aber bis heute dabei ist. wie Apple-artiges Aussehen geben sollten. tzopoulos. Es könne schnell gehen wie in Wenn die Ankündigung, mit den Ziga- Während bei der E-Zigarette lediglich eine Japan. Oder langsam wie in Deutschland, retten aufzuhören, glaubwürdig wäre, sagt Aromaflüssigkeit erhitzt und anschließend wo der Marktanteil mehr als ein Jahr nach Mücke, dann müsste Philip Morris sofort inhaliert wird, reicht ein Stick der »Akku- der Einführung 0,4 Prozent beträgt. Tat- aufhören, Zigaretten zu verkaufen. »Wenn Kippe« (»Bild«) für sechs Minuten oder sächlich sind die europäischen Raucher of- wir am Ende für die Marketingsprüche 14 Züge, das Heiz-Erlebnis soll dem Rau- fenbar weit schwerer zu begeistern als an- von Philip Morris verantwortlich gemacht chen einer Zigarette so ähnlich wie mög- genommen: Für die geplante Iqos-Fabrik werden, dann wird’s problematisch. Nichts lich sein. in Dresden, in die Philip Morris 275 Mil- kann die Branche weniger gebrauchen als Und weil vom Erfolg des Projekts viel lionen Euro investieren wollte, hat Calan - weitere Glaubwürdigkeitsprobleme.« abhängt, sind beinahe alle bei Philip Mor- tzopoulos jetzt erst einmal einen Baustopp Das ist das Überraschende an dieser ris eingespannt in die Inszenierung des verfügt. Strategie und zugleich das Gefährliche: Stücks, das Calantzopoulos aufführen Wie lange Philip Morris noch Zigaretten dass sie mit einem moralischen Anspruch lässt. verkaufen wolle, wenn Iqos die bessere operiert, mit dem hohen Ton der Verant- Das fängt damit an, dass zwei Presse- Alternative sei? wortlichkeit. Und mit dem Versprechen, leute einen am Genfer Flughafen in Emp- Unmöglich zu beantworten, sagt Calan- die Welt von der Zigarette zu befreien. fang nehmen und während der Fahrt nach tzopoulos. Man sei abhängig von den Auf- Das Problem mit moralischen Kampa- Lausanne »im Vertrauen« allerlei Geständ- sichtsbehörden, von der Gesundheitspoli- gnen ist: Sie sollten stimmen. Oder wie nisse machen: wie sehr sie mit sich gerun- tik und vom Raucher sowieso, der eigen- ein Branchenkenner es ausdrückt: »Ich bin gen hätten, das Jobangebot von Philip willig sei und sich ungern bevormunden gespannt, wie die wieder zum Fenster Morris anzunehmen; wieso es so wichtig lasse. »Wenn die Regulierungsbehörden reinklettern wollen, wenn die Sache schief- sei, dass möglichst wenig Menschen rau- helfen, geht’s schneller.« geht.«

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In der Praxis ist es noch ein wenig kom- zelzigaretten zu kaufen: in Ougadougou eine »sehr hohe Priorität«, heißt es bei plizierter. Denn die Tabakkonzerne ma- (Burkina Faso) ebenso wie in Jaunde (Ka- BAT. Diese Märkte seien ein »unverzicht- chen sich zunächst nur daran, einen Teil merun), in N’Djamena (Tschad) ebenso barer Bestandteil der Strategie«. der Welt von der Zigarette zu befreien – wie in Abidjan (Elfenbeinküste), in Accra Besuch also bei Vincent Kimosop, bis jenen Teil, in dem die aufgeklärten, zah- (Ghana) ebenso wie in Nairobi, in Niamey vor wenigen Jahren Chef einer Organisa- lungskräftigen Kunden leben. (Niger) ebenso wie in Lagos (Nigeria), in tion, die Politiker bei der Umsetzung von In Afrika etwa ist die Wahrheit der Ta- Lomé (Togo) ebenso wie in Kampala Gesetzen berät. Kimosop hat ein kleines bakkonzerne eine andere. Afrika ist ein (Uganda). Büro in Nairobi. Vor Kurzem hat er sich Kontinent, auf dem die Konzerne nicht so Die angebotenen Zigaretten stammen als Politikberater selbstständig gemacht, genau von der Weltöffentlichkeit beobach- von Herstellern wie BAT, Philip Morris er soll erklären, wieso die Tabakkonzerne tet werden wie etwa in Europa. und Imperial Brands sowie, mitunter, von in Afrika Zigaretten verkaufen, während Der Kontinent gilt einerseits, neben heimischen Herstellern. Die angebotenen sie in Europa, in Australien oder in den Südostasien, als einer der wichtigsten Zu- Zigaretten stammen, mit anderen Worten, USA von Risikominderung und Glaubwür- kunftsmärkte der Zigarettenindustrie: Die von ebenjenen Firmen, die in den Indus- digkeit reden. Zahl der Raucher ist gering, sie wird sich trieländern den Abschied von der Zigarette Drei Dinge, sagt er, seien dafür verant- fast überall in den kommenden Jahren ver- propagieren. Häufigste Marken unter den wortlich, dass die Regulierung in Afrika doppeln, wenn nicht verdreifachen. im Einzelverkauf erhältlichen Zigaretten nicht greife. Viele afrikanische Staaten fi- Andererseits haben die afrikanischen laut der ATCA-Studie: Benson & Hedges nanzierten ihren Haushalt zu einem erheb- Länder, was die Anti-Raucher-Gesetz - (BAT), Davidoff (Imperial Brands) und lichen Teil aus der Tabaksteuer. Das öf- gebung angeht, in den vergangenen Jahren Marlboro (Philip Morris). fentliche Interesse, die Bürger nicht krank aufgeholt. Bis auf wenige Ausnahmen wur- Auf den Fotos, die Rodgers Kidiya und werden zu lassen, stehe häufig gegen das de die Richtlinie der Weltgesundheits - all die anderen gemacht haben, ist zu er- politische Interesse, das Steueraufkommen organisation WHO inzwischen umgesetzt. kennen, dass die Konzerne trotz des staat- so hoch wie möglich zu halten. Mit ande- In Afrika gibt es die African Tobacco lichen Verbots weiterhin für den Einzel- ren Worten: Die Regierung reguliert eine Control Alliance (ATCA), einen Zusam- verkauf werben. BAT, so ATCA, habe Industrie, von der sie abhängig ist – ein menschluss von mehr als 120 Organisatio- überdies mit einer »Buy one, get one free«- unauflösbares Dilemma. nen, deren Ziel ein tabakfreier Kontinent Kampagne für seine Zigaretten geworben. Zweitens: Viele Politiker hätten großes ist. Ende Februar veröffentlichte die ATCA Die Konzerne verfolgten eine Doppel- Verständnis für die Interessen der Tabak- das Ergebnis einer Studie, durchgeführt in strategie, sagt Lars Lusebrink, Analyst bei industrie – entweder weil sie vorher in die- zehn afrikanischen Großstädten, die he- Independent Research. In den Industrie- ser Industrie beschäftigt waren oder weil rausfinden sollte, ob Zigaretten nach wie ländern setzten sie auf weniger schädliche sie Anteile an Tabakfirmen besitzen. vor einzeln verkauft werden. Der Einzel- Alternativen zur herkömmlichen Zigaret- Und drittens? Seien afrikanische Staa- verkauf bringt Arme und Jugendliche zum te, in vielen Entwicklungsländern be- ten stark darin, gute Gesetze zu machen, Rauchen, indem er das Rauchen er- würben sie nach wie vor die klassische Zi- und »sehr schwach darin, diese Gesetze schwinglich macht, deshalb ist die Frage garette. Die Konzerne expandierten in umzusetzen«. so wichtig. Afrika und Südostasien, um Rückgänge Im Stadtteil Buru Buru will Rodgers In Nairobi, der Hauptstadt Kenias, läuft auf den Heimatmärkten zu kompen- Kidiya zeigen, was das konkret bedeutet. Rodgers Kidiya an einem Vormittag durch sieren. Im Schatten einiger Bäume, direkt an der einen öffentlichen Park. Nairobi ist eine Rund eine Milliarde Menschen leben in Bidii Primary School, verkaufen Händler der zehn Städte, in denen die ATCA-Leute Afrika, im Jahr 2025 werden es voraus- Zigaretten aus Holzbuden heraus, neben unterwegs waren. Kidiya hat die Recher- sichtlich 500 Millionen mehr sein. Etwa Limonade, Lollis, Bonbons oder Telefon- che in Kenia koordiniert, er war einer von zehn Prozent der über 15-jährigen Afrika- karten. Vor jeder Verkaufsluke hängt eine denen, die Verkaufsstände besucht und ner rauchen, schätzt die WHO. Die prog- stilisierte orangefarbene Hand, den Dau- Fotos gemacht haben, als Beweis. nostizierten Zuwächse sind, jedenfalls aus men nach oben gereckt. »Bei Poa« steht In einer Ecke des Parks steht eine Ziga- Sicht der Tabakindustrie, vielverspre- darauf, »Best Price«. Hier, signalisiert das rettenverkäuferin neben einer orangefar- chend. In der Republik Kongo wird der Schild, gibt es Zigaretten zum garantierten benen Metallbox, darin: Zigaretten der Anteil der Raucher bis 2025 auf 47 Prozent Preis von sieben Shilling das Stück. BAT-Marken Sportsman, Safari, Embassy. steigen, in Kamerun auf 43 Prozent, in Si- Das Schild sei ihm von BAT zur Verfü- Eine Zigarette mit Filter kostet acht Shil- erra Leone auf 41 Prozent. Asien, Afrika, gung gestellt worden, sagt einer der Händ- ling und fünf Shilling ohne. überhaupt die Emerging Markets hätten ler. Einmal in der Woche komme ein Lie- Ob sie wisse, dass der Verkauf von ferant vorbei und erkläre ihm, zu welchem Einzelzigaretten verboten sei, will Kidiya Preis er die Zigaretten verkaufen solle. Ein wissen. BAT-Team kontrolliere dann unangemel- Sie habe zwar die Metallbox von BAT det, ob sich die Verkäufer an die Preisemp- bekommen, sagt die Frau. BAT kontrollie- fehlung halten. re, ob sie Zigaretten anderer Hersteller Und wenn er die einzelne Zigarette verkaufe. Wenn ja, müsse sie die Box etwa für acht Shilling verkauft? zurückgeben. Vom Einzelverkaufsverbot »Kommen sie und drohen, die Beliefe- hätten die BAT-Leute nichts gesagt. rung zu stoppen.« BAT bestreitet diese Raucht sie selbst? Darstellung. Die Frau schüttelt den Kopf. Auf den Fast alle Kunden kauften eine, zwei, Warnbildern sei ja deutlich zu sehen, was höchstens drei Zigaretten auf einmal, sagt das Rauchen anrichte. »Es ist nur ein Job«, er. Wann er das letzte Mal eine ganze Pa- sagt sie. ckung verkauft habe? »Daran kann ich In jeder der zehn afrikanischen Städte, BERNHARD RIEDMANN / DER SPIEGEL mich nicht erinnern.« das ist das Ergebnis der ATCA-Untersu- Einzelverkauf in Nairobi Ende 2016 veröffentlichte ATCA eine chung, ist es ohne Weiteres möglich, Ein- Das Rauchen erschwinglich machen ähnliche Studie. Damals wies das Netz-

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werk anhand vieler Fotos nach, dass die Gehälter der Lehrer. Ein Geben und Neh- Tabakkonzerne Zigaretten und andere Ta- men sei das, sagt der Mann. »Wir liefern, bakprodukte weiterhin in unmittelbarer sie bedanken sich.« Nähe von Schulen verkaufen, in Kamerun Die Tabakkonzerne, um eine Stellung- und Burkina Faso, in Benin, Nigeria und nahme gebeten, antworten so: »Es ist ein- Uganda, trotz des staatlichen Verbots. Un- fach nicht wahr, dass wir den Verkauf ein- ter den Firmen: British American Tobacco zelner Zigaretten in Kenia und Uganda un- und Philip Morris International. terstützen«, heißt es bei BAT Kenia. Organisationen wie die UNHCO, eine »Weder fördern noch billigen wir den NGO, die sich in Uganda um gesundheit- Einzelverkauf unserer Produkte durch lichen Verbraucherschutz kümmert, arg- Händler«, heißt es bei Imperial Brands.

HELENA LEA MANHARTSBERGER wöhnen seit Langem, dass die Tabakindus- Und was sagt André Calantzopoulos, Di- trie dafür sorge, dass die Gesetze unwirk- rigent der Ehrlichkeitsoffensive bei Philip sam blieben: indem sie Regierungen mit Morris? Wie passt es zusammen, in den Klagen überziehe, Minister besteche oder Industrieländern »risikoreduzierte« Pro- bedrohe. Das ist schwierig zu beweisen, dukte auf den Markt zu bringen und in den selten gibt es Schriftstücke. armen Ländern der Erde weiterhin Ziga- Treffen also mit einem Mann, der im retten zu verkaufen? Management von BAT Uganda beschäftigt Natürlich, sagt Calantzopoulos, wolle war – und der darum bittet, seinen Namen man die Tabakerhitzer auch außerhalb nicht zu nennen, weil er Angst um seine von Europa und den USA anbieten. Man Karriere hat. Er trägt einen dunkelblauen dürfe allerdings nicht vergessen, dass es Anzug, hat ein freundliches Gesicht und Tabakgegner gebe, die Iqos und andere ist überhaupt prächtiger Laune; er kennt rauchfreie Produkte ablehnten. Dass es alle Vorwürfe der Tabakgegner, weil er, als Länder gebe, die diese Produkte am liebs- er noch von BAT bezahlt wurde, auf jeden ten verbieten würden. In diesen Ländern Vorwurf eine Antwort finden musste. Die Tabakindustrie, sagt der Mann, sei schon immer unter Druck gewesen. Sie Werden Politiker von der werde alles, aber auch wirklich alles dafür Tabakindustrie bestochen? tun, um im Geschäft zu bleiben. Was das heißt? »Offiziell nicht«, Die Industrie habe eine Verteidigungs- sagt der Mann und lacht. linie, sagt der Mann lächelnd: Das Produkt ist umstritten, aber es ist legal. Außerdem ist es nicht das einzige umstrittene Pro- müsse Philip Morris weiterhin Zigaretten dukt. Und: So umstritten es sein mag – es verkaufen. Das bin ich gefällt den Konsumenten. Letztlich, sagt Calantzopoulos, seien es Die Tabakindustrie, sagt der Mann, hel- die Regulierungsbehörden in diesen Län- Del LaGrace Volcano versuchte lange, fe dem Staat, jene zu schützen, die rauchen dern, die den Zigarettenkonsum durch ihre ein Mädchen zu sein. Er riss sich wollen, das ist ihr Mantra. »Wenn wir die ablehnende Haltung fördern – sicherlich die Haare aus, als ihm ein Bart wuchs, Raucher nicht beliefern, dann rauchen die unbeabsichtigt. irgendwelches Zeug, das viel gefährlicher Zudem seien die Märkte in Südostasien versteckte sich vor den Blicken seiner ist als Zigaretten.« und in Afrika leider noch nicht bereit für Klassenkameraden. Mit 18 fing er Die Strategie bestehe darin, die Regie- die Innovation. Es fehle das öffentliche Be- an, seine Welt zu fotografieren, erst rungen davon zu überzeugen, dass Indus- wusstsein für rauchfreie Alternativen, die Lesben und Transpersonen, dann trie und Politik Partner seien. Dass bei- richtige Regulierung sowie der öffentliche Intersexuelle. »Durch diese Fotos spielsweise hohe Tabaksteuern den Anreiz Druck. In diesem Umfeld, das sagt Calan- konnte ich in einer Welt sichtbar sein, erhöhen, minderwertige Zigaretten zu tzopoulos, würden Produkte wie Iqos und die mich auszulöschen versuchte«, schmuggeln. Es gehe darum, sagt er, eine ihr Potenzial für die öffentliche Gesund- sagt LaGrace Volcano, selbst inter- »Win-win-Situation« zu schaffen. heit noch zu wenig diskutiert. sexuell. Ist diese Welt inzwischen Werden Politiker von der Tabakindus- Demnächst soll die Entscheidung der weiter? trie bestochen? Offiziell nicht, sagt der amerikanischen Verbraucherschutzbehör- Mann, er amüsiert sich ganz offensichtlich de FDA fallen, ob Iqos in den USA auf prächtig. Inoffiziell sei es so – kleine Wir- den Markt kommen darf. Von der Ent- Sehen Sie die Visual Story im digitalen kungspause: Man sorge dafür, dass man- scheidung hängt viel ab, für Philip Morris, SPIEGEL, oder scannen Sie den QR-Code. che Dinge leichter geschehen. für Calantzopoulos selbst. Wie das konkret aussieht? Ganz einfach. Sie haben der FDA einen Antrag einge- Das Zauberwort sei »Soziale Verantwor- reicht, mehr als tausend Seiten dick, sie tung«, eine Verpflichtung, die man nur all- fordern, das neue Produkt als »risikoredu- zu gern akzeptiere. Meist fragten Politiker ziert« vermarkten zu dürfen, sie bieten von sich aus nach Geld, weil sie wiederge- dafür Aufrichtigkeit, Reue, Einsicht und wählt werden wollen. Ein Krankenhaus Transparenz. im Wahlkreis eines Abgeordneten soll bes- Es ist die beste Karte, die sie haben. Zu- ser ausgestattet werden? Fein, dann stifte gleich ist es die letzte. man eben die Betten. Einer Schule fehlt Hauke Goos, Ann-Kathrin Nezik JETZT DIGITAL LESEN Geld? Schön, dann übernehme man die

70 DER SPIEGEL Nr. 36 / 1. 9. 2018 Deutschland und Katar auf gemeinsamem Kurs ANZEIGE Qatar - Germany Business and Investment Forum

7. September 2018 in Berlin

Das Forum ist die bedeutendste Wirt- Katar ist ein verlässlicher Partner THEMENSCHWERPUNKTE schafts- und Informationsveran- International ist Katar ein enger und ver- staltung Katars, die in Wirtschafts- lässlicher Partner vieler europäischer Financial Sector metropolen wie Paris, New York und Staaten und beteiligt sich über die „Qatar A Solid Line of Defense for London organisiert wird. Alle bishe- Investment Authority“ an diversen inter- Economic Security and Project rigen Foren zogen mehr als 1000 Teil- nationalen Unternehmen. Katar und Financing nehmer (Regierungsvertreter, Unter- Deutschland haben seit vielen Jahren gute nehmer) an. Berlin ist 2018 nach 2013 Beziehungen und arbeiten in zahlreichen Investing in Germany bereits zum zweiten Mal Gastgeber. unterschiedlichen Feldern eng zusammen. Great Opportunities and Dies unterstreicht die Bedeutung, die Katar ist ein zentraler Partner für Deutsch- Guaranteed Success Deutschland für Katar hat. land in der Region. Die wirtschaftlichen Beziehungen beider Länder sind vielfältig: Industrial Development 2018 wurde Deutschland als einer der Immer mehr Deutsche leben und arbeiten Key to Doha and Berlin to Diversify größten Handelspartner Katars als aus- in Katar. Deutsche Firmen eröffnen Nie- Sources of Income richtendes Land ausgewählt. Das Han- derlassungen in Doha, um den wirtschaft- delsvolumen zwischen den beiden Län- lichen Boom des Staates direkt mitzuerle- Qatar Economy dern erreichte 2017 rund 1,9 Milliarden ben. Growth Indicators of a Real EUR. Successful Partnership Die in Katar am häufigsten nachgefragten Auch die hervorragende Investitionstä- deutschen Exportgüter sind Kraftfahrzeu- Education, Health, Tourism and tigkeit Katars in Deutschland ist einer der ge, Anlagen und Maschinen. Deutsche Fir- Sports Gründe für die langfristige wirtschaft- men sind überwiegend im Anlagenbau, der The Road to World Cup 2022 liche und finanzielle Zusammenarbeit Bauwirtschaft und zunehmend im Dienst- zwischen beiden Ländern. leistungssektor, aber auch im Gasbereich aktiv. Marktpotenzial für deutsche Unter- Zwischen Tradition und Moderne nehmen besteht in der Chemie- und Bau- branche, sowie in den Bereichen Maschi- Katar meistert die Balance zwischen Mo- nenbau, Kfz, Umwelt- und Medizintechnik. derne, Tradition und Nachhaltigkeit wie kein anderes Land im Mittleren Osten. Der Fußball-WM 2022 ständig wachsende Tourismus spiegelt diese Werte wider und bietet Besuchern Bei der Vorbereitung und Umsetzung der aus aller Welt ein unverwechselbares FIFA WM 2022 arbeiten zahlreiche deut- Ambiente am Arabischen Golf. Der hohe sche Firmen mit. Servicestandard und die breite Auswahl an Sehenswürdigkeiten machen eine Rei- Katarische Institutionen haben erhebliche se nach Katar unvergleichlich schön. Investitionen in deutsche Unternehmen. Diese Kooperationen waren stets sehr er- Bildung und Umweltfreundlichkeit ha- folgreich und Katar ist interessiert daran, ben gemäß der „Qatar National Vision in Zukunft noch stärker mit Deutschland 2030“ eine herausragende Bedeutung für zusammenzuarbeiten. Dieses Engage- Katars Entwicklungsplan. ment sichert auch deutsche Arbeitsplätze.

Das Forum findet im Maritim Hotel Berlin statt. Weitere Informationen und Anmeldung: Anschrift: Stauffenbergstraße 26, 10785 Berlin http://www.qatargermanyforum.com/de/registration Ausland

»Wir haben eine Vorbildfunktion. Wir sind die Dicksten und Wohlhabendsten unter den Europäern.« ‣S.82 DAVID RAMOS / GETTY IMAGES DAVID

Die Franco-Vergangenheit wird in Spanien aufgearbeitet: Desamparats Bayona, 88, hofft, dass bei der laufenden Exhumierung eines der größten Massengräber auch die Überreste ihres Vaters (Foto) zum Vorschein kommen. Der Leiter einer Kranken - station war nach dem Ende des Bürgerkriegs von General Francos Schergen ermordet und wie 2237 weitere Linke bei Valencia verscharrt worden. Die neue sozialistische Regierung hat nun auch angeordnet, den Sarg des Diktators aus einem einst von Zwangsarbeitern errichteten Mausoleumskomplex, dem Valle de los Caídos, bei Madrid entfernen zu lassen.

Kommentar Zündeln auf dem Balkan

Ein Grenzdeal im Kosovo wird Europas Separatisten beflügeln.

Donald Trumps Sicherheitsberater John Bolton gab sich gelassen: gerjahren eingreifen mussten, um das Morden in Bosnien und im Washington, das mit Hunderten Soldaten noch immer für Sicher- Kosovo zu stoppen. Es war eine verordnete Abkehr vom Ethno- heit in der Region sorgt, könne nicht ausschließen, dass Serbien Nationalismus. Die serbisch-kosovarischen Pläne haben jedoch nur und das Kosovo Grenzen neu ziehen. Nach dem Prinzip: In einem ein Ziel: Serben und Albaner sollen jeweils unter sich bleiben. Staat soll nur eine Ethnie leben. Das versteht der amerikanische Der Gebietstausch wäre ein Präzedenzfall, er würde ethnisch Präsident. Aber auch die EU hat noch nichts unternommen, begründete Grenzen in Europa rechtfertigen. Vor allem die Kroa- obwohl das Kosovo ohne Milliarden aus Brüssel längst pleite wäre. ten und die Serben in Bosnien könnten danach den Anschluss an Dabei planen Serben und Kosovaren einen Deal, der die Stabili- ihre Mutterländer einfordern. Katalanische Separatisten hätten tät in EU-Ländern gefährdet. Der Norden des Kosovo, serbisch ein neues Argument, ebenso wie Basken, Südtiroler oder flämi- bewohnt, soll an Serbien gehen. Das Kosovo soll dafür mit einem sche und wallonische Extremisten in Belgien. Mehr Instabilität albanisch besiedelten Landstrich im Süden Serbiens entschädigt und ethnische Rivalität wären das Ergebnis. Die EU hätte mehr werden. Damit stoßen sie den zentralen Grundsatz der Balkanpoli- Migranten aufzunehmen, müsste diplomatisch, im Extremfall tik um: Es herrscht ethnische Vielfalt in den Nachfolgestaaten Jugo- gar militärisch eingreifen. Deshalb muss Europa klarmachen: slawiens – und die wird nicht per Grenzziehung aufgehoben. Darü- Wer mit völkischen Argumenten Politik macht, hat im modernen ber waren sich Amerika und Europa einig, seit sie in den Neunzi- Europa nichts zu suchen. Jan Puhl

72 DER SPIEGEL Nr. 36 / 1. 9. 2018 Kanada Afghanistan »Der Vorwurf ist absurd« Chinesen am Hindukusch Die US-Regierung nennt Kanada ein Nach dem britischen Empire, der Sicherheitsrisiko, Saudi-Arabien hat alle Sowjetunion und der Nato wagt sich Kontakte gekappt. Doch die kanadische auch die Weltmacht China militärisch Außenministerin Chrystia Freeland, 50, nach Afghanistan vor. Peking errichtet gibt sich unbeeindruckt. Die Ex-Journalis- ein Trainingslager im Wakhan-Korridor, tin, die viel aus der Ukraine berichtet hat, einem Tal im Hindukusch, das sich ist Konflikte gewohnt: Wegen ihrer Be - bis zur chinesischen Grenze erstreckt. richterstattung verbietet ihr Russland bis Die »South China Morning Post« heute die Einreise. berichtet, dass der Bau der Basis begon- nen habe. Peking wolle dort möglicher- SPIEGEL: Frau Freeland, Anfang der weise ein ganzes Bataillon stationieren. Woche hat Außenminister Heiko Maas Damit bricht China mit der Doktrin der Sie als enge Freundin bezeichnet. Nichteinmischung, offenbar aus Sorge, Schon bei Ihrem ersten Treffen hätten der militante Islamismus aus Zentral- Sie seine und er Ihre Sätze beendet. asien könnte in die westchinesische Re -

Es wirkte wie Liebe auf den ersten ALLIANCE GRAHAM HUGHES / PICTURE gion Xinjiang übergreifen. Dort lebt Blick. die muslimische Minderheit der Uigu- Freeland: Ich habe mich gefreut, dass ders den Abschied vom Pariser Klima - ren, die von Peking unterdrückt wird. Heiko das gesagt hat. Der Minister ist abkommen. Wir haben uns umorientiert, Die Basis soll die Anti-Terror-Zusam- eine der führenden Stimmen weltweit, arbeiten nun enger mit den Europäern menarbeit zwischen Peking und Kabul wenn er die Rückkehr zur regelbasierten zusammen. Aber wir sagen den Vereinig- stärken. Die afghanische Botschaft in Ordnung einfordert. Die Menschen in ten Staaten auch, dass die Tür offen Peking und Chinas Außenministerium Deutschland unterschätzen vielleicht den bleibt. bestritten, dass chinesische Truppen Einfluss der deutschen Außenpolitik. SPIEGEL: Dieser Tage verhandeln Sie entsandt werden sollen. Bewohner des Die Wahrheit ist, dass die Welt Deutsch- mit der US-Regierung über ein neues Wakhan-Tals beobachten aber schon land sehr ernst nimmt. Freihandelsabkommen, das Mexiko ein- seit Monaten chinesische Einheiten. BZA SPIEGEL: Niemand kann etwas dagegen schließt. Kann das gelingen, da Washing- haben, liberale Demokratien zu stärken. ton kürzlich Kanadas Stahl industrie Doch wie soll es weitergehen, wenn als nationales Sicherheitsrisiko bezeich- der mächtigste Partner im Klub, die USA, net hat? Polen sich verabschiedet hat? Freeland: Der Vorwurf, Kanada bedrohe Milliardenrechnung Freeland: Wir können und dürfen nicht die USA, ist absurd. Schließlich sind wir sagen, dass die Vereinigten Staaten keine nach US-Recht Teil des amerikanischen für Deutschland liberale Demokratie mehr sind. Kanada Verteidigungskomplexes. Trotzdem wird mit den USA immer sehr eng fühlen wir uns ermutigt durch den Erfolg, Die in Warschau regierende nationa- befreundet sein. Was uns verbindet, geht den Mexiko gerade erreicht hat, und listische Partei »Recht und Gerechtig- weit über den aktuellen Streit mit Präsi- gehen optimistisch in die Gespräche darü- keit« (PiS) plant neue Reparationsfor- dent Donald Trump hinaus. Wir lehnen ber, ob Kanada sich dem Abkommen derungen an Deutschland. Bis Anfang einige seiner Entscheidungen ab, beson- anschließen kann. CSC, MGB 2019 will eine Parlamentskommission unter Führung des PiS-Abgeordneten Arkadiusz Mularczyk aufgelistet haben, welche Schäden die Deutschen im Chappatte Zweiten Weltkrieg in Polen verursacht haben. Von bis zu 850 Milliarden Dol- lar ist die Rede. Noch ist unklar, wie diese Rechnung Berlin präsentiert wer- den soll. Mularczyk schwebt vor, dass Deutschland 100 Jahre lang jähr- lich einen Teilbetrag zahlen soll. Polens Rechte argumentiert, dass die enormen Verluste niemals angemessen kompensiert wurden, während die deutsche Seite die Sache juristisch für abgeschlossen hält. »Wir hoffen auf den Willen, sich von der Schuld reinzu- waschen«, sagt Mularczyk. Er rechnet mit einer »großen Konfrontation«. Schon jetzt werde Polen dauernd aus Berlin kritisiert, weil es gegen das Prin- zip der Rechtsstaatlichkeit verstoße – aus Mularczyks Sicht grundlos: »Es geht allein darum, Polen die Glaubwür- digkeit zu nehmen und unser Bemühen um Reparationen zu erschweren.« JPU

73 Ausland 56 Tage USA Eine Mutter und ihr sechsjähriger Sohn fliehen vor der Gewalt in Honduras nach Texas. Dort werden sie voneinander getrennt. Als sie nach zwei Monaten wieder zusammenfinden, sind sie nicht mehr die gleichen. Von Marian Blasberg, Katrin Kuntz und Christoph Scheuermann

s ist ein Uhr nachts, als Levis Oso- Valley betrieben wird. Ein Gefängnisbus ckung, die weniger kostet als ein Bauwerk rio Andino aus einem traumlosen hat Levis und Samir in der Nacht hier ab- aus Beton. Tausende Eltern wurden von E Schlaf schreckt. Eine Wärterin tritt gesetzt, am südlichen Rand der USA, nicht Mitte Mai an in Haft genommen, ihre Kin- an ihr Hochbett im Port-Isabel-Ge- weit von der Stelle, an der vor zwei Mo- der verteilte man über das Land. Manche fängnis und rüttelt sie am Arm. »494, steh naten ihr Floß anlegte. Sie sind jetzt frei, fanden sich in Heimen wieder, andere ka- auf!«, ruft sie. »Es ist so weit.« aber sie wissen nicht, wohin. Im Oktober, men bei Pflegeeltern unter oder in leer ste- Schlaftrunken packt Levis ihre Tasche sagt Levis, beginne ihr Asylverfahren, bis henden Walmart-Supermärkten. und taumelt durch das Neonlicht der Kor- dahin schiebe man sie immerhin nicht ab. Aber Trump rührte an ein Tabu. ridore. 56 Tage lang hat sie Samir nicht ge- Diese Herberge, in der normalerweise Vielen kam es vor, als nähme der Präsi- sehen, ihren sechsjährigen Sohn, der wie Pilgergruppen absteigen, ist jetzt eine dent die Schutzbedürftigsten als Geiseln, kein anderes ihrer Kinder an ihr hängt. An- Durchgangsstation für viele jener rund um vom Kongress das Geld für seine Mau- fang Juni hatten sie nach Wochen auf der 3000 Familien, die Amerika Ende Juli er zu erpressen. Traumatisierte Kinder, Flucht den Rio Grande überquert. Dann nach und nach wieder zusammenführt. Es schien es, waren der Öffentlichkeit schwe- rissen ihr texanische Grenzschützer das ist ein Ort der Menschlichkeit in einem rer zu vermitteln als Einfuhrzölle auf Alu- Kind aus dem Arm. Amerika machte in je- Land, das seinen Kompass verloren hat. minium. nen Wochen Ernst mit einer neuen Null- In der Lobby teilen Nonnen Kleider- Während Levis von ihrer Zelle aus ver- Toleranz-Politik, die vorsah, illegal einge- spenden aus. Sie helfen, Verwandte aus- gebens nach Samir suchte, reihten sich wanderte Familien zu trennen. Jetzt geht findig zu machen, und besorgen Bustickets. draußen immer mehr Republikaner in den es darum, das Chaos aufzuräumen, das da- Sie verbinden Levis zum ersten Mal seit Chor der Widerständler. Am 20. Juni tat bei entstanden ist. Wochen wieder mit ihrem Anwalt, der ihr Trump etwas Ungewöhnliches. Er korri- Das Letzte, was Levis von Samir gehört am Telefon verspricht, einen Unterschlupf gierte widerstrebend einen Fehler. »Das hat, war, dass er dieses Heim in Phoenix, zu finden, an dem die Wunden heilen kön- wird viele Leute glücklich machen«, sagte in das man ihn geflogen hatte, nicht mehr nen, die sein Land ihr zugefügt hat. er mit starrer Miene bei der Unterzeich- verlassen wollte. Die USA waren lange Zeit ein Staat, des- nung eines Dekrets, das die Politik der »Überraschung«, flötet die Wärterin und sen Grenzen offener waren als anderswo. Trennungen beendete. schiebt Levis in einen fensterlosen Raum. Als eine Richterin zehn Tage später an- »Samir ist nur noch kurz auf der Toilette.« ordnete, Familien wie die von Levis bis Levis sinkt auf einen Stuhl. Sie zittert. Bis heute befinden zum 26. Juli wieder zu vereinen, schien es, Dann steht er plötzlich in der Tür, an der sich noch immer als fände das Chaos endlich ein Ende. Im Hand eines Sozialarbeiters, das Haar ge- Grunde aber ging es nun erst richtig los. schoren, das freche Zahnlückenlächeln ein- 500 Kinder in der Obhut Bis heute, einen Monat nach Ablauf der gefroren. der Regierung. Frist, befinden sich noch immer mehr als »Samir, mein Liebling«, stammelt Levis, 500 Kinder in der Obhut der Regierung. »wie geht es dir?« Von Dutzenden Vätern und Müttern fehlt »Ich weiß nicht, wer du bist.« »Gebt mir eure Müden, eure Armen / Eure jede Spur, weil sie bereits abgeschoben Levis geht einen Schritt auf Samir zu, geknechteten Massen, die sich danach seh- wurden. Kinder lassen sich nicht mehr zu- er weicht zurück. Sie versucht es ein zwei- nen, frei zu atmen«, so steht es am Fuß der ordnen, weil sich eine andere Behörde um tes Mal, er tritt nach ihr. Freiheitsstatue. Es ist das Fundament, das deren Eltern kümmert. Levis musste vor »Samir«, sagt sie. »Ich liebe dich!« unverrückbar schien, seit die Vereinigten ihrer Entlassung zwei DNA-Proben abge- »Du bist nicht meine Mutter.« Staaten 1776 durch die Nachfahren euro- ben, um zu beweisen, dass sie Samirs Mut- So erzählt es Levis, als sie ein paar Stun- päischer Einwanderer gegründet wurden. ter ist. Dies alles ist ein Wahnsinn, der den nach diesem Wiedersehen übermüdet Der 45. Präsident ist nun dabei, eine manchmal wirkt wie Strategie. vor einem Teller Reis sitzt. Levis, die vor Abrissbirne auf diesen Sockel loszulassen. An einem Morgen im August, fünf Tage 26 Jahren in der honduranischen Stadt El In den Augen des ehemaligen Bauunter- nach ihrem Wiedersehen, liegen Levis und Porvenir geboren wurde, ist eine hübsche, nehmers Donald Trump sind Menschen Samir in einer Kirchenbibliothek im New rundliche Frau mit mandelförmigen Au- wie Levis, die vor der Gewalt und der Ar- Yorker Stadtteil Brooklyn Heights auf ei- gen. Sie versucht, Worte für etwas zu fin- mut in Mittelamerika fliehen, vor allem nem Doppelbett und hören Lieder aus den, das ihr wie ein Albtraum vorkommt. Kriminelle. Drogendealer nennt er sie, Ver- Honduras. Levis singt mit weicher Stimme Immer wieder ringt sie mit den Tränen, gewaltiger oder »bad hombres«. Trump mit, und irgendwann stimmt Samir leise während Samir an ihrer Seite in die Fanta- glaubt, es seien zu viele, und um sie auf- ein. Hohe Bücherwände dämpfen den siewelt eines Handyspiels abtaucht. zuhalten, versprach er seinen Wählern den Klang. Für die ersten Tage, sagte ihr An- Fragt man ihn, wie es ihm geht, blickt Bau einer Grenzmauer. walt, könnten sie hierbleiben. er kurz auf und sagt: »Ich bin aus Stahl.« Die Null-Toleranz-Politik, die Trumps Mitglieder der Gemeinde kochen für sie. Die Sonne schimmert auf den Cafete- Justizminister Jeff Sessions im April aus- Sie haben ihnen den Times Square gezeigt, ria-Tischen der Basilica-Herberge, die von rief, war so etwas wie ein erster, unsicht- und alle paar Minuten steckt jemand sei- der katholischen Kirche im Rio Grande barer Wall; eine Maßnahme zur Abschre- nen Kopf zur Tür herein, um zu fragen, ob

74 DER SPIEGEL Nr. 36 / 1. 9. 2018 Honduranerin Levis, Sohn Samir vor der Skyline von Manhattan: »Einwanderer sind hässlich«

Brief von Levis aus dem Gefängnis: »Meine Seele tut mir weh«

FOTOS: MERIDITH KOHUT / DER SPIEGEL 75 Migranten Levis, Samir in New Yorker Übergangsunterkunft: »Wo im Körper sitzt die Liebe?« ihnen etwas fehle. Thank you, sagt Levis »Samir, wo im Körper sitzt die Liebe?«, Große Mengen des Kokains, das in die dann mit einem verlegenen Lächeln. fragt sie ihn an diesem Morgen auf dem USA gelangt, schleusen die Kartelle durch Ihre Haare hat sie zu einem Knoten auf Bett. Als er zögert, nimmt sie seine Hände Honduras. Jugendbanden treiben Schutz- dem Kopf gebunden. Sie trägt einen und tippt damit so lange auf sein Herz, bis gelder ein und rekrutieren für ihre mörde- schwarzen Pullover mit der goldenen Auf- Samir endlich lacht. rischen Zwecke Kinder, die oft nur wenig schrift »Blessed«. An Samirs Füßen blin- Es brauche Zeit, bis er wieder Vertrauen älter sind als Samir. ken neue Batman-Turnschuhe. Es sind fasse, sagt ihr die vor Energie sprühende El Porvenir ist ein schwüles Nest am Tage, in denen sie ein freundlicheres Ame- Hebamme Catalina, die mit ihnen am Fuße einer regenwaldbedeckten Hügelket- rika kennenlernen, aber eigentlich beginnt Nachmittag über die gefegten Bürgersteige te. Die zweistündige Fahrt von der Haupt- der Albtraum erst. des Viertels spaziert. Sie laufen an Woh- stadt Tegucigalpa führt durch eine dünn »Samir hat sich verändert«, sagt Levis, nungen vorbei, die wegen ihres Blicks auf besiedelte Ebene, in der Bananen wachsen als er kurz aus dem Zimmer ist. Manhattan ein Vermögen kosten. Manch- und vereinzelt Rinder weiden. Vor den Als sie in der ersten Nacht versuchte, mal, wenn Samir auf einem Spielplatz ein Tankstellen und Restaurants entlang der ihn vorsichtig an sich heranzuziehen, dreh- Gerüst hochklettert, setzen sie sich auf Strecke stehen Männer mit Kalaschnikows. te er sich weg. Erst als der Morgen däm- eine Bank. Es ist ein Leben, von dem Levis Lilian Andino Maradiaga, Levis’ Mutter, merte, legte Samir wie früher seine kleine immer geträumt hat. Am Ufer des East ist eine warmherzige Frau in den Fünfzi- Hand an ihre Wange. Als er am nächsten River deutet Catalina auf die Freiheits- gern. Um ihr Handgelenk trägt sie ein Morgen erstmals mit ihr sprach, zählte er statue, die draußen auf dem Wasser ihre Armband, in das der Name ihrer einzigen die englischen Vokabeln auf, die er im Fackel hebt. Tochter eingestickt ist. Seit Wochen habe Heim gelernt hatte: Orange. Apple. Cher- »Schaut«, sagt sie. »Sie will sagen, dass sie nicht mit Levis gesprochen, sagt Lilian, ry. Augenblicke später warf er mit Spiel- Einwanderer wie ihr willkommen sind.« als sie in der Küche ihres Hauses das Essen zeugautos um sich. »Einwanderer sind hässlich«, sagt Samir für ihre beiden Enkel zubereitet. Levis Am nächsten Abend vor dem Einschla- und kneift die Augen zu. Es klingt, als habe sitzt an diesem Julimorgen noch in Haft. fen versuchte er, sie zu beißen. »Ich hasse er diese Worte zuletzt häufiger gehört. Luz, ihre dreijährige Tochter, jagt im dich!«, schrie er. »Ich will dich töten!« Der Kontrast zwischen Brooklyn Hof ein paar Hühnern nach. Jarends, der Seine Stimmung schwanke oft, sagt Le- Heights und ihrer Heimat könnte kaum bald neun wird, döst im Schatten eines vis. Er sei rauer als früher, wilder, aber sie härter sein. Honduras ist das zweitärmste Mangobaums in einer Hängematte. vermeidet es, mit ihm zu schimpfen. Sie Land Mittelamerikas. Es ist einer jener un- Ihre Oma nennen sie jetzt Mami. fragt ihn nicht, was er erlebt hat, auch aus gemütlichen Flecken, die Trump im Januar Abends liegt Lilian mit Luz im Bett und Angst davor, was er erzählen würde. als »shithole countries« bezeichnete. spricht Gebete für ihre »Mami Levis«.

76 DER SPIEGEL Nr. 36 / 1. 9. 2018 Ausland

Dann beugt sie sich mit Jarends in einem konnte. Beim Bau des Trump Tower in Unter Obama war es üblich, dass Familien feuchten Zimmer über dessen Hausaufga- Manhattan beschäftigte er 200 Arbeiter nach einer kurzen Zeit gemein samer Haft ben. Lilian unterrichtet an der einzigen aus Polen, die keine Papiere hatten. Auf in Freiheit auf ihr Asylverfahren warteten Grundschule in El Porvenir. Auch Levis, der Baustelle eines Luxushotels in Wa- oder direkt abgeschoben wurden. Jetzt sagt sie, wollte Lehrerin werden, am liebs- shington, D.C., waren es Billigmaurer aus aber erkannte man in diesen Strafprozes- ten für Musik. Einige Semester studierte Mittelamerika. Es ist nicht klar, seit wann sen eine Chance, weil das Gesetz dem sie in Tegucigalpa, dann wurde sie schwan- Trump in diesen Menschen eine Gefahr Staat erlaubt, Eltern für die Dauer des Ver- ger, nachdem ein Betrunkener sie nach erkannte, aber im Laufe seines Wahl- fahrens ihre Kinder zu entziehen. einer Party vergewaltigt hatte. kampfs muss er begriffen haben, dass seine El Paso erweist sich als Erfolg. In einem Levis schluckte nun Antidepressiva. Sie Hasstiraden einen Nerv trafen. internen Papier heißt es, dass die illegalen nahm ihr Studium wieder auf, aber dann Neben dem Bau der Mauer verlangte Grenzübertritte infolge der Trennungen kam Samir, nach einer Nacht mit einem er, dass man sich der schätzungsweise elf um 64 Prozent zurückgegangen seien. Fremden, und Jahre später Luz. Levis Millionen Leute, die sich illegal im Land Sie habe von alldem nichts gewusst, sagt brach die Uni ab und blieb in El Porvenir. aufhalten, durch schnelle Massenabschie- Levis, als sie sich auf dem Bett ihrer New Ihr Leben, sagt Lilian, habe in einer Sack- bungen entledige. Dann wurde aus Rhe- Yorker Übergangsunterkunft daran erin- gasse gesteckt. Im Zentrum gibt es zwar torik Politik. Anfang 2017 stoppte Trump nert, wie Agenten der Border Patrol sie ein paar Läden, aber keine Jobs. Die Leute in einer seiner ersten Amtshandlungen die am Morgen des 2. Juni in ein Verhörzim- tuschelten über eine wie sie, die drei Kin- Ausgabe von Reisevisa für Menschen aus mer führen. »Hielera« wird diese Erstauf- der hat, aber keinen Mann. sieben mehrheitlich muslimischen Län- nahme wegen ihrer frostigen Temperatur Eines Abends nahm Levis Lilian beisei- dern. Er verschärfte das Vorgehen der Mi- genannt, Kühlbox. Levis ahnt nicht, dass te und erklärte ihr, dass sie den Kleinen grationspolizei und kassierte ein von Ba- man ihr die Schnürsenkel abnimmt, weil etwas bieten wolle. Lilian verstand sofort, rack Obama erlassenes Schutzprogramm sich kurz zuvor ein Vater aufgehängt hat, worum es ging. Zwei ihrer Söhne leben in Nashville. 2015, kurz nach Luz’ Geburt, war Levis schon mal dort. 18 Monate ar- beitete sie in einer Burger-Bude, von dem Geld, das sie nach Hause schickte, kaufte Lilian ein Kinderbett. Dann wurde sie ab- geschoben. Ein zweites Mal, sagte Levis, geschehe ihr das nicht. Am 1. März packte sie eine Bibel, ihre besten Kleider und ein paar Stofftiere in einen alten Tragekoffer. Sie hoffte, ihre Brüder würden sie noch einmal aufneh- men, auch wenn sie sich damals zerstritten hatten. Sie nahm Samir mit, weil er wäh- rend ihrer Abwesenheit zu sehr gelitten hatte. Als ihr Nachtbus in der Dunkelheit verschwand, blieb Lilian zurück. »Andauernd sah ich auf mein Handy«, sagt sie. »Ich kannte ja die Geschichten. Dass Frauen unterwegs gezwungen wer- den, sich zu prostituieren. Dass die Kar- telle Kinder entführen, um Lösegeld zu er- pressen.« Lilian sitzt jetzt in ihrem Wohn- zimmer. Sie setzt ihre Brille auf und öffnet Flüchtling Samir mit Betreuern in Brooklyn: »Spiderman holte mich da raus« ihren WhatsApp-Chat. Was bei ihr ankam, waren unvollstän- dige Schnipsel einer langen Reise. Städte- für 700000 vor allem aus Lateinamerika dem man die Kinder entzogen hatte. Sie namen aus Guatemala und Mexiko. Fotos, eingewanderte Jugendliche. wundert sich nur über eine Zellentür, auf auf denen Levis und Samir einen Kuss- Es ist nicht leicht auseinanderzuhalten, der die Altersangabe »6– 12 Jahre« steht. mund machen. Die letzte Nachricht kam was Trump nur ankündigt und was kon- Samir sitzt auf ihrem Schoß und weint. am 1. Juni: Mamita, schrieb Levis. Ich geh krete Folgen hat. Die Idee, die Karawane »Wir haben es geschafft«, sagt sie mit zum Fluss. Ich antworte nicht mehr. durch die Trennung von Familien aufzu- ruhiger Stimme. »Bald sind wir frei.« Levis und Samir waren nun Teil einer halten, waberte zum ersten Mal im März Grenzschützer haben sie tags zuvor auf- großen Karawane. Zehntausende Hondu- 2017 durch die Medien. Trumps damaliger gegriffen, nicht weit von dort, wo ihr Schlep- raner flüchten jedes Jahr in Richtung USA. Heimatschutzminister John Kelly erwähn- per sie abgesetzt hatte. Die Nacht haben 400000, schätzen die Migrationsbehör- te sie auf CNN. Dann verschwand die Sa- sie in einem Eisenkäfig verbracht, einge- den, leben derzeit illegal im Land. Um che wieder. Tatsächlich aber begann in der hüllt in Aludecken. Levis ist erschöpft, die nicht aufzufallen, halten sich die meisten texanischen Stadt El Paso ein Geheimpro- Fragen rauschen an ihr vorbei. streng an die Gesetze. Sie arbeiten auf Bau- jekt, das wie eine Art Blaupause für die Wie alt bist du? stellen wie Levis’ Brüder, sie pflegen alte spätere Null-Toleranz-Politik wirkt. Wo kommst du her? Menschen, Kinder oder Gärten. Sie sorgen Alle Einwanderer, die zwischen Juli und Plötzlich kommt ein Aufseher herein dafür, dass der Lebensstil der überwiegend November in der Gegend um El Paso il- und packt Samir am Arm. Der Junge krallt weißen Mittelschicht erschwinglich bleibt. legal die Grenze überquerten, wurden sich an Levis’ T-Shirt. Es gab eine Zeit, in der auch Donald nun strafrechtlich verfolgt. Früher sah man »Ma’am«, sagt der Mann. »Ihr Sohn Trump diesen Leuten etwas abgewinnen über dieses Bagatelldelikt häufig hinweg. muss jetzt gebadet werden.«

77 Ausland

Levis versucht, ihn abzuwimmeln. sie Tage später hört, dass Samir in einem Kinder gaben, war eine sogenannte Alien- »Das mach ich später selbst«, sagt sie. Heim sei, sagt die Stimme: »Ich bin nicht nummer, mit der sie nach ihrer Einreise »Ma’am«, drängt er. »Sie können nicht befugt, Ihnen die Information zu geben, erfasst worden waren. in ein Bad, wo andere Jungen duschen.« in welcher Stadt er sich befindet.« De Anda fand Kinder in Texas. Er fand Dann, so erzählt Levis, habe er ihr Es gibt kein Internet im Gefängnis, und sie in New Jersey und New York. Samir Samir vom Schoß gerissen. Samir habe ge- wenn auf den Fernsehern die Nachrichten fand er in Phoenix. Als es ihm zu viel wur- schrien wie noch nie. beginnen, zappt eine unsichtbare Hand in de, twitterte er einen Aufruf, der ihn in »Der Kleine ist verwöhnt«, zischt der eine Telenovela. Levis ist ohne Kontakt eine neue Umlaufbahn katapultierte. Wächter. »Er hat Mamitis.« zur Außenwelt. In ihrer Zelle ist es so kalt, De Anda ist jetzt 62. Die längste Zeit Levis’ Blick verliert sich in den Bücher- dass sie die Ritzen der Klimaanlage mit seiner Karriere war er ein kleiner Grenz- wänden. »Alles ging so schnell«, sagt Le- Papierfetzen zustopft. Wenn sie nachts zu- stadtanwalt, der sich vor allem um seine vis. »Ich konnte mich nicht mal verab- sammenbricht, dann lachen die Wärter, sie Ranch kümmerte. Jetzt aber hatte er plötz- schieden.« heule wie eine Kojotin. lich Michael Avenatti an der Strippe, der Dass Absicht dahintersteckt, ahnt Levis, Sie fragt sich, ob es richtig war, Samir ihn fragte, ob er einen Partner brauche. als sie drei Tage später mit einer Eisenket- mit dem Versprechen von immer neuen, »Wooow!«, sagt de Anda. te an den Füßen in einem dieser Massen- tollen Erlebnissen von Stadt zu Stadt zu Der Anwalt Avenatti ist eine große strafverfahren sitzt, die nun täglich ent- locken. Ihm vorzumachen, dass das Mi- Nummer in den USA, seit er die Porno- lang der Grenze stattfinden. Dutzende grationsgefängnis, in dem sie in Mexiko darstellerin Stormy Daniels bei einer Kla- Migranten, die im abgedunkelten Ge- gelandet waren, eigentlich ein Hotel sei. ge gegen Donald Trump vertritt. Mehr als richtssaal der Stadt McAllen einem Rich- Was mutet sie ihm zu? eine halbe Million Menschen folgen ihm ter vorgeführt werden, erheben sich und »Als ich Levis zum ersten Mal gegen- auf Twitter, wo er einen aggressiven Pri- schildern ihre Dramen. Eine Mutter ist da- übersaß«, sagt der Anwalt Ricardo de vatfeldzug gegen den Präsidenten führt. Möglich, dass Avenatti in den Familien- trennungen vor allem frische Munition sah, aber de Anda kam sein Angebot gelegen. Als sie Levis am nächsten Tag besuch- ten, schoben sie ein Blatt Papier durch den Schlitz unter der Scheibe und baten sie, einen Brief an Samir zu verfassen. Levis setzte sich auf den Boden und schrieb.

Samir, Liebe meines Lebens, ich hoffe, es geht Dir gut. Es tut mir leid, was geschehen ist. Meine Seele tut mir weh, aber ich möchte, dass Du weißt, dass ich Dich nicht verlassen habe. Ich weiß, dass Du leidest, aber bald werden wir wieder gemeinsam singen und beten. Wenn wir hier rauskommen, dann gehen wir in den Zoo, so wie ich es versprochen habe. Das wolltest Du doch immer, die Tiere sehen, die Delfine und Fische, die Pinguine, auch wenn Du immer gesagt hast, dass Du Angst hättest, dass sie Dich fressen. Oh, und die

KATRIN KUNTZ / DER SPIEGEL KUNTZ KATRIN Spiderman-Spielzeuge, die ich Dir verspro- Anwalt de Anda in Texas: Eine Aliennummer, um Kinder zu finden chen habe, wirst Du auch bald haben. Du bist mein Prinz, mein Krieger. Ich liebe Dich.« runter, der man beim Stillen ihren Säug- Anda, »getrennt durch eine Glasscheibe, ling genommen hat. Ein Vater, der seinen einen Telefonhörer in der Hand, brach mir Zwei Tage später flogen de Anda und behinderten Sohn vermisste, als er von das Herz. Ich konnte nicht anders, als ihr Avenatti nach Phoenix. der Toilette zurückkam. zu versprechen, Samir zu finden.« »Als wir Samir erklärten, dass wir einen »Sie fürchteten, dass wir uns wehren«, An einem Morgen im Juni sitzt de Anda Brief von seiner Mutter hätten«, sagt de sagt Levis. mit Cowboyhut und Nadelstreifenanzug Anda, »glaubte er uns nicht. Ich versicher- Dann wird sie in eine andere Haftanstalt in seiner Kanzlei im Zentrum von Laredo. te ihm, dass Levis ihn liebe, aber er be- gebracht, die 270 Kilometer weiter nörd- Unter dem Fenster steht ein mit Kuhfell harrte darauf: Stimmt nicht. Erst als er den lich im dornigen Hinterland der Stadt überzogenes Sofa. An den Wänden hän- Bus sah, den sie an den Rand gekritzelt Laredo liegt. Ihre Hoffnung ruht nun auf gen Fotos von Che Guevara und Abraham hatte, taute er auf. Am Ende baten wir einem Flyer, den ihr ein Pflichtverteidiger Lincoln. Auf Twitter bezeichnet de Anda Samir, etwas zu malen. Er zeichnete eine zum Abschied in die Hand gedrückt hat. sich selbst als Feind der weißen Rechten. Frau mit Muskeln und einem Schwert, das »Wählen Sie 699, wenn Sie mehr über Aufgeschreckt von den Berichten über drei Strichmännchen beschützen sollte, die Ihr Kind erfahren wollen.« Massenstrafverfahren wie in McAllen, hat- ihn und seine Geschwister darstellen. Als Levis’ Anrufe laufen ins Leere. Die Lei- te de Anda eine Visitenkarte an der Ge- ich Levis diese Zeichnung später zeigte, tungen sind überlastet, und wenn sie ein- fängnispforte hinterlassen. Levis war eine brach sie auf eine Art zusammen, dass mal durchkommt, erklärt ihr eine leicht der Ersten, die sich bei ihm meldeten. Dut- man nicht weiß, was man tun soll.« genervte Stimme, dass es dauern könne, zende Frauen folgten, und der einzige An- Das Heim in Phoenix ist ein mit roten bis das System ihren Sohn lokalisiere. Als haltspunkt, den sie ihm zur Suche ihrer Backsteinen verklinkerter Flachbau. Ne-

78 DER SPIEGEL Nr. 36 / 1. 9. 2018 Großmutter Lilian, Enkel Jarends im honduranischen El Porvenir: Leben in einer Sackgasse ben dem Eingang hängt ein Welcome- Es ist nicht klar, ob Samir Ähnliches wi- Psychologen für Samir zu suchen. Solange Schild. Überwachungskameras und hohe derfährt. Sicher ist nur, dass er in der ersten er sich nicht öffnet, bleibt das, was er er- Zäune sorgen dafür, dass die 128 Kinder, Woche unablässig weint. Immer wieder lebt hat, ein schwarzes Loch, in das nur die hier leben, das Gelände nicht verlassen. brüllt er, dass er an diesem Ort nicht bleiben selten etwas Licht fällt. Phoenix ist einer von 27 Standorten wolle. Wenn er um sich tritt, fixiert man ihm Einmal, als er in die Bibliothek kommt, in den USA, an denen die Organisation die Hände vor der Brust. Es sind Dinge, die trägt er einen Hut und einen großen Man- Southwest Key Programs derartige Häuser de Anda von Samirs Fallmanager erfährt. tel, die er in einem Schrank gefunden hat. betreibt. De Anda sagt, sie säßen auf einer Wenn dieser Mann von Samir spricht, nennt Sein Oberkörper beugt sich über einen Goldmine. Für das Geschäftsjahr 2018 hat er ihn bei dessen zweitem Vornamen, Lloyd, Gehstock. Dass es mehr ist als ein Spiel, die Regierung Trumps mit Southwest Key als ginge es darum, seine Identität zu löschen. erzählt er später, beim Legobauen. Verträge im Wert von 458 Millionen Dol- Nach 22 Tagen erreicht de Anda, dass »Wir haben im Heim eine Familie ge- lar geschlossen. Um Platz zu schaffen für Levis und Samir erstmals telefonieren dür- gründet«, sagt Samir. »Es gab Mütter, immer neue Kinder, kauften sie im ganzen fen. Levis erinnert sich mit einem Schau- Väter, Tanten, Onkel. Die anderen Kinder Land Billigimmobilien. dern an dieses Gespräch. nannten mich ›abuelito‹, Großväterchen, Die Kinder, um die sich Fallmanager, So- »Samir, bist du okay?« weil ich auf die Kleineren aufgepasst habe. zialarbeiter und Psychologen kümmern, »Ja.« Mir ist sogar ein grauer Bart gewachsen, haben sechs Stunden Schule pro Tag. In »Was machst du?« aber den habe ich mir wieder abrasiert.« ihrer Freizeit können sie fernsehen oder »Nichts.« Wenn Samir jetzt etwas falsch macht Basketbälle auf einen Korb werfen. »Hör zu, mein Schatz. Das ist alles nicht oder vergisst, sagt er: »Ich bin eben alt.« Ehemalige Mitarbeiter von Southwest meine Schuld …« Die Rolle des Großvaters ist seine Über - Key, die ihren Job nicht mehr mit ihrem Dann taucht Samir in sein langes lebensstrategie, ähnlich wie das Fantasie- Gewissen vereinbaren konnten, berichten, Schweigen ab. Bei Levis’ nächstem Anruf spiel, das er sich ausgedacht hat und in dass sie weinende Kinder nicht in den Arm hält er sich die Ohren zu. Dann rennt er dessen Welt er Stunden verbringt. nehmen durften. Im Juni kommt heraus, aus dem Zimmer. Einmal, als Levis’ Mutter Samir ist dann ein Spion, der mit einer dass verhaltensauffällige Kinder in Texas anruft, lässt er sich verleugnen. Lupe durch das Viertel läuft und seine mit Medikamenten ruhiggestellt wurden. »Wissen Sie«, erklärt Lilian, eine nette Umwelt auf verdächtige Personen scannt. Ein zehnjähriger Junge aus Brasilien sagte Frauenstimme, »wenn die Kinder erst mal Seine Gegner, sagt er, seien allmächtige der »Washington Post«, dass ein fünfjäh- hier sind, verändern sie sich.« »Meeres agenten«, die grüne oder blaue riger Heimgenosse aus Guatemala mehr- Mitglieder der Gemeinde in Brooklyn Kleidung trügen, wie die Menschen, die mals täglich »geimpft« worden sei. Heights haben Levis versprochen, einen in den vergangenen Wochen über ihn

79 Ausland bestimmt haben. Überall haben Obwohl für Samir noch keine diese Agenten Videokameras auf- Flug genehmigung vorliegt, wird Le- gehängt, in den Bäumen vor dem vis am Morgen des 17. Juli offiziell Haus oder in den Lampen der Bi- entlassen. Sie gibt ihre Uniform ab bliothek. Sie entführen Mütter und und wandert nun vom Alpha- in ihre Kinder und ziehen sie tief den Bravo-Trakt. Weil ihre Häft- hinab zum Meeresgrund. lings-ID gelöscht wird, kann sie »Einmal«, sagt Samir, »als sie nicht mehr telefonieren. De Anda mich da unten angekettet hatten, wird nicht zu ihr durchgelassen, da kam zum Glück Spiderman vorbei sie im System schon ausgecheckt und holte mich raus.« ist. Zehn Tage lang bleibt Levis in Mitte Juni postet der Anwalt Mi- diesem Zwischenraum, an dem es chael Avenatti Levis’ Brief auf Twit- ihr so vorkommt, als existierte sie ter. 35000-mal wird er gelikt. Levis für die Welt nicht mehr. Stunden bekommt davon nichts mit, aber nachdem die offizielle Frist zur sie ist jetzt ein Symbol für ein tief Wiedervereinigung verstrichen ist, gespaltenes Land. tritt die Wärterin nachts an ihr Bett. »Amerika muss wieder Amerika Rund 40000 Menschen haben werden«, sagt Avenatti auf CNN. die Agenten der Border Patrol von Die Zeitungen schrieben von ei- März bis Mai jeden Monat am Rio ner beispiellosen humanitären Kri- Grande festgenommen. Dann gin- se und bebilderten dies mit Fotos, gen die Zahlen leicht zurück. auf denen man Kinder in Maschen- Schwer zu sagen, was die Men- drahtkäfigen sah. Menschenrecht- schen abgeschreckt hat. Ob es die ler berichteten von Teenagern, die Familientrennungen waren, die te- Kleinkindern die Windeln wechsel- xanische Hitze oder ein ganz allge- ten. Auf einer Tonaufnahme hörte mein raueres Klima in den USA. man Töchter und Söhne verzwei- Auch ohne Trumps Null-Tole- felt nach ihren Eltern wimmern. ranz-Politik gab es im Geschäfts- Es waren Dinge, die die Ameri- jahr 2017 so wenig illegale Einrei- kaner aufwühlten. Was für ein sen wie seit über vierzig Jahren Land wollen wir künftig sein, frag- nicht. Die Frage ist also, was der ten sie sich. Wie viel Herz können Levis’ Mutter mit den zwei anderen Kindern in Honduras Preis dieses Manövers ist. Wie tief wir uns leisten in einer Zeit, in der Ihre Oma nennen sie jetzt Mami gräbt es sich in das Selbstbild einer Millionen weltweit auf dem Weg Gesellschaft, wenn sie Tausende sind und der Ruf nach Abschottung immer glichen. Etwa tausend Eltern, glauben die Kinder für ihr Leben traumatisiert? Wie lauter wird? Behörden Ende Juli, seien für eine Wie - sehr zersetzt es eine Demokratie, wenn Als aufgebrachte Bürger vor den Hei- dervereinigung »nicht geeignet«. In einem die regierende Elite eine große Minderheit men protestieren, sagt Trump, sie würden Fall, heißt es, leide die Mutter an einer an- im eigenen Land pauschal kriminalisiert? einem medialen Märchen aufsitzen. Nur steckenden Krankheit. Gegen viele Eltern Was bedeutet es, wenn ausgerechnet Ame- Tage später beendet er die Trennungen per laufen Strafverfahren. Dutzende sind nicht rika auf diese Art verroht? Dekret. Auch ihm gefalle der Anblick die- mehr auffindbar, weil man bei ihrer Ent - In diesen Tagen sitzen Vierjährige allein ser Familien nicht, sagt Trump mit einem lassung vergessen hat, eine Kontaktnummer vor Asylrichtern, die ihre Abschiebung bemühten Lächeln. zu notieren. verhandeln. Im August fliegen die Anwälte Kein Wort dazu, wie es weitergehen soll Immer wieder werden Kinder wie falsch de Anda und Avenatti nach Guatemala, mit Menschen wie Levis und Samir. adressierte FedEx-Pakete zu Gefängnissen um einer abgeschobenen Mutter persön- Als sich Trump einem Treffen mit Wla- lich ihren Sohn zurückzubringen. Trump dimir Putin zuwendet, verfügt eine Rich - sei ein »bad hombre«, sagt Levis’ Mutter terin in San Diego, dass Eltern innerhalb von Ein Durcheinander, Lilian. Sie hofft, dass ihre Tochter bald zehn Tagen mit ihren Kindern telefonie ren das viele in einem Land nach Hause kommt. Jarends, Levis’ ältes- dürfen. Dann ordnet sie an, alle Familien bis ter Sohn, fragt häufig nach Samir, mit dem zum 26. Juli wieder zu vereinen. Was nun wie den USA nicht für er sich einst auf ein Schiff träumte, auf ausbricht, ist ein Durcheinander, das viele in möglich gehalten haben. dem sie mächtige Piraten waren. einem Land wie den USA nicht für möglich Levis wohnt inzwischen um die Ecke in gehalten haben. Die Behörden hatten einen einem neuen Haus der Kirche, in dem es Plan, wie man Familien trennt. Eine Strate- geschickt, obwohl ihre Eltern längst außer ein richtiges Badezimmer gibt. Sie hat be- gie, wie man sie wieder vereinigt, gab es nie. Landes sind. Viele von ihnen wurden in der gonnen, Englisch zu lernen. Samir soll ab Während sich die Eltern in der Obhut Haft dazu gedrängt, in ihre Abschiebung ein- September in die Schule gehen. Es sind des Heimatschutzministeriums befinden, zuwilligen. Dies, so erklärte man ihnen, sei die ersten Schritte in ihr neues Leben, aber kümmert sich eine Abteilung des Gesund- der schnellste Weg, ihr Kind wiederzusehen. niemand weiß, wie lange es dauern wird. heitsministeriums um die Kinder. Die Da- Levis sagt, sie habe sich geweigert. Anfang Juni hatte Trumps Justizminis- tenbanken der Ministerien aber sind nicht Am 3. Juli wird sie aus Laredo ins Port- ter erklärt, dass Bandenkriminalität und vernetzt. Mitarbeiter von NGOs verfassen Isabel-Gefängnis verlegt. Während ihrer häusliche Gewalt in Ländern wie Hondu- in Nachtarbeit Listen, auf denen sie selbst Hofgänge riecht sie die salzige Luft des ras keine Asylgründe seien. Das Land, von recherchierte Namen zusammenpuzzeln. Meeres. Als sie einem Psychologen sagt, dem Levis immer geträumt hat, wird sie Biografien werden durchleuchtet, Ge- dass sie am liebsten eine Tür eintreten wür- und Samir wohl bald abschieben. burtsurkunden verifiziert, DNA-Proben ver- de, droht er ihr mit Einzelhaft.

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abo.spiegel.de/rockt 040 3007-2700 (Aktionsnummer: SP18-062-WT127) Ausland »Wir erleben einen Epochenbruch«

SPIEGEL-Gespräch Der frühere deutsche Botschafter in den USA, Wolfgang Ischinger, hält die weltpolitische Lage für die gefährlichste seit dem Ende der Sowjetunion.

Ischinger, 72, hat 40 Jahre Erfahrung als scheint die gesamte liberale Weltordnung nicht mehr bereit sind? Das Verhältnis etwa Diplomat im Auswärtigen Amt, in Wa- in Gefahr zu sein. zwischen Russland und dem Westen ist shington und London und spricht als Leiter SPIEGEL: Warum geschehen diese Verwer- schwer belastet. In dieser neuen Welt sind der Münchner Sicherheitskonferenz regel- fungen in der Weltpolitik gerade jetzt? Voraussagen über das, was als Nächstes ge- mäßig mit internationalen Politikern und Ischinger: Es gibt viele Gründe. Amerikas schehen wird, viel schwieriger geworden. Staatschefs. Nun hat er ein neues Buch ge- unipolare Hegemonie nach 1990 neigt sich Verunsicherung und Unsicherheit bestim- schrieben, das keine gute Laune macht: dem Ende zu, dafür steigt China auf. Das men die aktuelle weltpolitische Lage. »Welt in Gefahr: Deutschland und Europa wirft die Frage auf: Wer garantiert die bis- SPIEGEL: Zerstört Trump den Westen mit in unsicheren Zeiten« (Ullstein; 304 Seiten; herige Weltordnung, wenn die USA dazu seinen Worten? 24 Euro). Ischinger beschreibt eine Welt, in der Deutschland nach einer Rolle sucht.

SPIEGEL: Herr Ischinger, gab es einen Mo- ment, in dem Ihnen klar wurde, dass die alte Weltordnung ins Rutschen gerät? Ischinger: Absolut, das war ein Jahr bevor ich den Vorsitz der Münchner Sicherheits- konferenz übernahm, im Februar 2007. Da hat Wladimir Putin in München ge- sprochen, und er stellte in einem sehr ag- gressiven Ton den Führungsanspruch der USA infrage. Es war ein Aufbäumen. Ich saß im Publikum, hinter mir sagte ein Jour- nalist laut: Das hier verändert gerade die Welt. Es war eine Zäsur, der Beginn von etwas Neuem. SPIEGEL: War Ihnen das damals schon klar? Ischinger: Wir haben das nicht ernst genug genommen. Ich nehme mich nicht aus. Wir haben versucht, den Krieg in Georgien 2008 zu ignorieren, wir haben bis in den März 2014 eine gewisse Realitätsverwei- gerung betrieben, bis zur Annexion der Krim, bis es nicht mehr anders ging. SPIEGEL: »Welt in Gefahr« lautet der Titel Ihres Buchs. Wie schlimm ist die Lage? Ischinger: Wir erleben einen Epochen- bruch. Seit dem Zerfall der Sowjetunion war die Lage nie gefährlicher als heute. Vor allem, weil gegenseitiges Vertrauen verschwunden ist. Wir sehen erst in An- sätzen, wie das neue weltpolitische Zeit- alter aussehen wird. Da ist die neue Rolle Russlands, das Ausgreifen Chinas, welt- weit schwere Konflikte wie der Krieg in Sy- rien, dessen Auswirkungen wir in Europa besonders spüren. Ein einst verlässlicher Partner wie die Türkei wankt, sogar inner- halb der EU spüren wir erhebliche Insta- bilität. Aber kein Politiker hat die Welt so verunsichert wie Donald Trump. Seit er WEISS / DER SPIEGEL MAURICE im Januar 2017 sein Amt angetreten hat, Diplomat Ischinger: »Deutschland macht oft nur das Nötigste. So kann man nicht führen«

82 Ischinger: Wenn in der Außenpolitik nur die Taten zählen würden, wäre ich beru- higt. Denn die USA tun für die Nato nach wie vor mehr als wir anderen alle zusam- men. Leider zählt aber nicht nur das, was ist, sondern auch, was gesagt wird. Trumps Worte wirken auf den Zusammenhalt des Westens wie Gift. Der Westen braucht ein Symbol, das ist uns mit Trump abhanden- gekommen. Und weil wir Deutsche in den vergangenen 70 Jahren nach einem langen Weg im Westen angekommen sind, ist das für uns ein besonders dramatischer Verlust, fast ein Identitätsverlust – gravierender als für die Franzosen oder Briten. SPIEGEL: Können wir nicht einfach die Zeit nach Trump abwarten? Ischinger: Die Narbe, die da entsteht, wird schwer zu heilen sein. Ganz so, wie

es war, wird es nicht wieder werden. / REUTERS OMAR SANADIKI SPIEGEL: Weil? Damaskus-Viertel Jarmuk: »Was haben wir getan, um diesen Konflikt einzudämmen?« Ischinger: Trump ist ja nicht an allem schuld. Bereits Barack Obama war nicht mehr bereit, immer für alles zu sorgen. genug. Seit Konrad Adenauer gibt es zwei permanenter Wandel bevorsteht. Man Deutschland konnte seine Sicherheit jahr- Grundpfeiler in der deutschen Politik: das kann den Deutschen aber auch nicht zehntelang outsourcen. Dieses relativ har- europäische Projekt und die transatlanti- dauerhaft nur Schlaftabletten verabrei- monische Verhältnis zwischen der Super- sche Bindung, EU und Nato. Wir müssen chen. In der Sicherheitspolitik haben wir macht und den sich freiwillig unterstellen- dringend mehr in diese beiden Pfeiler in- einen Reformzwang. Wir brauchen Ent- den europäischen Partnern geht zu Ende vestieren. Die EU wird mehr kosten, wenn scheidungen, wir müssen uns europäische und wird so nicht wiederkommen. Es ist wir von ihr erwarten, dass sie die Außen- außenpolitische Ziele setzen. Da sehe ich ja auch nicht schlecht, dass bei uns ein grenzen schützt. Und wenn wir die Nato in den letzten Jahren wenig Mut. Emanzipationsprozess eingesetzt hat. erhalten wollen, dann ist es falsch, wenn SPIEGEL: Glauben Sie wirklich, dass man Trump zwingt uns, erwachsen zu werden. wir mit gentlemanartiger Nonchalance so die Deutschen überzeugen kann, militä- SPIEGEL: Spüren Sie die Sorge über das, tun, als wäre das Zwei-Prozent-Ziel von risch wieder zu einer Größe zu werden? was da passiert, in Ihren Gesprächen mit uns nie mit beschlossen worden. Wir ha- Ischinger: Es geht doch nicht um deutsche Staats- und Regierungschefs? ben eine Vorbildfunktion. Wir sind nun Größe, sondern um die Frage, ob und wie Ischinger: Ja, die Sorgen und die Verunsi- mal die Größten, Dicksten und Wohlha- wir europäische Interessen durchsetzen cherung haben zugenommen. Es war bendsten unter den Europäern. Die stra- können. Wir müssen die Lehre aus dem schlimm genug, dass wir nach der Krim- tegischen Herausforderungen, die wir im Syrienkonflikt ziehen. Die Aufnahme der Annexion feststellen mussten: Die Vorstel- Augenblick haben, sind so groß, dass es Flüchtlinge kostet uns viele Milliarden lung, dass alle territorialen Fragen in Europa falsch ist, die schwarze Null zum göttlichen Euro und verändert die politische Land- endgültig geregelt seien, stimmt so nicht Ziel zu erklären, hinter dem alles andere schaft nachhaltig – und leider nicht positiv. mehr. Auch andere sicherheitspolitische zurückstehen muss. Was haben wir eigentlich getan, um diesen Gewissheiten sind uns abhandengekom- SPIEGEL: Viele Politiker fordern, Deutsch- Konflikt einzudämmen, als er noch be- men. Das fängt mit den Dingen an, mit de- land müsse mehr Verantwortung in der herrschbar gewesen wäre? Was haben wir nen ich groß geworden bin, wie dem Arti- Welt übernehmen, mehr Geld für Vertei- getan, als die ersten Flüchtlinge in großer kel 5 der Nato, der Beistand für die Bünd- digung ausgeben. Aber die Deutschen sind Zahl in Italien ankamen? Nicht viel! Die nispartner garantiert. überzeugte weltpolitische Abstinenzler. Bundesregierung hat damals weggeschaut, SPIEGEL: Ist Deutschland auf diese neue Ischinger: Da bin ich nicht Ihrer Meinung. hat vor allem alles getan, um nicht hinein- Lage ausreichend vorbereitet? Es gab neulich eine Umfrage von Allens- gezogen zu werden. Diesen Vorwurf kann Ischinger: Nein. Der so beliebte Satz: bach. Aus der ging hervor, dass die Forde- man ihr nicht ersparen: Die Zeche zahlen »Deutschland ist nur noch von Freunden rung nach mehr Verteidigungsausgaben wir jetzt, indem wir diesem Drama hilflos umgeben« hat, wie wir jetzt feststellen, fa- mehr Deutschen plausibel erscheint, als gegenüberstehen. tale Wirkungen gehabt. Ja, alle unsere wir eigentlich gedacht haben. Die Stim- SPIEGEL: Was hätten wir tun sollen? Nachbarn, abgesehen von der Schweiz, mung in der Bevölkerung ist nicht so, dass Ischinger: Die EU hat ja noch nicht einmal sind jetzt in der EU oder der Nato. Wir die Regierung dafür bestraft würde, wenn den Mut gehabt, eine Friedensinitiative zu haben das als Freikarte ins Paradies inter- sie mehr tut, um Deutschland zu schützen starten. Wir haben das wie im Kalten Krieg pretiert und unterschätzt, dass die Ränder und Partnerschaftsverpflichtungen zu er- Amerika und Russland überlassen. Wieso und Nachbarn der Europäischen Union – füllen. Man muss allerdings überzeugend haben 500 Millionen Europäer nicht den Osteuropa, der Balkan, Nordafrika – kei- erklären, warum das in unserem Interesse Mumm zu sagen, wir laden die Kontrahen- neswegs dasselbe Gefühl des dauerhaften ist, und dass wir es nicht etwa tun, weil ten ein? Weil wir uneins waren, und weil Friedens hatten wie wir. Trump es uns sagt. wir als EU militärisch nichts darstellen. SPIEGEL: Aber haben die Deutschen ver- SPIEGEL: Daran scheint allerdings nie- SPIEGEL: Muss man militärisch stark sein, standen, dass sich in dieser neuen Welt mand ein Interesse zu haben. um Friedenskonferenzen zu organisieren? nun auch ihre Rolle ändern muss? Ischinger: Wenn man Wahlen gewinnen Ischinger: Krisendiplomatie lässt sich er- Ischinger: Es ist vieles richtig, was die will in Deutschland, ist es kein gutes Re- folgreicher durchführen, wenn sie militä- Bundesregierung macht, aber es ist nicht zept, den Deutschen mitzuteilen, dass uns risch unterfüttert ist. Ich plädiere keines-

DER SPIEGEL Nr. 36 / 1. 9. 2018 83 wegs für militärische Interventionen. SPIEGEL: Wir beschäftigen uns so Aber ich habe in 40 Jahren gelernt, viel mit Trump und Russland. Ver- dass Diplomatie, die auf die Fähig- nachlässigen wir nicht das wichtigere keit zum Einsatz militärischer Mittel Thema: China? ganz verzichtet, nichts anderes ist als Ischinger: Natürlich ist China die unglaubwürdige Symbolpolitik. Das große zukünftige Herausforderung. kann sich ein europäischer Klein- Wir dürfen China aber nicht verteu- staat vielleicht leisten, Deutschland feln. Die Frage für uns muss sein: aber nicht. Wie könnte unser Beitrag aussehen, SPIEGEL: Deutschland drückt sich? um sicherzustellen, dass der Aufstieg Ischinger: Wenn das stärkste Land, Chinas ohne militärische Konflikte nämlich Deutschland, sich im Kampf über die Bühne geht? Das ist die gegen den »Islamischen Staat« darauf weltpolitische Aufgabe. Der antike

beschränkt, über Syrien mit Aufklä- WEISS / DER SPIEGEL MAURICE griechische Historiker Thukydides rungsflugzeugen Fotos zu schießen Ischinger, SPIEGEL-Redakteure*: »Wenig Mut« sagte einst, es komme automatisch und es dem Fünf-Millionen-Einwoh- zum Krieg, wenn eine alte Macht ner-Land Dänemark überlässt, ein von einer neuen herausgefordert paar richtige Jets zu schicken, dann stimmt Ischinger: Der entscheidende Punkt ist, werde – zu seiner Zeit waren das Sparta die Welt nicht mehr. Deutschland macht wie wir europäische Verteidigung aus der und Athen. Die Herausforderung für uns halt oft nur das Nötigste. So kann man nicht Kleinstaaterei des 19. Jahrhunderts in das ist es, nicht in diese Falle zu tappen. führen. integrierte Europa des 21. Jahrhunderts SPIEGEL: Erleben wir gerade das Ende der SPIEGEL: Frankreich und Großbritannien transferieren. Muss wirklich jeder Kleinstaat traditionellen Diplomatie? Trump trifft sind in ihrer globalen Rolle geübt. Aber seine Mini-Luftwaffe haben? Wir brauchen Putin und Kim ohne Vorbereitung, Staats- ist Deutschland überhaupt in der Lage, eine europäische Verteidigungsunion, in der chefs balgen sich über Twitter. Weltpolitik zu betreiben? nicht jeder für sich allein werkelt. Wir müs- Ischinger: Diese trumpschen Schnell- Ischinger: Es geht nicht darum, Deutsch- sen dafür auch mehr ausgeben, aber nicht schüsse sind wie Feuerwerksraketen. Das land zu einem weltpolitischen Akteur zu weil das irgendwo steht, sondern weil wir ist alles nicht nachhaltig. Die Nordkore- machen, sondern die EU dahin zu entwi- es im eigenen Interesse tun sollten. Und wir aner denken offenbar nicht daran, ihre nu- ckeln, dass sie die Interessen von mehr als müssen die Mittel intelligenter, nämlich für klearen Aktivitäten aufzugeben. Die klas- 500 Millionen Bürgern entschlossen und gemeinsame Ausbildung, gemeinsame Be- sische Diplomatie hat sich überhaupt nicht glaubwürdig vertreten kann. schaffung, gemeinsame Projekte einsetzen. überlebt. Es ist keine gute Idee, einen SPIEGEL: In Ihrem Buch fordern Sie einen Die EU- Staaten sind durchaus imstande, Trump selbst verhandeln zu lassen. Kluge gestärkten Bundessicherheitsrat, zudem außen politisch und militärisch glaubwürdig Diplomatie macht das anders. Sie schickt ein Gremium zur Koordinierung europä - aufzutreten, wenn sie gemeinsam agieren. einen Diplomaten vor, der etwas aushan- ischer Außen- und Sicherheitspolitik. SPIEGEL: Wie wollen Sie die EU außenpoli - delt, und dann kann der Regierungschef Ischinger: Wir brauchen jetzt, wo uns der tisch handlungsfähig machen? sagen: Ja, das gefällt mir so, das unter- kalte Wind um die Nase weht, ein syste- Ischinger: Wenn wir nicht vom Konsens- schreiben wir, oder wir müssen es nach- matischeres sicherheitspolitisches Entschei- prinzip in der europäischen Außenpolitik bessern. Die Sachverhalte sind so komplex dungsverfahren. Ich habe noch einen Vor- abweichen und endlich auch hier Mehr- geworden, dass es nicht nur klassische Di- schlag: Wir könnten, wie von Volker Rühe heitsentscheidungen einführen, dann wird plomaten, sondern auch Experten braucht. vorgeschlagen, Truppenteile der Bundes- aus der EU nie ein respektierter außenpoli- SPIEGEL: Ist es nicht besser, Trump und wehr, die bestimmten EU- oder Nato-Mis- tischer Akteur. Das beste Beispiel dafür, Putin sprechen miteinander, selbst wenn sionen zugeordnet sind, so behandeln, dass was uns gelingen könnte, ist doch, was EU- nichts vorbereitet ist? der Bundestag nicht zu jedem einzelnen Kommissionspräsident Jean-Claude Jun- Ischinger: Natürlich ist es wichtig, richtig Einsatz vorab seine Zustimmung geben cker neulich in Washington erreicht hat. und in unserem Interesse, dass sie mit - muss. Das Parlament hätte ein Vetorecht Er hat aufgrund der europäischen Verträge einander reden. Noch schöner wäre es, und könnte Einsätze jederzeit stoppen. Es das Sagen in der Handelspolitik, er konnte wenn die trumpschen Gespräche so sorg- wäre kein Abschied vom grundsätzlichen Donald Trump mitteilen: Ich vertrete über fältig vorbereitet wären, dass konkrete Er- Parlamentsvorbehalt, aber ein Signal an 500 Millionen Menschen, wir sind eine gebnisse herauskommen. Das ist bisher ja die Partner, dass wir verlässlichere Partner Handelsmacht, die größer ist als die USA, leider nicht der Fall. sein wollen. und jetzt lass uns einen Deal machen. SPIEGEL: Was sollte die Bundesregierung SPIEGEL: Joschka Fischer hat uns neulich SPIEGEL: Erwarten Sie von Angela Merkel Ihrer Meinung nach gegen Trumps fron - gesagt: »Wenn Sie mich fragen, ob wir uns in diesen Fragen eine Hinterlassenschaft? tale Angriffe auf Deutschland tun? selbst verteidigen können, dann ist meine Ischinger: Sie hat mit Emmanuel Macron Ischinger: Ich würde die Zahl deutscher Antwort: Nein!« einen französischen Partner, der zu gemein- Diplomaten in Washington und in den Ischinger: Das sehe ich genauso. Dass wir samer Arbeit an der Reform der EU aufge- Konsulaten in den USA verdoppeln. Die uns selbst verteidigen, war allerdings auch rufen hat. Wenn wir die Initiative jetzt nicht Mittel für Öffentlichkeitsarbeit in den USA nie vorgesehen. Die Idee war immer, dass ergreifen, ein Europa zu schaffen, das vor sollten, gemeinsam mit den vielen deut- wir uns kollektiv verteidigen, im Rahmen inneren und äußeren Bedrohungen schützt, schen Firmen dort, massiv hochgefahren der Nato oder der EU. In diese Systeme dann haben wir eine riesige Chance ver- werden. Der Trump-Wähler in Kansas müssen wir aber auch investieren, es geht passt. Die kommt so schnell nicht wieder. oder Idaho hört sonst viel zu selten positi- nicht um die zwei Prozent. Die Frage ist: Macron ist kein Allheilmittel, aber ich sehe ve Geschichten über die netten und fleißi- Was schuldet Deutschland sich selbst und ihn als große Chance, weil er uns die Mög- gen Deutschen, die so viele Arbeitsplätze seinen Partnern, um uns zu schützen und lichkeit gibt, gemeinsam mutig zu denken. in Amerika geschaffen haben. unseren Verpflichtungen nachzukommen? SPIEGEL: Herr Ischinger, wir danken Ihnen SPIEGEL: Das Zwei-Prozent-Ziel der Nato * Britta Sandberg und Mathieu von Rohr auf dem für dieses Gespräch. ist also doch nicht so wichtig? Balkon von Ischingers Berliner Büro.

84 DER SPIEGEL Nr. 36 / 1. 9. 2018 Ausland Götterdämmerung Analyse Die Debatte über das Versagen des Papstes im Kampf gegen sexuellen Missbrauch verdeckt das Wesentliche – Franziskus weiß nicht, was er will.

ein äußerlich lässt er sich nichts anmerken. Ruhig vergleicht und von »Mord an Kindern, um es bequem zu ha- spricht der Papst am Mittwoch bei der Generalaudi- ben« spricht, dann klatschen jene, die ihn ansonsten kritisch R enz auf dem Petersplatz über den Wert intakter Fa- sehen; auch wenn er davor warnt, homosexuelle Lebens - milien. Und über sexuellen Missbrauch. Auch unter gemeinschaften mit Kindern als »Familie« zu bezeichnen. Katholiken seien derlei Verbrechen vorgekommen, die Kir- Befürwortet er aber die Wiederzulassung Geschiedener zur chenleitung habe »in der Vergangenheit, so wie es aussieht, heiligen Kommunion, schreien die Vertreter der reinen Lehre nicht angemessen« reagiert. In der Vergangenheit: Diese For- Zeter und Mordio. In der Kurie kann Franziskus nur noch mulierung lässt offen, ob damit auch die letzten fünf Jahre begrenzt auf Unterstützung zählen. Wer wie er leitenden gemeint sind – die Zeit, seit er selbst die Weltkirche führt. Mitarbeitern »spirituellen Alzheimer« bescheinigt oder sie »Papst Franziskus sollte mit gutem Beispiel vorangehen«, als »Verräter« geißelt, muss mit Gegenwind rechnen. Als Fehler eingestehen und mit allen, die die Sittlichkeitsver - Bollwerk hat Franziskus langjährige, häufig lateinamerika- brechen des US-Bischofs Theodore nische Vertraute um sich versam- McCarrick vertuschen halfen, »ge- melt – eine Entscheidung, die sich meinsam zurücktreten«. Diese in der vor allem in Fragen des Umgangs mit Vatikangeschichte einmalige Forde- sexuellem Missbrauch als verhäng- rung steht seit Sonntag im Raum. nisvoll erwies. Aufgestellt hat sie der ehemalige Da ist der Fall des Kardinals Oscar Apostolische Nuntius in den USA, Rodríguez Maradiaga aus Honduras, Carlo Maria Viganò. den Franziskus zum Koordinator des Im Vatikan ist schon seit Länge- mächtigen Kardinalsrats ernannt hat. rem nichts mehr, wie es war. Wenn Maradiaga steht nun im Feuer, weil aber, wie nun geschehen, ein ehema- er mit dem des vielfachen Miss- liger Spitzendiplomat des Heiligen brauchs überführten, als liberal gel- Stuhls den Stellvertreter Christi auf tenden Bischof McCarrick bis zuletzt Erden beschuldigt, einen Kinder- den Königsmacher in den US-Bis - schänder im Kardinalsrang gedeckt, tümern gab. Und weil er Seminaris- ja rehabilitiert zu haben, übersteigt ten, die in seinem Heimatland über das den Rahmen des bisher Vorstell- Missbrauch klagten, als »Schwätzer« baren. Dass Viganò danach filmreif verspottet haben soll. abgetaucht ist, bei Nacht und Nebel, Da ist der Fall des von Franziskus passt ins Bild. Er fürchte um sein Le- zum Bischof ernannten Chilenen ben, ließ er zum Abschied verlauten. Juan Barros Madrid, beschuldigt der Franziskus durchlebt die bisher Vertuschung schwerer Vergehen. Der schwerste Krise seines Pontifikats. Die Papst verteidigte ihn noch im Januar Autorität des in seinen Positionen 2018, sprach von »Verleumdung« wankelmütigen, in seinem Auftreten und entschuldigte sich wenig später. redseligen Jesuiten hatte bereits zuvor Barros musste gehen. Kaum vorstell- erheblich gelitten: Im September 2016 bar ist, dass die Umtriebe des ehe-

äußerten vier konservative Kardinäle INETTI / ZUMA PRESS / IMAGO EVANDRO maligen US-Kardinals McCarrick in einem offenen Brief Zweifel an der Papst Franziskus bei Generalaudienz dem Oberhaupt der Katholiken nicht Lehrmeinung des Papstes zum Um- »Verräter« in der Kurie bekannt waren. Seinen Verzicht auf gang mit wiederverheirateten Ge- das päpstliche Apartment im Apos- schiedenen und beschuldigten ihn in- tolischen Palast hatte Franziskus ja direkt der Häresie. Mitte 2017 dann warfen 62 Theologen und 2013 mit dem Hinweis begründet, im Gästehaus Santa Marta Philosophen dem Pontifex vor, Irrlehren zu verbreiten. sei er näher bei den Menschen und besser informiert. Ob Die Vorstellung, hinter der jüngsten Eskalation stecke ein man ihm die Wahrheit erspart oder er die Signale nicht mehr Frontenkrieg zwischen dem Lager der Wertkonservativen hört – ganz so, wie es Kritiker dem Vorgänger Benedikt XVI. und dem franziskustreuen Reformerflügel, ist nicht grund- unterstellt haben? falsch, aber grob vereinfachend. Das Hauptproblem des Ar- »Ich habe das Gefühl, dass mein Pontifikat kurz sein wird, gentiniers Jorge Mario Bergoglio auf dem Stuhl Petri liegt vier oder fünf Jahre«, sagte Franziskus 2015. Diese Zeitspan- darin, dass er mit seinem Zickzackkurs in Fragen der Doktrin ne hat er bereits überschritten. Nun muss er seinen Nachlass dabei ist, sich zusätzlich zum konservativen Lager auch noch ordnen. Von 124 derzeit wahlberechtigten Kardinälen für jenes der Fortschrittlichen zum Feind zu machen. Und sein das nächste Konklave sind bereits 59 von Franziskus selbst urjesuitischer Hang, erst einmal Diskussionen zu befördern, ernannt worden – knapp die Hälfte. Viel fehlt nicht mehr, kreative Unruhe zu stiften, verfehlt zunehmend sein Ziel. dann wird der nächste Papst von Würdenträgern bestimmt, Wenn Franziskus, wie zuletzt im Juni, die Abtreibung von die sich Franziskus und seinem Denken verpflichtet fühlen. Föten bei Verdacht auf Behinderung mit der NS-Euthanasie Vorausgesetzt, sie konnten es entschlüsseln. Walter Mayr

85 Ausland

Roger Cohen In seinen besten Momenten war McCain sehr, sehr gut. Ihm gelangen Dinge, von denen Trump in seiner ahistori- schen Beschränktheit und fehlenden Neugier nicht einmal weiß, dass es sie gibt. So war es unvermeidlich, dass ihre Feindschaft McCains Ableben überdauerte und Trump Der gute wieder eine Gelegenheit verpasste, ein Mindestmaß an Würde zu zeigen. Der Präsident twitterte Zeilen des Mit- gefühls für McCains Familie, verweigerte sich aber den Republikaner wiederholten Bitten seiner leitenden Mitarbeiter, unter ihnen Vizepräsident Mike Pence und Stabschef John Kelly, er möge McCain im Tode durch ein feierliches, ver- Essay Der US-Autor sieht Senator John McCain bindendes Statement ehren. als einen Mann, der über den Tod hinaus ein Dann kam das Flaggenfiasko. Schnell sorgte Trump dafür, dass die auf halbmast stehende Flagge über dem leuchtendes Gegenbild zu Donald Trump bleibt. Weißen Haus wieder hochgezogen wurde. Eine Entschei- dung, die der frühere Präsident Jimmy Carter »einen sehr schweren Fehler« nannte. Trump, dessen Großmäuligkeit bloß seine Feigheit überdeckt, wich zurück und ließ die ie Verachtung, die sie füreinander hatten, konnte Flagge am Montag wieder auf halbmast einholen. Das auch der Tod nicht überwinden. John McCain, Weiße Haus gab eine respektvolle, wenn auch wenig erhe- D der republikanische Senator aus Arizona, der mit bende Erklärung heraus. Präsident Trump wird an dem 81 Jahren nach seinem Kampf gegen den Tumor Gedenkgottesdienst für McCain in der Washington Natio- in seinem Kopf am vergangenen Samstag gestorben ist, nal Cathedral nicht teilnehmen. McCain wollte diesen stand für alles, was Präsident Donald Trump demontieren Präsidenten nicht auf seiner Trauerfeier haben. will: Das transatlantische Bündnis. Härte gegenüber dem Fundamentale Meinungsverschiedenheiten über die Russland Wladimir Putins. Eine auf gemeinsame Regeln Rolle Amerikas in der Welt begründen den Streit. Das ist gegründete internationale Ordnung. Amerikas Wort als es, was ihn bedeutsam macht. Während die Republikani- echtes Bekenntnis zur Freiheit. Ehre, Anstand und Pflicht sche Partei zu einer Trump-Partei geschrumpft ist, übri- waren die Ideen, auf die McCain sein Leben gründete, gens eines der bemerkenswertesten Zeugnisse politischer das er als Dienst verstand. Es sind Begriffe, die für Trump Rückgratlosigkeit in der amerikanischen Geschichte, keine Bedeutung haben. stand McCain schließlich fast allein da als ein Politiker mit Mehr als fünf Jahre lang war McCain Kriegsgefangener, Prinzipien. Seine Partei lief zur anderen Seite über. Er nachdem er 1967 auf seinem 23. Bombereinsatz in Nord- nicht. vietnam vom Himmel geschossen worden war. Er kannte Es gab mal viele Republikaner wie ihn, Männer wie die Extreme menschlicher Erfahrung, auch die Folter. Des- den Senator Richard Lugar, der das Bekenntnis der Verei- halb war er von einer Menschlichkeit und Entschlossen- nigten Staaten für eine freiere, offenere, demokratischere heit, die über alles Politische hinausgingen – was seine bis Welt ernst nahm. Sie sind verschwunden. Der Trommel- zur Streitsucht gehende Kampfeslust nicht minderte. Er schlag des »America First« wird lauter, er untermalt eine war ein Mann mit Überzeugungen. Er lag lieber falsch, als Außenpolitik als Nullsummenspiel, bei der ein amerikani- dass er nachgab. Trump dagegen war der reiche Junge aus scher Refrain gegenüber seinen Verbündeten immer hör- dem New Yorker Stadtteil Queens, der sich vor dem Viet- barer wird: »Bezahlt endlich!« namkrieg drückte, indem er einen Arzt fand, der bei ihm Kanzlerin Angela Merkel fand die richtigen Worte: einen Fersensporn entdeckte. Von seinem Gewissen ließ »John McCain war geleitet von der festen Überzeugung, sich Trump, der Mann ohne Prinzipien, nie aufhalten. dass der Sinn jeglicher politischer Arbeit im Dienst für Trump hatte McCain einen »Dummkopf« genannt, Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zu finden einen »Loser«. Er hatte 2015 während seiner Wahlkampa- sei. Sein Tod ist ein Verlust für alle, die diese Überzeu- gne gesagt, dass John McCain »kein Kriegsheld« sei. gung teilen.« Für Trump ist das kein Verlust. Diese Über- Seine Begründung: »Ich mag Leute, die nicht gefangen zeugungen sind nicht die seinen. Von Saudi-Arabien bis genommen wurden.« zu den Philippinen, von Nordkorea bis Russland muss McCain versuchte, nicht immer mit Erfolg, auf die Be- Trump den starken Mann – und es sind alles Männer – leidigungen mit Anstand zu reagieren. Aber seine Verach- erst noch finden, den er nicht mag. Merkel macht es ihm tung für Trump war deutlich, nicht zuletzt in den folgen- da schwerer. den Worten des Senators vom vorigen Jahr: »Wenn man Ich war in vielen Fragen mit McCain nicht einer Mei- die Verpflichtung Amerikas, international zu führen, zu- nung: Er hatte einen unverbesserlichen Drang, Iran zu rückweist, ebenso wie unsere Pflicht‚ ›die letzte große bombardieren, und nicht nur Iran. Er war ein reflexhaft Hoffnung der Welt‹ zu bleiben, um einem halb garen, reagierender Falke. Seine Meinung zu Obamas Gesund- zweifelhaften Nationalismus nachzugeben, der auf Leute heitsreform schwankte auf bizarre Weise. Als Präsident- zurückgeht, die lieber Sündenböcke schaftskandidat der Republikaner 2008 führte er einen suchen, als Probleme zu lösen, dann auf beinah komische Art desaströsen Wahlkampf. Dass er Roger Cohen, ist das unpatriotisch. Ebenso unpatrio- Sarah Palin als Kandidatin für die Vizepräsidentschaft 63, ist langjähriger tisch, wie anderen Lehren der Vergan- auswählte, förderte genau jene Art geschwätzigen Blöd- Kolumnist der »New York genheit zu folgen, die die Amerikaner sinns, der in der Ära Trump zu einem republikanischen Times« und erklärter schon auf dem Aschehaufen der Ge- Markenzeichen geworden ist. Ein furchtbarer Fehler. Donald-Trump-Kritiker, schichte sahen. Wir leben in einem Aber mitten in dieser politischen Katastrophe behaup- was ihn mit McCain Land, das aus Idealen gemacht ist, tete sich McCains Charakter, seine Fähigkeit, das Land verbindet. nicht aus Blut und Boden.« über die Partei zu stellen. Ich wünschte, ich könnte glau-

86 DER SPIEGEL Nr. 36 / 1. 9. 2018 Juli in Helsinki diesen peinlichen Auftritt hat- te und vor Putin in die Knie ging, als die Spra- che auf die russische Einmischung in die US- Wahl 2016 kam, da sagte McCain zornglü- hend: »Kein früherer Präsident hat sich jemals erbärmlicher vor einem Tyrannen erniedrigt.« Solche klaren Sätze werden fehlen. McCains Verbündeter war Bob Corker, Re- publikaner aus Tennessee und Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses im Senat. Auch er versuchte, Trumps unberechenbare Diplo- matie zu zügeln und das Bekenntnis der Vereinigten Staaten zur Nato zu bekräftigen. Jetzt ist McCain fort, und Corker wird im kommenden Jahr abgelöst, was bedeutet, dass die wichtigsten republikanischen Kriti- ker des Präsidenten – beinahe ein Wider- spruch in sich – wahrscheinlich durch loyale Trump-Leute ersetzt werden. Ich sagte, McCain konnte sehr, sehr gut sein. Ganz be- sonders beim Thema Folter – etwas, wofür Trump offenkundige Sympathien hegt, abzu- lesen auch daran, dass er Gina Haspel zur CIA-Chefin gemacht hat, eine Frau, die in den Jahren 2003 bis 2005 tief in die Praxis der »erweiterten Befragungen« verstrickt war. McCain antwortete 2014 auf den Bericht des Senats, der sich mit den entsetzlichen CIA-Methoden nach den 9/11-Anschlägen be- fasste, mit folgenden Worten: »Ich weiß aus persönlicher Erfahrung, dass die Misshand- lung Gefangener mehr schlechte als gute Infor- mationen hervorbringt. Ich weiß, dass Folter- opfer absichtlich irreführende Informationen anbieten, wenn sie der Meinung sind, dass ihre Wärter sie glauben werden. Ich weiß,

NIGEL PARRY / CPI NIGEL PARRY dass sie alles sagen werden, was die Folterer John McCain, 1936 bis 2018 vermeintlich hören wollen, wenn sie glauben, so ihre Qualen beenden zu können. Und ganz besonders weiß ich, dass der Einsatz von ben, dass die Sympathiebekundungen für McCain eine Folter das beschädigt, was uns mehr als alles andere von Wende der amerikanischen Politik markieren, einen Au- unseren Feinden unterscheidet: unsere Überzeugung, genblick, in dem sich die Prinzipien über die Lügen erhe- dass alle Menschen, sogar gefangen genommene Feinde, ben; Opferbereitschaft über den Wunsch, sich zu berei- grundlegende Menschenrechte besitzen – geschützt chern; die Verantwortung für Menschenrechte über die durch internationale Übereinkommen, denen die USA Abdankung amerikanischer Werte. Aber ich glaube es nicht nur beigetreten sind, sondern die sie zu einem nicht, jedenfalls nicht kurzfristig. großen Teil selbst verfasst haben.« Die nationalistische, identitäre, fremdenfeindliche Wel- Eine wichtige Stimme für die »grundlegenden Men- le ist noch nicht abgeebbt. McCains bewegende Worte in schenrechte« hat Amerika und die Welt verlassen. Diese seiner Abschiedserklärung an die Amerikaner – dass die Stimme konnte eigenwillig sein oder kriegerisch oder un- amerikanische Größe geschwächt wird, »wenn wir uns gestüm, aber sie war niemals belanglos, stets erfüllt von hinter Mauern verstecken, anstatt sie einzureißen« –, die- einem höheren Ideal der Nation, die McCain liebte, stets se Worte sind wahr, aber viele Millionen furchtsame im besten Sinne herausfordernd. Ich habe ihn Jahr für Amerikaner sind noch nicht bereit, sie zu hören. McCain Jahr bei der Münchner Sicherheitskonferenz gesehen, war in vielerlei Hinsicht ein Dinosaurier. Die Welt ist und es war jedes Mal enorm anregend. Neben ihm wirk- voran getaumelt – abwärts. ten andere furchtsam oder schönfärberisch. Er hat aus dem Vollen gelebt. Seine Stimme hatte diese Fülle. In seinem Abschiedsbrief schrieb McCain: »Mit den ach McCains Tod könnte es für Trump tatsäch- Anliegen Amerikas verbunden zu sein – Freiheit, Gerech- lich noch einfacher werden, sich auf der interna- tigkeit, Respekt vor der Würde aller Menschen – bringt N tionalen Bühne danebenzubenehmen. McCain ein höheres Glück mit sich als die flüchtigen Freuden des hat seine Position an der Spitze des Verteidi- Lebens.« Eines Tages wird Trump mit all seiner Niedrig- gungsausschusses im Senat dafür genutzt, sich Präsident keit und Boshaftigkeit fort sein, und man wird diese Wahr- Trump entgegenzustellen, wenn es um Folter, Einwande- heit wieder erkennen. Vielleicht dauert es noch, aber rung, Putins Russland oder die Nato ging. Als Trump im McCain hat auch gesagt: »Amerikaner geben nicht auf.« I

87 Ausland ANADOLOU AG. / ABACA / DDP AG. / ABACA ANADOLOU Präsident Putin: Ein System für eine Zukunft ohne ihn Putins neue Garde

Russland Eine Generation junger Spitzenbeamter soll das Land führen, wenn der Präsident abtritt. Angepasste Manager ersetzen schon jetzt die alten Gefolgsleute.

s gibt unter russischen Städten Er ist nur einer von vielen Spitzen - dimir Putin den Stillstand kompensieren, einen alten Wettstreit, welche von beamten, die derzeit in höchste Ämter der die Politik in der Hauptstadt lähmt. E ihnen sich nach Moskau und Sankt kommen: Am 9. September werden neue Dort bleibt völlig unklar, wen Putin als Petersburg die »dritte Hauptstadt« Regionalchefs gewählt, die wie Gleb Niki- Nachfolger einsetzen wird, wenn seine Russlands nennen darf. Nischni Nowgorod tin den Segen des Kreml haben. Die Wah- Amtszeit 2024 ausläuft – die Verfassung ist ein Kandidat, und wer die alte Handels- len in über zwei Dutzend Regionen sind schließt eine neue Kandidatur aus. In der stadt in diesem Sommer gesehen hat, der Teil einer systematischen Verjüngung des Provinz aber wird derzeit eine ganze Ge- weiß, warum. Nischni hatte sich für die Gouverneurskorps, die der Kreml Ende neration von Nachfolgern sichtbar. Es sind Fußball-WM herausgeputzt mit einem neu- 2016 begonnen hat. Es ist, als wollte Wla- junge Männer, die Putins Söhne sein könn- en Stadion, einem Park an der Wolga, neu- ten. Frauen sind die Ausnahme. Manche en Hotels, frischen Fassaden. Es ist, als waren Kinder, als Putin 2000 in den wäre die Stadt aus langem Schlaf erwacht. Kreml einzog. Andere waren Studenten, Am kommenden Sonntag erhält die er- Weliki Nowgorod hatten ihren ersten Job. Wer aber sind die neuerte Stadt auch einen neuen Gouver- RUSSLAND Neuen? neur. Gleb Nikitin, groß, schlank, strenger Moskau In den Medien werden sie »die jungen Blick durch randlose Brillengläser, ist 30 Technokraten« genannt. »Technokrat« soll Jahre jünger als sein Vorgänger. Der war positiv klingen, es suggeriert, dass sich je- schon kommunistischer Parteifunktionär, mand auskennt, es ihm um die Sache geht da war Nikitin noch gar nicht geboren. Der Kaliningrad Nischni Nowgorod und nicht um Ideologien. Man kann den Neue hat einen MBA-Abschluss aus New Ausdruck aber auch anders verstehen: York und war mit 34 Jahren Vize-Industrie- Hier werden Politiker durch Manager er- minister, er gilt als fähig und erfahren. setzt. Die jungen Technokraten sind strom-

88 linienförmige Funktionäre, Fußsoldaten werben müssen, »da kannst du gar nicht Nachdem Wladimir Putin ihre Macht ohne eigenen Willen. Das System hat sie Technokrat bleiben«. Das klingt gut, aber nach und nach beschnitten hatte, waren geschaffen, um sein Überleben in einer Zu- man muss dazusagen, dass es in Russland die Gouverneure immerhin noch mäch- kunft ohne Putin zu sichern. keinen echten Wahlkampf mehr gibt. Man tige Lokalpoli tiker. »Heute aber schickt Einer der jüngsten ist Anton Alichanow, sieht das schon daran, dass Gouverneure man gar keine politischen Figuren mehr, 31. Er hat ein offenes, jungenhaftes Gesicht lange vor den Wahlen ausgetauscht wer- sondern Manager, die konkrete Probleme und regiert Kaliningrad auf angenehm un- den. Das Muster ist stets dasselbe: Der lösen sollen. Und wer damit nicht klar- konventionelle Weise. Er fährt Fahrrad, in alte Gouverneur tritt während seiner kommt, wird eben ersetzt«, sagt Kol - seinem Büro steht seine private Schallplat- Amtszeit zurück, Putin bestimmt einen jadin. tensammlung. neuen. Der darf sich einarbeiten, dann Wie sehr der Kreml auf Management Kaliningrad ist ein schwieriger Posten lässt er sich nachträglich in Wahlen bestä- statt Politik setzt, zeigt das neue Trainings- für einen Gouverneur. Es ist eine Exklave, tigen, zu denen nur harmlose Rivalen zu- programm, mit dem Spitzenbeamte auf eingeklemmt zwischen Polen und Litauen. gelassen sind. ihr Amt vorbereitet werden. Im April hat Und Alichanow hatte einen schwierigen »Unsere Führung hat sich irgendwie in der erste Jahrgang die Ausbildung abge- Auftrag: Er sollte die örtliche Sonderwirt- den Kopf gesetzt, man könne ganz Russ- schlossen, es gab eine feierliche Zeremonie schaftszone reformieren. Bis vor Kurzem land wie ein Staatsunternehmen leiten, im Kreml. lebte die Wirtschaft hier von zoll- Im Internet finden sich Videos freien Importen. Zum 1. April 2016 von dem Training, auf ihnen sieht verlor sie dieses Privileg, stattdes- man, wie der künftige Gouverneur sen zahlt Moskau nun Subventio- von Omsk aus sieben Meter Höhe nen. Alichanow hat versucht, diese in einen Gebirgsfluss im Kaukasus Zahlungen so transparent wie mög- springt. Andere Bilder zeigen, wie lich zu halten, er hat sich damit vie- sich Russlands Spitzenbeamte zwi- le Feinde geschaffen. schen die Räder eines fahrenden Aber er hat die Region auch at- Schützenpanzers legen. Sind das traktiv gemacht für Investoren, das Fähigkeiten, die Putins Nachwuchs bestätigt ein Ranking der kremlna- im Amt braucht? hen »Agentur für Strategische In- »Der Sprung ins Wasser war kei- itiativen«: Unter Russlands 85 Re- ne offizielle Mutprobe. Es gab ein gionen stieg Kaliningrad von Platz eintägiges River-Rafting, bei dem 71 auf Platz 15. Und er hat ernsthaft es darum ging, Hindernisse zu um die Unterstützung der Bürger überwinden und den Mannschafts- wie der Eliten gekämpft, das bestä- geist zu stärken«, sagt Alexej Ko- DENIS SINYAKOV / DER SPIEGEL DENIS SINYAKOV tigen die Kaliningrader selbst. missarow, Vizerektor der Präsidial- Alichanow gilt als unbestechlich, Universität Ranepa. Er ist für das fleißig, zugänglich. 2016 von Putin Programm zuständig, ein ehemali- eingesetzt, musste er sich im Sep- ger Unternehmer im Staatsdienst, tember 2017 erstmals zur Wahl stel- der gern in Anglizismen spricht. len. Er gewann mit 81 Prozent. Zu Anfang des Kurses, sagt er, Selbst Jegor Tschernjuk, ein jun- werde den Teilnehmern »das Hirn ger Aktivist des Oppositionspoliti- gesprengt«: Dozenten aus Harvard, kers Alexej Nawalny, spricht gut Stanford und von anderen Eliteu- über Alichanow. Er sitzt in der Jel- niversitäten würden den Blick auf zin-Bar, wo neben der Tafel mit die langfristigen Entwicklungen den Craft-Beer-Angeboten ein Por- der Welt richten. Es gehe um Soft trät von Immanuel Kant hängt. Skills und Teambuilding, um emo- »Ich habe mit vielen Geschäfts- tionalen Intellekt und die nötige leuten gesprochen«, sagt Tschern- Sicht von oben, den »Helicopter juk. »Sie sagen, Alichanow passe / DER SPIEGEL DENIS SINYAKOV View«, den eine Führungsperson gut in das wunderschöne Russland Nawalny-Anhänger Tschernjuk, Gouverneur Alichanow brauche. der Zukunft.« »Das wunderschöne Russland der Zukunft« Auch Weliki Nowgorod bei Sankt Ein höheres Lob kann ein Na- Petersburg hat einen neuen Gouver- walny-Anhänger nicht ausspre- neur, verwirrenderweise heißt auch chen. Das »wunderschöne Russland der mit Firmensitz in Moskau und 85 Fabri- er mit Nach namen Nikitin. Andrej Nikitin, Zukunft«, so nennt Nawalny stets das ken in den Regionen«, sagt Andrej Kolja- 38, kennt Putin aus der Nähe. Sechs Jahre Land, das er aufbauen will – ein Land din. Der Politikberater kennt die Regio- lang hat er ein Lieblingsprojekt des Präsi- ohne Korruption, hochnäsige Beamte und nalpolitik des Kreml, er hat sie einst selbst denten geleitet, die Agentur für Strategische Polizeispitzel. Aber auch unter Alichanow geleitet. Die Gouverneure sind das Rück- Initiativen. Der Thinktank soll das Investi- ist in dieser Hinsicht vieles beim Alten ge- grat des riesigen russischen Staates. Sie tionsklima im Land verbessern und Inno- blieben. Die Kaliningrader Behörden se- verbinden die Regionen mit der fernen vationen fördern, Putin sitzt im Aufsichts- hen in Nawalnys Anhängern weiterhin Hauptstadt und halten das Land zusam- rat. Aber dann bot der Präsident Andrej Staatsfeinde, das hat Tschernjuk mehrfach men. In den Neunzigerjahren waren sie Nikitin im Februar 2017 das Amt in Weliki zu spüren bekommen, als ihn Extremis- eigenständige Provinzfürsten. Ein Refor- Nowgorod an, einem Provinznest, das er musfahnder der Poli zei besuchten. mer wie Boris Nemzow, Gouverneur in kaum kannte. Alichanow wehrt sich gegen das Etikett Nischni, wollte zuerst den Wählern seiner Ahnte er seine Ernennung? »Nein«, sagt des »jungen Technokraten«. Er habe ei- Heimatstadt gefallen – und dann erst dem er. Freute er sich? »Wladimir Wladimiro- nen Wahlkampf führen und um Stimmen Kreml. witsch Putin ist mein Anführer, dessen

DER SPIEGEL Nr. 36 / 1. 9. 2018 89 Ausland

maß an Effizienz, weil es unter Druck ge- raten ist, durch Sanktionen und den Verfall des Ölpreises. Wo weniger Geld fließt, kann weniger verschwendet werden. Und drittens hat Putin keine Zeit und Lust mehr, sich mit allen Personalfragen zu beschäfti- gen. Die Weltpolitik verlangt nach ihm. Putin stützt sich im Innern zunehmend auf Geheimdienste, Polizei und Justiz statt auf das Prinzip gegenseitiger Treue. Damit gelten nun neue Regeln für hohe Beamte. Eine Welle von Verhaftungen nach der Krim-Annexion hat das gezeigt. Acht Gou- verneure wurden festgenommen; ein Ex- Wirtschaftsminister sitzt bis heute in Haft. »Zum ersten Mal in vielen Jahren wurde Effizienz für Putin wichtiger als Loyalität«, schreibt die Kremlbeobachterin Tatjana Stanowaja. Es ist riskanter geworden, Gouverneur zu sein. Statt eines ehrenhaften Abschieds droht Gefängnis. Umgekehrt ist der Ein-

DENIS SINYAKOV / DER SPIEGEL DENIS SINYAKOV fluss in der Hauptstadt gering: Gouverneu- Politiker Andrej Nikitin: Strategiesitzungen und Coaches re vertreten nicht mehr ihre Region gegen- über dem Zentrum, sie setzen Moskaus Interessen in der Provinz durch. Weg ich stets folge«, antwortet er diplo- eine Sicht von oben auf die Gesellschaft, Und auch da spielen Geheimdienste, matisch. ohne das Büro verlassen zu müssen. Die Staatsanwälte und Polizei eine neue Rolle. In Weliki Nowgorod sind sie enttäuscht perfekte Helikopterperspektive. Sie ersetzen, was den jungen Technokra- vom Neuen, dabei haben sie sich zuerst Wenn man dem Politikberater Koljadin ten an politischer Autorität fehlt, und ma- gefreut. Sein Vorgänger, ein Mittsechziger, glaubt, dann müssten die neuen Gouver- chen die regionalen Eliten gefügig. In war herrisch und überheblich. Aber im- neure eher lernen, den Blickwinkel ihrer Nischni etwa räumten sie den mächtigen merhin verstanden sie ihn, er war ein ty- Mitbürger einzunehmen, mit den regiona- Ex-Bürgermeister aus dem Weg, er sitzt pischer Gouverneur, eine autoritäre Vater- len Eliten zu reden und mit ihren Wählern. in Untersuchungshaft. figur. Andrej Nikitin verstehen sie nicht. Sie müssten mehr Politiker sein als Mana- Es ist derselbe Sicherheitsapparat, der Weliki Nowgorod hat keine Autoindus- ger. Das neue Trainingsprogramm sei »si- auch politische Proteste unterdrückt. Jegor trie und kein nagelneues Stadion für die cher besser als nichts«, sagt Koljadin. Tschernjuk, der Nawalny-Anhänger aus Fußball-WM. Es hat nur eine große Ver- »Aber Politik ist zu zwei Dritteln öffentli- Kaliningrad, ist wegen dieses Drucks kurz gangenheit. Es fehlt an Arbeitsplätzen, che Politik.« Leider sehe man das im nach dem Gespräch mit dem SPIEGEL ins Perspektiven, Steuereinnahmen. Das sind Kreml anders. Ausland geflohen. Probleme, für die auch Nikitin keine Lö- Die früheren Gouverneure mögen kor- Putins Regime wird repressiver, zu- sung hat. rupt oder altmodisch gewesen sein, aber gleich hat es sich institutionell verfestigt. Dafür hat der junge Gouverneur aus sie besaßen das Vertrauen der Bürger. Die Damit sind auch die Chancen des Systems Moskau Innovationen mitgebracht, mit de- jungen Technokraten haben es nicht. »Ein gestiegen, Putin selbst zu überdauern. Als nen die Nowgoroder wenig anfangen kön- Andrej Nikitin hätte in einer allgemeinen Boris Jelzin einst versuchte, die von ihm nen. Es begann damit, dass er Dutzende Wahl nie gegen seinen Vorgänger gewon- geschaffenen Machtverhältnisse zu zemen- »Strategiesitzungen« abhalten ließ, bei de- nen«, sagt Koljadin. tieren, suchte er händeringend einen Nach- nen engagierte Bürger sich mithilfe von Der Trend zu Managementmethoden folger – und fand ihn in Putin. Putin selbst Moskauer Coaches einbringen sollten. Da- aus der Geschäftswelt ist Teil eines umfas- hat dieses Problem vielleicht nicht mehr. für mied er selbst das Gespräch. Busfahrer senden Wandels in Putins Personalpolitik. Er setzt nicht auf einen einzelnen Nach- erhielten »Neuro-Armbänder«, die ihre Über viele Jahre wurden Ämter in Russ- folger, er setzt auf eine ganze Generation Körperfunktionen messen. Aber der Stadt land nach einem einzigen Kriterium ver - von Beamten, die unter ihm aufgewachsen fehlten Busse. In den Krankenhäusern geben: der Loyalität. Putins Judopartner, sind und kein anderes System kennen. Als wird jetzt das Programm »Freundliche An- KGB-Kameraden und Datschanachbarn ge- Gouverneure dürfen sie sich bewähren, meldung« realisiert. Aber es fehlen 150 langten in hohe Ämter, nicht weil der Prä- um später in der Hauptstadt Verantwor- Ärzte, weil junge Mediziner abwandern. sident von ihren Fähigkeiten überzeugt war, tung zu übernehmen. Der Generationen- »Nikitin spricht gern in der Zeitform sondern von ihrer Verlässlichkeit. Russland wechsel hat begonnen und damit auch die Futurum«, sagt ein örtlicher Journalist. erinnerte an einen Feudalstaat: Persönliche Ära nach Putin. Die Öffentlichkeit hat es Die Nowgoroder leben in der Gegenwart. Treue zum Lehnsherrn hielt ihn zusammen, nur noch nicht bemerkt. Christian Esch Derzeit wird die Region von Drohnen ebenso wie die Treue des Lehnsherrn zum Twitter: @Moskwitsch abgeflogen, aus Luftaufnahmen soll ein di- Gefolge. Wer loyal war und dennoch aus gitales Modell entstehen. Im Büro des Bür- dem Amt entfernt wurde, fiel weich. Video germeisters von Seoul hänge eine elektro- Heute reicht Treue nicht mehr aus, um Russlands neue nische Karte, sagt Nikitin, darauf würden im Amt zu bleiben. Das hat viele Gründe. Herrscher alle Informationen in Echtzeit angezeigt. Erstens herrscht Putin unangefochten, er spiegel.de/sp362018russland So etwas wolle er auch haben. Es klingt kann Loyalität ohnehin voraussetzen. oder in der App DER SPIEGEL wie der Traum eines jeden Technokraten: Zweitens braucht das System ein Mindest-

90 Sport

Reite schnell, spring hoch, sprich nicht über den Dreck. ‣S.92

Toptennis WTA-Tour (Frauen) ATP-Tour (Männer) Länder mit den meisten Spielern in den Top 20 der Weltrangliste am Jahresende 2008 Rafael Nadal, Spanien Deutschland Venus Williams, 2009 USA Frankreich 2010

Italien 2011

Russland 2012

Serbien 2013 ACTION PRESS ACTION Spanien 2014 Beispiel: Am Ende des Jahres 2017 waren drei Tschechien 2015 Amerikaner und drei Spanier unter den USA 2016 Top 20, andere Länder waren mit weniger 2017 Spielern vertreten.

Profis aus Spanien und Frankreich prägten in den vergange- dern am Jahresende in den Top 20. Bei den Frauen hat die nen zehn Jahren die Weltspitze im Herrentennis. Außer im Dominanz der Russinnen abgenommen, dennoch kommt fast Jahr 2017 standen stets mindestens sechs Spieler aus beiden Län- die Hälfte der Top-20-Spielerinnen weiterhin aus Osteuropa.

Magische Momente »Das ist Diebstahl« Der US-Schwergewichtsboxer Curtis Harper, 30, über seine Flucht aus dem Ring

SPIEGEL: Herr Harper, und zahlt dem Boxer dann nur 5000. Der Harper: (lacht) Albernes Geschwätz. boxen Sie eigentlich Rest wandert in andere Taschen. Das ist Wenn ich einen regulären Vertrag gern? Diebstahl. Aber es passiert immer wieder. gehabt hätte und im Ring geblieben Harper: Natürlich. Ich SPIEGEL: Wann haben Sie beschlossen, wäre, hätte ich Ajagba verhauen. lebe fürs Boxen. Es ist ohne Kampf zu gehen? SPIEGEL: Das Video Ihres Abgangs meine Leidenschaft. Ich Harper: Als ich gesehen habe, wie mein aus dem Ring wurde im Internet liebe es, im Ring zu stehen. Promoter und der Matchmaker mit dem millionenfach geklickt. Kritiker SPIEGEL: Warum haben Sie dann in gegnerischen Team redeten. Da stand meinen, das Ganze sei nur ein PR-Gag Ihrem letzten Kampf noch vor dem ers - ich schon im Ring und habe nur gedacht: gewesen. ten Schlag den Ring verlassen? Hier stimmt etwas nicht. Ich hau ab. Harper: Ich würde mich niemals für GETTY IMAGES Harper: Es war das Schwerste, was ich SPIEGEL: Das Management Ihres Gegners irgendwelche PR-Stunts vor den Karren jemals getan habe. Aber ich dachte, ich Efe Ajagba behauptet, es habe einen un- spannen lassen. muss es tun. Für mich und für all die terschriebenen Vertrag gegeben, Sie seien SPIEGEL: Ihr Trainer Nate Campbell hat anderen Boxer, die respektlos behandelt in Wahrheit aus Angst weggelaufen. gesagt, Sie hätten psychische Probleme und verarscht werden. und sollten nicht mehr boxen, solange Sie SPIEGEL: Das müssen Sie uns erklären. nicht gründlich medizinisch durchge- Harper: Ich hatte in Minneapolis keinen checkt worden sind. unterschriebenen Kampfvertrag. Ich wusste Harper: Ich habe neun Tage vor dem nicht, ob ich überhaupt bezahlt werde. Kampf eine neurologische Untersuchung SPIEGEL: Was ist so schlimm daran, kei- bestanden, sonst hätten sie mich gar nicht nen Vertrag in der Hand zu haben? in den Ring gelassen. Harper: Ohne schriftliche Vereinbarung SPIEGEL: Gab es auch positive Reaktio- mit dem Promoter der Veranstaltung kann nen aus der Boxszene? man leicht übers Ohr gehauen werden. Ent- Harper: Viele andere Boxer unterstützen weder sie zahlen dir hinterher nicht, was mich. Aber kaum einer traut sich, das abgemacht war. Oder ein Agent oder laut zu sagen, weil sie Probleme kriegen,

Matchmaker handelt für einen Kampf eine YOUTUBE wenn sie sich öffentlich auf meine Börse von 20000 oder 30000 Dollar aus Harper in Minneapolis am 24. August Seite stellen. MMM

DER SPIEGEL Nr. 36 / 1. 9. 2018 91 Sport Heute keine Exzesse, bitte

Affären Sie sind jung, sie sind gut, sie glauben offenbar, sich alles erlauben zu können: Die deutschen Springreiter haben ein Problem mit einer Clique von Jungstars und deren Saufeskapaden. Jetzt ermitteln Staatsanwälte. Der Verdacht: sexueller Missbrauch.

ie kamen in der Nacht, schlichen die Ältere, 18, auf Sven Wolters, 19, einen minister Karl-Theodor, und Luna Schwei- sich an, mit Ketchup für die Bot- der besten Jugendreiter. Zweifacher deut- ger, die Tochter von Schauspieler Til. Dazu S schaft. Groß und rot. Damit scher Meister, 2017 Ranglistenerster in sei- noch die höheren Töchter deutscher Mit- jedem klar war, wer hier das ner Alterklasse. Er soll sie überall ange- telständler, die keinen weltweit klingenden Sagen hat. Und wer besser den Mund fasst, sie sich gewehrt haben, er soll gesagt Namen haben, aber weltweit klingelnde hält. haben: »Dann fick ich halt deine Schwes- Kassen. Einer goss sich den Ketchup auf die ter.« Die Schwester: 15 Jahre alt. Sie alle überbieten sich bei der Jagd auf Hand, malte auf die Seitenwand des Pfer- Die Sache sprach sich herum, die deut- die besten Pferde, pumpen so viel Geld in detransporters: »L-ü-g-n-e-r«. Schmierte sche Reiterliche Vereinigung (FN) ermit- den Reitsport, dass eine ganze Branche Ketchup auf die Türklinken, in die Schlös- telte, die Schwestern sagten aus. Ende Juli mit Züchtern, Händlern, Trainern, Reit- ser. In den frischen Tau der Scheiben hat der Verband Sven Wolters 18 Monate stallbesitzern und Reitern daran hängt. schrieben sie mit dem Finger »Schlampe«, lang für den Bundeskader gesperrt. Die Allein der Spezialsand für einen Tur- »Fotze«. Und bevor sie gingen, rissen sie Staatsanwaltschaft Münster hat ein Ver- nierplatz, gelenkschonend, nicht zu hart, noch das Nummernschild ab. fahren eröffnet, es geht um den Verdacht nicht zu weich, kostet bis zu 70000 Euro Es war die Nacht vom 25. auf den eines sexuellen Übergriffs. Aber in der für ein Springwochenende. Die Futter- 26. November 2017 beim Internationalen exklusiven Szene der Jugend-Springreiter mischungen der Hochleistungsrösser wer- Jugendreitturnier in Lichtenvoorde in den gelten die Schneiders nun als Nest - den exakt auf deren Blutbild abgestimmt, Niederlanden. Später kam die Polizei, die beschmutzer. Als L-ü-g-n-e-r. wer ein gutes Springpferd kauft, lässt heute Schneiders* aus Deutschland hatten sie ge- Sie sind die, die alles ins Rollen, ins Rut- erst mal 40 Röntgenbilder machen. Und holt, ihnen gehörte der Pferde-Lkw. Die schen bringen, die schuld sein sollen, dass Tierärzte fliegen mit dem Jet ein. Polizei schien nicht sonderlich interessiert. jetzt noch mehr Schmutz hochkommt, der Ein paar Schmierereien, irgendein Streit Sponsoren verschrecken und den Sport be- Schmutzige Affären trüben da das kli- zwischen zwei deutschen Familien. Auf flecken könnte. Es geht um Dinge, die un- nisch saubere Bild, wer darüber redet, ge- dem Platz erzählten sie sich hinterher, die ter Springreitern schon länger die Runde fährdet das Geschäftsmodell. So lässt sich Polizisten hätten am Trailer der anderen gemacht haben, seit ein paar Wochen aber wohl auch erklären, dass die Gerüchte Familie geklopft. Familie Wolters*. Doch auch in einem Bericht an die Staatsanwalt- über sexuellen Missbrauch schon seit Jah- wer das mit dem Ketchup war, wurde nie schaft stehen. Denn nicht nur der Verband ren durch die Jungreiterszene geistern, da- aufgeklärt. Und das Warum, das musste hat die Ermittler eingeschaltet. Auch ein von aber bisher kaum etwas nach außen nicht groß aufgeklärt werden. Zumindest Insider aus der Jugendreitszene hat nicht gedrungen war. Reite schnell, spring hoch, die deutschen Springreiter auf dem Platz länger schweigen wollen. sprich nicht über den Dreck. konnten sich schon denken, warum. Sein Report enthält eine ganze Reihe Die Ermittlungen in Münster stehen Denn das sind die Regeln: Reite schnell, möglicher Missbrauchsfälle, in denen im- nun im Vordergrund eines Sittengemäldes spring hoch, sprich nicht über den Dreck. mer wieder dieselben Namen junger Rei- über junge Spitzenreiter, ihre Eskapaden, Es lebe der Sport. ter auftauchen. Noch ist nicht klar, was ihre Exzesse. Aber wer mehr darin erken- Die Familie Schneider hatte sich daran dabei herauskommen wird, es gilt die Un- nen will als einen Einzelfall, wer das ganze nicht gehalten. Zwei Töchter, bekannte schuldsvermutung. Eines kristallisiert sich Bild sehen will, schaut besser auch auf den Namen auf der Tour der besten Nachwuchs- aber als Verdacht heraus: eine Clique von Hintergrund: das Alkoholproblem im Reit- Springreiter, jedes Jahr 30 Turnierwochen- Spitzenreitern, die auf Turnieren Mädchen sport. Ein Problem, das angeblich gar kei- enden. Eine kleine, exklusive Szene, viel- abschleppen wollen und dazu auch Wider- nes ist, wenn man sich mit Jugendtrainern leicht 50 Jugendliche. Die Schnittmenge de- stände brechen. Oder dafür sorgen, dass unterhält. rer, die reiten können, und derer mit den es keinen Widerstand mehr gibt. Mit Al- Alles halb so schlimm, heißt es dann. Eltern oder Gönnern, die das alles bezahlen kohol. Möglicherweise sogar mit K.-o.- Höchstens mal ein geselliges Bier, wenn können: einen großen Lkw, mit Wohnabteil Tropfen. das Springen vorbei ist, ein Glas Sekt für und Pferdebox, die Reisen, die Startgebüh- Es ist die dunkle Seite eines Sports, die den Sieger. Und natürlich hat es der eine ren, die Tierärzte, die Pfleger. Vor allem schon deshalb im Verborgenen bleiben oder andere Jungreiter unter 21 auch schon ein gutes Pferd, meist ab 100000 Euro, und soll, weil die andere, die helle Seite immer übertrieben, aber mein Gott, waren wir davon zwei oder drei, um überhaupt eine mehr glitzert. Das internationale Spring- nicht alle mal jung? Nichts, was es nicht Chance zu haben auf einen Platz in den reiten lebt von den Töchtern der Super- auch in anderen Sportarten gäbe. Das ist deutschen Nationalkadern. reichen: Jennifer, Tochter von Microsoft- der Sound, etwa bei Sepp Gemein, dem Zwei Monate vor Lichtenvoorde waren Gründer Bill Gates. Eve, Tochter von Landestrainer von Rheinland-Pfalz. Die- die Schneider-Schwestern bei den Jugend- Apple-Legende Steve Jobs. Destry, Toch- ser Sound soll so gelassen wie möglich klin- meisterschaften in Aachen gewesen. Wäh- ter von Regisseur Steven Spielberg, und gen; was aber jedes Mal nachhallt, ist die rend die traditionelle Turnierparty lief, traf Jessica, Tochter von Rockstar Bruce Sorge um den Reitsport. Die Angst um sei- Springsteen. Aus Deutschland Anna zu nen Ruf, als Wettbewerb für Ladys und * Name geändert. Guttenberg, Tochter von Ex-Verteidigungs- Gentlemen. Und die Angst der Funktionä-

92 DER SPIEGEL Nr. 36 / 1. 9. 2018 Illustrationen: Russlan für den SPIEGEL 93 Sport re, dass unter den Alkoholsündern auch Prozent. Auf einem Tisch die zweite Fla- Hetzel hat nicht nur einmal erlebt, dass Reiter sein könnten, die morgen noch sche Holzknecht, die nächste Flasche Alt- die Jungs und Mädchen abends »über die Gold für Deutschland holen sollen. städter. Absolut Wodka, Western Gold Stränge« geschlagen haben. »Ich habe Internationale Jugend-Reitturniere ge- Whiskey, beide 40 Prozent. Und ein paar mehrfach gefragt, fahrt ihr eigentlich zum hen meist über mehrere Tage, und die Pullen, bei denen sich die Sorte nicht aus- Reiten oder zum Saufen hierher? Man Ramba-Zamba-Party des Veranstalters am machen lässt. Nur, dass sie leer sind. müsste lügen, wenn man abstreiten würde, Freitag- oder Samstagabend gehört zum So sah es aus, im Lehrlingswohnheim dass es bei den jungen Reitern ein Problem perfekten Wochenende so dazu wie die auf dem Gelände in Warendorf, an einem mit Alkohol gibt.« Bundesjugendtrainer doppelte Null-Fehler-Runde. Vor zwei Jah- Wochenende im Mai 2017, als dort gerade Peter Teeuwen spricht zwar nur von Ein- ren musste ein Springreiter von den Deut- die Top-Jugendreiter beim »Preis der Bes- zelfällen, aber ja, es habe in den vergan- schen Jugendmeisterschaften abreisen, ten« starteten. Im Juni 2018 ähnliche Fotos: genen Jahren eine Clique gegeben, die sich weil er besoffen ein Bierglas geworfen und Wie selbstverständlich steht diesmal eine gegenseitig hochgeputscht, die es mit dem um sich gespuckt hatte. Bei einem Sprin- Flasche Weinaperitif auf dem Tisch, 17 Pro- Trinken »übertrieben« habe. gen in Hagen am Teutoburger Wald schick- zent, dazu ein 24er-Pack Dirty Harry, Damit geht es im Reitsport eben doch te die Leitung einen Reiter nach Hause, Lakritzlikör in Miniflaschen, 22 Prozent. anders zu: Es sind nicht nur Freizeitsport- der abends mit zwei anderen im Auto über Holger Hetzel, Jugendtrainer im Lan- ler, die nach dem Training eine Kiste Bier den Turnier-Campingplatz gebrettert war desverband Rheinland, tut denn auch in die Kabine schleppen; das Problem und ein Vorzelt mitgenommen hatte. nicht so gelassen wie mancher Kollege. reicht hoch bis in den Leistungssport, die Holger Wulschner, Deutscher-Spring - Hetzel, früher Nationenpreis-Reiter, heute Jugendnationalkader. Und wenn es um die derby-Sieger von 2000, hat sein Turnier erfolgreicher Pferdehändler, empfängt in Glaubwürdigkeit geht, bis in die Funk- für den Elitenachwuchs aufgegeben. Beim seiner Reitanlage in der Nähe von Goch tionärsspitze. letzten, im Juli 2017, hatten ihm wütende am Niederrhein, die ganz nach dem gro- Über Präsident Breido Graf zu Rantzau Jungreiter auf Gut Groß Viegeln in Meck- ßen Geld und den großen Ambitionen aus- geht die Legende, dass er 1989 beim Rei- lenburg den Toilettenwagen zerlegt, weil sieht, die in den Springsport drängen. Ver- terball in München schwer angetrunken die Party bereits nachts um zwölf zu Ende glaste Reithalle, Stallungen so sauber, als auf den Tisch gestiegen, die Hose auf- gehen sollte. Wulschner blieb auf 2000 würde hier Meister Proper aufsatteln; auf gemacht und unter den Augen der deut- Euro Schaden sitzen. dem Parkplatz stehen Geländewagen mit schen Reiterelite in ein Bierglas gepinkelt Kennzeichen aus München, Berlin, Bad haben soll. Dazu stellt der Verband heute Man hat zwar noch keine Pferde kotzen Homburg. Hetzel lebt in dem Sport und richtig, dass Rantzau mitnichten auf, son- sehen, junge Reiter aber schon öfter. Al- von dem Sport, seitdem er denken kann; dern unterm Tisch ins Glas uriniert, das kohol ist immer genug da. Selbst in Wa- er sagt: »Es hat sich etwas verändert in Glas sodann persönlich entsorgt und sich rendorf, im Olympiastützpunkt, am Sitz den letzten Jahren. Alkoholkonsum und später in aller Form entschuldigt habe. der Reiterlichen Vereinigung. Mitten im Partymachen haben sich verschärft.« Noch im vergangenen Jahr schwankte ein Walhalla deutscher Reitermythen, wo Hal- Da sind diese Jugendlichen in der Dau- Bundesjugendtrainer in seiner Freizeit la, die Wunderstute, lebensgroß in Bronze erschleife der Tour, die kaum Zeit haben stark angetrunken über ein Championat. vor der Tür steht, als wollte sie den für andere Freunde und sich dann an den Und das Plastikpferd, das im Eingang der schmerzverkrümmten Hans Günter Wink- Wochenenden auf den Turnieren ausleben. FN steht, grüßt alle Besucher mit einem ler gleich wieder zum legendären Olym- Junge, erfolgreiche Burschen, Mädchen, handgeschriebenen »Gut Schluck« auf piagold von Stockholm tragen. die erste Erfahrungen sammeln wollen. dem Hals. Fotos zeigen einen Aufenthaltsraum im Eine Atmosphäre der Enthemmung, wenn Inzwischen hat aber selbst der rustikale Bundesleistungszentrum, die Reste einer der Alkohol dazukommt. Und der kommt Reiterverband begriffen, dass sich die Zei- Party, was vom Abend vorher übrig blieb: fast immer dazu. Weil es bei fast jedem ten ändern und er etwas tun muss, schon auf dem Boden eine Flasche Berentzen, 15 Springen einen Weinstand, einen Bier- damit es nicht so aussieht, als ob er nichts Prozent, Holzknecht Klarer, 28 Prozent, stand gibt und auch Eltern, die schon mit- täte. »Wir haben die Alkoholprävention Altstädter Klarer, 30 Prozent; Inhalt: null tags um eins an der Theke lungern. massiv vorangetrieben«, behauptet FN- Geschäftsführer Dennis Peiler. Im März, beim Kaderlehrgang in Wa- rendorf, durften nur junge Reiter das Ab- schlussspringen mit Olympiasieger Ludger Beerbaum mitmachen, die einen Tag vor- her mit nach Hannover gefahren waren. Dort »werdet ihr Euch … mit dem Thema Alkohol im Sport auseinandersetzen«, hieß es in der Einladung des Deutschen Olympiade-Komitees für Reiterei, das bei der FN in Warendorf sitzt. Es werde um das »Konsumverhalten« gehen und um »Suchtpotential im Leistungssport«. Hinterher sollten die Jugendlichen selbst Benimmregeln aufstellen. Tatsäch- lich schlugen die Kaderreiter eine 0,0-Pro- mille-Grenze vor, gültig aber erst eine Stunde vor dem Parcoursritt. Beerbaum, Fan einer harten Linie, soll ziemlich ver- dattert geguckt haben. Im Mai beschloss das Olympiade-Komi- tee schließlich neue Richtlinien, die jeder

94 Jungreiter unterschreiben muss, der für Deutschland startet. Darin steht, immer- hin, dass »Drogen- und Alkoholkonsum unerwünscht« sind und die »0,0-Promille- Grenze gilt«. Allerdings nur im »Training, Wettkampf«, bei »Parcours- und Gelände- besichtigungen« und wenn der Tierarzt vorbeischaut. Ein Alkoholverbot für das ganze Wo- chenende ist das nicht. Darüber geredet wird zwar immer wieder. Wenigstens für Jugendturniere, für die Sportler. Doch auch der Verband will das nicht durchset- zen. Die Turnierveranstalter müssen auf ihre Kosten kommen, sie leben davon, dass an den Ständen getrunken wird. Au- ßerdem seien zwei Präventionsberater, die den Verband beraten, gegen das Totalver- bot gewesen, sagt Geschäftsführer Peiler. Man wolle den jungen Leuten ja auch ihre Freiheiten lassen, sonst verliere man sie. Dass die Jungstars nun wenigstens stun- denweise nüchtern bleiben, darauf will das Olympiade-Komitee aber nicht wet- ten. In der neuen Richtlinie steht, dass die Bundestrainer sie »mittels Atemalko - hol- und Drogenmessgerät« überwachen Die Familie Wolters war in der vergan- de mit Ketchup »L-ü-g-n-e-r« auf den Pfer- werden. Zwei Blasgeräte hat der Verband genen Woche für den SPIEGEL nicht zu de-Lkw der Schneiders schmierte – das gekauft. Getestet wird jedoch nur bei Ver- sprechen. »Kein Kommentar«, hieß es nur. war der Kommentar dazu. dacht, einer Schnapsfahne etwa. Man Gegenüber dem Verband hat Sven Wolters Die Schneiders sind allerdings nicht die wolle doch keine »Misstrauenskultur«, er- die Vorwürfe bestritten; so etwas sei nie Einzigen, die eine Geschichte mit Sven klärt Peiler. passiert. Allerdings gehört er zu einem hal- Wolters erlebt haben wollen. Pia Weiß- Das ist der Hintergrund, vor dem nun ben Dutzend Jungs mit einem einschlägi- mann* erzählt von einem Turnier vor drei die Vorwürfe sexueller Gewalt aufkommen: gen Ruf. Darunter sind noch zwei, die 2017 oder vier Jahren. Sie war 16, hatte den eine Clique junger Spitzenreiter, zu viel Al- in der Rangliste der deutschen Jungreiter Abend mit Jungs aus der Clique verbracht, kohol, möglicherweise auch K.-o.-Tropfen. von 18 bis 21 Jahren unter den besten zehn das Übliche: Alkohol und noch mehr Al- Viagra-Pillen und Strichlisten, wer wie viele standen. Es ist ein Ruf, der ihnen bei kohol. Die Frage, ob sie nicht noch mit in Mädchen bei einem Turnier in seinen Pfer- Turnieren vorauseilte und hinterher noch den Pferdetransporter kommen wolle, zur detransporter bekommt. Junge Reiterinnen, etwas lauter nachlief. »Lkw-Party« – offenbar ein gängiger Be- die mit den sportlich so erfolgreichen Jungs »Denen geht es nur darum, so viele Mä- griff unter Jungreitern. am Anfang des Abends vielleicht noch flir- dels wie möglich pro Wochenende flachzu- »Sie fingen dann an, mich zu küssen.« ten und am Ende nicht wissen, wie ihnen legen«, heißt es in dem Bericht einer Schnei- Wolters und ein anderer hätten sie ganz eigentlich geschah. Außer dass sie nicht der-Schwester. »Die führen Strichlisten, wie ausgezogen. »Immer wieder habe ich Nein wollten, was da mit ihnen geschah. viele Mädels sie hatten, das war für die wie gesagt und dass ich das nicht will, aber das eine Aufgabe, eigentlich wichtiger als die war denen egal.« Zum Äußersten sei es Auch Sven Wolters hatte angeblich Reiterei.« Um möglichst viele Striche zu nicht gekommen, sie hätten sie doch ir- abends bei den Jugendmeisterschaften in sammeln, hätten einige der Jungs sogar Via- gendwann gehen lassen. »Seitdem das pas- Aachen schon schwer getankt. Bundes- gra-Pillen eingeworfen: »Davon haben die siert ist, bekomme ich einen Ekel und bin jugendtrainer Teeuwen erinnert sich noch: Nasenbluten bekommen.« auch sofort weg, wenn ich einen von de- Regen, das Festzelt voll, eine dampfende, Auch dazu kein Kommentar von Sven nen sehe.« Von Sven Wolters dazu wieder aufgeladene Stimmung. Wolters. Ins Gesamtbild gehört sicherlich, nur Schweigen. Was dann passiert sein soll, haben die dass es in der Szene Groupies gibt, wie Die Reiterliche Vereinigung hat lange beiden Schneider-Töchter beim Reiterver- Insider berichten, Mädchen, die für die gebraucht; erst im Juli, nach mehr als band ausgesagt. Mit dem SPIEGEL wollten erfolgreichen Reiter schwärmen und in der einem halben Jahr, meldete sie den Fall sie nicht reden, aber es kursiert eine schrift- aufgeheizten Festzeltstimmung ihr Aben- der Schneider-Schwestern an die Staats- liche Version. Demnach habe Sven Wol- teuer suchen. Doch bei freiwilligem Sex anwaltschaft Münster und an den Weltrei- ters die ältere Schwester am Rand der Tur- soll es nicht geblieben sein. terverband. Gleichzeitig wurde Sven Wol- nierparty im Intim- und Brustbereich be- Eine junge Reiterin, die anonym bleiben ters für 18 Monate aus dem Bundeskader grapscht. »Hab tausendmal gesagt, er soll will: »Diese Jungs machen Mädels besof- verbannt. Rechtskräftig ist die Sperre aber aufhören, aber er hat nicht aufgehört, und fen, damit die nicht mehr Herr ihrer Sinne noch nicht, und wenn sie ein starkes Sig- dann konnte ich mich mit Gewalt losrei- sind … Wenn man einmal Nein sagt, hören nal in die Reiterjugend schicken sollte, ßen, er war ja auch stark besoffen.« Wol- die noch lange nicht auf. Scheißegal, ob dann hat es der Verband auch diesmal ge- ters sei wütend geworden, da fiel angeblich das Mädchen das will. Wenn die ein Mäd- schafft, den Effekt zu ruinieren. der Satz, dann werde er halt die jüngere chen wollen, dann hat das Mädchen das Während die Funktionäre darum kämp - Schwester »ficken«. An ihrem BH, so die zu machen.« fen, die Sperre gegen Wolters durch- Schilderung der Jüngeren, habe er vorher Das sind schwere Vorwürfe, und wer zusetzen, besorgt ihm Otto Becker, Chef- schon beim Tanzen herumgenestelt. auch immer beim Turnier in Lichtenvoor- trainer der deutschen Springreiter, weiter

DER SPIEGEL Nr. 36 / 1. 9. 2018 95 Sport

Startplätze für Turniere in Deutschland. porter lag, schwer betrunken, halb nackt. Polonaise mit Wolters, war der Reiter auf- Wolters beteuere doch seine Unschuld, au- Der Jugendreiter, damals 17, musste danach gefallen. Nun spielt er auch in einem mys- ßerdem stehe Aussage gegen Aussage. Der bei der Disziplinarkommission Rheinland teriösen Fall eine Rolle. Bundestrainer habe sich da eben für den antreten. Er brachte einen Düsseldorfer Juni 2018, die Deutschen Meisterschaf- »sportfachlichen Weg« entschieden, er- Spitzenanwalt mit und räumte ein »un - ten im Sauerlandstädtchen Balve: Im Pu- klärt FN-Geschäftsführer Peiler mit so reiterliches Verhalten« ein – zu viel Alko- blikum sitzt eine junge Irin. Ein deutscher neutraler Stimme, als fürchte er sich, das hol. Er werde sich bessern, versprochen. Bekannter, der ihr ein Getränk mitbringen näher erklären zu müssen. Die Kommission soll ihn gewarnt haben. will, holt sich eine Abfuhr. Die Begrün- Wie der Bundestrainer mit dem Fall Noch ein Vorfall, und er fliege aus dem dung, so heißt es: Seit einem Turnier im umgeht, zeigt, dass im Reiterlager die Bundeskader. französischen Fontainebleau ein paar Wo- Nachsicht im Zweifel immer noch größer Der Landesverband äußert sich nicht chen vorher nehme sie von anderen nichts ist als die Vorsicht. Dabei war Wolters zu dem Verfahren, die Frau reagierte nicht mehr an. Aus Angst vor K.-o.-Tropfen. schon 2017 aufgefallen. Mit einem Natio- auf SPIEGEL-Anfragen. Anfangs, so ist zu In Fontainebleau hatte sie sich am Vor- nalmannschaftskollegen hatte er bei den hören, soll sie noch belastende Aussagen abend eines wichtigen Springens noch ein Europameisterschaften im slowa kischen gemacht haben: dass der Jungreiter sich Glas ausgeben lassen. Kurz danach kippte Šamorín schwer angetrunken Polonaise an ihr vergriffen und auf sie uriniert habe. sie um, wurde zu ihrem Wohn-Lkw ge- durch die Zimmer getanzt und schleppt. In der Nacht öffne- ein Bett zerlegt. Die FN gab ten zwei deutsche Reiter die sich damals mit einer Verwar- unverschlossene Tür des Pfer- nung zu frieden. detransporters; die Mutter der Inzwischen ermitteln in Irin erwischte die beiden und Deutschland aber gleich warf sie hinaus. Am folgenden zwei Staatsanwaltschaften, Tag empörte sich der Trainer in Müns ter und in Koblenz, der Irin beim deutschen Bun- ob damals im Hotel noch destrainer Teeuwen, was sei- mehr passierte. Sie verneh- ne Jungs da täten. Aber nach men Zeugen, gehen dem Hin- ein paar Gesprächen stellte weis nach, dass in dem Zim- Teeuwen die Nachforschun- mer angeblich noch ein sehr gen ein. Auch die Mutter der junges Mädchen gewesen sei, Irin sei einverstanden gewe- völlig betrunken, möglicher- sen, sagt die FN. weise Opfer einer Vergewal - Teeuwens Jungstars hatten tigung oder sexuellen Nöti- beteuert, sie hätten nichts da- gung. Wolters sagt auch dazu mit zu tun gehabt, dass die nichts, der Reiterverband, Reiterin in Ohnmacht gefallen dass er von diesem Verdacht sei, und nur mal nachsehen zum ersten Mal durch den wollen, ob es ihr wieder gut SPIEGEL gehört habe. »Wir gehe. Dass sie nicht geklopft haben dazu keinerlei Er- hatten, sei sicherlich falsch ge- kenntnisse.« wesen. Die Irin wollte mit Dass die Spitze in Waren- dem SPIEGEL nicht reden, ihr dorf nicht alles mitbekommt, Trainer auch nicht. Begrün- wäre allerdings nicht das erste Mal. Es Inzwischen soll sie das anders darstellen, dung: Es sei ja am Ende nichts passiert. gibt da noch einen Namen, der immer nämlich so wie auch der Unternehmer- Dass sich seine Reiterin am Abend vor so wieder fällt, wenn von der »Clique« die sohn. Er lässt durch seine Anwältin aus- einem wichtigen Springen ins Koma ge- Rede ist. Ein Unternehmersohn aus dem richten, er habe zwar zu viel getrunken, trunken haben könnte, sei aber völlig un- Rheinland; andere Reiter raunen von der Frau aber nichts getan. Die Reiterin denkbar. »Geld endlos«, von einem »Millionen- sei schon schwer alkoholisiert zu ihm in budget für frische Pferde« jedes Jahr. den Lkw gestiegen, habe sich Hose und Ins Bild passt da noch ein anderer Fall, Laut Rangliste war er 2017 einer der Schuhe ausgezogen und in sein Pferde- in dem sich eine junge Frau ihren Blackout besten Jungreiter, nur offenbar nicht sehr abteil uriniert. angeblich nur mit K.-o.-Tropfen erklären begabt darin, sich selbst so im Zaum zu Deshalb habe er sie nach draußen ge- kann. Beim Turnier in Hagen am Teuto- halten wie sein Pferd. schickt, wo sie offenbar von der Treppe burger Wald lag kürzlich nachts um drei Schon 2015 kam es zu einem Vorfall gestolpert und liegen geblieben sei. »Es eine Springreiterin aus Rheinland-Pfalz beim Turnier in Keppeln am Nieder- trifft nicht zu, dass es zu einem sexuellen bewusstlos neben dem Festzelt. Erster Ver- rhein, zu einem Verfahren und einer Übergriff gekommen ist«, schreibt die An- dacht: Alkoholvergiftung. Sie kam ins Geldbuße von 2000 Euro. Warum? »Ju- wältin. Die junge Frau habe sich auch kur- Krankenhaus, war aber schon früh am gendtypisches Fehlverhalten.« Welches? ze Zeit später in einer WhatsApp-Nach- folgenden Morgen wieder fit. Ein Glas Weiß die FN in Warendorf angeblich richt entschuldigt, der Jungreiter leide bis Weinschorle habe sie getrunken, mehr auch nicht. Der Verband Rheinland habe heute unter den falschen Gerüchten. Nein, nicht, danach: Filmriss. sich geweigert, den eigenen Bundesver- Geld habe die Frau von der Unternehmer- Ihre Familie schrieb später dem Lan- band aufzuklären. Begründung: Jugend- familie nicht bekommen. desverband Rheinland-Pfalz, sprach aus, schutz. Noch ein großes Reittalent gehört zu was sie vermutete. K.-o.-Tropfen. Doch Fest steht, dass es in Keppeln wieder den Jungs, von denen es heißt, sie hielten der Bundesverband wollte den Fall nicht mal ein Besäufnis in einem Pferde-Lkw nicht nur wie Pech und Schwefel zusam- an sich ziehen, und auch der Landesver- gab, dem Laster der Unternehmerfamilie – men, sie seien auch genauso leicht ent- band gab sich nicht allzu viel Mühe, der und eine junge Frau, die vor dem Trans- zündlich. Schon in Šamorín, bei der Euro- Sache auf den Grund zu gehen. Statt-

96 DER SPIEGEL Nr. 36 / 1. 9. 2018 Flexibel bleiben: Lesen Sie den dessen wurde die Nachwuchshoffnung für die Deutschen Meisterschaften gesperrt, weil sie am nächsten Morgen, zurück aus SPIEGEL, solange Sie möchten! dem Krankenhaus, nicht mehr geritten war. So lief es bisher offenbar bei den Rei- tern: schnell, hoch und Mund halten. Da- mit kein Schmutz kleben bleibt am Sport. Diesen Eindruck hat offenbar inzwischen auch Zartbitter, der Verein, der sich um Betroffene sexueller Gewalt kümmert. Rei- terinnen und Reiter, aber auch der Ver- band selbst können sich an die Experten wenden. Schon seit 2011 arbeitet die Rei- terliche Vereinigung mit Zartbitter zusam- men. »Damit waren sie damals eine der Ersten im Sport, das war vorbildhaft«, sagt Ursula Enders, die Zartbitter-Chefin. Aber heute? »Die weitere Entwicklung haben sie verschlafen.« Zwar meldeten sich in den vergangenen Jahren Betroffene aus kleineren Ställen bei Zartbitter; von der Verbandsspitze Keine aber sei kaum etwas gekommen, obwohl es schwerwiegende Fälle gegeben habe. Mindest- »Wir müssen überlegen, wie viel Sinn eine Kooperation dann überhaupt macht«, laufzeit murrt Enders. Und: »Man kann nur hof- fen, dass die Reiterliche Vereinigung nun wachgerüttelt wird.« Das aber ist sie, und wie: Vergangene Woche telefonierte die FN in Warendorf alle Landesverbände ab und warnte sie, dass bei den Jugendmeisterschaften am nächsten Wochenende in München aller- größte Disziplin nötig sei. Hartwig Knapp, Sportwart im Hessi- schen Landesverband, klärte seine Reiter in einer Mail auf: »Das Magazin SPIEGEL recherchiert derzeit bundesweit … Es ist höchst wahrscheinlich, dass in München Personen vor Ort sind, die das Geschehen unauffällig in Wort und Bild festhalten wol- len …« Deshalb habe die FN-Spitze drin- gend darum gebeten: »Verzichtet bitte im Rahmen der Deutschen Jugendmeister- Der SPIEGEL jede Woche frei Haus: schaften auf exzessive Partys und Alkohol- konsum … Ich appelliere heute an alle œıōğZĴťĴłœĿğĚğšƊğĴŭłŸōĚĒćš ŋĴŭĚğŋ>0eZÅekZ^V0(> Gäste der DJM: Lasst uns unseren Sport ȃȲĬŸōťŭĴĬğšćŅťĴŋĴōƊğŅıćōĚğŅ žğšĬŸōťŭĴĬŭğeĴĔłğŭťĨŸšćųťĬğſČıŅŭğ (auch im Hinblick auf Alkohol) ›sauber‹ łœťŭğōŅœťğškšŅćųĒťťğšžĴĔğ SPIEGEL-Veranstaltungen halten.« ſſſLJťŝĴğĬğŅǗŅĴžğLJĚğ Um ihn sauber zu halten, müsste man ihn aber erst mal grundreinigen. Ein hartes Alkoholverbot hat die Reiterliche Vereini- gung auch diesmal nicht verhängt. Rafael Buschmann, Jürgen Dahlkamp, Gunther Latsch, Ann-Katrin Müller, Ja, ich möchte bequem den SPIEGEL lesen! Jörg Schmitt Mail: [email protected], Ich lese den SPIEGEL für nur € 4,80 pro Ausgabe statt € 5,10 im Einzelkauf [email protected] und entscheide selbst, wie lange ich den SPIEGEL lesen möchte.

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Ist es möglich, dass es die Welt, in der wir leben, gar nicht geben kann? ‣S.104 JOSHUA STEVENS / NASA EARTH OBSERVATORY EARTH / NASA STEVENS JOSHUA Rauch, Staub und Stürme lassen die Erde am 23. August wie ein bizarres Kunstwerk aussehen. Erstellt wurde das Bild mit einer Software der US-Weltraumbehörde Nasa, die jene Partikel sichtbar macht, die durch die Atmosphäre schwirren. Im »Goddard Earth Observing System Forward Processing«-Modell erscheinen die salzigen Aerosole aufgewühlter Ozeane blau; wo es rot ist, wütet am Boden ein Feuer, und in Violett wehen Staubpartikel durch die Luft. Zu sehen sind die Taifune »Soulik« und »Cimaron« vor der koreanischen und japa- nischen Küste, Hurrikan »Lane« vor Hawaii, Waldbrände in Nordamerika und Sandstürme über der Sahara.

Tiere Exemplare von Nicrophorus vespilloides Fußnote Stärker ohne Mama auf. In der Hälfte der Fälle mussten die Käferkinder als Waisen aufwachsen, die Die Weibchen der Totengräber gelten Kontrollgruppe lebte in intakten Fami - 2,8-mal als die Glucken im Reich der Käfer. An - lien. Nach etwa 30 Generationen, stellte ders als bei den meisten anderen Insek- Kilner fest, hatten die mutterlosen Käfer- tenarten überlassen sie ihre Eier nicht larven größere und stärkere Kiefer ent- so häufig unter Karies leiden Fünf- sich selbst, sondern betreiben aufopfe- wickelt als ihre Artgenossen, sodass sie bis Neunjährige, deren Vater und rungsvolle Brutpflege. So nagen die sich selbst Zugang zu Nahrungsquellen Mutter keinen Ausbildungsabschluss Aasfresser Krater in zuvor verbuddelte verschaffen konnten. Dabei kooperierten haben, im Vergleich zu Altersgenossen Tierkadaver, in denen sich die Larven sie auch besser mit ihren Geschwistern aus Familien mit höherem Bildungs - entwickeln und wo sie anfangs gefüttert als die anderen Larven, die unter mütter- stand. Und knapp 2,5-mal so oft werden. Doch auch ohne Hilfe kommt licher Fürsorge zu kleinen Einzelkämp- sind Kinder bildungsferner Eltern fett- der Nachwuchs überra- fern herangewachsen leibig, berichtet die Krankenkasse schend gut zurecht, wie waren. Ob die Waisen in DAK-Gesundheit in ihrem Kinder- und Rebecca Kilner von der freier Natur ähnlich gut Jugendreport. Die Bildung der Eltern University of Cambridge zurechtkämen, steht hat dabei mehr Einfluss auf die Ge - feststellte. Im Labor indes dahin. Denn dort sundheit der Kinder als das Einkommen zog die Forscherin mehr schützen ihre Eltern sie der Familie, fanden die Autoren der

als fünf Jahre lang viele PRESSLAND / GETTY IMGS. vor Feinden. JKO Studie von der Uni Bielefeld heraus.

98 Psychologie Botanik »Das jüngste Kind ist meist der Querdenker« Wie Elefanten der Aubergine halfen Gerhard Jorch, 66, Neonatologe und nen auch das Vertrauen in eigene Fähig- Neuropädiater an der Magdeburger keiten und darauf, dass am Ende alles gut Pflanzenkundlern aus Lon- Universitätskinderklinik und Vater von wird. Eine Mutter von fünf, sechs Kin- don und Helsinki ist es mit- neun Kindern, über das Glück, viele dern kann nicht jedes einzelne von mor- tels Genom analysen mögli- Geschwister zu haben gens bis abends überwachen. Außerdem cherweise gelungen, das ist die Beziehung zu den eigenen Ge - Rätsel um die Herkunft SPIEGEL: Herr Professor Jorch, Sie hal- schwistern meist die längste, die man im der Auber gine zu lösen. ten Großfamilien für einen Segen. Aber Leben hat. Welche andere Beziehung Bislang wussten Bota - werden nicht längst die meisten Kinder kann locker 70, 80 Jahre andauern? niker zwar, dass das ohne mehrere Geschwister groß? SPIEGEL: Die meisten Eltern hätten heut- Nachtschattengewächs Jorch: Keineswegs. Es gab im Jahr 2016 zutage wohl Angst, mit mehr als zwei einst im tropischen in Deutschland mehr Kinder, die mit Kindern nicht mehr arbeiten zu können. Asien domestiziert wor- zwei oder mehr Geschwistern aufwuch- Jorch: Auch das sollte sich ändern. Ich den ist. Seine genetisch sen, als Einzelkinder. Bei zwölf Prozent habe zum Beispiel selbst schon wichtige eng verwandten wilden der Familien hierzulande lebten sogar Uni-Sitzungen verlassen, weil ich meine IMAGO Gattungsgenossen jedoch, mindestens drei Kinder. Trotzdem den- Kinder abholen musste. Das muss norma- das zeigte sich nun bei molekularbiolo- ken viele Menschen beim Thema Kinder- ler werden. Als Arbeitgeber beobachte gischen Nachforschungen, waren reichtum erst einmal an Armut, Chaos ich, dass meine jungen Mitarbeiter und bereits vor zwei Millionen Jahren im und Jugendamt. Das wollen wir Kinder- Mitarbeiterinnen häufiger viele Kinder nordöstlichen Afrika zu Hause. Dort und Jugendmediziner ändern. bekommen, als das in den vergangenen habe der Siegeszug der Gemüsepflanze SPIEGEL: Was unterscheidet Kinder mit Jahrzehnten der Fall war. Mir als Chef offenbar seinen Anfang genommen, vielen Geschwistern von ihren Altersge- ist eine Schwangerschaft lieber als eine berichten die Botaniker um Xavier nossen aus Kleinfamilien? Midlife-Crisis. Bei der Schwangerschaft Aubriot vom Londoner Natural History Jorch: Aus der Geschwisterforschung wis- weiß ich, wie lange sie dauert. JKO Museum im »American Journal of sen wir, dass sich erste Kinder oft ange- Botany«. Später ge langte sie ins tropi- passt und regelkonform verhalten; bei sche Asien. Dass sich die wilden Ver- vielen Geschwistern ist das jüngste Kind wandten in Afrika ausbreiten konnten, meist der Querdenker, bereit, zu neuen lag an Elefanten und Impalas. Die Ufern aufzubrechen. Unsere Gesellschaft Pflanzenfresser legen weite Strecken braucht dieses Potenzial der Kreativen zurück und scheiden mit dem Kot auch und Unangepassten. Wer mit vielen älte- Samen ihrer Nahrung aus. Die Kennt- ren Geschwistern aufwächst, wird zum nis der Verwandtschaftsbeziehungen Teil auch von denen mit erzogen. Die im Reich der Auberginen, hoffen die machen das ganz anders als Eltern. Forscher, könnte künftig bei der Zucht SPIEGEL: Und das ist gut für die Kinder? von Pflanzen helfen, die besser mit Jorch: Ja, denn sie müssen vielleicht Klimawandel und regionalen Böden JKO mehr warten und verzichten, aber sie ler- ADRIAN BISCHOFF / PLAINPICTURE zurechtkommen.

Glosse Besser liegen bleiben Warum das Gezeter über die Zeitumstellung kleinlich ist

Über die Leistungsbilanz des verstorbenen Bundeskanzlers Hel- der von der modernen Forschung längst zertrümmert worden mut Schmidt mögen sich die Historiker streiten. Faktisch ist uns ist: die irrige Vorstellung, dass es so etwas wie den perfekten von ihm vor allem die Sommerzeit geblieben. Es ist kein Zufall, Schlaf gäbe. Schon der Glaube, der Mensch könne selig neun dass ausgerechnet er ein »Gesetz über die Zeitbestimmung« ver- oder zehn Stunden am Stück ohne Unterbrechung vor sich hin abschieden ließ. Ein Helmut Schmidt ließ sich eben von nichts schlummern, wird heute nur noch von einfältigen Wellness- und niemandem in die Knie zwingen – nicht von Gezeiten und magazinen oder Matratzenherstellern pro pa giert. In Wahrheit schon gar nicht von Uhrzeiten. Vor dem mächtigen Ruf des Han- sind wir bis zu 23-mal pro Nacht länger als eine Minute wach. seaten wichen einst in Hamburg die Sturmfluten zurück; und sein Etliche von uns wälzen sich nächtens sogar mehr als eine Stunde Wille zähmte auch die Chronometer zum halbjährlichen Wechsel. schlaflos in den Laken und verzweifeln darüber. Dieser Durchsetzungskraft wird das kleinliche Gezeter Würde die Zeitumstellung abgeschafft, beschädigte dies auch über die stets wiederkehrende Zeitumstellung in keiner Weise das Erbe eines großen Mannes. Wie überflüssig! Der bekennen- gerecht. Manche meckern über Herzprobleme, die ihnen der de Langschläfer Schmidt selbst verweigerte sich übrigens dem Verlust oder Zugewinn von jeweils einer Stunde verursachen Zeitdiktat. Er blieb einfach liegen, getreu dem Motto: »Wen du würde. Sensible Eltern beklagen, ihre Kleinen würden dadurch vor neun Uhr morgens auf der Straße siehst, der ist nichts und völlig aus dem Tritt geraten. Hinter alldem steckt ein Mythos, der wird auch nichts!« Frank Thadeusz

DER SPIEGEL Nr. 36 / 1. 9. 2018 99 Wissenschaft Der Befristete

Schicksale Der Maler Marc Jung weiß nicht, wie viel Zeit ihm noch bleibt für seine Kunst. Hat ihm sein Vater die tödliche Erbkrankheit Chorea Huntington weitergegeben? Das Risiko liegt bei 50 Prozent. Eine Bedrohung, die sich auch in seinen Bildern zeigt.

oll ich was malen?« Ja, bitte! Marc Jung klatscht in die Hände, packt S eine weiße Leinwand aus der Plas- tikfolie, hängt sie an zwei rostigen Nägeln an die Wand seines Ateliers in Er- furt und startet die Musik auf dem Laptop, der hinter ihm steht. Er mag das jüngste Album des Rappers A$AP Rocky, bei dem das S wie ein Dollarzeichen geschrieben wird. Aus den Boxen im Regal wummern Synthiebässe in den Raum, dreckig wie das, was sich auf dem Boden von Müll - tonnen sammelt. Der Rapper nuschelt: »Yeah I’m faded, yeah I’m shaded.« Auf dem Schreibtisch steht eine Packung Prin- zenrolle. Jung streckt die Arme über den Kopf und macht ein paar Dehnübungen. Dann kniet er sich vor das leere Bild, greift zu einer Plastikschachtel, in der früher Mar- garine war, und angelt daraus einen Kohle- stift. Die Leinwand vor ihm leuchtet gäh- nend weiß. Was er jetzt malt? »Das weiß ich nicht«, sagt Jung, »vielleicht mal wie- der einen Kopf.« Er fackelt nicht lange und legt gleich los. Marc Jung ist 32 Jahre alt und ein viel beachteter Maler. Er hat ein Diplom von der Bauhaus-Universität Weimar, studierte bei Daniel Richter in Wien und bekam als Gymnasiast einst ein paar Sozialstunden aufgebrummt, weil man ihn beim Sprayen in erwischt hatte. Er wird in Weimar, Berlin, München ausgestellt. Kürzlich kaufte die Ziehmutter des Sängers Axl Rose eines seiner Werke. Eine Kunstzeitschrift schrieb kürzlich über ihn, dass er rastlos, wild und unan- gepasst male. Und dass er das vermutlich tue, weil er sich nicht sicher sein könne, wie viel Zeit ihm noch auf Erden bleibe. Fragt man Jung danach, lacht er. Er fin- det diese Zeilen ein wenig zu pathetisch. Zumal ihm, wenn es losgehen würde mit der Krankheit, immer noch ein paar Jahre bleiben würden. »10 bis 15 Jahre«, sagt Jung. Aber darüber, sagt er, mache er sich derzeit keinen Kopf. »Chorea was?«, hat er seine Mutter vor neun Jahren gefragt, als sie ihm davon erzählte. Die Krankheit heißt Chorea Huntington. Das ist ein sperriger Name, weshalb sie auch gern »HK« abgekürzt wird, nach der Bezeichnung »Huntington- NORA KLEIN / DER SPIEGEL Krankheit«. Künstler Jung: »Kann sein, dass es bald losgeht«

100 DER SPIEGEL Nr. 36 / 1. 9. 2018 Bei der HK ist ein Gen auf dem kurzen ckern, kantig und ungelenk. Es wirkt, als Großeltern daran erkrankten. In Deutsch- Arm des vierten Chromosoms mutiert. wären sie nicht mehr Herr über ihren Kör- land sind etwa 10000 Menschen betroffen. Wird das defekte Gen abgelesen, entsteht per. Früher nannte man die HK auch den Das Risiko, dass die Mutation weiter- eine schadhafte Form des Eiweißes Hun- »Veitstanz«. Am Ende der Krankheit steht vererbt wird, liegt bei 50 Prozent, egal ob tingtin. Nervenzellen, die in den Bereichen oft eine Demenz und der Tod. sie von Vater oder Mutter stammt. Wer des Gehirns liegen, die für Bewegung zu- Sie bricht bei den meisten Betroffenen die Krankheit geerbt hat, bei dem wird sie ständig sind, werden zerstört. zwischen dem 30. und dem 50. Lebensjahr auch ausbrechen. Die HK ist nicht heilbar; Die Betroffenen können ihre Mimik, die aus. Dass man an der HK leiden könnte, trotz großer Forschungsanstrengungen Bewegungen ihrer Arme und Beine irgend- ahnt man meist nur, weil man in der eigenen gibt es bis heute kein Medikament, keine wann nicht mehr kontrollieren. Sie schla- Familie erlebt hat, dass schon Eltern oder Therapie, die sie verschwinden lassen könnte. Lange bevor die Krankheit ausbricht, kann inzwischen ein Bluttest nachweisen, ob man die Genmutation in sich trägt. Will man wirklich wissen, ob man dieses Schicksal erleiden wird? Jung hat für sich eine Entscheidung getroffen. Doch wie lebt er damit? Mit dem Kohlestift zieht Jung ein paar schnelle, starke Striche. Er zeichnet einen Kopf, Haare, Nase, Augen, zieht herunter zum Kinn, schwingt einen breiten Mund mit bleckenden Lippen. Er setzt den Stift nur wenige Male ab, zögert nicht, prüft nicht. Er arbeitet schnell. So, als würde er das, was da vor ihm erscheint, von einer Vorlage darunter abpausen. Als er fertig ist, greift er zu einer Dose und sprüht Klarlack über die Kohlestriche, damit sie nicht verwischen. Jung tritt ein paar Meter von der Leinwand zurück und betrachtet sein Bild. Der Rapper A$AP Rocky singt im Hintergrund: »My newest president is an asshole.« Die Kreatur vor ihm sieht aus, als hätte man ihr das Gesicht zertreten. Vor ein paar Tagen ist Jung nach Mün- chen gereist. Dort trifft man ihn in einem weichen Loungesessel des »Heart«-Klubs in der Innenstadt. Für den Winter bereitet er eine Ausstellung vor. Jung hat eine Cola bestellt. Der Kellner bringt dazu einen Kü- bel Eiswürfel, die er mit der Silberzange reicht. Jung grinst und bedankt sich. Seine Welt ist das hier nicht. Jung ist bei seiner Mutter in Erfurt auf- gewachsen. Die Eltern trennten sich bald nach der Geburt. Seine Mutter war damals 22 Jahre alt. Sein Vater, ein gelernter Tisch- ler, zog in den Nullerjahren nach München, wo er am Flughafen arbeitete. Danach traf Marc Jung ihn nie wieder. Wann der Vater geboren wurde, weiß er nicht. 2009 bekam die Mutter einen Anruf. Der Bruder seines Vaters berichtete ihr, dass die- ser schwer erkrankt sei, an Chorea Hunting- ton, sehr schlimm. Der Vater wohne jetzt bei ihm in der Eifel, wo er gepflegt werde. Jung war damals 24 Jahre alt. Er setzte sich vor den Computer und fing an zu googeln. Das Eis schmilzt im Glas, ein paar Wes- pen surren über der Cola. Jung sagt: »Es kann sein, dass es bald losgeht.« Vielleicht aber auch erst im hohen Alter. Oder gar nicht. »Man weiß es nicht.« NORA KLEIN / DER SPIEGEL Seit den Achtzigerjahren ist es möglich, Jung-Bild »Red Sparrow«: Schnell, präzise, atemlos genetisch zu testen, ob bei einem Men-

101 Wissenschaft schen die Mutation vorliegt. Weil die In seinem Atelier in Erfurt reißt er das zubleiben, durchzuhalten. Der Sport prägt Krankheit nicht heilbar und das Schicksal Papier an den Ölstiften, das als Grifffläche sein Leben, er braucht ihn. Heute spielt er der Betroffenen so schwer ist, überlegten dient, herunter. Er fasst die Stifte an deren fast jeden Abend Basketball. damals Psychiater, Mediziner, Genetiker, Ende, so, als wären sie schon jetzt nur Die zweite Wendung brachte die Krank- wie die Unterstützung rund um den Test noch Stummel. Jung wird viel Farbe brau- heit seines Vaters. Jung hatte bereits an- aussehen soll. chen. Er füllt die Skizze seines Kopfes in gefangen, Kunst am Bauhaus in Weimar Den Betroffenen wird geraten, sich Zeit Pink und Hellgrün, in Rosa und Gelb aus. zu studieren. Er stöpselte Skulpturen zu- für die Entscheidung zu nehmen; eine psy- Dann schnappt er sich mit der rechten sammen, drehte Videos. Dümpelte im vier- chologische Beratung wird empfohlen. Hand eine Spraydose, mit der linken Hand ten Semester vor sich hin. Er sagt, er habe Kein Testergebnis darf über das Telefon einen Pappkarton. Den Karton benutzt damals schon einen Weg in die Malerei ge- herausgegeben werden. Nicht einmal die er, um den bunten Kopf abzudecken, aus sucht. Er könne gut realistisch malen. Aber Ärzte wissen bis zum Öffnen des Um- der Dose sprüht er Farbe auf den Rest des es sei ihm schwergefallen, etwas Neues zu schlags, ob ihr Patient die Mutation in sich Bildes. finden. Er sei damals zu verkopft gewesen. trägt. Es soll bis zum Schluss klar sein: Wis- Das Fenster in seinem Atelier lässt sich Der Anruf seines Onkels, die Krankheit sen oder nicht – die Entscheidung liegt nicht öffnen. Aerosol und Hip-Hop-Bässe haben das Grübeln gestoppt. Nachdem er allein bei den Betroffenen. Es ist eine wabern durch den Raum. Jung wippt mit sich jahrelang überlegt hatte, was er alles schwere Entscheidung. Im ersten Jahr den Füßen. Der Hintergrund des Bildes ist nicht tun wollte, war ihm jetzt klar: ein- nach einer Diagnose begehen auffallend fertig. Jung tritt wieder einen Schritt zu- fach machen. Den Augenblick nutzen. viele HK- Patienten Suizid. »Sonst«, sagt Jung und knüllt die Packung Als sie von der Erkrankung des Vaters Kekse zusammen, »kannste schön heim- erfuhr, schickte seine Mutter Jung zu einer Ein Gemetzel aus gehen.« Humangenetikerin. »Ich bin in die Praxis Körpern und Fratzen. Jung führte schon damals ein Skizzen- rein und wollte es wissen«, sagt er. Doch buch. Er blätterte es durch, fand darin vie- die Ärztin bremste ihn: »Man kann nichts Gesprayt, gemalt, le vage, abstrakte Figuren. Er sah, dass die machen. Also überlegen Sie genau: Was mit Farbe verspritzt. über die Jahre immer kindlicher, einfacher haben Sie am Ende davon?« geworden waren. Ihm wurde klar, dass es Sie habe ihn gebeten, vor einem Test dieses Unperfekte, nicht Eindeutige war, noch zwei-, dreimal einen Psychologen rück. Er sagt. »Gut, okay.« Der verschro- wonach er gesucht hatte. In dem Buch aufzusuchen. »Das hätte sich alles gezo- bene Kopf schwebt jetzt auf einem Meer steckte alles drin. gen«, sagt Jung. Er war ungeduldig. Er aus Farbe. Es ist blutrot. Jetzt, da er entschlossen war, nicht mehr dachte: »Wenn du es nicht hast, dann ist Jung setzt sich auf einen kleinen Holz- zu zaudern, legte er los: In Erfurt nahm er das Thema durch. Aber wenn doch? Dann stuhl und packt die Prinzenrolle aus. Er sich ein Atelier am Bahnhof, im sogenann- macht es dich verrückt.« erzählt, dass sein Vater nicht sehr an sei- ten Zughafen, in dem auch der Musiker Damals, vor fast zehn Jahren, beschloss nem Leben beteiligt gewesen sei. Doch Clueso seine Karriere begann. Ein Semes- Jung, die Krankheit einfach zu vergessen. die zwei wichtigsten Wendungen darin ter lang studierte er in Wien bei dem Maler Einen anderen würde die Ungewissheit habe er eingeleitet: Die erste war der Daniel Richter. Er traute sich nun, bunter, vielleicht quälen. Er selbst lasse sich Sport. Als er mit sechs Jahren Asthma be- großflächiger, ausladender zu werden. Er dazu aber keine Zeit. Die Arbeit füllt kam, nahm ihn die Mutter aus der Fuß- hat sich, wie er sagt, seitdem »alle mög- ihn voll aus. ballmannschaft. Der Vater riet: »Geh zum lichen theoretischen Konzepte verknust«. Doch auch wenn Jung nicht weiß, ob er Ringen.« Jung steht auf und kramt das dicke, in sie hat: Die Krankheit hat schon jetzt sein Marc Jung stand bis zum 18. Lebensjahr schwarzes Leder gebundene Buch hervor, Leben verändert. Wer ihm beim Malen auf der Matte, zum Schluss hat er in der in dem er gerade seine Skizzen sammelt. zusieht –schnell, präzise, atemlos –, be- Zweiten Bundesliga gekämpft. Er sagt: Er blättert. Auf manchen Seiten sieht man kommt das Gefühl: Dieser Mann hat keine »Ringen ist nicht besonders schön anzuse- Tableaus aus Figuren, sitzend, kniend, in Zeit zu verlieren. hen.« Doch er hätte dadurch gelernt, dran- Diskussionen, Gesprächen festgehalten.

Chorea Huntington Entstehung und Vererbung der Krankheit

Bei Huntington-Patienten sterben in bestimmten Hirnbereichen Nervenzellen ab, Beim autosomal-dominanten Erbgang spielt das Geschlecht was unter anderem zu unkontrollierten Bewegungen führt. Ursache ist ein mutiertes keine Rolle. Bei den Nachkommen eines Erkrankten beträgt das Gen, das den Bauplan für eine schadhafte Form des Huntingtin-Proteins liefert. Risiko 50 Prozent. Kranker Gesunde Defekte Form des Vater Mutter Huntingtin-Proteins Mutations- mutierter DNA- träger Abschnitt Chromosomen

Boten-RNA als Bauplan

Krankes Kind Gesundes Gesundes Krankes Kind Mutationsträger Kind Kind Mutationsträger

102 gressiv und überfrachtet. Jung sagt, er woll- te die Brutalität dieses Tages da reinlegen. Auch wenn in ihm vielleicht eine tödliche Krankheit schlummert: Jung ist ein Maler, der die Gegenwart beobachtet, die Zustän- de um sich herum. In seinem Werk kreist er nicht um sich selbst. Was er sieht, bringt er gleich auf die Leinwand. »Ich bin sehr laut«, sagt Jung. »das ist auch in meinen Bildern so.« Malen, das ist für ihn auch eine körperliche Betätigung. In den Einladungen zu seinen Ausstellungen lautet die Anrede stets: »Liebe Malsportfreunde.« 1952 schrieb der Schriftsteller Elias Ca- netti ein Theaterstück, in dem die Prota- gonisten einer fiktiven Zukunft wissen, in welchem Alter sie sterben werden. Bei ihrer Geburt erhalten sie dieses Alter zum Namen. Eine Mutter heißt »32«, ihr Kind »70«. Es bildet sich bald eine Gesellschaft he- raus, in der diejenigen mit den niedrigen Lebensaltern weniger angesehen sind als die, die am ältesten werden. Der sogenann- te Kapselan wacht darüber, dass niemand aus diesem System ausbricht. Es zeigt sich bald, dass die Sicherheit, das eigene To- desalter zu kennen, auch Verzweiflung bringt. Ein Mann namens »50« beginnt schließlich zu revoltieren. Das Stück heißt »Die Befristeten«. Wird Marc Jung irgendwann seine Mei- nung ändern? Wird er doch wissen wollen, ob er die Mutation in sich trägt? Jung neigt den Kopf, er überlegt. Viel- leicht, wenn er eines Tages Kinder wollte. Wenn seine Partnerin darauf bestünde. Und wenn es dann so wäre? Er sagt: »Manche Leute würden daran zerbrechen. Ich glaube, ich käme damit zurecht.« Er sagt, er sei jetzt schon recht arbeitswütig. Vielleicht würde er in der verbleibenden Zeit dann noch mehr schaf- fen wollen. »Was kann ich anderes machen, außer mit mir im Reinen zu sein? Das sollte man als Mensch ohnehin versuchen.« Und es sei, sagt Jung, »so oder so schön, wenn man dabei noch etwas hinterlassen kann«. Dann stemmt er die Hände auf die

NORA KLEIN / DER SPIEGEL Oberschenkel, steht auf und mischt Öl - Maler Jung in seinem Atelier in Erfurt: »Ich bin sehr laut« farbe aus der Tube auf einer Holzpalette an. Weiß, rot, pink. Er türmt fleischige Fle- cken auf die Nase seiner Kreatur. Dann Auf anderen einfache, mit Bleistift gezeich- »Die erste Zeichnung zu einem größeren tritt er ein paar Schritte zurück, schaufelt nete Köpfe, Fratzen. Bild«, sagt Jung. Er erzählt von Erfurt und Farbe auf seinen Spachtel, holt aus und Er sagt, er sammle darin die irritieren- dem Tag, als Björn Höcke von der AfD wirft ihr Ölkleckse an den Kopf. den Momente im Alltag, Liedzeilen, Kom- auf dem Domplatz sprach. Die ganze Stadt Sicher? So? mentare von Freunden, Bilder aus dem In- war damals in Aufruhr. Er stand dabei, zwi- Er lacht. Klar so. ternet. »Dinge, die mich kurz zum Stehen schen Pegida-Leuten und Gegendemons- Das zerschossene Gesicht verschwindet gebracht haben.« tranten. Als er kurz in eine Kaufhalle ging, allmählich. Es wird immer unklarer. Jung Über eine der Seiten fliegen mehrere kam er nicht mehr raus, weil wenig später nennt es: sich da rausmalen. Was zu ein- wirre Fratzen, lose, aber wütend miteinan- »der Platz voller Nazis war«. deutig ist, muss weg. Er sprüht Farbe aus der verbunden. Unter der Skizze steht: Das Bild heißt jetzt: »Björning down der Spraydose in den Deckel und schleu- »Jedes Mal Streit wegen der Schwanz - the house« und ist ein fast vier Meter lan- dert sie aufs Bild. Es ist sein letzter Schritt. lutscher.« ges Gemetzel aus Körpern und Fratzen. Jetzt ist er fertig. Kerstin Kullmann Was meint er damit? Gesprayt, gemalt, mit Farbe verspritzt. Ag-

DER SPIEGEL Nr. 36 / 1. 9. 2018 103 Wissenschaft NASA / ESA / B. SUNNQUIST/ J. MACK J. / B. SUNNQUIST/ / ESA NASA Galaxien (Aufnahme des »Hubble«-Weltraumteleskops): Dunkle Energie erfüllt den Raum und lässt ihn aufquellen

könnte: Ist es also möglich, dass es die Welt, in der wir leben, eigentlich gar nicht Insel im Sumpf geben kann? Oder hat Vafa bewiesen, dass die sogenannte Stringtheorie, auf der all Kosmologie Ist es möglich, dass es unser Universum gar nicht gibt? seine Rechnungen gründen, im Wider- spruch zur Wirklichkeit steht? Diesen verwegenen Verdacht äußert ein Physiker – und »So möchten es die Kritiker der String- weist zugleich einen Ausweg, wie unsere Welt doch existieren kann. theorie gern sehen«, sagt der Forscher von der Harvard-Universität. »Aber die wollen mich auch missverstehen.« Nur in einem urde je ein Kreidestrich gezogen, sind«, sagt er und zeigt auf die Fläche in Punkt stimme er mit ihnen überein: Seine der so viel umschloss wie diese dem Kreis. Dann deutet er auf die Punkte Hypothese habe, falls sie sich als richtig W Linie, die Cumrun Vafa an die darin: »Festen Boden gibt es nur hier, auf erweist, weitreichende Bedeutung. Tafel in seinem Büro an der Harvard-Uni- diesen Inseln – das sind die physikalisch Um zu verstehen, was er damit meint, versität kritzelt? möglichen Universen.« ist es erforderlich, sich mit dem Wesen der Dieser Kreis, doziert Vafa, während er Es mag verstiegen klingen, was der Stringtheorie genauer zu befassen. Seit ihn malt, soll nicht nur alle möglichen Uni- Mann da sagt. In der Gemeinde der theo- den Achtzigerjahren gilt dieses Gedanken- versen umfassen, sondern obendrein auch retischen Physiker jedoch hat sein Wort gebäude als vielversprechender Kandidat noch die unmöglichen. »Nur das hier«, Gewicht. Er ist berühmt, spätestens seit er für eine sogenannte Weltformel. Gemeint fügt er hinzu, während er ein paar Punkte im vergangenen Jahr den mit drei Millio- ist damit ein Satz von Gleichungen, der in dem Kreis verstreut, »das sind die we- nen Dollar dotierten Breakthrough-Preis die gesamte Physik umfasst; mit anderen nigen Universen, die mathematisch mög- gewonnen hat. Besonders seine jüngste Worten: ein mathematisches Konstrukt, lich sind.« Hypothese hat dem Physiker viel Auf- das sämtliche Phänomene der beobacht- Vafa will herausfinden, was die einen merksamkeit beschert. Er scheuchte die baren Wirklichkeit in sich vereint. von den anderen Welten unterscheidet. Fachwelt auf mit dem Verdacht, dass unser Fast ebenso alt wie der Traum von der Um das zu illustrieren, greift er zu dem Universum, wie es bisher beschrieben String-Weltformel ist die Kritik derjenigen, bildhaften Gleichnis von einem schier un- wird, gleichsam nicht auf einer der Inseln, die all das für ein bloßes Luftschloss halten. endlichen Sumpf, aus dem einige wenige sondern im Sumpfland liege. Niemals, so ihr Einwand, würden sich ihre Inseln ragen. »Das hier ist der Sumpf, in Unter Physikern ist daraufhin eine hef- Ideen beweisen lassen. dem es zu logischen Widersprüchen tige Debatte darüber entbrannt, was das, Unbeirrt von solchen Anfechtungen ge- kommt, also keine Universen möglich falls es denn stimmen sollte, bedeuten hen die Stringtheoretiker von der Grund-

104 annahme aus, dass die Natur nicht aus Verwirrt fragten sich die Astronomen: Wert der dunklen Energie, so behauptet punktförmigen Teilchen, sondern aus un- Woher nur kommt diese seltsame Art von er, liege stets im Sumpfland – sei also gar vorstellbar winzigen Fäden (»Strings«) auf- Energie? Die Theoretiker hingegen stellten nicht möglich. Nur ein Universum, in dem gebaut ist. Je nachdem, wie diese vibrie- sich eine ganz andere Frage: Warum nur sich die dunkle Energie ändert, könne ren, treten sie als eines der verschiedenen ist diese Energie so schwach? existieren. Und mehr noch: Er hat auch bekannten Elementarteilchen in Erschei- In ihren Formeln nämlich war durchaus nachgewiesen, dass die dunkle Energie, nung. Platz für dunkle Energie. Das Problem war wenn sie einen extrem kleinen Wert an- Als die Forscher damit begannen, die nur: Viel natürlicher wäre es, wenn mehr nimmt, sich automatisch auch extrem Eigenschaften solcher Strings zu erkunden, von dieser Energie vorhanden wäre, als langsam ändert. Das Mysterium der dop- stellten sie schnell fest, dass diese gar nicht die Astronomen gemessen hatten. Und pelten Feinabstimmung würde sich damit im uns vertrauten dreidimensionalen »mehr« bedeutet in diesem Fall: viel, viel auflösen. Raum beheimatet sind, sondern in einem mehr. Genau genommen: um einen Faktor Der Clou aber ist, dass Vafa auch ausge- Universum mit neun oder zehn räum - mit 122 Ziffern mehr. Das ist eine schwin- rechnet hat, was »extrem langsam« eigent- lichen Dimensionen. Und da sechs oder delerregend große Zahl. lich heißt. Das Ergebnis dieser Rechnung sieben dieser Dimensionen für uns Men- Warum hat es die Natur so eingerichtet, ist es, was die Gemeinde der Stringfor- schen unsichtbar sind, nahmen die Physi- dass die dunkle Energie ausgerechnet die- scher derzeit in höchste Erregung versetzt. ker an, dass sie eben auf winzigstem Raum sen unerhört niedrigen Wert annimmt, der Denn die Werte, auf die Vafa kommt, lie- zusammengeknüllt sein müssten. doch jeder Wahrscheinlichkeit entbehrt? gen genau in dem Bereich, der tatsächlich Die Folge war ein abenteuerliches Di- Unter Kosmologen hat das Rätsel einen messbar sein könnte. mensions-Origami: Weltweit versuchten Namen: »Feinabstimmung«. Im Rahmen des »Dark Energy Survey« Forscher, mithilfe mathematischer Tricks Um das Mysterium zu lösen und das fertigen die Astronomen derzeit eine drei- Dimensionen auf engstem Raum zu ver- Wesen der dunklen Energie zu ergründen, dimensionale Karte des Kosmos an, die knäueln. Und bald war klar: Das klappt können die Physiker nur eines tun: das eine Präzisionsvermessung der dunklen gut, die Vielzahl der Möglichkeiten kennt Phänomen genauer vermessen. Vor allem Energie ermöglichen soll. Künftig werden kaum Grenzen. Die Mathematik er- Weltraummissionen wie »WFIRST« laubt Abermilliarden verschiedener und »Euclid« noch genauere Daten Varianten, und jede davon beschreibt liefern. Gespannt warten die String- ein anderes mögliches Universum, je- forscher nun darauf, ob diese Vafas weils mit eigenen Elementarteilchen Theorie bestätigen werden. und Naturgesetzen. Es wäre für sie ein Triumph, auf Hier kommt Vafas großes Projekt den sie kaum mehr zu hoffen wagten. ins Spiel. Er will Kriterien finden, Denn sie sind es gewohnt, als mathe- nach denen sich in dieser unermess- matische Ästheten verlacht zu wer- lich großen Vielfalt der Möglichkeiten den, die unermüdlich Formeln ersin- jene herausfiltern lassen, die wirklich nen, die zwar bestechend schön, doch existenzfähig sind. »Viele Universen leider unbeweisbar sind. sehen auf den ersten Blick so aus, als In der Tat schien es bisher aus- wären sie erlaubt«, sagt Vafa. »Doch sichtslos, die brillanten Ideen der wenn man genauer hinsieht, merkt Stringtheoretiker durch Messungen man: Das stimmt gar nicht.« zu überprüfen. Denn die Strings, aus Vafa stellte zum Beispiel fest, dass denen all ihr Denken besteht, sind die Schwerkraft in allen physikalisch aberwitzig winzig. Wer versuchen möglichen Welten viel schwächer zu wollte, sie sichtbar zu machen, würde sein scheint als alle anderen Kräfte. Teilchenschleudern galaktischen Aus- Er schloss daraus, dass jedes Univer- maßes dafür benötigen. sum, in dem die Schwerkraft stärker Nun aber kommt Harvard-For-

ist, im verbotenen Terrain des Sumpf- BEN SKLAR / DER SPIEGEL scher Vafa daher und sagt: Womög- lands liegt. Bewiesen ist diese Behaup- Stringtheoretiker Vafa: Ankern in der Wirklichkeit lich dauert es nicht mehr lange, bis tung zwar noch nicht, die Indizien je- die ersten handfesten Beobachtungen doch scheinen Vafa recht zu geben. eintrudeln, welche die Stringtheorie Dann nahm sich Physiker Vafa eines der wollen sie herausfinden, ob die dunkle in der Wirklichkeit verankern könnten. großen Rätsel vor, die seiner Zunft zu schaf- Energie seit Anbeginn des Universums un- Kein Wunder, dass diese Botschaft von den fen machen: die dunkle Energie. Hier han- verändert ist oder ob sie im Verlauf der Stringfans gefeiert wird. delt es sich um das vielleicht Geheimnis- Jahrmilliarden allmählich dahinschwindet. Zwar geht auch Vafa nicht so weit zu vollste, was unser Universum zu bieten hat. Bisher hatten die Forscher einen kon- behaupten, dass es ein Beweis der String- Die dunkle Energie ist allgegenwärtig, stanten Wert für das Wahrscheinlichste theorie wäre, wenn die Astronomen he- macht rund 70 Prozent allen Daseins aus gehalten. Denn hätte sich die dunkle Ener- rausfinden sollten, dass die dunkle Energie und ist trotzdem nicht recht zu fassen. gie geändert, dann hätten sie dies längst veränderlich ist. Ein wichtiges Indiz aber Entdeckt wurde sie erst Ende der sehen müssen. Unbemerkt wäre der Ef- wäre es gewisslich. 1990er-Jahre, als die Astronomen feststell- fekt allenfalls geblieben, wenn er sich ex- Vafa zumindest glaubt, dass er an einem ten, dass die Sterne und Galaxien mit ste- trem langsam vollzöge. Das aber hätte die Wendepunkt angekommen ist. Erstmals tig wachsender Geschwindigkeit auseinan- Theoretiker vor ein weiteres Feinabstim- deutet sich an, dass seine Theorien über- derstreben. Erklärlich ist ein solches Phä- mungsrätsel gestellt: Warum nur ändert prüfbar sein könnten. »Vielleicht ist dies nomen nur, wenn man annimmt, dass der sich die dunkle Energie so unvorstellbar die einzige Chance, die wir zu meinen Leb- Raum von einer unsichtbaren Form von langsam? zeiten haben werden«, sagt der Harvard- Energie erfüllt ist, die ihn aufquellen lässt Hier setzt Vafa mit seinen Argumenten Forscher. Er ist 58. Johann Grolle wie Hefe einen Kuchenteig. an: Ein Universum mit einem konstanten

DER SPIEGEL Nr. 36 / 1. 9. 2018 105 Wissenschaft

lung des Tiers in der Rechtsgeschichte be- Schweine vor Gericht leuchten. Bisherige Deutungen zogen häufig die Ernsthaftigkeit der kruden Aburteilungen Geschichte Bis in die Frühe Neuzeit wurden von Säuen, Hunden und Ochsen in Zwei- fel. Demnach habe es sich lediglich um Tiere in Schauprozessen abgeurteilt und anschließend hingerichtet. Volksbelustigungen gehandelt, die dem Historiker rätseln über den Sinn dieser bizarren Rechtspraxis. derben Humor des Mittelalters entspra- chen. Andere Forscher wollten in den Tier- prozessen nur vulgäre Inszenierungen ein- ange vor der Erfindung des Autos Der offensichtlichen Absurdität dieser facher Bauern erkennen. L war die Straße schon ein gefährlicher Verfahren zum Trotz waren solche Prozes- Doch die Gelehrten um den Rechtshis- Ort: Umherstreunende Eber auf Fut- se über Jahrhunderte in Deutschland, den toriker Deutsch halten diese Interpretatio- tersuche machten die Gegend unsicher Niederlanden, der Schweiz und Frank- nen für Mythenbildung. In Wahrheit be- und bissen Kinder tot. Ausgebüxte reich üblich. Der früheste bekannte Fall trieben universitär gebildete Juristen die Schlachterhunde schnappten nach Passan- trug sich 1266 in einer Gegend bei Paris Prozesse mit großer Ernsthaftigkeit und ten. Herrenlose Ziegenböcke gingen auf zu: Ein Schwein war über ein Kind her - Akribie. arglose Passanten los. gefallen und wurde zur Strafe verbrannt. Dass es die kuriosen Gerichtsverhand- In den Gassen und auf Wegen und Plät- Wann genau dieses irritierende Proze- lungen wirklich zuhauf gegeben hat, ist zen wimmelte es vom Mittelalter bis in die dere endete, ist unklar. Erst 1838 findet durch historische Quellen belegt. Aller- Frühe Neuzeit von wild gewordenem Vieh; sich im »Criminalgesetzbuch für das Kö- dings erlauben diese Zeugnisse kaum ei- viele der meist ausgehungerten Kreaturen nigreich Sachsen« in Artikel 310 erstmals nen Einblick in die Motivlage der Anklä- gingen ohne Vorwarnung zum Angriff in Deutschland eine Strafnorm gegen Tier- ger. Hinweise auf Verfahren und die Exe- über. Reihenweise kamen dabei Personen quälerei. kution verurteilter Tiere finden sich meist zu Schaden. Wahrscheinlich war es viel Historiker stellt die ebenso merkwürdi- nur als Randnotizen in den Gerichtsakten. gefährlicher als heute, eine Straße zu pas- ge wie weitverbreitete Rechtspraxis von Dass etwa in Wesel 1618 eine Sau im sieren. einst vor ein Rätsel. »Wieso wurde Tieren Rhein ertränkt wurde, nachdem das Tier Was diverse Gerichte dann aber mit den in bestimmten Situationen eine schuld - ein Kind getötet hatte, wissen die Forscher tierischen Missetätern nach begangener fähige und damit rechtlich verantwortliche allein durch einen Zufall: Die Pächter einer Tat anstellten, mutet aus heutiger Sicht Persönlichkeit zuerkannt?«, wundert sich Rheinfähre hatten sich gerichtlich dagegen höchst bizarr an: Den Tätern wurde wie etwa Peter Dinzelbacher, Honorarprofes- gewehrt, dass ihr Schiff als Schauplatz für Menschen der Prozess gemacht. sor für Sozial- und Mentalitätsgeschichte die Exekution genutzt wurde. Dazu gehörte eine förmliche Anklage. an der Universität Wien. Von einer Tragödie, die sich 1548 im In lateinischer Sprache wurde den Delin- »Warum konnte sich diese Praxis so lan- oberfränkischen Nestelreuth zugetragen quenten mit Pfoten und Hufen die Ankla- ge halten?«, sinniert Andreas Deutsch, hatte, erfuhren die Forscher über eine kurze geschrift vorgelesen. Auch ein Verteidiger Professor am Institut für geschichtliche Aktennotiz, die eine Weisung des damali- wurde den Vierbeinern zur Seite gestellt. Rechtswissenschaft der Universität Heidel- gen Bamberger Hofgerichts wiedergibt: So Anschließend folgten die Zeugenbefra- berg. Unlängst haben sich die beiden For- hatten »die herren räte erkannt, den täter, gung, eine Verhandlung und ein formeller scher (zusammen mit weiteren Kollegen) also Ochsen, zu verbrennen«, der zuvor ei- Urteilsspruch bis hin zur Urteilsvollstre- diesen Fragen in einem umfassenden For- nen Jungen mit seinen Hörnern aufgespießt ckung. schungsband gewidmet, in dem sie die Stel- und dadurch getötet hatte. Stadtobere standen unter erheblichem Zugzwang, um das Zusammenleben mit Tieren zu regeln. Mensch und Vieh haus- ten miteinander »enger, als sich dies mo- derne Menschen vorstellen können«, er- läutert Rechtsexperte Deutsch. Er zeichnet ein verstörendes Bild von dem einstigen Stadtleben, das einem Endzeitszenario gleicht. Pferde, Ochsen und Maultiere verstopf- ten die Straßen und verursachten »unzäh- lige Unfälle«. Entfleuchte Bäckerschweine auf Nahrungssuche jagten durch die Ort- schaften. Um der grassierenden Hundepla- ge Herr zu werden, knüppelten professio- nelle Hundeschläger mit Keulen auf wüti- ge Kläffer ein, bis diese tot waren. Das größte Grauen verbreitete jedoch der Wolf. Um die Raubtiere fernzuhalten, knüpften verängstigte Bauern zur Abschre- ckung Kadaver an lange Pfähle – mit zwei- felhaftem Erfolg. Der Wolfshysterie fielen auch Menschen zum Opfer. Der Bauer

* 1457 im schweizerischen Lavigny (Illustration von Angeklagte Sau*: Kinder totgebissen 1864).

106 DER SPIEGEL Nr. 36 / 1. 9. 2018 Ausdruck einer zutiefst verunsicherten Zeit waren. Eifrige Denker versuchten im Spätmit- telalter zwar, der intellektuellen Dürre und Einfalt der vorangegangenen Jahrhunder- te zu entkommen. Doch gleichzeitig steck- te den Menschen dieser Zeit stets »die Angst vor der göttlichen Rache« in den Knochen, sagt Deutsch. Kein Wunder: Erst wurden die Bewohner Europas durch drastische Erntekrisen ausgehungert. An- schließend dezimierte die Pest rund ein Drittel der Bevölkerung. In dieser Bedrängnis zeigte sich auch die katholische Kirche hilfsbereit und ging mit Tierbannungen und Exorzismen gegen schädliche Nager und Insekten vor. In Ver- handlungen vor kirchlichen Gerichten bot man Mäusen und Heuschrecken dann allen Ernstes Ersatzgrundstücke an. Sogar Fristen für den Rückzug sollten dabei abgesprochen werden. Wie die Forscher herausfanden, kamen derlei Verrücktheiten sogar noch in der frühen Neuzeit vor. Dinzelbacher: »Die Häufigkeit der klerikalen Tätigkeit in die- ser Sache wurde bisher unterschätzt.« 1492 griffen die Regierenden des Schwei- zer Kantons Uri beispielsweise auf eine mit päpstlichem Segen erteilte »feierliche priesterliche Verfluchung« (Dinzelbacher) zurück, um den Befall der Ernte mit Kä- ferlarven zu bannen. Bei anderer Gelegenheit sollen im Hafen von Marseille im 16. Jahrhundert mithilfe von Weihwasser Delfine vertrieben wor- den sein, die den Schiffsverkehr störten. Falsch sei es jedoch, »aus den Tierpro- zessen und -bannungen herauszulesen, die Menschen hätten den Tieren so etwas wie Persönlichkeit zugebilligt«, so Deutsch. Es sei einzig um die Erfüllung des biblischen Auftrags an die Menschheit gegangen, sich die Erde untertan zu machen. Deutsch findet es überheblich, sich über das seltsame Verhalten der Menschen aus früheren Zeiten lustig zu machen: »Die

BRIDGEMANIMAGES.COM Leute von damals wären umgekehrt ent- Gehängter Elefant Mary 1916: Kopf des Trainers zerquetscht setzt und fassungslos über uns, wenn sie auch nur eine Stunde unser Fernsehpro- gramm ansehen würden.« Peter Stump wurde 1589 in Bedburg bei diese Pioniere der Rechtsprechung regel- Das geradezu kindliche Bedürfnis, Tiere Köln durch grausliche Folter hingerichtet, rechten »Allmachtsfantasien« verfallen – für ihre Missetaten zu bestrafen, fand in weil er sich angeblich in einen Werwolf unter anderem mit der Forderung, »auch Einzelfällen sogar noch in jüngster Vergan- verwandelt und Kinder gemeuchelt hatte. das Tierreich ist dem Recht untertänig zu genheit Befriedigung. 1916 wurde der Zir- Dass Schweine als verurteilte Schwer- machen«, schreibt Dinzelbacher. Wer kuselefant Mary an einen Kran gehängt verbrecher am Galgen landeten, war aber nicht spurte oder sich gar der Durchset- und stranguliert, weil er den Kopf eines offenbar nicht eine Folge des damals zung der Gesetze widersetzte, geriet rasch Trainers zerquetscht hatte. grassierenden Aberglaubens. Der Wiener selbst in Nöte. So wurden 1395 in Bur- Mehr Glück war dem Hund »Taro« be- Akademiker Dinzelbacher überrascht mit gund zwölf Menschen bestraft, weil sie schieden, der einem Mädchen in die Lippe einer ganz anderen Erklärung: Demnach sich der Exekution von Schweinen ver- gebissen hatte. Für diese Tat wurde der waren die Tierprozesse die Erfindung über- weigert hatten. Übeltäter von einem US-Gericht zum ambitionierter Juristen, die dem jungen Vielen Historikern galten die Vorgänge Tode verurteilt. 36 Monate saß Taro in ei- Fach der Jurisprudenz Geltung verschaf- um geköpfte und gehängte Tiere eher als nem Gefängnis von New Jersey, ehe er be- fen wollten. randständiges Thema. Erst jetzt erkennen gnadigt wurde. In ihrem Bestreben, alles Treiben auf Forscher wie Deutsch und Dinzelbacher, Das war im Jahr 1994. Frank Thadeusz Erden dem Gesetz zu unterwerfen, seien dass diese skurril anmutenden Prozesse

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»Im Geselligen eines Lokals erkennt man die Vorstufe zur Gesellschaft.« ‣S.114

Karrieren Der Bestsellerautor Florian Illies, 47, wird Chef des Rowohlt »Das Buch ist Verlags. Er löst 2019 Barbara Laugwitz ab. SPIEGEL: Herr Illies, Sie waren Feuilletonchef der »FAS«, Mitgründer des Kunstmagazins »Monopol«, Autor der Mega- bestseller »Generation Golf« und »1913«, Feuilletonchef unzerstörbar« der Wochenzeitung »Die Zeit« und in den vergangenen Jah- ren Geschäftsführer und Teilhaber des Auktionshauses Gri sebach. Jetzt werden Sie verlegerischer Geschäftsführer bei Rowohlt. Langweilen Sie sich schnell in Ihrem Leben? Illies: Ich liebe es, zu gestalten und andere mit meiner Lei- denschaft anzustecken. Es geht mir also eher darum, anderen die Langeweile zu vertreiben. Das ist ein roter Faden, der alle meine bisherigen Stationen verbindet, die Kunst aus dem Elfenbeinturm herauszuholen – oder die Menschen zu ihr nach oben durchzulassen. SPIEGEL: Schwebt Ihnen ein ähnlich ausschweifendes, fest - liches, größenwahnsinniges, heldenhaftes Leben wie das des legendären Verlagsgründers Ernst Rowohlt vor oder des nicht minder legendären Heinrich Maria Ledig-Rowohlt? Illies: Mir schwebt zumindest ein halb so ausschweifendes, festliches, größenwahnsinniges und heldenhaftes Verlagspro- gramm wie das von Ernst Rowohlt oder von Ledig-Rowohlt vor. Es ist singulär im 20. Jahrhundert, wie es ihnen gelang, ein Verlagsprogramm voller Neugier, Tiefenschärfe, Sinnen- lust und Risikofreude zu erfinden – und dabei produktions- technisch immer Avantgarde zu sein. Mit diesen Tugenden muss man vor dem 21. Jahrhundert keine Angst haben. SPIEGEL: Sie kommen in eine traditionell depressive, gerade besonders verzagte Branche. Illies: Solange jeder Blogger davon träumt, dass seine Gedan- ken als Buch erscheinen, muss man vor der Zukunft keine Angst haben. Man muss das Buch nicht schützen, es ist vital und geheimnisvoll und unzerstörbar. Aber es muss seinen Platz behaupten, muss es schaffen, attraktiver zu sein als der Blick zum Handy, als Gegengift quasi. Ich will bei Rowohlt die Bücher verlegen, von denen die Menschen träumen. SPIEGEL: Warum ist Verleger nach all Ihren Jobs der wahre Traumjob? Illies: Weil ich glaube, dass das Buch seine unglaubliche Ver- führungskraft behalten hat, haptisch und intellektuell, und dass wir uns alle unterschwellig danach sehnen, vom Buch dazu gebracht zu werden, das Handy endlich einmal zur Seite

GOETZ SCHLESER / WIRTSCHAFTSWOCHE GOETZ zu legen: erst für eine Stunde, dann für einen Abend und Illies dann sogar für eine ganze Nacht. VW

Literatur lytiker, auch ein angehender Betriebswirt- Landau oder Heilbronn.« Die Menschen- Leuchtende Präzision schaftler ist dabei, der seine Kommilito- liebe strahlt nicht immer aus dieser Prosa, nen mit leisem Ekel betrachtet: »Die dach- aber sie ist von leuchtender Präzision, Das Arbeitsleben spielt keine promi- ten sich das so: erst einmal ein kleiner sardonischem Humor – und taugt als dich- nente Rolle in der deutschen Literatur; Posten als Rechnungsprüfer, irgendwann te Beschreibung der inneren wie äußeren möglicherweise eine Nebenfolge des den großen Fehler finden, und dann Existenz deutscher Bürger in der Lebens- Wohlstands, der eine bescheidene Lauf- kommt die Beförderung. Buben mit spe- mitte, die sich ihre Gedanken machen und bahn als freier Autor ermöglicht. In den ckigen Brillen, die letzten Pickel der darüber das Leben nicht vergessen. ES Erzählungen Ulf Erdmann Zieglers haben Pubertät überholt vom Haarausfall, wack- die Protagonisten einen Beruf. Sie sind lige Stimmen ohne Timbre, und am Ulf Erdmann Ziegler: »Schottland und andere Kunstprofessor, Tänzerin oder Psychoana- Wochenende nach Hause zu Mutti nach Erzählungen«. Suhrkamp; 190 Seiten; 22 Euro.

108 DER SPIEGEL Nr. 36 / 1. 9. 2018 Glosse Elke Schmitter Besser weiß ich es nicht Kunst gefährdet die Kawuppdich! Dieser Sommer, das darf man sagen, war nicht klein. öffentliche Ordnung Am Berliner Schlachtensee ein Abend mit Goldrand, Wiesbaden enthüllt eine Erdoğan-Statue. Und noch viel mehr. vielleicht einer der letzten – wobei dieser Gedanke beim Wort Abend gratis mit durch- Was wäre das schön! Wenn sich all die berichtete von Handgreiflichkeiten. Und schimmert. Das späte Licht fällt auf das Autokraten dieser Welt über Nacht abräu- so ließ die Stadt die Kunstinstallation östliche Ufer, wo Pärchen, Gruppen men ließen: mit einem großen Kran runter abbauen; zu groß sei das Sicherheitsrisiko. und Einzelne vom Wasser aus, unter vom Regierungssitz. Wenn sich die na - So kann man das sehen: Kunst ist ein den riesigen Bäumen, nackt oder be- tional-identitären Ideen, die auch Deutsch- Sicherheitsrisiko, Demokratie sowieso, sie scheiden bekleidet, Bierflaschen und land gerade in Atem halten, wieder gefährden die öffentliche Ordnung. Stimmungen balancierend, aussehen, einmotten ließen in den Museumsfundus. Der Fernsehsatiriker Jan Böhmermann wie von Michael Sowa gemalt. Die Wenn sich die Konflikte, die die Men- testete 2016 mit einem Schmähgedicht die Brandenburger Landschaft hat es an schen auf die Straße und auf Twitter trei- Toleranz von Erdoğan und dessen Anhän- sich, den Menschen schon in geringer ben, vom Spielplan streichen ließen gern. Eine Aktion, die erst zur Kunst wur- Entfernung von seiner possierlichen wie ein schlechtes Theaterstück. Wäre das de durch die Reaktionen, die sie auslöste. Seite zu zeigen; er nimmt sich sympa- schön? Eine soziale Installation. Böhmermann thisch unvollkommen aus unter dem In einer deutschen Landeshauptstadt zog Erdoğan satirisch in den Schmutz, die dichten, ernsten Grün wie vor den ist genau das versucht worden dieser Tage. Biennale stellte ihn nun auf einen Sockel. gewaltigen Solitären, ein drolliger Gast Die »Wiesbaden Biennale«, ein Kunst- Als wollte sie die Rückseite des Bildes der Ewigkeit. festival des Hessischen Staatstheaters, hat- liefern, das Böhmermann gezeichnet hat- Weit ausgespannt der Fächer des irdi- te eine Statue Recep Tayyip Erdoğans te. Sie platzierte die Statue auf dem schen Glücks, weit weg und ganz un- aufgestellt, goldfarben und stattliche vier »Platz der Deutschen Einheit« – und ent- glaubhaft, wofür zum Beispiel manch Meter groß. Fans und Feinde des tür- hüllte dort die Zwietracht, die in unserem sächsischer Mensch sich Gesicht und kischen Staatspräsidenten versammelten Land derzeit herrscht. Den gefährlichen Stimme verzerrt. Wie sollte man einem sich, es kam zu Wortgefechten, Eier Mix aus Konfliktfreude und Konflikt- Außerirdischen erklären, was die his - flogen, der Ordnungsdezernent der tra - scheu, der so viele Kommunikationspro- torisch beispielhaft begüterten, von der ditionell ordentlichen Landeshauptstadt zesse zersetzt. Tobias Becker zahnärztlichen Betäubung bis zur pri- vaten Spielkonsole, mit Umsicht und Vergnügen umwindelten, wohlgenähr- ten und von Krieg und Schrecken be- Kino gibt eine aufgeregte Lehrerin (Heike freiten Gattungswesen daran hindert, Fack Ju Cyrano Makatsch), Pennälerstreiche, Mobbing den Augenblick und also das Leben zu und auch sonst eine Menge Klamauk aus genießen, sei es mit Speiseeis, mit Von seinen Mitmenschen verlachter der »Fack Ju Göhte«-Liga. Und doch ist Umarmungen, mit Tanz und Spotify junger Mann mit Dichtertalent und riesen - Lehmanns Film eine tolle Überraschung. oder einem Schlummer im Gras? großer Nase liefert einem sehr viel hüb- Er feiert den Charme der Schlagfertigkeit Auch der freundliche Hedonismus scheren Nebenbuhler die Liebeslyrik, die und des gereimten Wortes, ein paar und die Andacht vor dem Schönen, so das Herz der gemeinsamen Geliebten YouTube-Stars dürfen auch mit spielen – scheint es, sind Augenblicksweisen der zum Schmelzen bringt – die Grundstory der Film lässt Berlin spektakulär gut Existenz, die des sozialen Trainings be- von Edmond Rostands im 17. Jahrhun- aussehen. Und das angeblich bloß schöns- dürfen. Früher hat die Kunst darin ge- dert spielenden Theaterschmachtfetzen te Mädchen der Welt erweist sich als übt, inzwischen hat sie sich weitgehend »Cyrano de Bergerac« benutzt der deut- die smarteste Person weit und breit. HÖB anderen Aufgaben zugewandt; nach sche Regisseur Aron Leh- dem Kindergarten ist der deutsche Bür- mann als Stoff für eine rasante ger vielleicht zu oft sich selbst und Teenager-Kinokomödie. dem alkoholischen Sortiment bei Lidl Lehmanns Held Cyril (Aaron überlassen, wenn er zwischen der Müll- Hilmer) tritt im Film »Das trennung und dem Erhabenen seinen schönste Mädchen der Welt« Pfad der Lebensfreude sucht. »Irgend- (Kinostart: 6. September) wie auf die alten Tage«, schrieb der vor spätnachts als Battle-Rapper zehn Jahren verstorbene Peter Rühm- mit Goldmaske auf. Am korf, der sich als Ahne des Walther von nächsten Morgen muss er mit der Vogelweide verstand, »nochmal seinen ätzenden Mitschülern etwas machen/was nicht so!fort auf und einer hübschen neuen Anhieb gefällt.« Mit Kawuppdich die Klassenkameradin namens triviale Finsternis durchkreuzen: Roxy (Luna Wedler) auf Klas- »Und was sich nicht preisen läßt,/das senfahrt nach Berlin, wo Cyril laß, verdammtnochmal, liegen.« bald Songtexte für den gitarre-

klampfenden Schönling Rick TOBIS An dieser Stelle schreiben Elke Schmitter und (Damian Hardung) dichtet. Es Szene aus »Das schönste Mädchen der Welt« Nils Minkmar im Wechsel.

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König der Welt Autoren Auf Safari in Kenia mit Jonas Jonasson, der einen Hundertjährigen aus dem Fenster steigen ließ – und jetzt Merkel und Trump zu Romanfiguren gemacht hat. Von Volker Weidermann

evor er hierher nach Kenia kam, einem Freitag, dem 13., wieder geheiratet dem Fenster steigen und verschwinden in diese Lodge am Rand des Nai- habe. Und wenn man fragt, ob das nicht ließ und damit einen Welterfolg feierte, B robi-Nationalparks, hat er noch vielleicht ein schlechtes Omen sei, lächelt hat eine bemerkenswerte Art, seine Bio- schnell sein Testament gemacht. er nur und sagt: »Oh, meine vorletzte Hoch- grafie in Blitzgeschwindigkeit zu erzählen. »Wissen Sie, mein Sohn hat zweieinhalb zeit fand an einem Valentinstag statt. Und Das graue Haar nach hinten gekämmt, Mütter. Es ist etwas kompliziert. Ich wollte die ist nicht so gut ausgegangen.« blau umrandete Brille, große, leicht her- das vor der Reise geregelt haben.« Und er Jonas Jonasson, der Schwede, der vor vorstehende Augen, das Hemd aus der erzählt, dass er vor gut einem Monat, an neun Jahren einen Hundertjährigen aus Hose, zwei Smartphones und zwei Tablets,

110 DER SPIEGEL Nr. 36 / 1. 9. 2018 Schriftsteller Jonasson in Kenia Schnell noch sein Testament gemacht

Jonasson nahm an, und in der Folge Leute fragten, was er so mache. Das rief machte er sich mit einer Agentur selbst- Bewunderung hervor, Staunen. Das war ständig, hatte schon bald 100 Mitarbeiter, damals, als er seine Agentur verkauft und arbeitete 16 Stunden am Tag und ging eine Frau gefunden hatte, die sagte, dass schließlich mit schweren Herzproblemen sie ihn liebe. Mit der war er gerade in die zum Arzt. Der sagte, er könne ihn gern Schweiz gezogen, ins Tessin, sie hatten untersuchen, aber sei sicher, er werde einen Sohn bekommen, als das Leben mal nichts finden, denn er, Jonasson, habe ein- wieder aus dem Ruder zu laufen begann. fach offenbar beschlossen, sich mit Arbeit Jonasson deutet es nur an. Es muss eine umzubringen. Der Kern des Problems lie- fürchterliche Zeit gewesen sein, die schließ- ge im Kopf, nicht im Herzen. lich damit endete, dass ein Gericht in der Und Jonasson stieg aus dem Fenster und Schweiz, später auch eins in Schweden, verschwand. Jetzt sitzt er hier auf einer ihm das alleinige Sorgerecht für den Jun- Terrasse am Rand der Savanne. Vor ihm gen zusprach. das erste deutsche Exemplar der Fortset- In der Zeit, als er noch versuchte, alles zung seines Superbestsellers. Es trägt den zusammenzuhalten, während alles aus - Titel: »Der Hundertjährige, der zurück- einanderdrängte, begann er zu schreiben kam, um die Welt zu retten«, es erscheint und erfand den greisen König der Sorg - nächste Woche, und es endet in Kenia*. losigkeit. Der an einem Punkt im Leben, Irgendwie musste dieser Held, Allan Karls- an dem auch der Abenteuerlustigste sich son, dessen Lebensmotto lautet: »Es ist, gemeinhin denkt: Jetzt ist auch mal genug wie es ist, und es kommt, wie es kommt«, mit Abenteuern – ein neues Leben be- wohl irgendwann hier in Afrika landen. ginnt. Jonas Jonasson hat sich in dieses Jonasson hat ihn konsequent hierhin- Greisenleben gerettet. Und wer ihn trifft, geschrieben. Hier rettet er dieses Mal die der merkt sofort: Dieser Allan, das ist zum Welt. Mithilfe von Bundeskanzlerin An- Teil er selbst, der Erfinder. Diese Zuver- gela Merkel. sicht, dass man in jeder Phase seines Le- Aber wir stürzen voraus. Vom ersten bens aus dem Fenster steigen kann, und Band wurden allein in Deutschland vier- es wird zum Guten ausschlagen. Man wird einhalb Millionen Exemplare verkauft, das gute Menschen treffen, neue Möglichkei- Buch stand über zwei Jahre lang an der ten, einen neuen Blick auf die scheinbar Spitze der Bestsellerlisten. Im Mittelpunkt für immer unveränderbare Welt. Das ist Allan Karlsson, eine Mischung aus Pippi Jonas Jonasson, der auf ein Leben voller Langstrumpf, Forrest Gump und Hans im Fensterstürze zurückblickt. Glück, der wie Jonasson in Rückblicken erzählte, schon früh durch die Welt gewan- Aber die andere Hälfte des erfundenen dert war und auf ebenso unwahrscheinli- Romangreises, die politische Gleichgültig- che wie zwingende Weise den Weltbeherr- keit, überhaupt Gleichgültigkeit gegen- schern des vergangenen Jahrhunderts be- über all den Dingen, die von uns nicht zu gegnete, Roosevelt, Truman, Stalin, Mao ändern sind – das ist die Fantasiehälfte, Zedong. Ein naiver, märchenhafter Wel- die Jonasson seinem Allan mitgegeben hat. tenwanderer. Der von Politik und Religion Die Sehnsuchtshälfte. Oder auch: die the- nichts wissen will, auch im Zentrum der rapeutische Hälfte. Selbsttherapie. BRIAN OTIENO / DER SPIEGEL BRIAN OTIENO politischen Welt unpolitisch bleibt. Und Wie oft sagt Jonas Jonasson im Ge- durch den unsichtbaren Zaubermantel der spräch: Das habe ich von Allan gelernt. Menschenfreundlichkeit vor allem Unheil Wenn es darum geht, ob man einen Flug die alle regelmäßig aufleuchten, neben sich geschützt zu sein scheint. verpassen könnte oder so. Gleichzeitig sit- auf dem Tisch. Einmal, in diesen Tagen in Kenia, sagt zen da eben immer auch noch seine vier Jonas Jonasson ist in seinem Leben Jonas Jonasson: »Ich erinnere mich an blinkenden elektronischen Endgeräte mit schon oft aus dem Fenster geklettert und einen Abend, an dem mein Vater wutent- am Platz. Und jedes Aufleuchten hat eine verschwunden. Ende der Achtziger wurde brannt den Fernseher ausschaltete, in dem sanfte Alarmiertheit des Autors zur Folge. er zunächst Reporter bei der schwedi- gerade die Abendnachrichten liefen, und Mit dieser Herausforderung unserer schen Boulevardzeitung »Expressen«, rief: ›Ich kann das alles nicht mehr ertra- Zeit hat er seinen Hundertjährigen im neu- dann kündigte er in einem plötzlichen Ent- gen. Es ist einfach nur zum Heulen.‹ Und en Buch auch ausgestattet. Allan erhält schluss aus Überdruss. Als er danach im ich dachte mir: Heulen hilft nichts. Lachen von einem dankbaren Hotelier auf Bali Fahrstuhl des Redaktionsgebäudes hinab zwar auch nicht. Aber es ist lustiger.« ein Tablet, von Allan beharrlich »Tablett« in Richtung Freiheit fuhr, traf er den Ge- Jonasson sagt, dass er sich immer schon genannt. Und damit erfasst das tägliche schäftsführer des Verlags, der ihn fragte, als Autor gefühlt habe. Auch als er noch Internet, Liveticker, Pushnachrichten, der was er eigentlich gerade so mache. Jonas- gar nichts schrieb. Und dass er das ir- permanente Weltalarm, unseren ent- son sagte: »Nichts«, und so kam es, dass gendwann einmal so gesagt habe, als ihn spannten Helden. Es macht sein Leben er nur 40 Sekunden lang arbeitslos war. zunächst noch bunter, lustiger und inte- Denn der Geschäftsführer schlug ihm * Jonas Jonasson: »Der Hundertjährige, der zurück- ressanter – auf Dauer wird aber klar, dass kam, um die Welt zu retten«. Aus dem Schwedischen vor, junge Journalisten in Osteuropa aus- von Wibke Kuhn. C. Bertelsmann; 446 Seiten; 20 Euro. dieser schwarze Magnet, der ihn unab - zubilden. Erscheint am 6. September. lässig mit dem Unheil der Welt verbin -

111 Kultur det, die hundertjährige Sorglosigkeit lang- Quatsch!«, und wenn er zum Beispiel schon eine Jonasson-Figur. Der Schwede sam bedroht. einen Vortrag halten müsse vor tausend übertreibt ihn in seinem Werk nur ein win- Ansonsten geht es abenteuerlich, mär- Zuhörern, dann trinke er immer ein klei- ziges bisschen in Richtung Realität. Die chenhaft, verrückt zu wie im ersten Band. nes Glas davor, zur Beruhigung. Und dafür zwei Helden reisen natürlich weiter zum Es steht wieder eine Geburtstagsparty an, sei es doch da. Jonasson war überzeugt, nächsten Comichelden unserer Zeit, dem der Hundertjährige wird ein Jahr älter, Al- die Flasche war schnell leer. amerikanischen Präsidenten. Eigentlich lan und sein Freund Julius langweilen sich Aber seine Lieblingsdroge sind diese wollten sie ihm das Uran anvertrauen, das auf Bali. Das Geld geht ihnen auch lang- schwedischen Teebeutelchen, die er sich sie Kim entwendet hatten. Doch der Augen- sam aus. Für eine Ballonfahrt und vier Fla- beharrlich unter die Oberlippe schiebt. Ein schein lässt sie an der Ernsthaftigkeit des schen Champagner auf Kredit reicht es rundes Döschen Kautabak liegt immer ne- Herrn zweifeln. aber noch. Sie steigen ein, der Ballon hebt ben den Elektrogeräten. Nein, das sei nicht Ihre Hoffnung ist eine Frau. Nein, zwei ab, leider – durch einen plötzlichen Wind besonders schädlich. Gerade erst seien me- Frauen. Die schwedische Außenministerin verursacht – ohne Steuermann und Steuer- dizinische Untersuchungen bestätigt wor- Margot Wallström und Angela Merkel. Jo- möglichkeit. Gut, aber sie haben ja noch den, die besagen, dass es nicht krebserre- nasson pflückt ja seine Weltfiguren immer Champagner dabei. Der Ballon sinkt, sie gend sei. Wenn man aber daraufhin um aus der echten Politik und macht sie über- treiben im Meer. Es könnte das Ende sein. ein Testbeutelchen bittet, sagt er: »Davon lebensgroß. Und sie sind seine Heldinnen. Ist es aber nicht, denn Allan hat das Glück rate ich dringend ab. Sie würden augen- Pragmatisch. Menschlich. Wissenschaft- an Bord. Sie werden gerettet von einem blicklich grün anlaufen. Das kann ich nicht lich. Analytisch. Weltklug und klug. Wenn nordkoreanischen Frachter. Aber Pech im verantworten.« die Welt zu retten ist, dann mit diesen Frau- Glück: Hier herrscht absolutes Alkohol- Ein grüner Literaturkritiker, von einem en. Denken Allan und sein Freund – und verbot, und die Besatzung scheint auch Beutelchen Kautabak in Afrika zu Boden denkt auch Jonasson. Das Uran, die kleine irgendein dunkles Geheimnis zu hüten.

Alkohol ist ja die Inspirationskraft des alten Mannes. Wie bei Asterix der Zau- bertrank, bei Wickie das Reiben an der Nase, bei Pan Tau das Streicheln der Me- lone, so bringt bei Allan das Trinken die besten Ideen hervor. Auch das war, neben- bei, sicher eines der Erfolgsgeheimnisse des ersten Bandes: Dieser lebensfreudige Alkoholgenuss kommt in unseren vegeta- rischen Gesundheitsjahren ja oft etwas kurz. Auch in Büchern. »Dabei habe ich im neuen Buch zahlrei- che Flaschen rausgekürzt«, sagt Jonasson und nimmt einen Schluck von seinem Mit- tagsbier. »Ich wollte es nicht zu sehr ro- mantisieren. Aber es gehört eben zu Allan dazu.« Also was er da für Flaschen heraus- gekürzt hat, kann man sich als Leser kaum vorstellen. Es wird schon enorm viel ge- trunken auf der neuen Weltreise der zwei. Jonas Jonasson ist eigentlich gerade in

einem Abstinenzjahr. Er reist um die Welt, / DER SPIEGEL BRIAN OTIENO um sein Buch überall vorzustellen. Da hat Jonassons Geldbörse, Tabakdose: »Sie würden grün anlaufen« er sich gedacht, das übersteht er vielleicht nicht, wenn er die ganze Zeit auch noch trinkt. Und er beklagte sein Schicksal. gestreckt – das könnte eine ganz überzeu- Menge zunächst, eine viel größere Menge Doch da hat erstens seine neue Frau (die gende Figur in Jonassons Romanwelt sein. später, wird Frau Merkel anvertraut. Im vom Freitag, dem 13.) gesagt, was denn Auch im neuen Band schwankt die Story- Roman liebt sie Kohlsuppe und Bier. Und das Gejammer solle, ein Jahr lang um die line wieder zwischen hanebüchen und ist vor allem die Heldin der Flüchtlings- Welt fahren und sich überall sagen lassen, herrlich. Die abstinenten Nordkoreaner politik. dass man der Größte ist – was denn daran haben eine kleine Menge angereichertes Das ist der urernste Kern dieses heiteren bitte schön anstrengend sein solle, und sol- Uran an Bord, das sie dem Atombomben Buchs, das Jonasson geschrieben hat. Die che Sorgen möchte wohl gern jeder mal liebenden Herrscher ihres Heimatlands Welt ist verrückt. Aber da ist eine Frau, haben. Und zweitens kam vor einer Weile bringen sollen. Allan, der ja vor vielen Jah- die kühl bleibt. »Und mittendrin: Bundes- sein Schwiegervater, Arzt, aus Amerika ren schon den Amerikanern die Atombom- kanzlerin Merkel, unerschütterlich wie zu Besuch, er hatte eine Flasche 40 Jahre be erfand, schmeichelt sich schließlich in eine uralte Eiche auf dem Feld«, heißt es. alten Whisky mitgebracht, um ihn mit sei- Kim Jong Uns Palast. Die Begegnungen Es gelingt Jonasson auch, die europäische nem Schwiegersohn zu trinken. Der sagte mit den Weltbeherrschern waren schon im Flüchtlingskrise hineinzuschreiben, ohne Nein, und der Schwiegervater müsse ihn ersten Band Höhepunkte schwedischer das Werk mit Botschaften zu belasten. Es eben allein trinken. Der antwortete: »Du Lachkunst. Jonasson zeigt sie niedlich, ist für die Helden des Buchs einfach klar, spinnst wohl«, und allein werde er hier gar menschlich, winzig, größenwahnsinnig, was für eine große menschliche Geschichte nichts trinken. Und Jonasson sagte, es lächerlich, ichbesessen und gefährlich. es von Schweden und Deutschland war, sei gefährlich, bei Stress zu trinken. Und Und eigentlich ist ja der Kim Jong Un, die Grenzen für Menschen in Not zu öff- der Schwiegervater sagte: »Was für ein den wir aus den Nachrichten kennen, nen. Wie groß ist die Herausforderung

112 DER SPIEGEL Nr. 36 / 1. 9. 2018 jetzt, wie gut und richtig wäre es, wenn gantischen Betonschneise zerteilt. Es einander in »I am the king of the world«- die Stunde der Not eine Sternstunde schneidet jedem Besucher augenblicklich Pose. Aussteigen darf man natürlich nicht. Europas geworden wäre und die Länder ins Herz. »Chinesische Giraffe« nennen Nur in der Picknick-Area. der EU darin eine gemeinsame Aufgabe die Einheimischen die riesigen Eisenkräne. Er sagt, er sei ja nicht furchtsam, »aber gesehen hätten. Im Roman ist es vor allem Jonas Jonasson fragt den Fahrer von woher wissen die Löwen, dass sie hier nicht Dänemark, dessen Politik der geschlosse- hinten: »Was halten Sie denn von dieser hindürfen?« Berechtigte Frage. Eingezäunt nen Grenzen Schweden vor größte Proble- Eisenbahn?« Der Fahrer wiegt den Kopf: ist nichts. Den letzten Löwen haben wir me stellte und das harsch kritisiert wird. »Wir finden es fürchterlich. Wir haben da- vor etwa fünf Minuten im Gras gesehen. Was wohl seine dänischen Leser dazu gegen protestiert. Doch der Präsident hat Ein leckeres Impala streicht vorbei und am sagen werden? »Oh, sie verdienen es. entschieden, es müsse sein. Und jetzt wird friedlichsten und mutigsten: ein enorm un- Sie verdienen es wirklich«, sagt Jonasson es so sein. Immerhin haben sie sie auf Stel- vorteilhaft aussehendes Warzenschwein. bitter. zen gebaut, sodass die Tiere drunterdurch- »Du bist hässlich wie ein Warzenschwein«, Wir fahren mit einem Jeep durch den laufen können.« sei in seiner Schulzeit ein gebräuchlicher Nationalpark. Jonasson hat einige Handys Fluch gewesen, sagt der Fahrer. und Kautabakdosen dabei. Es ist ein ver- Jonasson sagt nichts darauf. Dabei ist Einmal noch kommen wir auf Jonassons rückter Ort. Direkt an Nairobi grenzend, das die perfekte Allan-Antwort. Des Allan Fenstersprünge zurück. Er sei damals mit man sieht die Skyline der Stadt herüber- mit dem »Tablett«. Informiert sein. Enga- seinem Sohn aus der Schweiz regelrecht leuchten. Und dabei die Stille des Parks. giert sein. Kämpfen. Und wenn der Kampf geflohen, sagt er. Sie haben zwischenzeit- Zebraherden, die sich nicht aus der Ruhe verloren ist: klug sein. Trinken zum Bei- lich eine neue Identität angenommen. bringen lassen. Nashörner, Antilopen, Gi- spiel. Entspannen. Auf ein Wasserloch Heute lebt er mit seinem Sohn und seiner raffen, Löwen, die Nüstern eines Fluss- schauen. Lachen statt weinen, wenn etwas neuen Frau auf Gotland. »Ich habe das da- mals richtig gespürt. Ich glaube, dass Sor- gen nicht übers Wasser reisen können.« Dort fühlen sie sich sicher. Natürlich weiß Jonasson auch, dass man als Vater, der der Mutter offenbar das Kind weggenommen hat, schlecht dasteht. »Ich kann Ihnen nur sagen, selbst im konservativsten Kanton der Schweiz wurde die Situation vor Ge- richt als so gravierend angesehen, dass man sich gezwungen sah, der Mutter das Sorgerecht zu entziehen.« Zwischenzeit- lich hatte er eine andere Frau, Maria, sie ist für den Jungen bis heute die Hauptmut- ter. So kommt er auf zweieinhalb. Ja, seine Bücher sind auch eine Flucht. Für ihn, damals. Und diese Sehnsucht, das Leben leichtzunehmen, alles jederzeit für möglich zu halten, immer nur das Gute zu erwarten, statt stets das Schlechteste zu befürchten, das ist das wesentliche Ge- heimnis des Erfolgs seiner Bücher und die- ses greisen Helden, von dem es gleich zu Anfang heißt: »Wenn das Leben Überstun-

BRIAN OTIENO / DER SPIEGEL BRIAN OTIENO den macht, fällt es einem leichter, sich ge- Keniafreund Jonasson: »Woher wissen die Löwen das?« wisse Freiheiten herauszunehmen.« Es geht um die andere Wahrheit, die Schönheit der Geschichten, die, wenn sie pferds im Wasser. Jonasson ist oft in Afrika, nicht zu ändern ist. Hoffen, schreiben, pro- nur schön und stark genug sind, auch die Teile des neuen Buchs sind hier entstan- testieren, verlieren und nicht bitter wer- Welt verändern können. Vielleicht. den. Am Schluss wird Uran von Tansania den. Es ist, wie es ist. Am Ende des neuen Buchs sitzt Allan nach Kenia geschmuggelt. »Ja«, wechselt er wieder zur Flüchtlings- auf einer Terrasse, schaut mit leerem Blick Es ist das Finale von Allans Märchen- frage. Es sei verrückt, dass diese schöne, über die Savanne. Was er denn denke, krimi. Ausbeutung und Idylle. Alles ist da. hoffnungsvolle Geschichte so oft in Europa wird er gefragt. »Viel zu viel«, sagt Allan. Allan entdeckt, dass die Aussicht auf ein anders erzählt wurde. Dass die Einwande- Das schwarze »Tablett« hat ihn im Griff. Wasserloch in der afrikanischen Savanne rer eine Bedrohung für den Kontinent sei- Wird er schließlich doch noch wie wir alle? ungefähr alles ist, was man im Leben en, die Grenzöffnung ein historischer Feh- »Dieser Blick«, sagt Jonasson und blickt braucht. Wenn die Tiere wie in einem ler. Die Welt ist, wie sie erzählt wird. Und nun ebenfalls in die Savanne, hier auf der Theaterstück des Lebens majestätisch auf- er, Jonas Jonasson, erzählt sie mit seinen Terrasse am Rand des Parks. »Dieser Blick, und wieder abtreten. Aber er hat eben Mitteln und seiner Weltsicht eben wieder den wir hier haben, ist sein Blick gewesen auch sein »Tablett« dabei. Er weiß diese anders. Einwanderung als Chance. Men- und – es ist das erste Mal, dass ich nach Welt bedroht. schen sind aus dem Fenster gestiegen. Wir Abschluss eines Buchs schon das nächste Hier, mitten durch den Nationalpark, haben die Möglichkeit, ihnen zu helfen. im Kopf habe. Hier, genau hier wird er los- bauen Chinesen gerade eine gigantische Der zurückhaltende, fast scheue Jonas- spazieren in die Wildnis. Und ich ver- Bahntrasse. Sie durchschneidet den Park. son ist hier im Jeep im Park mitunter fast spreche – er wird das Internet da draußen Diese bislang wie durch ein Wunder be- entfesselt. Der Fotograf ist auch dabei. Er irgendwie wieder loswerden.« wahrte Idylle der Natur wird mit einer gi- setzt sich aufs Dach, reißt die Arme aus-

113 »Ein Theater ist wie eine Stammkneipe, zum Glück kommt noch die Kunst dazu« CHRISTIAN KERBER / DER SPIEGEL CHRISTIAN

SPIEGEL-Gespräch Der Schauspieler Burghart Klaußner, 68, hat große deutsche Rollen gespielt. Jetzt veröffentlicht er einen Roman. Das Buch geht um die Magie des Aufbruchs, das Segeln – und um ein Gasthaus. Vielleicht weil der Autor Sohn eines Wirtes ist.

114 Kultur

SPIEGEL: Herr Klaußner, Sie sind als Klaußner: Fritz ist jemand, der alles ver- nicht im Wohnzimmer zu Hause. Das hat Schauspieler sehr erfolgreich, Sie arbeiten meiden konnte, bis er ganz zum Schluss etwas Transitorisches. Im Geselligen eines als Regisseur und treten mit Musikpro- doch noch in Gefahr gerät, erschossen zu Lokals erkennt man die Vorstufe zur Ge- grammen auf. Nun haben Sie einen Roman werden. Nur mit viel List gelingt es ihm sellschaft. Es ist ein Übergangsort von mir geschrieben. Beschleicht Sie eigentlich davonzukommen. Als ich ein kleiner Junge zu euch. manchmal die Sorge, dass Kunst vergebens war, waren diese Menschen alle noch da. SPIEGEL: Erinnern Sie sich an das Restau- sein könnte? Auf der einen Seite konnte man ihnen ihre rant Ihrer Eltern? Klaußner: Im Gegenteil, ich halte die unfassbaren Mühen ansehen, auf der an- Klaußner: Nicht sehr gut. Wir Kinder hat- Kunst für das ergiebigste von allen Feldern deren Seite wurde kein Wort darüber ge- ten außer über Mittag keinen Zutritt. Das der menschlichen Betätigung. Sie ist viel sprochen. Die Erwachsenenwelt war unge- war keine Welt für uns. Das Geschäft war haltbarer als die Politik. Und die Religion – heuer rätselhaft für mich als Kind. Daraus keine Umgebung, in die wir Kinder uns und zwar jede Religion – halte ich ohnehin ergab sich der Wunsch, dem nachzuspüren. verirren sollten. für dringend ablösungsbedürftig. Durch SPIEGEL: Dieser Fritz in Ihrem Roman ist SPIEGEL: Ihr Roman heißt »Vor dem An- die Kunst. Eines muss ich für mich persön- eigentlich Gastwirt, und bis der Krieg Ber- fang«, das ist ein optimistischer Titel. lich allerdings ausschließen: Zeichnen und lin erreicht, arbeitet er im Restaurant sei- Klaußner: Nach einer solchen mörderi- Malen. Kein Talent. ner Eltern. Es gibt da biografische Paralle- schen Diktatur, nach einem solchen Krieg SPIEGEL: Wie sind Sie aufs Schreiben ge- len zu Ihrem Vater. konnte es ja nur positiv weitergehen. Tie- kommen? Klaußner: In die Hauptfigur sind Aspekte fer konnte man nicht fallen. Weder im Ein- Klaußner: Über das Lesen. Bis ich – halb aus verschiedenen Biografien eingeflossen, zelschicksal noch als Volk. Wenn vom unbewusst, halb bewusst – mir gesagt auch aus meinem persönlichen Leben und Ende des Krieges gesprochen wird, ist ja habe: genug gelesen, jetzt wird geschrie- aus Beobachtungen, die ich im Laufe vieler heute noch die Rede vom Zusammen- ben. Ich hatte viele Schreibprojekte im Jahre gemacht habe. Doch der Nukleus bruch – ein negativ konnotiertes Wort. Es Kopf, bei jedem Kneipenbesuch, der mög- der Geschichte ist eine Anekdote, die mir war aber vielmehr eine Chance, endlich licherweise auch mal einsam an der Theke mein Vater kurz vor seinem Tod erzählt wieder zivilisiert zu werden. Das Glück, endete, entwarf ich mannigfaltige Projek - hat, das stimmt. überlebt zu haben, war das alles beherr- te, die aber oft über Synapsenblitze nicht SPIEGEL: Bis Sie zwölf Jahre alt waren, schende Gefühl damals. Es herrschte eine hinausgingen. führte Ihr Vater die Traditionsgaststätte geradezu euphorische Stimmung. Das hat SPIEGEL: Nun legen Sie Ihr Debüt vor, im Zum Klaußner in Charlottenburg, die Ihr ja dazu geführt, dass in Berlin ein Wider- Alter von fast 70. Urgroßvater 1875 gegründet hatte. Ist ein standsgeist greifen konnte, gegen die stän- Klaußner: Ich habe nicht gewusst, dass Gasthaus auch eine Bühne? Gibt es da eine digen Versuche von russischer Seite, die man einfach anfangen muss. Ich meine da- Verbindung zu Ihrem Beruf? Stadt zu vereinnahmen. Die Berliner wa- mit das Überschreiten einer Schwelle, das Klaußner: Jeder Theaterleiter ist ein Gast- ren entschlossen, sich die Freiheit und das Überwinden einer Schwierigkeit. Beim wirt. Zum Glück kommt beim Theater frisch gewonnene Überleben nicht mehr Schauspiel bereitet mir das keine Schwie- noch der Aspekt der Kunst hinzu, der sich wegnehmen zu lassen. Sich zu wehren kos- rigkeiten, es hat da allerdings auch andere in der Gaststätte womöglich im Alkohol tet Kraft, und eigentlich hätten die Leute Zeiten gegeben. Aber die Schauspielerei erschöpft. Aber Tag für Tag die Türen auf- am Ende ihrer Kräfte sein müssen, waren ist ja fast immer durch Anlässe gekenn- zusperren und für ein gewisses Entgelt Ge- sie aber nicht. zeichnet, seien das Stücke oder Improvisa- selligkeit und Unterhaltung zu bieten, das SPIEGEL: Der Abstand zu dieser Zeit ist tionsthemen. Schreiben dagegen ist autark. ist schon sehr ähnlich. Ich fand immer, dass groß, es sind viele Jahrzehnte vergangen, Die Autarkie ist für mich seit je das höchste gute Theaterleiter wunderbare Gastgeber die Erinnerungen an die Kriegszeit ver- Gut gewesen im Leben. sein sollten. Umgekehrt haben wir Schau- blassen. Rechtsradikale Kräfte leben auf. SPIEGEL: Ihr Roman spielt an einem ein- spieler – früher noch mehr als heute – Hatten Sie solche Überlegungen im Kopf, zigen Tag, am 23. April 1945. Warum ha- Stammkneipen. Dort fühlt man sich gut als Sie sich entschieden haben, von 1945 ben Sie diesen Zeitpunkt gewählt? aufgehoben, wir wissen einigermaßen, zu erzählen? Klaußner: Erst mal klingt das schön, finde was uns erwartet. Jeder geht doch in die Klaußner: Ich habe das Buch überhaupt ich: der dreiundzwanzigste April fünfund- Gasthäuser, die seinem Anspruch genügen. nicht mit einer Absicht geschrieben, sei sie vierzig. Und diese wirklich allerletzten Beim Theater ist das nicht anders. Was wir ideologischer oder pädagogischer Natur. Tage des Krieges interessierten mich im- früher Stammkneipen genannt haben, wo Aber vielleicht ging es mir unbewusst da- mer schon, seit Jahrzehnten eigentlich man verlässlich immer dieselben Leute rum, eine Erfahrung mit anderen teilen zu habe ich über diese Zeit gelesen und re- trifft, das vermisse ich manchmal. wollen: dass die Zivilisation sehr schnell cherchiert, ich bin ja auch Berliner, Nach- SPIEGEL: Stimmt, die Stammkneipe ist zerbrechen kann. Natürlich ist das Auf- kriegskind. Der unerhörte Zusammen- anscheinend dem Untergang geweiht. kommen einer rechtsradikalen und faschis- bruch einer bürgerlichen Welt, überhaupt Überall eröffnen asiatische Imbisse. Oder toiden Partei wie der AfD in Deutschland einer Welt, hat mich nie losgelassen. Nagelstudios. ein Zivilisationsbruch. In diesem Dunst- SPIEGEL: Sie erzählen die Geschichte eines Klaußner: Es gibt schlimmere Kulturver- kreis feiert auch etwas Ungeheures und Mannes namens Fritz, der dem Krieg eini- luste, und man kann auch zu oft ins Lokal vergangen Geglaubtes wie der Antisemi- germaßen erfolgreich aus dem Weg gehen gehen. Aber diese Entsprechung zwischen tismus seine Wiederauferstehung, was ja konnte, doch an diesem 23. April den Be- dem Theater und dem Gasthaus gibt es nichts anderes bedeutet als das Ausbre- fehl erhält, zusammen mit einem Kumpel unbedingt. chen von purem Irrationalismus. Das eine Geldkassette vom Flugplatz Johannis- SPIEGEL: Was verlieren wir als Gesell- macht mich fassungslos. thal im Süden durch die umkämpfte schaft, wenn es die Stammkneipe nicht SPIEGEL: Kann man dem eine narrative Stadt zum Reichsluftfahrtministerium zu mehr gibt? Kraft entgegensetzen? bringen. Klaußner: Es ist ein Ort, der weder ganz Klaußner: Ich kann mich nur wiederholen: öffentlich noch ganz privat ist, und auf der Mit pädagogischer oder ideologischer Ab- Grenze kann man sowohl das Öffentliche sicht zu schreiben ist für mich zum Schei- Burghart Klaußner: »Vor dem Anfang«. Kiepenheuer & Witsch; 176 Seiten; 16,99 Euro. Erscheint am wie auch das Private verhandeln, man ist tern verurteilt. Ich versuche, mich dieser 7. September. nicht auf der Straße, aber man ist auch Zeit erzählerisch zu nähern, weil ich etwas

DER SPIEGEL Nr. 36 / 1. 9. 2018 115 Kultur

herausfinden will. Das ist ähnlich wie bei der Schauspielerei, man spielt eine Figur, weil man wissen will, wie sie war, wie sich jemand gefühlt hat. Man setzt sich als Na- SPIEGEL-Gespräch live turvolk die Maske des Feindes auf, damit man weiß, welche Waffen man einsetzen muss. So funktioniert Schauspielerei. Ähn- im Thalia Theater – liches kann man auch mit der Literatur erleben. SPIEGEL: Der Held des Romans, Fritz, träumt davon, Schauspieler zu werden, Welt in der Krise »das Leben durch unendliche Verdopplun- gen zu erweitern«. Liegt darin auch für Sie eine Faszination? Klaußner: Nein, mein Ansatz als Schau- spieler ist tatsächlich ein anderer, mir geht es nicht so sehr darum, das Leben zu ver- doppeln. Mich hat immer eher der For- schungsaspekt interessiert. Der Exzess J. Konrad Schmidt Konrad J. Christian O. Bruch war für mich höchstens Mittel zum Zweck. Um Aggressivität zu entladen, ist die Bühne ein weitaus besserer Ort als das Schlachtfeld. Münchner Sicherheitskonferenz Münchner SPIEGEL: Sie haben ein breites Spektrum von Figuren verkörpert, darunter waren Filmrollen wie der sadistische Pastorenvater in »Das weiße Band« oder der Staatsanwalt und Auschwitz-Ankläger Fritz Bauer. Claudia Roth Wolfgang Ischinger Britta Sandberg Klaußner: Bei der Annäherung an eine Rolle ist immer das Detail entscheidend, Hunderttausende Menschen suchen Zuflucht in einer nicht die Theorie. Der Pastor in »Das wei- Europäischen Union, die seit dem Brexit zu zerfallen droht. ße Band« zum Beispiel ist ein Mensch, der glaubt, sich völlig im Griff zu haben. Er Die Beziehung der EU zu Russland ist auf dem Tiefpunkt, der muss sich darum bemühen, weil er sich atlantische Partner unter Präsident Trump unberechenbar − nach etwas anderem sehnt, als er sich und in ganz Europa sind rechtspopulistische Bewegungen selbst erlaubt. Er will seine Kinder eigent- lich Tag und Nacht nur streicheln und lieb- auf dem Vormarsch. kosen, doch stattdessen schlägt er sie, weil er glaubt, nur dann wären sie geschützt Über Antworten auf diese Krise diskutieren die vor der Welt, und Liebe würde sie schwä- chen. Wie kann man es schaffen, sich so Grünen-Politikerin Claudia Roth, Vizepräsidentin des zu verleugnen, zumal dieser Mann geprägt Deutschen Bundestages, und der Vorsitzende der Münchner ist von Religiosität und Liebe? Diesen Wi- Sicherheitskonferenz, Wolfgang Ischinger, derspruch in eins zu denken ist unerhört interessant. Und auch lebensnah, wie mir Autor des Buchs »Welt in Gefahr«, mit scheint, ich kenne solche Leute, kenne sie SPIEGEL-Auslandsressortleiterin Britta Sandberg. auch heute noch. SPIEGEL: Ist das eine deutsche Wesensart? Klaußner: Das weiß ich nicht. Ich bin Mittwoch, 5. September 2018, 20.00 Uhr nicht so begeistert davon, über National- charaktere zu reden. Wir haben das Thalia Theater, Alstertor, 20095 Hamburg schnell bei der Hand: Das ist typisch deutsch. Ständig auf sich selbst zu zeigen Karten im Vorverkauf, an der Abendkasse und unter www.thalia-theater.de. finde ich etwas masochistisch und auch Eintritt: 9 bis 18 Euro, Abonnenten 7 bis 15 Euro (nur an der Thalia-Kasse am Alstertor). zu einfach. Kartentelefon: 040 - 32 81 44 44. Änderungen vorbehalten. SPIEGEL: Gerade haben Sie Bertolt Brecht Verpassen Sie keine Veranstaltung mehr, und melden Sie sich für unseren Newsletter unter spiegel-live.de an. gespielt in einem Fernsehfilm von Hein- rich Breloer, der voraussichtlich im Febru- Die Veranstaltung wird per Live-Stream auf www.spiegel.de übertragen. ar zu sehen sein wird. Wie gehen Sie an so ein berühmtes Vorbild heran? Klaußner: Bei einer sehr bekannten Figur ist es natürlich am besten, nach unbekann- ten Aspekten zu suchen. Da gibt es eine Seite, eine Farbe an Brecht, die man wenig

* Mit der Redakteurin Claudia Voigt im SPIEGEL-Haus in Hamburg.

116 NEU Jetzt im Handel CHRISTIAN KERBER / DER SPIEGEL CHRISTIAN Klaußner beim SPIEGEL-Gespräch* »Der Schwächere hat recht« kennt, das ist seine Stimme. Seine Stimme war sehr hoch, fast im Diskant, auch sich brechend. Eine Szene, in der Brecht zwei Tage vor seinem Tod noch mal auf die Pro- be kommt, barg für mich eine andere Chan- ce: Als Lebender versucht man ja, das Ster- ben zu verstehen. Als Schauspieler hat man manchmal die Chance dahinterzukommen. SPIEGEL: Was haben Sie durch das Erfor- schen solcher Szenen und Figuren übers Leben verstanden? Klaußner: Es gibt ein Verstehen jenseits des Intellektuellen, man versteht etwas, indem man es durchlebt. Man ist dann ge- wappneter, ausgestatteter, gepolsterter dem Leben gegenüber. Der Zugewinn ist ein ganz persönlicher. Mit meiner Art von Arbeit beglücke ich erst mal mich selbst. Aber diese Anreicherung hat mir auch deutlich gemacht, dass wir uns täglich ei- nen Grundsatz ins Gedächtnis rufen soll- ten, den jeder Segler kennt: Der Schwä- chere hat recht. Der Dampfer weicht dem Segelboot aus, das Segelboot dem Ruder- boot. Das ist, wozu die vielen Rollen für mich geführt haben: Man weiß, man ist stark bis zu einem gewissen Grad, und man hat die Aufgabe, davon etwas abzu- geben. SPIEGEL: Segeln ist Ihre persönliche Lei- denschaft, und es spielt in Ihrem Roman eine wichtige Rolle. Klaußner: Dieser Sport ist ja ein uraltes Handwerk. Mir hat sich da ein Bild aus www.spiegel-biografi e.de Stanislaw Lems Roman »Solaris« einge- prägt. Ein Raumschiff landet auf einem Planeten, der scheinbar nur aus Wasser besteht. Aber es stellt sich heraus, dieses Wasser ist ein Gehirn, das mit dem Raum- schiff kommuniziert. Das kann man auf einem Boot jeden Tag erfahren: Wasser Lesen Sie in diesem Heft: erzählt. SPIEGEL: Schauspiel ist auch ein Hand- werk. Besteht zwischen beidem eine Ver- Sissi wandtschaft? Wie der Mythos entstand Klaußner: Im Handwerk materialisiert sich ein großer meditativer Raum. Wer mit der Hand an Dingen arbeiten kann, sie Verführerin formt oder umformt, ist oft sehr mit sich im Reinen. Das sollte man nicht unterschät- Neue Freiheit in Paris zen. Klingt wie ein Schlusswort, finde ich. SPIEGEL: Herr Klaußner, wir danken Ih- Glücklos nen für dieses Gespräch. Die Diva und die Männer

DER SPIEGEL Nr. 36 / 1. 9. 2018 117 Kultur FILIPPO VENTURI / DER SPIEGEL FILIPPO Musikerin Calvi: Man vergisst kurz, wer Jimi Hendrix war

Calvis drittes Album, soeben erschie- nen, heißt »Hunter« – »Jäger« wie »Jäge- Jäger und Jägerin rin«. Im Juni postete sie dazu einen Text auf Instagram. Er liest sich wie ein kleines Manifest. »Ich bin auf der Jagd nach Pop Die britische Sängerin Anna Calvi fragt auf ihrem neuen Album etwas«, heißt es darin. »Ich will über »Hunter«, was das heißt: Frau sein – oder Mann. Geschlechter hinausgehen. Ich möchte er - forschen, wie ich etwas anderes sein kann als das, was mir zugewiesen wird.« Im Vi- n einem Nachmittag Ende Juli, Stun- Platte war, oder wie Grace Jones, über de- deo zur ersten Single, »Don’t Beat the Girl den bevor Anna Calvi die Bühne ren Album »Nightclubbing« Calvi sagt, es out of My Boy«, sieht man Calvi, wie sie A betritt, spaziert sie durch Rimini, verleihe ihr Stärke. Bowie und Jones waren von Körpern umtanzt und umarmt wird. vorbei an Schaufenstern und Werbeplaka- furchtlose Exzentriker, Künstler, die neue Mädchen und Junge verschwimmen im ten, an Models und an deren auffordern- Menschenbilder entworfen haben. Das Tanz. den Blicken. Sie selbst wendet den Blick macht Calvi nicht. Aber sie nimmt diese »Hunter« wirft eher Fragen auf, als sie ab. »Das ist einfach überall«, hat sie kurz Bilder auf, arbeitet mit ihnen. Ein Weltstar zu beantworten: was, wenn ein Mann sich zuvor gesagt, fast flüsternd. »Als wäre es wie Bowie und Jones ist Calvi deshalb noch weiblich gibt? Was, wenn eine Frau sich in der Luft, die wir atmen.« lange nicht, aber sie hat schon die richtigen, männlich? Was heißt das überhaupt, »Das« – die britische Sängerin, Gitarristin die entscheidenden Fans. Der Produzent männlich oder weiblich? Sie habe keine und Komponistin Anna Calvi, 37, meint da- Brian Eno findet, Calvi sei »das Größte seit Antworten gefunden, sagt Calvi. Sie selbst mit die Welt, in der sie lebt; für sie ist diese Patti Smith«. Der Modeschöpfer Karl Lager - habe als Kind mit Plastikschwertern ge- Welt eine Männerwelt. Sie sagt: »Als Frau feld sah in ihr eine neue Muse. Sie habe spielt und als Teenager mit ihrem sich ent- musst du dich beweisen, bevor du respek- die perfekte Nase, eine, die man mit keiner wickelnden Frauenkörper gehadert – diese tiert wirst. Als Mann wirst du respektiert, Operation kaufen könne. Fragen bestimmten nicht bloß ihre Kunst, bis du das Gegenteil beweist. Das ist der »Ich nehme das als Kompliment«, sagt sondern ihr Leben. Unterschied.« sie und lächelt. »Hunter« wirkt zuweilen wie der Sound- »I’ll be your man«, ich werde dein Mann In Rimini schleicht Calvi nun vorbei an track zu einer Zeit, in der das Infrage - sein, hatte sie selbst zu Beginn ihrer Kar- der Freiluftbühne, auf der sie später spie- stellen von Geschlechteridentitäten Main- riere gesungen. Damals trat Calvi oft in len wird. Im Backstageraum tapert sie, ge- stream geworden ist. Einer, in der #MeToo einem Flamenco-Outfit auf, das man nicht mächlich, nach links, nach rechts, nach hin- eine Debatte über Verletzungen und klar einem Geschlecht zuordnen konnte. ten, nach vorn, und beginnt Tonleitern zu Machtstrukturen angestoßen hat. Einer, in Sie spielt mit den Rollen und mit den Ge- singen, erst ganz still, dann lauter. Sie der Rollen auch verwischt werden, wenn schlechtern, steht damit in der Tradition wirkt in sich versunken; als arbeitete sie einst mächtige, mutmaßliche Täter wie der von Musikern wie David Bowie, dessen auch daran, mit jedem Ton gegen ihre Filmproduzent Harvey Weinstein vor Ge- »Aladdin Sane« Calvis erste selbst gekaufte Schüchternheit anzusingen. richt landen und mutmaßliche Opfer wie

118 FILIPPO VENTURI / DER SPIEGEL FILIPPO Popstar Calvi in Rimini: »Ich möchte erforschen, wie ich etwas anderes sein kann« die Schauspielerin Asia Argento, die Wein- Zu ihrer Musik, die in ihren zerbrech- ten, nach vorn. Mit jedem gesungenen Vi- stein als eine der Ersten Vergewaltigung lichen Momenten an den Folkpop von Jeff brato, mit jedem Gitarrensolo scheint et- vorwarf, selbst zweifelhaft dastehen. »Ich Buckley erinnert und in ihren drama- was mit ihr zu passieren. Sie zieht ihre hoffe, #MeToo ist ein Anfang«, sagt Calvi. tischen an Nick Cave, hat sie zu Hause ge- Oberlippe nach oben, rümpft die Nase, Aber sie selbst habe keine Erfahrungen funden. In ihrem Elternhaus stieß sie als schreit: »Ha!« Sie lehnt ihren Oberkörper mit sexueller Gewalt gemacht. Kind auf eine Videokassette ihres Vaters, zurück, kniet sich hin, wirft sich auf den Calvi geht es ohnehin um etwas anderes. den Woodstock-Auftritt von Jimi Hendrix. Rücken. Auf dem Boden schüttelt und rä- Nicht um Gewalt. Im Grunde auch nicht »Das Gefühl von Freiheit« habe sie daran kelt sie sich, während sie Gitarre spielt, um Politik. Ihr Universum ist privater. Cal- fasziniert, »als spräche Hendrix durch sei- und man vergisst kurz, wer Jimi Hendrix vi geht es um einen anderen Blick auf Frau- ne Gitarre«. Im Wohnzimmer schaute sie war – und dass das Gitarrensolo lange Zeit en – und auf Männer. Für sie heißt »to- das Video immer wieder an, nahm sich die höchste Form popkultureller Perfor- xische Männlichkeit« auch, dass Männern irgendwann die Gitarre ihres Vaters und mance-Männlichkeit war. Im Schatten, den zu oft beigebracht werde, ihre Verletzlich- spielte Hendrix nach. Mit Mitte zwanzig, sie an eine Wand wirft, lässt sich ohnehin keit zu verbergen. »Das macht so vieles als ihre Eltern die Wohnung renovierten, nicht mehr erkennen, ob da eine Frau oder kaputt, wenn Menschen dazu erzogen nutzte sie den Klang der leeren Räume. ein Mann auf der Bühne steht. werden, sich geradezu übermenschlich zu Sie begann zu singen, im Hall gefiel Calvi Ein Fan hat Calvi einen Blumenstrauß verhalten.« Es klingt, als fügte sie einem ihre Stimme. Wieder flüstert sie fast: »Viel- gegeben, er steht in einer Vase im Backstage- berühmten Zitat der Feministin Simone leicht ist meine Schüchternheit auch nur raum. Auf der Vase sieht man die Zeich- de Beauvoir einen Nachsatz hinzu: Man eine Rolle. Wenn ich Musik mache, kann nung eines Manns mit Krawatte, der einer ist auch nicht als Mann geboren, man wird ich all das loslassen.« Frau eine Blume vor die Brüste hält. Die einer. Eine der Fragen, die Calvi mit »Hun- In Rimini ist langsam die Sonne unter- Frau ist nackt und sieht aus, als hätte die ter« aufwirft, ist auch: Wann ist ein gegangen, Calvis Verstärker brummt vol- Geste sie schwach gemacht. Mensch nur Darsteller dessen, was von ler Erwartung, und sie schleicht auf die Calvi sitzt nach dem Konzert neben der ihm erwartet wird? Bühne. Ihre Zuschauer sitzen. Einige we- Vase und begutachtet sie. »Lächerlich«, Wann ist man selbst man selbst? deln sich mit Fächern oder ihren Tickets sagt sie. Und dann: »Die Vase fasst alles Anna Calvi wuchs in einer Londoner Luft zu. Calvi, roter Lippenstift, schwarzes ganz gut zusammen.« Wieder flüstert sie Vorstadt auf, als Tochter einer Britin und Sakko, dessen Ärmel ein bisschen zu lang fast. Und lächelt. Jurek Skrobala eines Italieners. Sie spreche kein Italie- wirken, macht keine Ansage, schlägt statt- Twitter: @skrobala nisch, habe aber in Rom als Kind den Zu- dessen einen Ton auf der Gitarre an und gang zur Musik gefunden, wie sie sagt, als wippt vor dem Mikrofonständer leicht hin ihr Großvater Tangos aus dem Radio auf und her. Sie schließt die Augen, als blickte Video So klingt Anna Calvi dem Klavier nachgespielt habe. Sie lernte sie lieber in sich hinein als ins Publikum. Geige, ein Instrument, das sie später stu- Und wieder beginnt sie zu tapern, die- spiegel.de/sp362018calvi dieren sollte. Im Studium musste sie auch ser eigenartige Anna-Calvi-Gang geht wie- oder in der App DER SPIEGEL singen. Calvi hasste es. der los, nach links, nach rechts, nach hin-

DER SPIEGEL Nr. 36 / 1. 9. 2018 119 Kultur Ein Mann hat recht

Islamkritiker Thilo Sarrazin stellt in Berlin sein neues Buch vor.

ort drüben, halb verdeckt, die land und in aller Welt. Um all das, was timents, seiner Arbeitsweise. Er selbst sei Reichstagskuppel, deutsche Flag- weit weg ist von der Eindimensionalität, in keiner Kirche, sagt Sarrazin, aber als D gen, und da, mitten in Berlin, am vom Eindeutigen, das Sarrazin so schätzt. evangelischer Christ erzogen worden. Und Schiffbauerdamm, das Haus der Vom Beton. so ist die Methode, die er in diesem Buch Bundespressekonferenz. Ein paar Polizis- Wie alle Bücher ist »Feindliche Über- anwendet, die Methode eines Kulturkrei- ten davor, ein Polizeibus. Haus der Bun- nahme« auch ein Buch über seinen Autor, ses, in dem man lange Zeit die Heilige despressekonferenz, amtlicher geht es ein Buch über Thilo Sarrazin. Ein Doku- Schrift skrupulös und wortgetreu gelesen kaum in Deutschland, gleich gegenüber ment seiner Weltsicht und seiner Ressen- hat. Die Methode der pietistischen Bibel- die Kanzlerin, das Regierungsviertel. Hier stellte Thilo Sarrazin am Donnerstagvor- mittag sein neues Buch vor, und wenn Sarrazin auch längst nicht mehr Finanz - senator in Berlin ist oder im Vorstand der Bundesbank, so haftet seinen Aussagen doch immer der Schein der Verlautbarung an, des Letztgültigen, des amtlich Fest- gestellten*. Es ist natürlich Zufall, dass das Grau des Anzugs von Thilo Sarrazin eigentlich ein Betongrau ist, dass dieser Anzug sitzt, als wäre er Sarrazin auf den Leib betoniert, und dass Sarrazin selbst so schnurgerade dasteht im Blitzlichtgewitter vor der Pres- sekonferenz, als hätte man auch ihn aus Beton gegossen. So ganz kann man ihm das Betonierte sowieso nicht absprechen. Sarrazin geht es ja nicht darum, ob er recht hat. Es geht ihm nicht einmal darum, dass er recht haben will. Es geht Sarrazin da- rum, dass er recht hat, weil ihm das, was er behauptet, unwiderlegbar scheint. Auf Beton gebaut. Er spricht von »Erkenntnissen«, von »inneren Zusammenhängen«, einer »pro- funden Analyse«, von »stocksoliden Zah- len«, all dies »sehr gut und sehr verständ- lich« dargestellt, vom »verständigen Be- trachter« kaum zu ignorieren. Als ihm eine Reporterin eine Frage stellt, die ihm nicht so ganz behagt, antwortet Sarrazin: »Die Dame hat Nachholbedarf an Fakten.« Die Fakten. Es mag leicht sein, das Alter von Thilo Sarrazin herauszufinden (73), die Zahl der Jahre, die er in der SPD ist (45), oder die Gesamtauflage seines Best- sellers »Deutschland schafft sich ab« (1,5 Millionen), auch ließe sich feststellen, dass »Deutschland schafft sich ab« auf den Tag genau acht Jahre vor dieser Pressekonfe- renz erschienen ist. In Thilo Sarrazins neuem Buch aber geht es nur vordergründig um derartig ein- fache Fakten. Es geht um den Glauben. Es geht um Religion. Es geht um den Islam. Um die Kulturgeschichte des Islam. Um den Islam heute. Um Muslime in Deutsch-

* Thilo Sarrazin: »Feindliche Übernahme. Wie der HC PLAMBECK / DER SPIEGEL Islam den Fortschritt behindert und die Gesellschaft Autor Sarrazin in Berlin: »Stocksolide Zahlen« bedroht«. FBV; 496 Seiten; 24,99 Euro.

120 stunde. Und die Methode eines Mannes, Sarrazins schon gelaufen sind: die, ihn wi- der gewohnt ist, Akten zu studieren, Zah- derlegen zu wollen und sich dabei dem SPIEGEL GESCHICHTE len auszuwerten, die Methode eines Be- Verdacht auszusetzen, zu relativieren und MONTAG, 3. 9., 22.40 – 23.30 UHR | SKY amten, eines ehemaligen Finanzsenators. die tatsächlich vorhandenen Probleme Nordkorea – Der Mord an Die Sarrazins eben. mit dem radikalen Islam oder mit der Kri- Kim Jong Nam Sarrazin hat den Koran Wort für Wort minalität mancher muslimischer Migran- gelesen. In einer deutschen Übersetzung. ten zu verharmlosen. Am 13. Februar 2017 wurde Kim Jong Er spricht kein Arabisch, hat weder Islam- Das wäre völlig sinnlos. Auch wenn Sar- Nam, der Halbbruder von Nordkoreas wissenschaften noch Theologie studiert, razins Bücher im Stil eines Gutachtens da- Diktator Kim Jong Un, auf dem Flug- er ist Volkswirt, ein Mann der Empirie, herkommen, ist diese Gutachtentechnik hafen von Kuala Lumpur mit einem des Nachprüfbaren. Doch die Empirie bei ihm höchstens eine literarische Form. tödlichen Kampfstoff ermordet. Die muss versagen, wenn es um das Wunder Auch wenn Sarrazin selbst sein Buch mit Dokumentation beleuchtet das Um- des Glaubens geht, um das Unsichtbare. einem Indizienprozess vergleicht, geht es feld des Getö teten, erzählt von nord- Was bleibt, sind die Verse einer 1400 Jahre ihm nicht darum, zu prüfen, abzuwägen, koreanischen Geheimdienstaktivitäten alten Schrift, die ganz anders aufgebaut Belastendes und Entlastendes zu sammeln und internationalem Waffenhandel, ist als das Alte oder das Neue Testament. und schließlich zu einem Urteil zu kom- zeigt die Hintergründe des Mordes Verse, die sich europäischer Lesetradition men. Sein Urteil steht von Anfang an fest. und erklärt, wie eine menschenver - widersetzen und damit auch der Lektüre Im Collagestil reiht er Zahlen, historische achtende Diktatur ein ganzes Land des Thilo Sarrazin. Er schreibt: »Der ko- Ereignisse, Zitate aus Büchern und Zeitun- seit Jahrzehnten im Griff hat. ranische Text ist an vielen Stellen schwer gen, Studienergebnisse aneinander, springt verständlich. Es gibt keine erkennbare dabei, wenn es der Argumentation dient, Gliederung, in den meisten Suren auch kei- zwischen Epochen und Kontinenten. His- SPIEGEL TV nen erkennbaren roten Faden und zudem torische Zusammenhänge blendet er aus, MONTAG, 3. 9., 23.25 – 0.00 UHR | RTL ungeheuer viele Wiederholungen.« die Rolle des Westens erst recht: »Seit Jahr- Weil viele Muslime den Text des Koran zehnten konzentrieren sich Kriege und Ge- Hitlergrüße unterm Marx-Denkmal – als Botschaft Gottes wörtlich nähmen, walt vor allem auf den islamischen Kultur- Wer sind die Hintermänner der hat auch Sarrazin diesen Text wörtlich ge- kreis«. George W. Bush? Kommt in diesem Krawalle in Chemnitz? Ein kriminelles Buch nicht vor. Es würde das Bild nur ver- Leben – Ob Juwelenraub, Rocker- komplizieren. mord oder Machetenangriff, Dennis Nicht Eiferer, sondern Sarrazin hat Erfolg, weil er alles Kom- aus Berlin ist immer mittendrin; Techniker des Ressen - plizierte weglässt, weil er für das Unbe- Ortstermin – Das Parkchaos vor einer hagen, das seine Leser angesichts von Berliner Moschee. timents haben dem Hass Migration und einer sich wandelnden Ge- den Boden bereitet. sellschaft empfinden, eine einfache, mo- nokausale Erklärung bereithat. Und weil MITTWOCH, 5. 9., 22.25 – 23.20 UHR | SAT.1 er diese Erklärung vorträgt im Ton des Be- Deutschland extrem! nommen. Für ihn gibt es nur den einen amten, der einen Bescheid erstellt. Weil Die Drogen-Cops, Teil 1 Text, den einen Koran, den einen Islam. er das Gefühl vermittelt, recht zu haben. Als wäre auch der aus Beton. Als wäre Es waren ja weniger die Eiferer und Feuer - Sarrazin selbst zum Islamisten geworden, köpfe, die Krawallmacher, die in der deut- zu einem, der glaubt, das Wort des Pro- schen Geschichte dem Hass den Boden pheten sei absolut, eine Betriebsanleitung bereitet haben. Sondern die seriös auftre- für Muslime. tenden Techniker des Ressentiments, Män- Der Koran, den Sarrazin gelesen hat, ist ner wie Sarrazin. ein radikales Programm, eine Schauerge- Muslime, so stellt er es dar, seien unge- schichte, mit Höllenszenen, Verdammnis bildet, gewalttätig, kriminell – und weil für Ungläubige. Kaum kompatibel mit den sie sich stärker vermehrten als die nicht mitteleuropäischen Werten des 21. Jahr- muslimische Bevölkerung, würden sie in hunderts: »Eine staatliche Instanz, die das ein paar Jahrzehnten das Land überneh- Gewaltmonopol für sich beansprucht und men. »Wenn große Teile Deutschlands so die Durchsetzung des Rechts in staatliche wie die Sonnenallee in Neukölln aussehen, Hand nimmt, kommt im Koran nicht vor«, kann durch neue Mehrheiten auch das

schreibt Sarrazin. Oder: »Ungeheuer ist Grundgesetz geändert werden, oder es SPIEGEL-TV der durch den Koran produzierte sexuelle kann sich die gelebte Verfassungswirklich- Hamburger Taskforce-Beamte bei Zugriff Druck: Homosexualität ist verboten.« keit verschieben.« Das ist nicht schön, stimmt. Neben Sarrazin weiß, wie das zu verhindern Der Hamburger Stadtteil St. Georg dem Grundgesetz schneidet der Koran wäre: »Man muss die Einwanderung von ist zum Synonym für Prostitution, nicht gut ab. Man könnte dem entgegen- Muslimen grundsätzlich unterbinden.« Drogen, Armut und Gewalt geworden. halten, dass auch im Westen Kirche und Der Satz steht auf der vorletzten Seite. Rund um den Hauptbahnhof hat Staat kaum getrennt waren, als der Koran Als wäre er die entscheidende, die unfrei- sich eine Szene aus Rauschgiftabhän- im siebten Jahrhundert entstand. Dass willige Pointe des Buchs: der Moment, in gigen und Dealern etabliert. Mit sich auch in der Bibel zahlreiche Stellen dem Sarrazin selbst nach seinen Maßstä- regelmäßigen Razzien versucht die finden ließen, die einen aufgeklärten ben nicht recht haben kann. Taskforce »Betäubungsmittel«, der Mitteleuropäer des 21. Jahrhunderts ent- Denn mit dem Grundgesetz wäre sein wachsenden Kriminalität Herr zu setzen müssten, dass auch Homosexuali- Plan kaum zu vereinbaren. werden. SPIEGEL-TV-Autor Henrik tät … – und so weiter. Und würde so in Sebastian Hammelehle Neumann durfte die Beamten über die Falle laufen, in die allzu viele Gegner mehrere Monate exklusiv begleiten.

DER SPIEGEL Nr. 36 / 1. 9. 2018 121 Die perfekte Welle hören. Ohne Rauschen. Im Auftrag des SPIEGEL wöchentlich ermittelt vom Fachmagazin »buchreport« (Daten: media control); nähere Informationen finden Sie online unter: www.spiegel.de/bestseller

Belletristik Sachbuch

1 (1) Robert Seethaler 1 (1) Bas Kast Der Ernährungskompass Das Feld Hanser Berlin; 22 Euro C. Bertelsmann; 20 Euro

2 (2) Frank Schätzing 2 (2) Christopher Schacht Die Tyrannei des Schmetterlings Mit 50 Euro um die Welt adeo; 20 Euro Kiepenheuer&Witsch; 26 Euro 3 (3) Richard David Precht 3 (3) Mariana Leky Was man von hier Jäger, Hirten, Kritiker Goldmann; 20 Euro aus sehen kann DuMont; 20 Euro 4 (–) Dietrich Grönemeyer 4 (–) Stephen King Weltmedizin S. Fischer; 20 Euro Der Outsider Heyne; 26 Euro 5 (–) Ahmad Mansour 5 (5) Maxim Leo/Jochen Gutsch Klartext zur Es ist nur eine Phase, Hase Integration Ullstein; 12 Euro S. Fischer; 20 Euro

6 (4) Isabel Allende Ein unvergänglicher Der Berliner Psychologe Sommer Suhrkamp; 24 Euro Mansour, einst selbst Islamist, fordert einen anderen Um- 7 (6) Maja Lunde gang mit muslimischen Die Geschichte der Bienen btb; 20 Euro Einwanderern

8 (–) Alex Capus 6 (7) Franziska Schreiber Königskinder Hanser; 21 Euro Inside AfD Europa Verlag; 18 Euro

9 (–) Heinz Strunk 7 (–) Dirk Müller Das Teemännchen Rowohlt; 20 Euro Machtbeben Heyne; 22 Euro

10 (7) Jojo Moyes Mein Herz 8 (4) Peter Wohlleben in zwei Welten Wunderlich; 22,95 Euro Das geheime Leben der Bäume Ludwig; 19,99 Euro 11 (15) Christoph Hein Verwirrnis Suhrkamp; 22 Euro 9 (11) Gerald Hüther Würde Knaus; 20 Euro 12 (10) Volker Klüpfel/Michael Kobr Radio in DAB+ Qualität – Kluftinger Ullstein; 22 Euro 10 (6) Otto Waalkes Kleinhirn an alle Heyne; 22 Euro freier Empfang überall. 13 (–) Wladimir Kaminer Die Kreuzfahrer Wunderraum; 20 Euro 11 (8) Hans Rosling Factfulness Ullstein; 24 Euro Jetzt informieren, 14 (12) Laetitia Colombani im Fachhandel oder Der Zopf S. Fischer; 20 Euro 12 (16) Stefan Schubert Die Destabilisierung Deutschlands Kopp; 22,99 Euro aufbdabplus.de 15 (13) Michael Ondaatje Kriegslicht Hanser; 24 Euro 13 (10) Peter Hahne Schluss mit euren ewigen 16 (14) Francesca Melandri Mogelpackungen! Lübbe; 10 Euro Alle, außer mir Wagenbach; 26 Euro 14 (–) Ronan Farrow 17 (9) Maja Lunde Das Ende der Diplomatie Rowohlt; 22 Euro Die Geschichte des Wassers btb; 20 Euro 15 (5) Madeleine Albright 18 (16) Christina Dalcher Faschismus DuMont; 24 Euro Vox S. Fischer; 20 Euro 16 (–) Dalai Lama/Sofia Stril-Rever Der neue Appell des Dalai Lama Feminismus ist heute an die Welt benevento; 7 Euro ein Bestseller. Die US- Lin guistin Dalcher skizziert 17 (9) James Comey eine dystopische Welt, in Größer als das Amt Droemer; 19,99 Euro der Frauen nur 100 Wörter am Tag sprechen dürfen 18 (–) Michael Hartmann Die Abgehobenen Campus; 19,95 Euro 19 (17) Maxim Biller Sechs Koffer Kiepenheuer&Witsch; 19 Euro 19 (12) Yuval Noah Harari Homo Deus C.H. Beck; 24,95 Euro 20 (–) Cecelia Ahern Frauen, die ihre Stimme 20 (17) Rolf Dobelli Die Kunst erheben. Roar Krüger; 18 Euro des guten Lebens Piper; 20 Euro

122 Kultur

eigentliche Hauptfigur der Serie: eine Highschool-Schülerin namens Patty, die von den Mitschülern mit dem Spitznamen Diese innere Leere »Fatty Patty« abgestraft wird, weil sie übergewichtig ist. In der Schlüsselszene der Serie gerät Patty mit einem Ob- Serienkritik Schon vor Veröffentlichung war dachlosen in einen Streit um einen Schokoriegel, sie schlägt zu, er schlägt zurück, zertrümmert Pattys Kiefer. Drei Monate »Insatiable« die meistgehasste Netflix-Serie aller kann Patty nur Flüssignahrung zu sich nehmen. Sie verliert Zeiten. Danach wurde es nur noch schlimmer. über 30 Kilogramm in dieser Zeit. Und als sie sich nach den Sommerferien wegen der Prügelei vor Gericht rechtfertigen muss, erscheint eine schlanke junge Frau mit wehendem Haar s ist ja fast schon beruhigend, dass der amerikanische und stets leicht geöffneten Lippen. Eine Antiheldin, die auf E Streamingdienst Netflix, der gerade überall auf der einmal alles hat, was sie je begehrt hat, und feststellen muss, Welt das Fernsehen revolutioniert, auch einmal einen dass sie trotzdem kein bisschen weniger wütend ist als zuvor. Fehler macht. Oder gleich mehrere. »Insatiable« heißt eine Bob Armstrong, der Patty als Pro-bono-Anwalt verteidigen neue Serie des Senders, »Nicht satt zu kriegen«, und sie ist soll, erkennt auf den ersten Blick, dass die neue Patty gut nicht nur das meistgehasste Produkt in der Geschichte von genug aussieht, um Miss alles Mögliche zu werden. Und er Netflix – das Drama rund um »Insatiable« ist auch noch erkennt auch, dass sie Seelenverwandte sind. »Wir beide sind interessanter als die zwölf Folgen selbst. hungrig«, sagt er in einer Folge zu ihr. Es ist diese Art von Am Anfang steht ein Mann namens Bill Alverson. Den Hunger, die im Grunde niemals gestillt werden kann, weil gibt es wirklich. Er ist tagsüber Anwalt aus Alabama, hat beide innerlich eine absolute Leere verspüren. aber aus seiner Leidenschaft für Schönheitswettbewerbe seine Klingt gut? eigentliche Karriere gemacht: als Coach für Kandidatinnen von Misswahlen und Reality-TV-Star, der Mädchen das rich- tige Laufen beibringt wie Jorge bei »Germany’s Next Topmodel«, sie über- flüssige Selfies von ihrer Facebook- Seite löschen lässt und sie in dieses selt- same, dauerlächelnde Idealbild einer Frau verwandelt, das immer auch etwas wie eine Parodie wirkt. »Coach Char- ming« heißt seine Serie im amerikani- schen Fernsehen, »Mr. Congeniality« in Großbritannien: Sie sind so echt, wie Realityformate eben sein können. Nun ist die Abendunterhaltung, die in der Welt der Nachwuchsmodels spielt, nicht gerade für ihren emanzipa- torischen Zugriff auf Themen des Ge- schlechts und der Schönheit bekannt und dementsprechend umstritten – des- halb war es eigentlich eine gute Idee, ausgerechnet der Drehbuchautorin Lauren Gussis den Auftrag zu geben, / NETFLIX TINA ROWDEN Alversons Leben zu fiktionalisieren. Darstellerin Ryan in »Insatiable«: Nur Flüssignahrung Gussis hat schon die Serie »Dexter« miterfunden, die dem Beruf des Serienmörders menschliche Im Fall von »Insatiable« ist über fast alles gestritten wor- Seiten abgewinnen konnte. den. Darüber, ob die Serie Pädophilie verharmlose, Ess - Warum also den Zuschauer nicht mit einer klugen Serie störungen triggere, veraltete Schönheitsideale propagiere, über einen Modelcoach zum Nachdenken über Schönheits- ob sie rassistisch sei, sich über Obdachlose lustig mache, trans- ideale und Essstörungen bringen? Inspiriert von Alversons phob sei, zusammengefasst also: geschmacklos und gefährlich. Leben, eine Gesellschaftssatire über die Oberflächlichkeiten Und besonders laut war der Streit um ein Detail: Wenn die unserer Zeit erzählen? Gussis hat als Jugendliche selbst unter Schauspielerin Debby Ryan die übergewichtige Patty spielt, einer Essstörung gelitten. Sie ist bisexuell und weiß, was es trägt sie dabei einen Fatsuit, einen Schaumstoffanzug, der bedeutet, sich selbst nicht wirklich zu akzeptieren. als Requisit seine große Zeit in den Komödien um die Jahr- Gussis verwandelte den realen Bill Alverson in die fiktio- tausendwende hatte. Es gab Boykottaufrufe und schon als nale Figur Bob Armstrong. Ebenfalls Anwalt. Ebenfalls Coach Reaktion auf den Trailer eine Petition, die Netflix aufrief, für Misswahlen. Mit Toupet, Shaping-Unterwäsche und einer »Insatiable« zurückzuziehen. Ehefrau, deren größtes Geheimnis die eigene Unterschichts- Das eigentliche Problem von »Insatiable« ist allerdings herkunft ist, die sie krampfhaft vor der sozialen Elite ihrer viel banaler: dass die Serie schlicht und ergreifend handwerk- Stadt zu verbergen versucht. Außerdem hat er einen Rivalen, lich nicht gut gemacht ist. Auch nur eine einzige Folge zu- der ebenfalls Bob heißt, ebenfalls Jurist ist und ebenfalls sammenfassen zu wollen ist schwieriger, als 25 Jahre »Gute Coach für Misswahlen, allerdings in allen Bereichen erfolg- Zeiten, schlechte Zeiten« nachzuerzählen. Keine Figur hat reicher als Bob Armstrong. Und weil die erste Staffel der Tiefe. Kaum ein Witz ist witzig, was ja nun einmal eine ge- Serie dramaturgisch auf die regionalen Meisterschaften der wisse Grundanforderung an eine Komödie ist. Misswahlen zuläuft und Bob Armstrong dafür natürlich eine Natürlich kann man geschmacklose Serien machen, sollte Kandidatin brauchte, die er coachen kann, erschuf sie die man sogar – sie müssen nur gut sein. Maren Keller

DER SPIEGEL Nr. 36 / 1. 9. 2018 123 Service Leserbriefe SPIEGEL-Verlag, Ericusspitze 1, 20457 Hamburg Ericusspitze 1, 20457 Hamburg, Telefon 040 3007-0 · Fax -2246 (Verlag), -2247 (Redaktion) · Mail [email protected] www.spiegel.de/leserbriefe, Fax: 040 3007-2966 Mail: [email protected] Vorschläge für die Rubrik »Hohlspiegel« nehmen wir Impressum CHEF VOM DIENST Anke Jensen, MOSKAU Christian Esch, Glasowskij auch gern per Mail entgegen: [email protected] Thomas Schäfer Pereulok Haus 7, Office 6, 119002 Moskau, HERAUSGEBER Rudolf Augstein Tel. +7 495 22849-61, Fax 22849-62 (1923–2002) Schlussredaktion: Gesine Block; Hinweise für Informanten Christian Albrecht, Gartred Alfeis, Ulrike Falls Sie dem vertrauliche Dokumente und CHEFREDAKTEUR Boßerhoff, Regine Brandt, Lutz Diedrichs, NEW YORK Philipp Oehmke, 10 E 40th SPIEGEL Klaus Brinkbäumer (V.i.S.d.P.) Ursula Junger, Birte Kaiser, Dörte Karsten, Street, Suite 3400, New York, NY 10016, Informationen zukommen lassen wollen, stehen Ihnen Sylke Kruse, Katharina Lüken, Tel. +1 212 2217583, Fax 3026258 folgende Wege zur Verfügung: STELLV. CHEFREDAKTEURE Stefan Moos, Reimer Nagel, Sandra Pietsch, Post: DER SPIEGEL, c/o Investigativ, Ericusspitze 1, PARIS Julia Amalia Heyer, Susanne Beyer, Dirk Kurbjuweit, Fred Schlotterbeck, Sebastian Schulin, 20457 Hamburg Alfred Weinzierl Sandra Waege 137 Rue Vieille du Temple, 75003 Paris, Tel. +33 1 58625120, Fax 42960822 Telefon: 040 3007-0, Stichwort »Investigativ« HAUPTSTADTBÜRO Leitung: René Pfister, Produktion: Petra Thormann, Reinhard Mail (Kontakt über Website): www.spiegel.de/investigativ Michael Sauga, Christiane Hoffmann Wilms; Kathrin Beyer, Michele Bruno, PEKING Bernhard Zand, P.O. Box 170, Sonja Friedmann, Linda Grimmecke, Petra Unter dieser Adresse finden Sie auch eine Anleitung, (stellv.). Redaktion Politik und Wirtschaft: Peking 100101, Tel. +86 10 65323541, wie Sie Ihre Informationen oder Dokumente durch eine Nicola Abé, Dr. Melanie Amann, Markus Gronau, Ursula Overbeck, Britta Romberg, Fax 65325453 Dettmer, Veit Medick, Ann-Katrin Müller, Martina Treumann, Rebecca von Hoff, PGP-Verschlüsselung geschützt an uns richten können. Katrin Zabel Ralf Neukirch, Cornelia Schmergal, RIO DE JANEIRO Jens Glüsing, Der dazugehörende Fingerprint lautet: Christoph Schult, Anne Seith, Gerald BILDREDAKTION Leitung: Michaela Caixa Postal 56071, AC Urca, 6177 6456 98CE 38EF 21DE AAAA AD69 75A1 27FF 8ADC Traufetter. 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Epp, Birgit Großekathöfer, Roman Höfner, TOKIO Dr. Wieland Wagner, Asagaya Mail: [email protected], Telefon: +1 212 556-5118 Redaktion: Maik Baumgärtner, Sven Becker, Marco Kasang, Bernhard Riedmann Minami 2-31-15 B, Suginami-ku, Tokio 166-0004, Tel. +81 3 6794 7828 Sven Röbel, Michael Sontheimer (frei), LAYOUT Leitung: Jens Kuppi, Reinhilde Nachbestellungen SPIEGEL-Ausgaben der letzten Jahre Andreas Wassermann, Wolf Wiedmann- sowie alle Ausgaben von SPIEGEL GESCHICHTE und Wurst; Michael Abke, Lynn Dohrmann, WARSCHAU P.O. Box 31, Schmidt. Autoren, Reporter: Stefan Berg, Claudia Franke, Bettina Fuhrmann, können unter www.amazon.de/spiegel Martin Knobbe ul. Waszyngtona 26, 03-912 Warschau, SPIEGEL WISSEN Ralf Geilhufe, Kristian Heuer, Elsa versand kostenfrei innerhalb Deutschlands nachbestellt WIRTSCHAFT Tel. +48 22 6179295 Leitung: Susanne Amann, Hundertmark, Louise Jessen, Nils Küppers, werden. Markus Brauck. 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DRESDEN Steffen Winter, Wallgäßchen 4, Ulrich Klötzer, Ines Köster, Anna Kovac, Auslandspreise unter www.spiegel.de/ausland Redaktion: Dr. Philip Bethge, Manfred 01097 Dresden, Tel. 0351 26620-0, Peter Lakemeier, Dr. Walter Lehmann- Dworschak, Marco Evers, Dr. Veronika Mengenpreise auf Anfrage. Fax 26620-20 Wiesner, Rainer Lübbert, Sonja Maaß, Hackenbroch, Guido Kleinhubbert, Nadine Markwaldt, Dr. Andreas Meyhoff, Julia Koch, Kerstin Kullmann, Hilmar DÜSSELDORF Frank Dohmen, Gerhard Minich, Cornelia Moormann, Abonnentenservice Persönlich erreichbar Schmundt, Frank Thadeusz, Christian Lukas Eberle, Fidelius Schmid , Jägerhof- Tobias Mulot, Bernd Musa, Claudia Niesen, Mo. – Fr. 8.00 – 19.00 Uhr, Sa. 10.00 – 18.00 Uhr straße 19–20, 40479 Düsseldorf, Wüst. Autor: Jörg Blech Sandra Öfner, Dr. Vasilios Papadopoulos, SPIEGEL-Verlag, Abonnenten-Service, 20637 Hamburg KULTUR Leitung: Sebastian Hammelehle. Tel. 0211 86679-01, Fax 86679-11 Ulrike Preuß, Axel Rentsch, Thomas Riedel, Redaktion: Tobias Becker, Lars-Olav Beier, FRANKFURT AM MAIN Matthias Bartsch, Andrea Sauerbier, Maximilian Schäfer, Telefon: 040 3007-2700 Fax: 040 3007-3070 Anke Dürr, Ulrike Knöfel, Katharina Tim Bartz, An der Welle 5, Marko Scharlow, Mirjam Schlossarek, Mail: [email protected] Stegelmann, Claudia Voigt, Martin Wolf, 60322 Frankfurt am Main, Dr. Regina Schlüter-Ahrens, Mario Schmidt, Takis Würger. Autoren, Reporter: Georg Tel. 069 9712680, Fax 97126820 Andrea Schumann-Eckert, Ulla Siegen- ¡ thaler, Meike Stapf, Rainer Staudhammer, Diez, Dr. Martin Doerry, Lothar Gorris, KARLSRUHE Dietmar Hipp, Waldstraße Tuisko Steinhoff, Dr. Claudia Stodte, Wolfgang Höbel, Dr. Nils Minkmar, 36, 76133 Karlsruhe, Tel. 0721 22737, Abonnementsbestellung Elke Schmitter, Volker Weidermann Rainer Szimm, Dr. Marc Theodor, Andrea Fax 9204449 bitte ausschneiden und im Briefumschlag senden an: GESELLSCHAFT Leitung: Matthias Geyer, Tholl, Nina Ulrich, Ursula Wamser, Peter MÜNCHEN Anna Clauß, Dinah Deckstein, Özlem Gezer (stellv.). Redaktion: Maik Wetter, Holger Wilkop, Karl-Henning SPIEGEL-Verlag, Abonnenten-Service, 20637 Hamburg – Jan Friedmann, Martin Hesse, Thomas Große kathöfer, Barbara Hardinghaus, Windelbandt, Anika Zeller, Malte Zeller oder per Fax: 040 3007-3070, www.spiegel.de/abo Schulz, Rosental 10, 80331 München, Felix Hutt, Maren Keller, Timofey Neshitov, Tel. 089 4545950, Fax 45459525 Dialika Neufeld, Claas Relotius, Jonathan NACHRICHTENDIENSTE AFP, AP, Ich bestelle den SPIEGEL Stock. Autoren, Reporter: Uwe Buse, Ullrich dpa, Los Angeles Times / Washington Post, ❏ für € 4,80 pro gedruckte Ausgabe REDAKTIONSVERTRETUNGEN New York Times, Reuters, sid Fichtner, Jochen-Martin Gutsch (frei), Marc ❏ für € 0,70 pro digitale Ausgabe (der Anteil für das E-Paper Hujer, Alexander Smoltczyk, Barbara Supp AUSLAND SPIEGEL-VERLAG RUDOLF AUGSTEIN SPORT BANGALORE Laura Höflinger, 811, beträgt € 0,60) zusätzlich zur gedruckten Ausgabe. Leitung: Udo Ludwig. Redaktion: GMBH & CO. KG Thilo Neumann, Gerhard Pfeil, Antje 10th A Main Road, Suite No. 114, 1st Floor, Der Bezug ist zur nächsterreichbaren Ausgabe kündbar. Windmann, Christoph Winterbach Bangalore – 560 038 Verantwortlich für Anzeigen: Alle Preise inkl. MwSt. und Versand. Das Angebot gilt BOSTON Johann Grolle, 25 Gray Street, INVESTIGATIVREPORTER Rafael Busch - André Pätzold nur in Deutschland. mann, Jürgen Dahlkamp, Gunther Latsch, 02138 Cambridge, Massachusetts, Tel. +1 857 9197115 Jörg Schmitt (investigativ-reporter@ Gültige Anzeigenpreisliste Nr. 72 Bitte liefern Sie den SPIEGEL an: spiegel.de). Dokumentation: Nicola Naber, BRÜSSEL Peter Müller, vom 1. Januar 2018 Koordination SPIEGEL ONLINE: Jörg Diehl, rue Le Titien 28, 1000 Brüssel, Mediaunterlagen und Tarife: Koordination SPIEGEL TV: Roman Tel. +32 2 2306108, Fax 2311436 www.spiegel.media Lehberger Name, Vorname des neuen Abonnenten ISTANBUL Maximilian Popp, SONDERTHEMEN Leitung: Dr. Susanne Tel. +90 5413971567 Verantwortlich für Vertrieb: Weingarten, Dr. Eva-Maria Schnurr (stellv.). Christoph Hauschild Redaktion: Markus Deggerich, Uwe KAPSTADT Bartholomäus Grill, P. O. Box 15614, Vlaeberg 8018, Kapstadt, Straße, Hausnummer oder Postfach Klußmann, Joachim Mohr, Bettina Musall, Verantwortlich für Herstellung: Tel. +27 21 4261191 Dr. Johannes Saltzwedel, Sandra Schulz. Silke Kassuba Autorin: Marianne Wellershoff KIEW Luteranska wul. 3, kw. 63, KOORDINATION MEINUNG Markus 01001 Kiew, Tel. +38 050 3839135 PLZ, Ort Druck: Feldenkirchen, Christiane Hoffmann LONDON Jörg Schindler, Stark Druck, 26 Hanbury Street, London E1 6QR, SPIEGEL PLUS Alexander Neubacher Pforzheim DEIN SPIEGEL Leitung: Detlef Hacke, Tel. +44 203 4180610, Mail (notwendig, falls digitaler SPIEGEL erwünscht) Bettina Stiebel. Redaktion: Antonia Bauer, Fax +44 207 0929055 Claudia Beckschebe, Alexandra Schulz, MADRID Apartado Postal Número 100 64, VERLAGSLEITUNG Jesper Doub Ich zahle nach Erhalt der Rechnung. Hinweise zu Marco Wedig 28080 Madrid, Tel. +34 650652889 GESCHÄFTSFÜHRUNG Thomas Hass AGB, Datenschutz und Widerrufsrecht finde ich unter www.spiegel.de/agb

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124 Ein Impressum mit dem Verzeichnis der Namenskürzel aller Redakteure finden Sie unter www.spiegel.de/kuerzel Neil Simon, 91 Henry H. Arnhold, 96 Nachrufe Als seine erste Ehefrau, die Dresden war seine Heimat- Tänzerin Joan Baim, ihm stadt, seine Familie musste einmal ein tiefgefrorenes in den Dreißigerjahren von Kotelett an den Kopf warf, dort flüchten, doch er konn- hatte er die Idee für sein te diesen Ort – im Herzen – bekanntestes Theaterstück. nie verlassen. Später als er- So jedenfalls hat es Neil folgreicher Banker in New Simon erzählt. »Ein seltsa- York richtete er sich in sei- mes Paar«, verfilmt 1968 nem Penthouse so ein, als mit Jack Lemmon und Wal- wäre er noch in Sachsen. Er ther Matthau, schildert sammelte Meissener Por - das Zusammenleben zweier zellan, besaß ein von Oskar frauenloser Männer, die Kokoschka gemaltes Stadt- sich in einem Apartment porträt Dresdens, ließ sich benehmen wie ein zänki- einen historischen Entwurf sches Ehepaar. Aufgewach- des Zwingers zur Tapete sen in einer keineswegs vergrößern. Die Arnholds wohlhabenden jüdischen waren legendäre Philanthro- Familie in der New Yorker pen, bevor sie wegen ihres Bronx, fing er als Sketche- jüdischen Glaubens verfolgt schreiber fürs Radio an wurden. Nach dem Mauer- und hatte seinen ersten fall halfen sie erneut: Sie ga- Welt erfolg mit dem Theater- ben unter anderem Geld

WOLFRAM JÜRGEN MEHL / INTERTOPICS JÜRGEN WOLFRAM stück »Barfuß im Park«, für den Aufbau der Frauen- das 1967 mit einem wunder- Dieter Thomas Heck, 80 bar jungspießerhaft zuge- Die leisen Töne machte er sich erst später zu eigen. Etwa knöpften Robert Redford wenn er seit den Achtzigerjahren in der ZDF-Show »Melo- verfilmt wurde. Die Komö- dien für Millionen« die Nation unter Tränen setze, indem dien des Dramatikers er Freunde oder Verwandte zusammenführte, die einander Simon, den sie wegen sei- jahrzehntelang nicht gesehen hatten. Der junge Dieter ner Hits auf New Yorks Thomas Heck hingegen moderierte mit der Vehemenz eines Bühnen in den Sechziger- Presslufthammers und mit vergleichbarer Ausdauer, als jahren »König des Broad- hätte er Angst, sonst nicht durchzudringen beim Publikum way« nannten, waren stets zu Hause. Stets im Einsatz: sein Zeigefinger, der das Gesag- von einer feinen Melan -

te unterstrich, damit es wirklich jeder mitbekam. Hecks cholie grundiert. Nach dem ALLIANCE / DPA OLIVER KILLIG / PICTURE Erfolg beruhte darauf, dass er gar nicht erst versuchte, zeit- Tod von Joan Baim im gemäß zu wirken oder gar modern. Die erste »Hitparade« Jahr 1973 offenbarte Simon kirche, für eine Synagoge des ZDF moderierte er 1969. Während andernorts Hippies auch in auto biografischen und für die Renovierung je- der freien Liebe huldigten, beschwor Schlagersänger Bata Werken wie »Brighton Beach nes öffentlichen Schwimm - Illic in Hecks Premierensendung: »Dich erkenn ich mit ver- Memoirs« und »Biloxi bads, das nach Henry H. bundenen Augen«, und die Interpretin Renate Kern erklärte: Blues« verstärkt eine Welt- Arnholds Großvater be- »Du musst mit den Wimpern klimpern.« Zu Hecks Zeiten sicht voller Verzweiflungs- nannt war – und das er als musste in der »Hitparade« auf Deutsch gesungen werden. witz. Der Mensch sei dazu Teenager nicht hatte betre- Wie Heck auch sonst alles hochhielt, was die Deutschen als verdammt, seinen Hals ten dürfen, weil er einer ihre Tugenden reklamierten. Pünktlichkeit. Verlässlichkeit. zu riskieren, zu seinem jüdischen Familie angehör- Die »Hitparade« begann damit, dass Heck mit buchhalte - Elend und zu seinem Glück, te. In seiner neuen Heimat, rischer Genauigkeit Datum und Uhrzeit ausrief, bis auf die hat er in einem seiner Apho- den USA, war Arnhold Sekunde, endend mit der Formel: »Hier ist Berlin!« Heck rismen be hauptet, »sonst zehn Jahre lang der Chef liebte Doppelkorn und Pils und war CDU-Mitglied, im hätte Mi chelangelo bloß von George Soros, der sich Wahlkampf warb er für die Partei. Redetalent und Über- den Boden der Sixtinischen wohl auch vom gemein- zeugungskraft hatte er bereits in seinem ersten Job als Kapelle bemalt«. Neil nützigen Engagement inspi- Autoverkäufer erprobt, doch seine Begabung musste er Simon starb am 26. August rieren ließ. Mit Leuten wie sich erarbeiten. Heck stotterte infolge eines Traumas, das in Manhattan. HÖB Harrison Ford setzte er er als Fünfjähriger durch einen Bombenangriff in Hamburg sich für den Umweltschutz erlitten hatte. Er nahm Gesangsunterricht und wurde zum ein. Ford nannte ihn einen Schnellsprecher. Für die Bühne entdeckt wurde er 1959 »Giganten«. Und die alte in einer Talentshow von Peter Frankenfeld, zwei Jahre da - Heimat? Auf die Frage, ob rauf trat er in der Vorentscheidung des Grand Prix an. die wiederaufgebaute Frau- Auch später versuchte Heck sich gelegentlich als Sänger, enkirche zum Symbol der als Schauspieler war er im Thriller »Das Millionenspiel« zu Versöhnung werden könne, sehen und in der ARD-Serie »Praxis Bülowbogen«. sagte Arnhold 2005 zum Die Rolle, die ihm am besten stand, war jedoch die des SPIEGEL: »Let’s hope.« Paten der deutschen Schlagerbranche. Dieter Thomas Henry H. Arnhold starb am

Heck starb am 23. August. AKÜ / LAIFDITH PRAN / NYT / REDUX 23. August in New York. UK

DER SPIEGEL Nr. 36 / 1. 9. 2018 125 Personalien

Aufschlägerin G Dass aufstrebende Sportlerinnen und Sportler, sobald sie ihre ersten Erfolge fei- ern, mit Werbedeals für wahlweise Sham- poos, Schokoriegel oder schnelle Autos zugeschüttet werden, ist nichts Neues. Im Fall der Tennisspielerin Naomi Osaka, 20, aber vielleicht doch. Wie das »New York Times Magazine« beschreibt, gehört Osaka sehr wahrscheinlich zu den Superstars von morgen. Das liegt natürlich an ihrem Talent. Aber eben auch an ihrem Aussehen und ihrer Familiengeschichte. Naomi Osaka wurde in Japan geboren; als sie drei Jahre alt war, zog sie mit ihrer älteren Schwester Mari, ihrer japanischen Mutter und ihrem haitia nischen Vater nach Long Island, New York. Zu Hause sprach sie Japanisch und das haitianische Kreol. Und sie spielte Ten- nis und wurde immer besser. Ihr Vater entschied, dass sie bei Turnieren für Japan antreten würde. Heute ist Osaka unter den besten 20 Tennisspielerinnen der Welt und Japans erfolgreichste seit vielen Jahren noch dazu. Japanische Medien und Werbe- unternehmen gieren nach ihr. Ein großer Anbieter von Instantnudelgerichten hat sie bereits unter Vertrag genommen. Bei den Olympischen Spielen in Tokio 2020 könnte Osaka Japans wichtigste Athletin werden. Schon jetzt, während der US- Open, jubeln ihr Fans aus der ganzen Welt zu. Das könne vielleicht auch daran liegen, wird Osaka in dem Text zitiert, dass »die Fans nicht so genau erkennen RED können, was ich bin«. / LAIF EMILIANO GRANADO / REDUX

Reporter« einen Text, in Regisseure am Lido ein Pro- Der Lido ist dem Barbera und seinem Pro- blem sei, er als Direktor aber männlich gramm vorgeworfen wird, nicht auf das Geschlecht der eine »italienische Kultur toxi- Filmemacher achte, sondern G Wie schon im vergange - scher Maskulinität« widerzu- auf die Qualität ihrer Werke. nen Jahr sind auch bei spiegeln. Während andere Außerdem sagte der Italiener, den 75. Filmfestspielen von wichtige Filmfestivals wie die das diesjährige Programm Venedig kaum Filme von in Cannes und Toronto ihren sei das beste des Jahrzehnts. Regisseurinnen im Wettbe- Teil zur Aufarbeitung von Er würde eher seinen Job auf- werb vertreten. Einer von 21, #MeToo geleistet hätten, wei- geben, als eine Quote zuzu - um genau zu sein. Dafür gere sich Venedig weiter, Ver- lassen. Auch die neuesten Vor- musste der Festivaldirektor antwortung zu übernehmen. würfe ließ er nicht auf sich Alberto Barbera, 68, nun Barbera sagte nach der Vor- sitzen. Auf Twitter schrieb Bar - Kritik einstecken. So ver - stellung des Programms, dass bera, er wisse nicht, ob er

ALBERTO TERENGHI / VENEZIA 2018 / IMAGO TERENGHI / VENEZIA 2018 ALBERTO öffentlichte der »Hollywood die männliche Mehrheit der lachen oder weinen solle. RED

126 DER SPIEGEL Nr. 36 / 1. 9. 2018 Die Computerfrau In der Nasa-Kantine musste Johnson an einem Tisch G Als der Film »Hidden essen, auf dem das Schild Figures« 2016 in die Kinos »Colored Computers« stand. kam, wurde auch die Lebens- Mit ihrer Arbeit hat Kathe - geschichte von Katherine rine Johnson entscheidend Johnson, 100, bekannt. dazu beigetragen, dass das Johnson gehörte zu jenen »Mercury«- und das »Apollo«- afroamerikanischen Mathe- Programm der Nasa gelan- matikerinnen, die in Zeiten gen und die USA, nach Jurij von Rassengesetzen Raum- Gagarins erster Erdum - flüge für die Nasa berechne- rundung, im Wettlauf ums ten. Als »Computer«, wie Weltall mit den Sowjets ihre Berufsbezeichnung lau- dann auch einen Amerika- tete, lieferte Johnson mit ner ins All schicken konnten.

ihrer mechanischen Rechen- 2015 wurde Katherine John- / DER SPIEGEL EINBERGER THOMAS maschine Daten für die son von Barack Obama Experimente der Ingenieure. die Freiheitsmedaille des Der Augenzeuge Präsidenten verliehen. Auf dem Campus der West 1966 Virginia State University, »Es ging heiß her« an der Johnson 1937 ihr Mathematik- und Französisch - Stand-up-Paddler und Schwimmer kommen sich studium abgeschlossen hatte, oft in die Quere. Ein Strandbad am bayerischen wurde nun, einen Tag Staffelsee hat die Paddler deshalb verbannt. Florian vor ihrem 100. Ge burtstag, Brunner, 60, ist mit seinem Board oft auf dem eine Bronzestatue von ihr enthüllt. Sie feierte es Wasser – und kritisiert das Verbot. mit Hunderten Zuschauern. Unter ihnen waren auch G »Diesen Sommer ging es wirklich heiß her, nicht nur Johnsons 75 Kinder, Enkel wegen der Temperaturen. An einigen Tagen herrschte Hoch-

MICHAEL OCHS ARCHIVES / GETTYMICHAEL OCHS ARCHIVES IMAGES und Urenkel. RED betrieb auf dem Staffelsee. Badegäste, Segler, Kajakfahrer und Stand-up-Paddler – selten war der See so frequentiert. Da haben sich sicher auch einige Paddler falsch verhalten. Existenz von Ebersdorf. Und wenn sich immer mehr Badegäste beschweren, verstehe Wer ist Lutz Das Onlinemagazin »Slate« ich, dass das Strandbad Seehausen reagieren musste. Ein Ebersdorf? behauptet, dass sich hinter Verbot halte ich dennoch für das falsche Signal, denn es ver- dem Schauspieler Lutz lagert das Problem nur. Die Paddler gehen dann eben an G Über Lutz Ebersdorf, Ebersdorf ein raffinierter anderen Stellen, meist von Böschungen aus, ins Wasser. 82, ist fast nichts bekannt. Gag verstecke und der ältere Aber soll man das Paddeln etwa überall verbieten? Das führt Eigentlich nur das, was Herr von der ebenfalls in doch zu nichts. Sinnvoller wäre es, separate Wasserzugänge in der Internet Movie Data- »Suspiria« auftretenden für Paddler einzurichten. Außerdem sollten Bäder ihren base (IMDB), einer inter - Tilda Swinton gespielt wer- Schwimmbereich klar mit Bojen kennzeichnen. Dann wissen nationalen Datenbank zu de. Der Regisseur des Films, die Paddler, dass sie dort nichts verloren haben. Film- und Fernsehproduktio- Luca Guadagnino, der für Ich kann die aktuelle Aufregung nicht nachvollziehen – nen, steht. Es heißt, Ebers- »Call Me by Your Name« Stand-up-Paddling ist kein sonderlich gefährlicher Sport. Die dorf sei in München geboren viel Lob erntete, reagierte meisten Paddler benutzen aufblasbare Boards und bewegen und 1938 mit seiner Familie und sagte, dass dies eine sich mit nur zwei bis drei Kilometer pro Stunde auf dem aus Deutschland geflohen. komplette Fake News sei. Wasser fort. Das ist weniger als Schrittgeschwindigkeit. Soll- Laut IMDB wuchs Ebersdorf Der Schauspieler-Newcomer, te es wirklich mal zu einem Zusammenstoß kommen, ist das in London auf und kehrte seine Entdeckung, sei so, als würden sich ein Schwimmer und ein Schlauchboot in 1954 nach München zurück, der Münchner Lutz die Quere kommen. studierte dort Philosophie Ebersdorf. RED Ich selbst bin Stand-up-Paddler der ersten Stunde und auf und zog weiter nach Berlin. vielen Seen in Bayern unterwegs. Ich bilde auch Stand-up- Er wurde Psychoanalytiker. Paddling-Instruktoren aus. In der Ausbildung zeigen wir, wie Lutz Ebersdorf lebte so Anfänger Unfälle vermeiden können. Wichtig ist, dass die vor sich hin. Nun schlüpft Paddler ihr Board mit der Finne voraus zum Wasser tragen er in seine erste Kinorolle. und die ersten hundert Meter kniend auf den See hinaus - Im Film »Suspiria«, einer paddeln. Erst dann sollten sie sich auf das Board stellen. In Produktion der Amazon den meisten Fällen sind die Paddler dann längst aus dem Studios, heißt es im Profil Schwimmbereich raus. Die Paddler werden sich eh nicht von Ebersdorf weiter, spiele vom Staffelsee vertreiben lassen. Die Inselwelt hier auf dem er den Psychoanalytiker See ist optimal für Erkundungstouren. Und wenn Sie vom Dr. Jozef Klemperer. Klingt nördlichen Seeufer Richtung Süden paddeln, dann haben Sie in Ordnung. Doch das das gesamte Panorama des Wettersteingebirges vor sich –

Internet glaubt nicht an die IMDB das ist einfach traumhaft.« Aufgezeichnet von Gregor Becker

127 »Der Artikel ist hervorragend. Ich kann nur hoffen, dass sich die politisch Handelnden die auf Menschlichkeit und Vernunft basierenden Lösungsansätze zu eigen machen.«

Bernd Frank, Schöneck (Hessen)

Ohne Meinung, mit Haltung wählern bekämen und die Europäische dann nachhaltig abgebaut werden, wenn Union, die wir in Zeiten Trumps und der der kapitalistischen Gier diese Märkte ent- Nr.35/2018 Wer darf rein? Die richtige Flüchtlingspolitik – ein Plädoyer Großmacht China nötiger haben als je zu- zogen werden. Es kann auch dadurch funk- vor, sich auf die für Europa zukunftswei- tionieren, dass man die Agrarsubventio- Die Antwort zur Titelfrage ist so einfach senden Themen konzentrieren könnte. nen drastisch kürzt. Andernfalls bleibt es wie unbeliebt: Rein darf nach europäi- Roy Parrish, Berlin so, dass die aus den genannten Handels- schem und deutschem Recht zumindest strömen zum Teil steuerfinanzierten Ge- jeder, der an unserer Grenze »Asyl« sagt. Dieses Land benötigt dringend ein Zuwan- winne privatisiert und die Kosten der Die treffendere Frage eines Titels zum The- derungsrecht, das sich weitgehend an öko- Migration in unserem Land sozialisiert ma wäre danach: »Wer darf bleiben?« nomischen Notwendigkeiten orientiert, werden. Zynischer geht es nicht! Wolfgang Ahrens, Norderstedt (Schl.-Holst.) Hans-Christian von Steinaecker, Kusel (Rhld.-Pf.)

Dermaßen zahlreiche, realistisch-kon- Immer wieder wird berichtet, dass Perso- struktive Lösungsvorschläge zum Migra - nen, die bei uns Zuflucht gesucht haben, tionsthema in einem Artikel – das war bis- abgeschoben werden, obwohl sie bei uns her in eher links-grün-gefärbten Medien integriert sind. Sie haben Deutsch gelernt, Mangelware. Der wohltuende Verzicht auf haben eine Arbeit oder Lehrstelle mit der das sonst übliche Schwingen der Moral- Zusage, dass sie weiterbeschäftigt werden keule könnte Habeck und Co. die Zornes- sollen. Sie bezahlen Steuern und liegen

röte ins Gesicht treiben, andererseits ha- WERNER / DER SPIEGEL CHRISTIAN niemandem auf der Tasche. Warum wer- ben die zehn Thesen auch das Potenzial, Flüchtlinge in einem Lager in Syrien den diese Menschen zurückgeschickt? Ihre den AfD-Höhenflug zu stoppen. Chapeau, Arbeitskraft wird dringend gebraucht. SPIEGEL! Eine grundlegende Problematik ein Asylrecht, das den Asylmissbrauch ver- Waltraud Uhlig, Pforzheim wurde leider ausgespart, nämlich das un- mindert und eine zeitnahe Rückführung geheure Bevölkerungswachstum in vielen nicht asyl- beziehungsweise aufenthaltsbe- Schon interessant, dass sich der gelungene Herkunftsländern der Migranten. rechtigter Personen sichert, und eine nach- Artikel vor allem auf die Erkenntnisse an- Franz-Josef Thelen, Aachen haltig wirksame Entwicklungshilfepolitik gelsächsischer Forscher stützt; wertfreie, sowie Unterstützung vor Ort. All dies be- faktenbasierte und pragmatische Ansätze Großartig recherchiert, ohne Meinung, dingt Politiker, die keine Pseudodebatten zum Thema sind in Deutschland leider aber mit Haltung, interessante Zitate von führen, sondern zielführend und mutig Mangelware. Ansonsten Glückwunsch zur Professoren und Experten, nicht emotio- handeln. Da liegt das Kernproblem. Ankunft in der Realität! nal, aber menschlich! Sehr gelungene Ti- Stephan Erven, Merzenich (NRW) Dieter Eckert, Offenburg (Bad.-Württ.) telgeschichte und vernünftige Empfehlun- gen, wie Europa rational helfen kann. Leider wird die Frage nach der Verantwort- Unglück mit Ansage Anna Strumpel, Wien (Österreich) lichkeit Europas und der anderen entwi- Nr.34/2018 Konstrukteure kritisieren die ckelten Industrieländer für die Migration Betonbauweise des Polcevera-Viadukts In der Aufzählung fehlt das dringendste auch in dieser Titelstory nicht gestellt. Problem, die drohende Überbevölkerung. Stattdessen stehen die Grenzen der Belast- Als jemand, der die Ponte Morandi häufig Bis 2050 soll sich die Bevölkerungszahl in barkeit im Mittelpunkt. Dabei haben wir mit seinem 40-Tonnen-Lastzug benutzt Afrika verdoppeln. Zum anderen weiß kei- in nicht unwesentlichem Maße auf Kosten hat und beim Verlassen des Viadukts im- ner, wie man der Kleptokraten vom Schla- der sogenannten Dritten Welt gelebt. Gar mer das Gefühl hatte, noch einmal davon- ge Mugabes und Zumas Herr werden kann. nicht zu sprechen von den Rüstungsex - gekommen zu sein, denke ich, dass dies In deren Taschen versickern unsere Hilfen. porten, die jahrelang auch in Spannungs- ein Unglück mit Ansage war. Diese Brücke Haben Sie hier keine Vorschläge? gebiete gingen. Die Zuwanderung nach ist ein Kind ihrer Zeit: gebaut in den Sech- Klaus Bertram, Haltern am See (NRW) Europa stellt die Folge dieses Fehlverhal- zigern für circa 7 Millionen Fahrzeuge (we- tens dar. Es handelt sich um die externen sentlich leichtere als heute) pro Jahr, im Wir können nicht alle Flüchtlinge dieser Kosten unseres Wohlstands, die nunmehr Jahre 1979 dann von 9,5 Millionen Fahr- Welt, die, aus welchen Gründen auch im- internalisiert werden. zeugen überquert, bis im vorigen Jahr mer, nach Europa wollen, aufnehmen. Es Andreas Meißner, Dresden wohl 28 Millionen geschätzt wurden. ist besser, am Anfang Nein zu sagen als Henry Rosenkranz, Dresden später durch Nichtintegration und Ableh- Weil milliardenschwere EU-Agrarsubven- nung. Eine klare Vorgehensweise, wie in tionen mit maßlos verbilligten Lebens- Ein Teil unserer alten Brückenbauwerke dem Artikel beschrieben, mit dem Aufbau mitteln sowie Zigtausenden Tonnen von hat Defizite. Dies gilt allerdings völlig un- und der Unterstützung der lokalen Wirt- Altkleidern aus der EU die heimischen abhängig vom Baustoff. Die Gründe für schaft in den Flüchtlingsländern, würde Märkte der afrikanischen Bevölkerung die Defizite liegen im stark gestiegenen auch dazu beitragen, dass inkompetente nachhaltig zerstört haben, können die sich Verkehrsaufkommen, in der hohen Menge Parteien weniger Stimmen von Protest- daraus ergebenden Flüchtlingsströme nur an Schwerverkehr (Materialermüdung)

128 DER SPIEGEL Nr. 36 / 1. 9. 2018 Briefe und an der Tatsache, dass wir in Deutsch- die letzten Lebenswochen frönt das Insekt Noch einige Jahre hier land Pioniere des Brückenbaus waren, also dem Süßen. Dann esse ich halt meine Nr.34/2018 Ein Klimaschützer auch Neues erforscht und ausprobiert ha- Frühstücksmarmelade vor dem Wespen- will bis zu seinem Tod eine positive ben. Durch umfangreiche Forschung ha- flug, und den Nachmittagskuchen gibt es Ökobilanz vorweisen ben wir nun bereits seit Jahrzehnten die im Haus. Davon sterben weder ich noch verschiedenen Bauweisen technisch im die Wespe. Das ganze Jahr wird über das Meine Hochachtung an Herrn Gratzel für Griff und können sichere Bauwerke pla- Artensterben berichtet und geheult, und seinen ökologisch motivierten Konsumver- nen und bauen. Jedes Material hat seine kaum brechen zwei Wespen über den zicht. Doch ist dieser Weg auch wirklich Berechtigung. Daher hören Sie bitte auf, Kaffeetisch herein, wird die chemische nachhaltig? Der Versuch, lediglich den den Spannbeton zu verteufeln. Er wird auf Keule herausgeholt. Da streut jeder stolz ökologischen Schaden des eigenen Han- lange Sicht zu Recht der bevorzugte Bau- sein Tütchen »Bienenweide« auf seine delns zu minimieren, ist nicht nur lustfeind- stoff im Großbrückenbau bleiben. Zum Wiese oder in den Blumenkasten und fühlt lich und mühsam, sondern hat vor allem Abschluss: Sie haben bei der Auflistung sich total öko, aber wehe, eines der Tier- der ewig haltenden Monumente der Bau- chen lässt sich dann blicken. Nieder mit geschichte die Leverkusener Rheinbrücke dem Eisbären in der Arktis, dem Wolf im vergessen. Die ist aus Stahl! Schwarzwald und der Hornisse auf der Ter- Dipl.-Ing. Michael Girmscheid, Brückenbauingenieur, rasse! Super, endlich Ruhe! Münster Dr. Birgit Steinbrenner, Kirchheim unter Teck (Bad.-Württ.)

Es ist zu hoffen, dass der Artikel die Repu- Ich bin vor einer Woche morgens im Bett tation unserer Brückeninspektoren und von einer Wespe gestochen worden. Ich das Verständnis der Autofahrer für gele- leide nicht unter Allergien. Mein Arm wur- WEISS / DER SPIEGEL MAURICE gentliche Beeinträchtigungen des Straßen- de dick, und der Schmerz zog nach fünf Klimaschützer Gratzel verkehrs erhöht. Tagen vom Oberarm in den Ellenbogen. Dr. Klaus Swieczkowski, Hildburghausen (Thür.) Heute juckt es wie verrückt. Ich werde als unbefriedigendes Ideal: den nie ganz jede Wespe sofort töten. Auch wenn der erreichbaren ökologischen Fußabdruck Die alten Griechen wussten, dass Eisen im ganze Naturschutzbund danebensteht. von null. Ist es nicht viel sinnvoller, den Mauerwerk über vorgesehene Gusskanäle Christoph Rohrbach, Blieskastel (Saarland) ökologischen Nutzen des eigenen Han- durch einen Bleimantel vor Rost geschützt delns zu maximieren und dadurch einen werden muss. Dass das Eisen dann zwei- Völlig absurde Frage positiven Fußabdruck anzustreben? Mein einhalbtausend Jahre rostfrei blieb, hätten Vorschlag: Bäume pflanzen! Grüne Jobs Nr.29/2018 Die junge Staatssekretärin sie wohl selbst nicht geglaubt. Bei Restau- Sawsan Chebli gerät zwischen die Fronten schaffen! Umweltprojekte unterstützen! rierungsarbeiten am Parthenon auf der des Nahostkonflikts Dr. Patrick Neubauer, Berlin Akropolis Anfang des 20. Jahrhunderts hatte man das übersehen. Deshalb musste In Ihrem Porträt über Frau Chebli bezeich- Der Klimaschutz beginnt im Kopf. Solange der Parthenon nur hundert Jahre später nen Sie mich als »türkischen Anwalt« und das Hirn durch Vorbilder und Werbung auf abermals restauriert werden. schreiben, ich hätte in einem Telefonat Statussymbole, Extremkarrieren und Kon- Clemens Krause, Fribourg (Schweiz) durchschimmern lassen, Frau Chebli ge- sumrausch konditioniert wird, ändert sich höre »einem kriminellen arabischen Fami- wenig. Man sollte diesen Trend der Lächer- Stich am Morgen lienclan an«. Dem möchte ich in zweifa- lichkeit preisgeben, anstatt ihm nachzuei- cher Hinsicht widersprechen. Zum einen fern. Der größte Klimakiller ist der Mensch Nr.34/2018 Der leidige Umgang mit den Wespen bin ich kein »türkischer« Anwalt. Ich habe mit seinem Fortpflanzungswahn. in Deutschland studiert und bin ein seit Hans Scholz, Bad Neuenahr-Ahrweiler (Rhld.-Pf.) Wo ist das Problem? Und wieso müssen Jahren in Deutschland zugelassener wir immer da sein, wo wilde Tiere sind? Rechtsanwalt, der sich nicht nur für seine Als 22-jährige Studentin, die noch einige Mit dem Vorrecht des Stärkeren wird alles Mandanten, sondern auch für Land und Jahre auf diesem Planeten leben möchte, Leute mit einiger Energie und Freude ein- beschäftigen mich die Themen Klima- gesetzt hat. Zum anderen habe ich Frau schutz, Nachhaltigkeit und Konsum sehr. Chebli weder direkt noch indirekt in Ver- Dabei stoße ich mit Anregungen zu Ver- bindung mit einem kriminellen Clan ge- änderungen der Lebensweise sowohl in bracht. Eine hierauf zielende Frage der Au- meiner Familie als auch in meinem Freun- torin erschien mir vielmehr völlig absurd. deskreis immer wieder auf taube Ohren. Meine grundsätzliche Kritik an dem Ho- Den Verbrauchern müssten intensiver

FRANK RUMPENHORST / DPA FRANK RUMPENHORST fieren von Islamisten, den Äußerungen Möglichkeiten an die Hand gegeben wer- Streitobjekt Wespen und Handlungen von Frau Chebli, die oft den, das Klima und die Umwelt zu schüt- widersprüchlich und im Gegensatz zu den zen. Neben stringenteren Umsetzungen plattgemacht, was uns in unserer vermeint- von ihr angeblich verfolgten Zielen stehen, der Klimaschutzrichtlinien durch die Poli- lich freien Entfaltung stört. Den ganzen sind demgegenüber öffentlich und be- tik, deren es dringend bedarf, liegt es am Sommer interessiert sich die Wespe null kannt. Das reichte aber offenbar nicht für Einzelnen, seinen Beitrag zum Klima- für den Menschen, da sie ihre Brut mit Ei- den gesuchten »großen Aufhänger«. schutz zu leisten. weiß, sprich Insektenbeute großzieht, nur Erol Özkaraca, Berlin Helena Marxer, Freiburg im Breisgau

Korrektur Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe ([email protected]) gekürzt zu Heft 34/2018, Seite 76: Falsche Freunde sowie digital zu veröffent lichen und unter In dem Artikel haben wir versäumt zu erwähnen, dass es mit Benjamin Disraeli im www.spiegel.de zu archivieren. 19. Jahrhundert bereits einen britischen Premierminister jüdischer Herkunft gab.

129 Hohlspiegel Rückspiegel

Aus der »Rhein-Neckar-Zeitung«: Zitate »Kanzlerin Angela Merkel (CDU) trifft am Samstag in Meseberg den Die Fußballer Lukas Podolski und İlkay russischen Präsidenten Wladimir Putin. Jetzt im Gündoğan reagieren auf einen SPIEGEL- Es ist das erste bipolare Treffen Bericht über Spannungen in der deut- der beiden seit der Annexion der Krim.« Handel schen Nationalmannschaft (Nr. 35/2018): Podolski in der »Bild«-Zeitung: Da versu- chen Leute, von außen nach der unglück- lichen WM Dinge hereinzubringen, die so einfach nicht richtig sind. Deutschland ist ein Multikulti-Land, und wie auf der Stra- ße werden auch in der Nationalmann- schaft ein paar lockere Sprüche unter - einander gemacht. Ausdrücke wie »Kana- ken« und »Kartoffeln« fielen auch schon bei der EM 2016. Jeder von uns weiß da- bei, dass es als Flachs gemeint ist. Plakat in Augsburg Gündoğan im »Hamburger Abendblatt«: Natürlich gab es hier oder da mal einige Aus dem Mitteilungsblatt der Gemeinde Witze über gewisse Instagram-Postings. Hirschberg (Bad.-Württ.): »Wir können Das ist aber doch völlig normal, dass man auch keine Gewähr für den tatsächlichen sich hier oder da mal ein bisschen im posi- Zustand der angebotenen Gegenstände tiven Sinne aufzieht. Das war aber jeder- oder der Anbieter selbst übernehmen.« zeit immer nur als Spaß zu verstehen und hatte definitiv auch nichts mit Rassismus zu tun!

Die »Berliner Morgenpost« berichtet über eine SPIEGEL-Recherche zu einer Brandenburger Pharmafirma: Von Telekom.de www.spiegel-wissen.de Der Pharmaskandal um die Firma Luna- pharm reicht inzwischen weit über Bran- Aus einem Informationsbrief des Pflege- denburg und Berlin hinaus. Die Staats - dienstes der Arbeiterwohlfahrt in anwaltschaft Potsdam hat elf Wohn- und Bonn: »Die Leistung P1 (Ganswaschung) Geschäftsräume in Hessen durchsuchen kostet ab dem 01.09.2018 24,77 Euro.« lassen. Auch in der Schweiz wurden Ge- schäftsräume eines Pharmagroßhändlers durchsucht. In Hessen seien Unterlagen und elektronische Daten sichergestellt worden, teilte ein Behördensprecher mit und be- stätigte damit Informationen des ARD- Hinweisschild im Kurpark von Norden Lesen Sie in Magazins »Kontraste« und des SPIEGEL. (Niedersachsen) diesem Heft: Der Geschichtsjournalist Joachim Telgen- büscher, auf Twitter als @drguidoknapp Die »Saarbrücker Zeitung« über eine Ernährung präsent, erzählt der »taz« in einem katholische Privatschule: »Insgesamt Interview von seiner Themensuche: zählt die Schule 88 Schüler, Wie Stresskilos 35 sind im Internet untergebracht.« taz: Sind solche Tweets denn auch Neben- schwinden produkte des täglichen Viellesens in der Redaktion? Handy & Co. Telgenbüscher: Nicht nur. Manchmal schaue ich gezielt ins SPIEGEL-Volltext- Zeitfresser unter Archiv, um Geschichten dieser Art zu fin- den. Bei Markus Söders Kreuz-Dekret Kontrolle zum Beispiel war das der Fall. Neun von zehn Tweets, die viral gehen, fallen in die- se Kategorie. Ich versuche aber, das Hu- Schild am Strand von Peniche (Portugal) Alkohol morige, den Spieltrieb nicht aufzugeben. Riskantes Entspan- Manchmal muss ich ja gar nicht besonders witzig formulieren. Dann besteht meine Aus der »Bunten«: »Fürst Rainiers nungsritual Leistung darin, dass ich einen unglaublich Mutter Charlotte kam unehelich lustigen Einfall aufspüre, den jemand in als Sohn einer Tänzerin zur Welt.« der Geschichte hatte.

130 DER SPIEGEL Nr. 36 / 1. 9. 2018 SPIEGEL und sind überall umfassend informiert. umfassend überall sind und SPIEGEL Mit SPIEGEL+ nutzen Sie die ganze digitale Welt des letter oderPush-Nachricht. letter Texten alsNews- exklusiven Am Abend – der Überblick mit Daily Update ez eretekn abo.spiegel.de/upgrade Jetzt mehr entdecken: Ja, ichmöchte SPIEGEL+ 4Wochen gratis testen! Gutes lesen. Mehr verstehen. lesen.Mehr verstehen. Gutes besondere Artikel. sive Reportagen, alleInhalte: exklu- auf Voller Zugriff SPIEGEL+ ONLINE SPIEGEL auf Inkl. Archiv, E-Books und mehr. und Archiv, E-Books Inkl. digital – ab freitags, 18 Uhr. Magazin Das wöchentliche DER SPIEGEL digital € 0,70 Abonnenten für Print- Nur

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