METROPOLIS LICHTMESS B-MOVIE FUX EG

dokumentar filmwoche I7.I5. – I9. april 2020 dokfilmwoche.com DAS FESTIVAL ENGLISH SPEAKING?

Die dokumentarfilmwoche hamburg ist das einzige Festival der Re- The dokumentarfilmwoche hamburg sees itself as a forum for for- gion, das sich ganz auf den Dokumentarfilm spezialisiert hat, und ist mally challenging, thought-provoking and demanding documenta- Treffpunkt für Dokumentarfilminteressierte ebenso wie eine Platt- ry films. For films that, through their critical approach, do not only form für die ansässige Filmkultur. strive to clarify subject matters, but also question inscribed codes Das Festival versteht sich als Forum für den formal und inhaltlich and explore the aesthetic and political possibilities of the documen- anspruchsvollen Dokumentarfilm; für Filme, die mit ihrem kritischen tary form. Ansatz nicht lediglich nach inhaltlicher Aufklärung streben, sondern The festival shows a broad spectrum of productions, ranging from künstlerische Formen finden, die eingeschriebene Codes hinterfra- experimental documentaries made without broadcasters’ partici- gen und den Möglichkeitsraum des Dokumentarischen ästhetisch pation and funding to outstanding international co-productions. The und politisch ausloten. program provides an insight into the diverse works of the regional, Gezeigt wird eine große Bandbreite an Produktionen, die von experi- national and international scene and their expression in the festival mentellen, ohne Senderbeteiligung und Fördermittel erstellten Do- landscape. kumentarfilmen bis hin zu herausragenden internationalen Kopro- The international film program is complemented by an annual retro- duktionen reicht. Das Programm gewährt Einblicke in das vielfältige spective and the discursive series of events ›Positionen‹. Schaffen der regionalen, deutschen und internationalen Szene. Da uns neben dem Zeigen von Dokumentarfilmen das Sprechen darüber wichtig ist, laden wir zu jeder Veranstaltung die Filme- For an English language festival program and guide please visit macher*innen ein und versuchen ihre Teilnahme zu ermöglichen. www.dokfilmwoche.com. Please note: For a quick overview of Die erste dokumentarfilmwoche hamburg fand 2004 statt. Das Festi- English language films, films with English subtitles or val wird seither kollektiv unter dem Dach des Vereins dokumentar- panels and discussions held in English, the events are filmwoche hamburg e. V. organisiert. marked with the following icon in this printed catalogue.

Weitere Informationen unter www.dokfilmwoche.com

2 3 AHOI INHALT Liebes Publikum, liebe Hamburger*innen, hallo Welt!

Die 17. dokumentarfilmwoche hamburg möchte ein Ort der Auseinan- Das Festival ...... 2 dersetzung und der Verständigung sein. Wir müssen zeigen, was ist. English Guide ...... 3 Ahoi ...... 4 Und es gilt, Haltung zu zeigen. Wir werden Filme schauen, die Stel- Inhalt ...... 5 lung beziehen. Wollen dem Sehen auf die Sprünge helfen, streiten, Eröffnung ...... 6 neue Wege beschreiten. Unsere Gruppe ist gewachsen, dennoch ist Filmprogramm ...... 8 Programmübersicht ...... 34 unser Blick durch die weiße privilegierte Herkunft des Festivalteams Retrospektive: Trinh T. Minh-ha ...... 36 bestimmt und kritisch zu reflektieren. Wer sind wir also, und wer wol- Positionen ...... 47 len wir sein? Diese Fragen betreffen uns alle, und wir müssen reden! Gerhard Friedl. Ein Arbeitsbuch – Lesung und Filmvorführung ...... 48 Missing Films – Installation Friedl/Horelli/Wildenhahn ...... 50 Weibliche Autofiktion und Selbstermächtigung im Film ...... 52 Wir haben die Filmemacherin und Autorin Trinh T. Minh-ha für die Re- Schwarze Wellen – panoramatisches Kino aus (Ex-)Jugoslawien ...... 54 trospektive ihrer Filme zu Gast und sprechen über ihr Werk, das als Carte Blanche: Werner Ružička – Zeit-Reisen ...... 56 grundlegend für postkoloniale und feministische Debatten gilt. Zu fast Dokumentarische Fiktionen – zwei Filme von Eva Könnemann ...... 57 allen Filmen und Veranstaltungen kommen Gäste, wir freuen uns auf Specials In memoriam ...... 58 die Gespräche mit ihnen. Wir bespielen wieder B-Movie, Lichtmess Klaus Wildenhahn: ›Reiseführer durch 23 Tage im Mai‹ ...... 60 und Metropolis, das Herz des Festivals schlägt in der fux eG in Altona. Peggy Parnass: ›Überstunden an Leben‹ ...... 61 Dort haben wir das Festivalzentrum mit Infocounter, Installation und Filmrestaurierung: Dziga Vertovs ›Enthusiasmus‹ von Peter Kubelka ...... 62 Vorführung eingerichtet, sind zu Gast bei den fux Lichtspielen und fei- Festivalzentrum ...... 63 dokfilmclub ...... 64 ern im dokfilmclub im Keller der fux eG. Kinos / Tickets ...... 64 Gefördert von: freund*innen der dokumentarfilmwoche hamburg ...... 65 Filmindex ...... 66 Impressum / Fotonachweise ...... 67

4 5 ERÖFFNUNG

METROPOLIS Wir starten ins Festival mit zwei Filmen: Steffen Reassemblage: From the Firelight MI 15.04. Goldkamps Blick in die JVA Hahnöfersand und als to the Screen 20 UHR Einführung in die diesjährige Retro ›Reassemblage‹ Trinh T. Minh-ha, USA 1982, 40 min, engl. OF von Trinh T. Minh-ha. Beide Filmemacher*innen freu- In ihrem Debütfilm fordert Trinh T. Minh-ha dazu auf, GAST: TRINH T. en sich auf das Gespräch mit dem Publikum. mit den Augen zu hören und mit den Ohren zu sehen. MINH-HA „Ein Film worüber?“, fragt sie sich und das Publikum. Nach zwei Stunden waren zehn „Ein Film über den Senegal?“ ›Reassemblage‹ geht Minuten vergangen nicht dem dörflichen Leben vor Ort auf den Grund, Steffen Goldkamp, D 2019, 20 min, OmeU sondern nimmt es zum Anlass, um über ethnogra- Rituale des Wartens: auf dem Bett sitzen, liegen, fischen Film und dessen koloniale Implikationen zu schlafen. Routinen der Wachsamkeit: Spülkästen reflektieren. Der Film ordnet emblematische Bilder durchsuchen, Geschenke öffnen, Briefe lesen. Ein neu an, bringt sie in andere Zusammenhänge, er- Jugendknast auf der Elbinsel Hahnöfersand. Nur we- schwert ihre gewohnte Aneignung. Im Vordergrund nige Schiffsminuten sind es von hier bis zu den Lan- steht die Politik der Repräsentation, diese wird auf dungsbrücken. Hinter den Mauern verinselte Leben der Ton- und Bildebene seziert. Es geht nur bedingt IM ANSCHLUSS: DOKLAND in verordneten Räumen, von draußen dringen nur um die Alltagshandlungen der (vorrangig) gezeigten ERÖFFNUNGS- HAMBURG wenige Echos herein. „Wer hat die Gang zusammen- Frauen, vielmehr um die Assoziationen des Publi- PARTY IN DER gehalten?“, fragt ein Häftling ins Telefon und gibt sich kums. Heute ist Trinhs Kritik des kolonialen Blicks im DRUCKEREI, GAST: STEFFEN selbst die Antwort: „Keiner, seitdem ich weg bin!“ dokumentarischen Feld etabliert, die von ihr adres- GÄNGEVIERTEL GOLDKAMP Eine Schildkröte bricht aus. Eine Streichsonate von sierten Machtgefüge bestehen dennoch größtenteils Beethoven setzt ein. Die Zeit ist eingeschlossen in fort. So hält der Film auch nach knapp 40 Jahren den eine Zelle, die eng und endlos ist. Warten und Wach- Zuschauer*innen den Spiegel vor. samkeit. Was kommt als Nächstes? Wiederholung in den fux Lichtspielen: SO 19.04. um 17.30 Uhr 6 7 FILMPROGRAMM

Wie lässt sich erklären, dass sich gerade unter den Border South formal und inhaltlich ambitioniertesten aktuellen Raúl O. Paz-Pastrana, MEX/USA 2019, 123 min, OmeU Dokumentarfilmen zahlreiche Produktionen befin- Menschen wird es schwer gemacht, aus oder über FUX LICHTSPIELE den, die sich ganz entschieden den großen Themen Mexiko in die USA zu gelangen. Die mexikanische DO 16.04. unserer Zeit (Flucht, Migration, Sexismus, Rassis- Polizei steht bereits auf den Zügen, die in die Ver- 16 UHR mus, Kolonialismus, Ausbeutung) zuwenden und zu- einigten Staaten fahren. Gustavo wurde von einem gleich formal Mittel der Fiktionalisierung einsetzen? Polizisten angeschossen, als er versuchte, auf ei- SKYPE-GESPRÄCH Welche Erkenntnisse oder Lösungen versprechen nen Waggon zu klettern. Der Vorfall sorgte für gro- MIT RAÚL O. sich die Filmemacher*innen von dieser Vorgehens- ße mediale Aufmerksamkeit, und Gustavo wurde ein PAZ-PASTRANA weise? Können dadurch Zugänge erleichtert, das Visum seitens der mexikanischen Regierung in Aus- Unfassbare greifbar gemacht werden? Oder können sicht gestellt. Doch er wartet weiter, wie auch viele hierüber gar neue Wirklichkeiten entstehen, in denen andere, die meist zu Fuß die Grenze zu überwinden die gegenwärtigen Vorgänge überhaupt erst verhan- versuchen. Raúl O. Paz-Pastrana fängt ein, wie sie delbar werden? nicht nur ausdauernd ihren Weg verfolgen, sondern Wir wollen uns diesen Fragen gemeinsam mit den überdies mobile Freundschaften schließen, um sich Filmemacher*innen stellen und freuen uns auf gegenseitig zu unterstützen. Auf der nördlichen Sei- eine Vielzahl an erstmalig in Hamburg zu sehenden te der Grenze arbeitet das »Undocumented Migrati- herausragenden internationalen Filmen! on Project« daran, die Migrationsbewegungen in der Die dokumentarischen Produktionen aus und über Wüste von Arizona zu dokumentieren und auf diese DOKLAND die Hansestadt zeigen wir mit Unterstützung der Weise sichtbar zu machen – auch die Wege derjeni- HAMBURG Hamburgischen Kulturstiftung, sie sind gekennzeich- gen, die es nicht mehr aus der Wüste herausschaffen. net mit dokland hamburg.

8 9 FILMPROGRAMMFILMPROGRAMM

Diary of an Organism At the Margin (newly translated) Sarah Hüther, Sita Scherer, D 2019, 83 min, OmeU Maya Connors, D 2019, 11 min, engl. OF B-MOVIE Ab dem Frühjahr 2015 landen täglich mehrere Hun- Eine sonderbare Begegnung mit den Lebewesen unse- LICHTMESS DO 16.04. dert Geflüchtete in Schlauchbooten auf der griechi- res Universums. Der assoziative Essayfilm stellt in sei- DO 16.04. 19 UHR schen Insel Lesbos an. Viele, um dem Krieg in Syrien ner harmonischen Montage des vielschichtigen Bild- 19 UHR zu entkommen. Unzählige lassen ihr Leben auf der und Tonmaterials die Frage nach Sein oder Nichtsein. GÄSTE: SARAH Überfahrt. Und so bleiben die Tourist*innen aus, DOKLAND HÜTHER, SITA denn zu verstörend sind die Funde beim Schnor- Transit Circle HAMBURG SCHERER cheln. Stattdessen kommen Menschen von interna- Stephan Knauss, D/CHN 2019, 40 min, OmeU tionalen Hilfsorganisationen und Journalist*innen. Der Blick fährt an der nächtlichen Silhouette der chine- Es sind die Bewohner*innen von Lesbos, für die sich sischen Großstadt Hangzhou entlang, kommt schließ- GÄSTE: MAYA der Film interessiert und deren Berichten er lauscht. lich in der Peripherie an. Dort trifft der Filmemacher CONNORS, Angst vor den geflüchteten und häufig in desolatem die junge Hanqi und ihre Clique. Die ruhige Kamera be- STEPHAN Zustand eintreffenden Menschen hat hier offenbar gleitet die Gruppe durch ihren Alltag, lauscht Gesprä- KNAUSS niemand. Aber Wut auf die Zustände, die die Men- chen, beobachtet und schwingt sich auf ihren Lebens- schen zur Flucht zwingen, sowie auf die Politik, die abschnitt ein; umkreist Stillstand und Bewegung nicht ihnen nicht einmal die Fluchtbewegung zugestehen nur in den Gedanken und Gefühlen der Freund*innen, möchte. Nicht alle schätzen den Einsatz der nordeu- sondern findet sie auch in der Umgebung wieder, den ropäischen Helfer*innen, denen mitunter unterstellt Industriebrachen, der dörflichen Vorstadtstruktur und wird, nur auf spektakuläre Selfies aus zu sein. Und den urbanen Betonbauten. In einer kaleidoskopischen die Journalist*innen stellen dumme Fragen: „Haben Montage verdichten sich die Bilder mit dem unterlegten Sie jemals eine ertrunkene Person gesehen?“ „Eine? Ambientsound zu einer beeindruckenden Atmosphäre, An einem Tag waren es 75!“ die uns Raum für Zeit und Zeit für Raum zugesteht. 10 11 FILMPROGRAMM

Un film dramatique Present.Perfect. Éric Baudelaire (R), Schüler*innen des Coll`ege Dora Maar (K), Shengze Zhu, USA/HK 2019, 124 min, S/W, OmeU F 2019, 114 min, OmeU Livestreaming ist in China seit 2016 Hype und milli- METROPOLIS Kamera und Mikro werden in diesem Film von Kindern ardenschwerer Markt. In sogenannten Showrooms DO 16.04. geführt, Form und Inhalt nach und nach entdeckt. Vier präsentieren Selbstdarsteller*innen (Anchors) ihren 20.30 UHR Jahre lang haben die Schüler*innen der Film-AG des Alltag und werden vom anonymen Publikum mit vir- Coll`ege Dora Maar in Saint-Denis gemeinsam mit tuellen Geschenken (Bullets) belohnt, die in reales GAST: ÉRIC Éric Baudelaire ihren Film entwickelt. Und auch wenn Geld umgetauscht werden können. Die in BAUDELAIRE „Liberté, Égalité, Fraternité“ an ihrer Schulfassade lebende chinesische Regisseurin Shengze Zhu hat prangt, wissen die Sechst- bis Neuntklässler*innen mehrere Hundert Stunden dieser nur in Echtzeit bereits genau, dass diese Losung für sie nur bedingt laufenden Streams aufgezeichnet und zu einem auf- gilt. Schließlich leben sie in Saint-Denis, dem „Pro- schlussreichen Einblick in die chinesische Gegenwart B-MOVIE blembezirk“ der Pariser Banlieue schlechthin. Wer montiert. Sie interessiert sich dabei weniger für die DO 16.04. hier wohnt, dem scheint die Mehrheitsgesellschaft Influencer*innen und Stars der Szene als vielmehr für 21 UHR nur zwischen Resignation und Delinquenz einen Platz Menschen, für die das Livestreaming ein Kommunika- zuzugestehen. Und so wird diskutiert: Wird mir mei- tionsmittel darstellt, um aus ihrer gesellschaftlichen SKYPE-GESPRÄCH ne Intelligenz und Freundlichkeit helfen, oder werde Isolation herauszutreten. Indem Zhu die eingeblende- MIT SHENGZE ZHU ich immer nur nach meiner Hautfarbe und sozialen ten Kommentare und Interaktionen des Livestream- Herkunft beurteilt werden? In was für einer Gesell- Publikums in der Montage weitgehend auslässt und schaft wollen wir leben? Wer möchte ich sein? Was das Bild vom Display auf die Leinwand verrückt, ist das überhaupt für ein Film, den wir hier machen? weist sie uns den Blick passiver Zuseher*innen zu Ein Spielfilm? Ein Dokumentarfilm? Nein, ein drama- und stärkt zugleich die performativen Qualitäten der tischer Film! – Ein umwerfend schöner obendrein. offenherzigen Selbstdarsteller*innen. 12 13 FILMPROGRAMM

Taste of Hope Campo Laura Coppens, CH/D 2019, 71 min, OmeU Tiago Hespanha, POR 2019, 100 min, OmeU LICHTMESS 1336 Tage lang besetzten Arbeiter*innen die Produk- Südlich von Lissabon erstreckt sich in Alcochete über DO 16.04. tionsstätten der Fralib-Teefabrik, nachdem der Kon- 7639 Hektar Europas größte Militärbasis. ›Campo‹ von 21 UHR zern Unilever 2010 deren Schließung bekannt gege- Tiago Hespanha beobachtet, wie alle dort stattfinden- ben hatte. Mit Erfolg. 2016 nahmen sie die Fabrik in den Aktivitäten und Bewegungen erfasst, dokumentiert GAST: LAURA Besitz und produzieren seitdem selbstverwaltet als und analysiert werden. Schafe, Bienen, Vögel, Bäume, COPPENS Teeveredelungskooperative Scop-TI. ›Taste of Hope‹ Sterne oder Wind existieren hier als Platzhalter einer setzt nach diesen Ereignissen an: Auf einem Fließ- nur scheinbaren Natur, in der sich die Truppen der band schickt Coppens uns in einen genossenschaft- portugiesischen Armee in verschiedenen Übungen an lichen Arbeitsalltag und den Kampf ums wirtschaft- ihren Körpern abarbeiten und das Handwerk des Krie- liche Fortbestehen. Zwei Jahre lang begleitete sie die ges lernen. Der Film interessiert sich jedoch weniger Arbeiter*innen in ihren täglichen Kämpfen und folgt für die Strukturen des militärischen Apparats, noch den Prozessen der Selbstverwaltung und der geteilten untersucht er die Bedeutungsebenen dieses speziel- Kompetenzen in seiner ganzen Komplexität. Zwischen len Ortes. Die Ästhetisierung der vorgefundenen Re- Produktionsabläufen, Produktbesprechungen, Tee- alität wird in beeindruckenden Bildern durch einen verkostungen und Generalversammlungen stellt sich Kommentar von mythischer Textur stark verdichtet. In METROPOLIS die Frage, wie neue Möglichkeiten der Existenz funk- diesem Verfremdungseffekt wird eine höchst seltsame FR 17.04. tionieren. Wie kann ein Überleben gelingen in einer (Film-)Welt erschaffen, in der sich nicht nur die Gren- 16 UHR Marktwirtschaft, die vom Profitgedanken regiert wird zen zwischen Realität und Fiktion aufzulösen scheinen, und dem permanenten Wettbewerb unterworfen ist? sondern sich Erzählung überhaupt dokumentarisch GAST: TIAGO ›Taste of Hope‹ zeigt den Versuch, diese Spielregeln zu erfassen lässt. Zum Vorschein tritt eine kritische Zivi- HESPANHA verschieben. lisationsgeschichte der Menschheit. 14 15 FILMPROGRAMM

Ralfs Farben Fleischwochen Lukas Marxt, AUT/D/F/ES 2019, 74 min, OmeU Joachim Iseni, AUT 2018, 37 min, OmeU METROPOLIS „Wir können nicht dasselbe Licht verwenden, sondern Auf dem Bauernhof der Familie Feichtmair wird seit FR 17.04. völlig neue Schlüssel mit völlig neuem Licht, und selbst den 60er Jahren im kleinen Umfang Schweinefleisch 19 UHR diese sind bedingt auffindbar“, sagt Ralf einmal. Die produziert. Die Preise sind im Keller – es geht um die Sätze des schizophrenen Mannes begleiten einen gu- Wurst. Die mittlerweile 81-jährige Inhaberin des Be- GÄSTE: ten Teil des experimentellen Porträts von Lukas Marxt triebs, Frau Rosa Feichtmair, zählte dabei seit etwa 20 LUKAS MARXT, (in enger Kooperation mit Michael Petri), legen sich Jahren auf die tatkräftige Unterstützung ihrer Tochter MICHAEL PETRI über die Bilder von Lanzarote, wo der Protagonist zu- Margarete. Als die ob der Dauerdoppelbelastung – Job rückgezogen lebt. Landschaft und Kino amalgamieren als Krankenpflegerin und Hilfskraft der Mutter – nah in diesem Film, sind Denk- und Empfindungsräume am Burn-out ist, kommt es zum Konflikt um die Zu- eines Innen und doch eben auch projizierte Bilder ei- kunft des Hofes und der »Fleischwochen«. nes Außen. Das Denken des Mannes im Zentrum des Die Tätigkeiten und Abläufe dieser Woche der Fleisch- Films verläuft nicht entlang gerader Linien, sondern in verarbeitung korrespondieren mit den Kämpfen und LICHTMESS Kreisen, Spiralen und Möbiusschleifen und bestimmt Konflikten von Mutter und Tochter. Mit Fernsehfor- FR 17.04. die filmische Struktur in ihrer Gesamtheit: Man ver- maten wie ›Eine Woche unter Metzgern‹ ist das kei- 19 UHR liert sich in diesem Raum, in der Zeit, in den Distanzen, ne Minute zu vergleichen. Unser Augenmerk gilt der sucht vergeblich nach einem Standort im eigentlichen, dokumentarischen Zunft und Zukunft, und bei dieser GAST: physischen Sinne und findet ihn stattdessen (und als cineastischen Dauerwurst liegt es auf dem feinen do- JOACHIM ISENI Ergebnis dieser Unsicherheit) in einer Haltung, einer kumentarischen Humor, der die Protagonist*innen kei- gewissen Formation des Denkens, die – paradoxerwei- neswegs bloßstellt, sondern das Publikum zur Kompli- se – in dauerhafter Bewegung verweilt, in einer „Suk- zin macht, wenn der Bauer mit der Fliegenklatsche zession der sich wandelnden Zustände“ (Deleuze). unterwegs ist … 16 17 FILMPROGRAMM

The Last Painting Wunderschein Tom Salt, D 2019, 14 min, engl. OF Guillaume Cailleau, D/NZ 2019, 15 min, ohne Dialog Eine Produktionsstätte für Euro-Banknoten. Im visu- LICHTMESS Langsam entsteht das Bild auf der Leinwand. John Salt, ellen Sog der Kamera wird das Beschichten und Be- FR 17.04. Vater des Filmemachers, fällt es schwer, den Pinsel zu drucken der Scheine zu einem artifiziellen Akt. Kon- 20:30 UHR halten. Zuletzt ist es geschafft: ›The Last Painting‹. turen und Motive lösen sich auf in abstrakte Formen B-MOVIE und fügen sich zu ornamentalen Mustern. Der Kapi- FR 17.04. DOKLAND Eine Seltenheit sind Uhren und Landschaften talismus als Kaleidoskop, Geld als optische Illusion. 23:30 UHR HAMBURG Psychedelic Money Making. Luis Villacis, D/COL 2019, 44 min, OmeU Wie hört es sich an, wenn sich Wolken vor Berge Color-blind GÄSTE: TOM schieben oder sich ein Regenwurm durch den Schlick Ben Russell, F/D 2019, 30 min, OmeU SALT, LUIS windet – und was haben sie mit einer alten Geschich- In Französisch-Polynesien suchte Paul Gauguin den VILLACIS te aus den Bergen Kolumbiens zu tun? Luis Villacis Exit aus der westlichen Zivilisation. Zurück zur Natur, experimentiert mit Ton und Bild, um einer Begeben- pure Formen, phosphoreszierende Farben. Mit dem heit aus dem 19. Jahrhundert auf den Grund zu ge- Maler als Spiritus Rector begibt sich Ben Russell in GAST: hen. Wichtig ist hier nicht das Geschehene an sich, die Südsee. Im Pop-Rhythmus der postkolonialen GUILLAUME sondern die behutsame Annäherung daran. So be- Gegenwart fließen Szenen, Sounds und Kontexte in- CAILLEAU sucht der Film relevante Orte der Geschichte, jedoch einander. Tattoos für Tourist*innen, marquesischer nicht, um sie zu einer kohärenten Erzählung zusam- Techno, Haka-Tanzwettbewerbe, Riffhaie, Sonnen- menzusetzen, sondern um die in jeder Geschichte untergänge, eine Kava-Zeremonie, die französischen vorkommenden Auslassungen sprechen zu lassen. Nukleartests auf Mururoa. Von der Atombombe zur Ein vor allem durch seine feinen Beobachtungen und Arschbombe: Ein flackerndes synästhetisches Samp- den hochartifiziellen Sound überzeugendes Debüt. ling im 16mm-Format. Ein ethnografischer Stilbruch. 18 19 FILMPROGRAMM

Delphine et Carole, insoumuses Who Is Afraid of Ideology? Callisto Mc Nulty, F/CH 2019, 70 min, OmeU Marwa Arsanios, LBN/Kurdistan/SYR 2019, 51 min, OmeU METROPOLIS Als die Schauspielerin Delphine Seyrig in den 70ern „Naturzerstörung ist inhärenter Bestandteil einer SA 18.04. an einem Filmworkshop in Carole Roussopoulos’ Politik der Anpassung und Einverleibung, wie sie von 15 UHR Wohnung teilnimmt, können beide noch nicht ahnen, den dominanten Nationalstaaten betrieben wird. Je welche Bedeutung dieses Aufeinandertreffen für sie weniger die Menschen sich ihrer Verbindungen mit GAST: CALLISTO haben wird. Mit Ioana Wieder gründen sie 1974 das der Natur bewusst sind, desto wahrscheinlicher ist MC NULTY feministische Videokollektiv »Les Insoumuses«. Ge- es, dass sie zu genau den vermeintlich freien Indi- meinsam nutzen sie mediale Strategien, um die femi- viduen werden, deren Loyalität in erster Linie dem nistischen Kämpfe in Frankreich und darüber hinaus Staat gilt.“ So eine der Aktivistinnen, die in ›Who Is zu multiplizieren und voranzutreiben. ›Delphine et Afraid of Ideology?‹ zu Wort kommen. B-MOVIE Carole‹ zeugt von einer großen Freundschaft zweier Marwa Arsanios besucht drei feministische Projekte, in SA 18.04. Frauen, politischer Hingabe und diebischer Freude, den Bergen Kurdistans, in Nordsyrien und im Libanon 16 UHR das Patriarchat zum Stürzen bringen zu wollen. Zu- – in von Krieg gezeichneten Gebieten. Gemeinsam mit sammen filmen sie die Proteste mit einer der ersten den Aktivistinnen denkt sie über das Verhältnis zur Na- GAST: MARWA verfügbaren tragbaren Kameras in Frankreich oder tur, damit verbundene Wissensformierungen und über ARSANIOS interviewen Frauen aus der Filmindustrie. All ihre das Recht auf Selbstverteidigung nach. Auch die filmi- Aktivitäten gelten dem Ziel, dass Frauen hinter der sche Strategie selbst ist Teil der Versuchsanordnung, Kamera stehen, Filme produzieren und für sich spre- die nach der Überwindung des Ideologischen fragt: chen sollen. Ein beeindruckendes persönliches und Sound, Stimme und Bild sind konsequent entkoppelt politisches Zeitdokument, das auch heute noch femi- und zirkulieren. So formieren sie sich möglicherweise nistische Kollektive und Praktiken inspirieren kann. zu einer tragfähigen Konstellation für die Zukunft.

20 21 FILMPROGRAMM

Zustand und Gelände Property – Träume von Räumen Ute Adamczewski, D 2019, 120 min, OmeU Matthias Lintner, D 2019, 85 min, OmeU METROPOLIS Spuren der NS-Vergangenheit gibt es überall, doch Die Schlacht ist verloren. Die Logik der Stadtentwick- SA 18.04. Ute Adamczewski hat sich auf den Weg gemacht, sie lung bricht sich Bahn. Altes Leben, Leerstand, Luxus- 17 UHR beispielhaft freizulegen. Beginnend in Sachsen, wo sanierung, neues Leben. Den wenigen verbliebenen gleich nach der Machtergreifung durch die National- Bewohner*innen in der Kleinen Bremer Höhe in Ost- GAST: UTE sozialisten 1933 unzählige „wilde Konzentrationsla- , einer Wohnsiedlung aus den Bismarck-Jahren, ADAMCZEWSKI ger“ entstehen. Sie werden mit dem Ziel errichtet, bleibt nicht mehr viel Zeit. Matthias Lintner hat hier politische Gegner*innen (aus KPD, SPD und Gewerk- selbst sechs Jahre gewohnt. Mit der Kamera durch- schaften, Journalist*innen, Schriftsteller*innen) mit- misst er das prekäre Ensemble und liest dabei Geor- tels Haft, Folter und Mord aus dem Weg zu räumen. ges Perecs Essay ›Träume von Räumen‹ von 1974: LICHTMESS Kaum etwas weist heute auf die frühere Existenz „Man denkt nicht oft genug an die Treppen. Nichts war SA 18.04. dieser teils spontan errichteten Lager hin, doch die schöner in den alten Häusern als die Treppen. Nichts 18:30 UHR Orte selbst gibt es häufig noch. Es sind Turn- und ist hässlicher, kälter, feindseliger, kleinlicher in den Fabrikhallen, Kasernen, Schlosskeller und Gaststät- Mietshäusern von heute. Man sollte lernen, mehr in GAST: MATTHIAS ten. Im Film werden sie mit Textfunden aus Archiven den Treppenhäusern zu leben. Aber wie?“ LINTNER oder auch Berichten von Gefangenen konfrontiert. Mit großer Zärtlichkeit begegnet der Film der Haus- Trotz der so erzeugten visuellen und erzählerischen gemeinschaft aus Freaks und Verlorenen, deren Ver- Dichte markiert der Film, auch über seine ausgefeilte gangenheit im Gebäude bereits begonnen hat. Er ist Tongestaltung, mit Nachdruck eine Lücke. Denn hier ein stilles, schwebendes Requiem auf Formen des ist nichts abgeschlossen, die Spur gerade erst aufge- Existierens und Zusammenlebens außerhalb des nommen, und „Nazijäger*in“ bleibt leider ein Beruf Mainstreams. Nichtfunktionieren als Freiheit. mit Zukunft. 22 23 FILMPROGRAMM

Purple Sea Just Don’t Think I’ll Scream Amel Alzakout, Khaled Abdulwahed, D 2020, 67 min, OmeU Frank Beauvais, F 2019, 75 min, OmeU METROPOLIS Das Boot ist gesunken, Menschen treiben im Meer. Nur Einsamkeit am Ende einer Beziehung. Der Rückzug auf SA 18.04. gelegentlich taucht die Kamera, wie um Luft zu holen, kleinsten Raum. 400 Filme begleitet von Depressionen, 20 UHR kurz auf – um sogleich wieder unterzutauchen. Denn Rauschmittelkonsum, Midlifecrisis. Der Versuch wei- über Wasser wartet keine Rettung: Der Horizont steht terzumachen, nicht stehen zu bleiben, Sinn zu finden. GÄSTE: AMEL Kopf, ist in permanenter Kippbewegung, und das Ufer Frank Beauvais webt daraus eine Text-Bild-Konstella- ALZAKOUT, in Sicht könnte auch das sein, dem man zu entkommen tion, die seine Gedanken – über sich selbst, Frankreich, KHALED versucht. Unter Wasser ist es stiller, die Schreie sind das Land und die Stadt, den Zustand der Welt – mit kur- ABDULWAHED gedämpft. Der Text aus dem Off, gesprochen aus Er- zen, fast blitzartigen Momenten aus all diesen Filmen innerungsbildern und den Zukunftsvorstellungen einer zusammenschließt. „Wie ein Süchtiger, der sich ent- Frau, die eine Geliebte ist, eine Mutter, eine Studentin scheidet, nicht aufzuhören, sondern seine Sucht zu be- – und Überlebende. trachten und zu kommentieren“, beschreibt Beauvais Die Migrationsroute über das Mittelmeer ist das das Vorgehen einmal. Neben dem Eingraben aber wird Setting von ›Purple Sea‹, von hier aus entfaltet Amel die cinephile Praxis als Bewegung nach außen sicht- Alzakout die drängenden Fragen nach Zeugenschaft bar, die in all den privat konsumierten Bildern auch den B-MOVIE und Unterlassungen des Westens. Im Angesicht der Zustand der Welt zu entdecken vermag. Zu viel, zu ex- SA 18.04. humanitären Katastrophe macht der Film ein Angebot, zessiv, kaum zu verarbeiten ist dieser Wahn einerseits, 21 UHR das ohne Zweifel verstörend ist. Aber wir können es eine Form, die der Welt entspricht und sie eben darin auch als einen Akt des Anvertrauens verstehen und die sichtbar macht, ist er auch: In Gesten, Metaphern, be- ausgestreckte Hand ergreifen! wussten und unbewussten Bildern, die immer schon aufgeladen sind, egal wie tief man sich eingräbt.

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Last Night I Saw You Smiling If It Were Love Kavich Neang, CAM/F 2019, 75 min, OmeU Patric Chiha, F 2020, 82 min, OmeU LICHTMESS Einst war es ein Symbol des Aufbruchs. Nach dem Ende Wie transformiert man eine Tanztheater-Performance SA 18.04. der französischen Kolonialherrschaft erfasste ein Bau- aus überlagerten Bewegungen und zeitlichen Ver- 21 UHR boom die kambodschanische Hauptstadt Phnom Penh. schiebungen in der Art einer losen Literaturadaption Ikonische Gebäude entstanden, etwa 1963 das »White für das Kino? Diese Frage liegt Patric Chihas Film zu- Building«, ein kommunaler Wohnkomplex, in dem grunde. Dabei verdichtet er Proben und Aufführungen Künstler*innen und ärmere Familien Tür an Tür wohn- einer Ensembletour des Tanzstücks ›Crowd‹ von Gis`ele ten. Heute ist vom Weiß der Gründerjahre nichts mehr Vienne über die Raveszene in den 90ern zu einem in- übrig. Die Bausubstanz ist marode, aber die Community tensiven filmischen Erlebnis. Bühnenaufnahmen wer- lebt. Und wieder ist das »White Building« zum Symbol den mit intimen Momenten der Tänzer*innen im Back- geworden: für Verdrängung und Segregation. Investo- stagebereich unterschnitten. „To see the dust rise from ren greifen nach dem Grundstück und bereiten mit der his cloth when he moves“, beschreibt einer der Tänzer Stadt den Abriss vor. 493 Familien müssen ausziehen. die hypersensitive Gefühlswelt seines getanzten Cha- Der Film dokumentiert die schrittweise Auflösung eines rakters im Verhältnis zu einem anderen. Der Raum METROPOLIS sozialen Organismus. Auch der Vater des Regisseurs zwischen ihren Rollen im Stück und eigenen Erfahrun- SA 18.04. ist betroffen. „Man könnte meinen, ein Haus sei nichts gen von Begehren und Sehnsüchten verschwindet da- 22:15 UHR anderes als Wände, Fenster und Dach. Aber jetzt müs- bei zusehends. Die in der Schwebe gehaltene Situation sen wir gehen, es bricht mir das Herz.“ Erinnerungen und das Changieren zwischen kollektivem Rausch und werden wach an die dunkle Ära der Roten Khmer, als individuellem Absturz erzeugen mithilfe der präzise das »White Building« schon einmal komplett entleert ausgewählten Technotracks eine intensive filmische wurde. Damals kehrten jene, die den Horror überlebt Sogwirkung, die einem tranceartigen Kluberlebnis na- hatten, wieder zurück. Diesmal ist das Ende endgültig. hekommen. 26 27 FILMPROGRAMM

Persistence That Which Does Not Kill Anne Hufschmid, Jan-Holger Hennies, MEX/D 2019, 54 min, OmeU Alexe Poukine, BEL/F 2019, 83 min, OmeU FESTIVAL- In Mexiko gelten mindestens 40.000 Menschen als ›That Which Does Not Kill‹ beginnt mit einer Er- ZENTRUM vermisst. Meist sind es Jugendliche, die spurlos ver- fahrung. Es ist die der jungen Ada. Im Alter von 19 SO 19.04. schwinden. Immer wieder werden Massengräber mit Jahren lernt sie einen Mann kennen. Er lädt sie ir- 14 UHR Leichenteilen gefunden. Selbstorganisierte Kollektive, gendwann zu sich nach Hause zum Essen ein, und wie die »Grupo Vida« oder das »Colectivo Solecito« be- sie akzeptiert. Nach dem Essen vergewaltigt er sie GAST: stehen meist aus Angehörigen von Opfern und geben – insgesamt drei Mal. Alexe Poukine greift diese Ge- JAN-HOLGER ihnen Rückhalt in der Unerträglichkeit ihres Schick- schichte auf, die Ada ihr nach einer Filmvorführung HENNIES sals. Mit selbst angeeignetem forensischen Fach- anvertraut hat. Sie spricht mit ihren Bekannten da- wissen und Equipment suchen sie unermüdlich nach rüber und lässt sie vor der Kamera Adas Geschichte Gräbern und führen dort Ausgrabungen durch, in der erzählen. Dabei erinnern sich die Frauen und Männer Hoffnung, mithilfe der Fragmente eine Person identifi- an Erfahrungen, die sie selbst gemacht haben, und zieren zu können. Viel Rückhalt vom Staat und seinen weben so ihre Erinnerungen mit denen Adas inein- B-MOVIE Institutionen können sie dabei meist nicht erwarten. ander. Der Film zeigt auf behutsame Weise, wie über SO 19.04. Der Film verfolgt die Arbeit der Kollektive nüchtern ein solches Thema gesprochen werden kann. Er ist 16 UHR und distanziert. Diese Herangehensweise eines aus in erster Linie eine sensible Geste in Richtung all je- der Außenperspektive agierenden Filmteams ermög- ner, die selbst betroffen sind, und deckt zugleich die SKYPE-GESPRÄCH licht es, die Komplexität der Zusammenhänge sowie strukturelle Dimension dieser Erfahrungen und des MIT ALEXE POUKINE die psychologischen Abgründe zu erahnen, schafft Schmerzes auf. Raum für eine qualitative Auseinandersetzung mit der Thematik und erkennt deren Dringlichkeit.

28 29 FILMPROGRAMM

Piqueuses Sie ist der andere Blick Kate Tessa Lee, Tom Schön, D/Mauritius 2019, 84 min, OmeU Christiana Perschon, AUT 2018, 90 min, OmeU METROPOLIS Marie Louise Édouard lebt auf der Insel Rodrigues im ›Sie ist der andere Blick‹ ist ein mindestens sieben- SO 19.04. Indischen Ozean. Dem Krakenspießen, ihrer Tätigkeit facher Glücksfall von einem Film. Eine junge Regis- 17:30 UHR und Lebensgrundlage, geht sie nicht mehr nach. Um- seurin porträtiert fünf Künstlerinnen, die ab den 70er welteinflüsse und veränderte Märkte sind Gründe, die Jahren ihre Wege in einen männlich dominierten GÄSTE: KATE Politik führt Regeln ein, legt Zeitfenster fest, definiert Kunstbetrieb gefunden haben. Daraus ist eine eben- TESSA LEE, den Zugang. Der Film fokussiert auf die Frau und ihren so vielstimmige wie pointierte Auseinandersetzung TOM SCHÖN Alltag – in konkreter Abwesenheit und doch spürbarer mit der Frage nach einer weiblichen Seite der Kunst, Gegenwart ihres einstigen Lebenszentrums. Andere der Politisierung des Persönlichen und der Bedeut- Jobs müssen her, es wird improvisiert. Um sie herum, samkeit selbstreflexiver Prozesse entstanden. Dieser B-MOVIE an den Rändern des Gesichtsfelds, am Horizont der »andere Blick« ist durchdrungen von der Klarheit und SO 19.04. DOKLAND ruhigen, lange gehaltenen Bilder einer lichtdurchflu- der Uneitelkeit seiner Protagonistinnen sowie dem 18:30 UHR HAMBURG teten, immer leicht in Bewegung befindlichen Land- sicheren Gespür der Filmemacherin für die »richti- schaft, ist immer die Lücke spürbar. Das Globale, der ge« Dezentrierung der Perspektive. In einem eigenen GAST: Klimawandel, die Ökonomie, der Untergang einer Tra- Rhythmus des Hinschauens und Abwartens, von Zu- CHRISTIANA dition sind im Film mitgedacht, werden aber in seiner hören und Nachklang entsteht ein filmisches Porträt, PERSCHON Form auf ein konkretes Erleben von Raum und Zeit, welches über einzelne Personen hinausreicht und von Landschaft und Alltag rückgebunden: Letztlich zunehmend zu einer generationsübergreifenden Kol- beschreibt der Film vor allem ein In-der-Welt-Sein, laboration wird. So ist schon einiges erreicht worden, das nicht mehr hinterherkommt, eine Stasis, von der aber die Arbeit ist mitnichten getan. A luta continua! Schönheit ausgeht, die ihren Fluch vergessen macht.

30 31 FILMPROGRAMM ABSCHLUSSFILM

At the Bottom of the Sea Space Dogs Karsten Krause, D 2020, 49 min, engl. OF Elsa Kremser, Levin Peter, AUT/D 2019,91 min, OmeU METROPOLIS Der Südwesten von Texas war einmal Teil eines Mee- Ein Geist geht um in Moskau. Laika, das erste Lebe- SO 19.04. resgrundes, der im Laufe der Zeiten zu Bergen, Prä- wesen, das von Menschen 1957 in eine Erdumlauf- 20 UHR rie und Wüste wurde. Beinahe archäologisch trägt ›At bahn geschossen wurde, zieht als unsichtbarer Schat- the Bottom of the Sea‹ die unterschiedlichen (Ge-) ten durch die Parks und Häuserschluchten. So besagt GAST: KARSTEN Schichten des Landstrichs ab. Natur ist nicht unbe- es die Legende. Nur vier Stunden überlebte die Stra- KRAUSE rührt, sondern ein Dokument konstanter Bewegung ßenhündin in der Sputnik-2-Kapsel, ehe sie beim Wie- und Zirkulation, selbst im vermeintlichen Stillstand. dereintritt in die Atmosphäre verglühte. Ihr Leichnam DOKLAND Kalkstein, über Jahrhunderte entstanden, wird inner- ist der Luftzug, der ihren Nachfahren um die Schnau- HAMBURG halb kurzer Zeit abgebaut. Menschen durchqueren ze streicht, ihre tragische Geschichte verschmilzt mit METROPOLIS die Region, um in die USA migrieren zu können. Sie deren gnadenloser Gegenwart. ›Space Dogs‹ folgt SO 19.04. hinterlassen Habseligkeiten – und bleiben manchmal einem Rudel Moskauer Straßenhunde. Immer auf 21:30 UHR selbst zurück. Augenhöhe mit ihren Protagonist*innen beobachtet Die Landschaft erscheint zunächst als Imagination die Kamera die Tiere bei ihren Revierkämpfen, ihrer GAST: LEVIN des Pittoresken. Doch dieses Bild hält der Realität Jagd nach Essen, ihrer Solidarität. Bilder voll rauer PETER nicht stand. Sie wirkt nicht mehr grenzenlos, sondern Schönheit und offener Brutalität – die verknüpft sind tückisch. ›At the Bottom of the Sea‹ holt verschiedene mit Archivaufnahmen von dem sowjetischen Raum- Dimensionen des Terrains an die Oberfläche, so wie fahrtprogramm, in dem neben Laika noch viele andere einst der Meeresgrund hervorkam. Hunde für die hochfliegenden wissenschaftlichen und imperialen Visionen missbraucht wurden. Ein Film über tierische Outlaws und Kosmonauten. Kein Film für Katzen. 32 33 PROGRAMMPLAN Mittwoch /// 15.04. Donnerstag /// 16.04. Freitag /// 17.04. Samstag /// 18.04. Sonntag /// 19.04. 11.00 Uhr »Positionen« 11.00 Uhr »Retrospektive« 12.30 Uhr »Special« Gerhard Friedl. Ein Arbeits- Trinh T. Minh-ha: The Politics In memoriam Robert FESTIVALZENTRUM buch – Lesung mit Film of Form and Forces – Vortrag Frank frappant Galerie in der fux eG täglich S. 48/49 und Diskussion S. 46 S. 58/59 geöffnet DO bis SO ab 10.30 Uhr 13.30 Uhr »Positionen« 14.00 Uhr »Positionen« 14.00 Uhr »Retrospektive« 14.00 Uhr Eröffnung Installation: Weibliche Autofiktion und Podiumsdiskussion mit Persistence »Installation« Missing Films – Friedl/Horelli/ Selbstermächtigung im Trinh T. Minh-ha Friedl/Horelli/ Wildenhahn S. 50/51 Film S. 52/53 S. 42 S. 28 Wildenhahn 14.30 Uhr »Carte Blanche« 19.00 Uhr »Special« 16.00 Uhr »Special« 15.45 Uhr »Positionen« S. 50/51 Zeit-Reisen Peggy Parnass – Filmrestaurierung: Dokumentarische DO bis SO S. 56 Überstunden an Leben S. 61 Gespräch mit Peter Fiktionen: Eva Kubelka S. 62 Könnemann S. 57 16.00 Uhr 14.00 Uhr »Special« Klaus 16.30 Uhr fux Lichtspiele Border South Wildenhahn: Reiseführer »Retrospektive« S. 9 durch 23 Tage im Mai S. 60 Night Passage S. 43 17.00 Uhr »Special« Hörstück 17.30 Uhr »Retrospektive« Wildenhahn S. 51 Reassemblage (Wh.) S. 7 16.00 Uhr 15.00 Uhr Delphine et 13.00 Uhr »Retrospektive« METROPOLIS Campo S. 15 Carole, insoumuses S. 20 The Fourth Dimension S. 44 15.30 Uhr »Retrospektive« 19.00 Uhr 17.00 Uhr 15.00 Uhr »Retrospektive« Eröffnungsfilme Naked Spaces S. 38 Ralfs Farben S. 16 Zustand und Gelände S. 22 Forgetting Vietnam S. 45 18.30 Uhr »Retrospektive« 21.30 Uhr »Special« 20.00 Uhr 17.30 Uhr 20.00 Uhr Shoot for the Contents S. 39 Filmrestaurierung: Dziga Purple Sea S. 24 Piqueuses S. 30 Nach zwei Stunden Vertovs ›Enthusiasmus‹ waren zehn Minuten 20.30 Uhr 22.15 Uhr If It Were Love 20.00 Uhr At the Bottom S. 62 vergangen S. 6 Un film dramatique S. 12 S. 27 of the Sea S. 32 Reassemblage S. 7 21.30 Uhr Space Dogs S. 33 18.00 Uhr »Retrospektive« 16.00 Uhr 16.00 Uhr B-MOVIE Surname Viet Given Name W h o I s A f r a i d o f I d e o l o g y ? That Which Does Not Kill Nam S. 40 S. 21 S. 29 19.00 Uhr 20.45 Uhr »Retrospektive« 18.00 Uhr »Positionen« 18.30 Uhr Sie ist der At the Margin S. 10 A Tale of Love S. 41 Schwarze Wellen S.54/55 andere Blick S. 31 21.00 Uhr 23.30 Uhr Wunderschein // 21.00 Uhr Just Don’t Present.Perfect. S. 13 Color-blind S. 19 Think I’ll Scream S. 25 19.00 Uhr Diary of an 19.00 Uhr 18.30 Uhr LICHTMESS Organism // Transit Circle S. 11 Fleischwochen S. 17 Property S. 23 21.00 Uhr Taste of Hope S. 14 20.30 Uhr The Last Painting // 21.00 Uhr Eine Seltenheit sind Uhren Last Night I Saw You und Landschaften S. 18 Smiling S. 26 34 35 RETROSPEKTIVE TRINH T. MINH-HA

“I do not intend to speak about, just speak nearby” in ihrem Erstlingsfilm ›Reassemblage‹ proklamierte »speaking nearby« als poetische Form eines sprach- Seit den frühen 80er Jahren entwickelt Trinh T. Minh- lichen Handelns zu verstehen, als eine politische Hal- ha ein theoretisches, filmisches und poetisches Werk, tung gegenüber sich selbst und der Welt. das als grundlegend für postkoloniale und feministi- Diese Retrospektive widmet sich allen acht Filmen sche Debatten gilt. 1952 in Hanoi geboren und in Sai- von Trinh T. Minh-ha, die zwischen 1982 und 2015 KURATIERT VON gon aufgewachsen, emigrierte sie 1970 während des entstanden sind und die stetig zwischen dem Doku- MAREN GRIMM, Vietnamkriegs in die USA. Nach dem Studium der Mu- mentarischen und dem Fiktionalen transzendieren. JOHANNA KLIER, sikethnologie, Komposition und Französischen Litera- Ihre Auffassung zum Filmemachen entwickelt sie aus SOPHIE PETERSON tur lehrt sie drei Jahre im Senegal. 1992 übernimmt einer manifesten Dringlichkeit: „Ich würde sagen, sie eine Professur an der UC Berkeley im Fachbereich dass meine Filme unsere Wahrnehmung der Realität für Rhetorik sowie der Gender- und Frauenforschung. und unsere Erfahrung des Kinos verändern sollen – Die Autorin, Theoretikerin, Künstlerin, Komponistin was die Gesamtheit unseres Körpers involviert.“ Die und Filmemacherin bezeichnet ihre filmische und Betonung der körperlichen Erfahrung ist in diesem textliche Arbeit als Grenzereignis, das im Zwischen- Kontext entscheidend, denn Trinhs Filme stellen raum von Kategorien stattfindet und somit den Deu- hohe Erwartungen an die Seh- und Hörgewohnheiten tungsanspruch autoritärer Formen herausfordert und des Publikums. Sie begreift den Raum des Kinos als dekonstruiert. 1989 erscheint ihr einflussreiches Buch einen Ort, der diese Körperlichkeit aktivieren kann. ›Woman, Native, Other‹, mit dem sie einen transdiszi- Hier entfalten die Filme ihre subtile, aber nicht min- plinären Denkraum eröffnet, in dem Trennlinien von der radikale, politische Haltung. Trinh T. Minh-ha ist Kunst und Wissenschaft verwischen und der vorherr- während des Festivals zu Gast und steht bei ausge- schende Kanon enthierarchisiert wird. So ist auch das wählten Filmen für ein Q & A zur Verfügung. 36 37 RETROSPEKTIVE TRINH T. MINH-HA

Naked Spaces – Living Is Round Shoot for the Contents ERÖFFNUNG: Trinh T. Minh-ha, USA 1985, 135 min, engl. OF Trinh T. Minh-ha, USA 1991, 101 min, engl. OF METROPOLIS In einer Kreisbewegung führt Trinh uns durch die Zitate und Allegorien ziehen sich durch den Film; eine DO 16.04. Kulturgeschichte des Bauens und Wohnens in sechs fragende Vielstimmigkeit bleibt bis zuletzt. Die Blicke 15:30 UHR Ländern Westafrikas. Die Bewegungen der Kamera, suchen zunächst das Exotische, »Typische«: die tra- GEINFÜHRUNG: die Montage und der Einsatz von Sound erinnern an ditionellen Künste Chinas – Kalligrafie, Malerei, Oper, ihr Debüt ›Reassemblage‹ – doch stellt die Filmlänge Gartenkunst –, die ländliche Lebensweise, in Erd- andere Anforderungen an das Publikum. Drei Frau- bauten, Stelzendörfern, Kanalstädtchen. Die Kamera enstimmen aus dem Off stellen Informationen, Er- scheint hier seltsam stumm, mäandernd, unbeteiligt. fahrungen, Sprichwörter oder Redensarten zur Ver- Gespräche, teils inszeniert, teils überlappend und fügung. Sie vollziehen eine behutsame, umkreisende asynchron geschnitten, finden in separaten Settings Bewegung im Denken, eine Annäherung nah an das statt; sie berühren Filmzensur, Tian’anmen und Chinas Gezeigte heran: ›Living Is Round‹. Es bleibt dennoch Afrikapolitik. unmöglich, sich die Bilder anzueignen, das Gesehe- China als mysteriöses Gebilde, das, dem alten, in der METROPOLIS ne klar einzugrenzen, zu verstehen, worum genau es Elite beliebten Gesellschaftsspiel gleich, durch wie- DO 16.04. geht. Mehr als einmal sind Aussagen in einem jeweils derholtes Raten entschlüsselt werden soll: „Den Inhalt 18:30 UHR anderen visuellen Kontext zu hören. Es entstehen Be- (verschlossener Kästen) erraten“, auch: ›Shoot for the deutungsverschiebungen; Bedeutungen beeinflussen Contents‹ kann somit auf dokumentarische Praxen per sich gegenseitig, weiten sich aus und ergänzen sich. se verweisen oder in Bezug auf das Niederschießen der Somit führt Trinh den radikalen, konfrontativen Ein- Tian’anmen-Proteste gelesen werden. „They couldn’t schnitt, den ›Reassemblage‹ im wissenschaftlichen distinguish all the different forms, so they were aiming und im experimentellen Dokumentarfilm markiert blindly at the contents.“ hat, in einer ausladenden Geste fort. 38 39 RETROSPEKTIVE TRINH T. MINH-HA

Surname Viet Given Name Nam A Tale of Love Trinh T. Minh-ha, USA 1989, 108 min, OmeU Trinh T. Minh-ha, Jean-Paul Bourdier (R), USA 1995, 148 min, OmU B-MOVIE Das Verhältnis von Nation und weiblicher Identität FR 17.04. ist das Thema des Films. Fünf Frauen berichten in Trinhs erster Spielfilm überträgt das vietnamesische 18 UHR experimentellen Porträtsituationen von den tiefen Nationalgedicht ›The Tale of Kieu‹ aus dem 19. Jahr- Gräben des Misstrauens in der vietnamesischen hundert in die USA der 90er Jahre. Kieu gilt als die Gesellschaft, die von Kolonialherrschaft und Krieg Seele Vietnams, ist in allen Schichten der Gesellschaft gezeichnet ist. Sie erzählen von ihrer Arbeit, ihren bekannt und wird für ihre Lebensweise zugleich be- Erinnerungen und den Familienkonstellationen, von wundert und verurteilt, da sie sich prostituiert, um ihre den Schwierigkeiten, ein selbstbestimmtes Leben zu Familie zu ernähren. Die moderne Kieu, die selbstbe- führen. Archivbilder unterschiedlicher Zeiten, die von stimmt leben und lieben möchte, wohnt bei ihrer Tante Berichten und Gesängen aus dem Off begleitet wer- und geht diversen Jobs nach, um schreiben zu können den, verdichten sich zu einer großen Erzählung über und ihre Familie zu unterstützen. Sie arbeitet in einer B-MOVIE die Frauen in Vietnam. Die Porträts werden immer Agentur, recherchiert zu ›The Tale of Kieu‹ und reflek- FR 17.04. wieder durch Irritationen auf der Bild- oder Tonebene tiert über das Bild der Frau in Magazinen. Zusätzlich 20:45 UHR gestört. Brüche in der Übersetzung und das Inein- verdient sie Geld als Fotomodell, wo sie exotisiert und anderfließen von gesprochenem, gesungenem oder zu eben diesem Bild gemacht wird, den voyeuristischen schriftlichem Wort verwischen, was Fiktion und was Blick des Fotografen jedoch nicht erwidern darf. Auch Wirklichkeit ist. Die Frage „Was ist ein Interview?“ Farben und Gerüche spielen in diesem Zusammenhang lädt schließlich dazu ein, die komplexen Bedingungen von Bild und Begehren eine große Rolle. Eine sinnliche und Verhältnisse von Repräsentation zu reflektieren. Erzählung vom Leben einer Frau in der Diaspora sowie von der Vorstellung von Liebe über die Grenzen Viet- nams hinaus. 40 41 RETROSPEKTIVE TRINH T. MINH-HA

Poesie, Fakten und Fiktion – Umarbeitungen des Gegebenen Night Passage Panel mit Diskussion Trinh T. Minh-ha, USA 2004, 98 min, engl. OF FESTIVAL- Trinhs Filme begründen, ebenso wie ihre Schriften, ›Night Passage‹ wird als einer der beiden Spielfilme FUX LICHTSPIELE ZENTRUM ihre Rolle als Vordenkerin postkolonialer, feministi- von Trinh gehandelt. Das ist eine mögliche Sichtwei- SA 18.04. SA 18.04. scher Perspektiven. Wahrnehmung, Aneignung und se. Inspiriert von der Novelle ›Milky Way Railroad‹ 16:30 UHR 14 UHR Zuschreibung des/der »Anderen« ist ein zentrales von Kenji Miyazawa aus dem Jahr 1927 wird das Sujet ihrer Arbeit. Auch die Disziplinen, in denen die Buch als Fantasyklassiker und als Kinderbuch rezi- weiteren Teilnehmerinnen des Panels verortet sind, piert. So changiert auch der Film zwischen Genres, haben jeweils eine lange Geschichte der Auseinan- Fiktion und Dokument. Was sich mit Sicherheit sa- dersetzungen, Kämpfe und Umarbeitungen hinter gen lässt: Zwei junge Frauen begeben sich auf eine sich. Der Dokumentarfilm, von dem Trinh einst pro- Reise. Die Reise ist eine Metapher für die Passage vokant behauptet hat, dass es ihn nicht gäbe, nimmt zwischen Leben und Tod, ihr Vehikel des Reisens im Idealfall diese Herausforderung immer wieder ist gleichermaßen ein Zugabteil wie auch die Kame- von Neuem an. Die Dekonstruktion des Gegebenen ra selbst. Darüber hinaus ist ›Night Passage‹ vieles ist und bleibt Handarbeit, ebenso wie das Offenlegen mehr: Der Film denkt über neue Handlungsräume im von (Macht-)beziehungen, die Verstörung vermeintli- Universum des Digitalen nach. Er bietet ein Referenz- cher Gewissheiten, die Schaffung von Zugängen und system der Zeichen an, das in der Summe auch die die Aufarbeitung des Gewesenen. Das verbindet die koloniale Matrix der US-amerikanischen Geschichte Diskutantinnen nicht nur untereinander, sondern enthält. Und nicht zuletzt ist er ein Streifzug durch auch mit dem Anliegen dieses Festivals. Mit: Trinh die künstlerische Avantgarde Kaliforniens, in der T. Minh-ha, Dorle Dracklé (Kulturwissenschaftlerin, mitnichten entschieden ist, wo die Grenzen zwischen Ethnografin), Suy Lan Hopmann (Kuratorin für Out- Poesie, Technologie und Esoterik verlaufen – oder ob reach), Julia Bee (Juniorprofessorin für Bildtheorie) sie überhaupt relevant sind. 42 43 RETROSPEKTIVE TRINH T. MINH-HA

The Fourth Dimension Forgetting Vietnam Trinh T. Minh-ha, USA/JPN 2001, 97 min, engl. OF Trinh T. Minh-ha, USA 2015, 90 min, engl. OF METROPOLIS Für diesen Film arbeitet Trinh erstmalig mit digitaler ›Forgetting Vietnam‹ ist eine filmische Auseinanderset- SO 19.04. Kamera. Das Ergebnis ist, wie sie selbst sagt: „Ein zung mit dem Erbe des Vietnamkriegs, 40 Jahre nach 13 UHR Bild von Japan, vermittelt durch die Vision einer digi- dessen Ende. Trinh baut ihre Erzählung auf den zentra- talen Maschine, die die Zeit dehnen und modellieren len Mythen Vietnams auf und entfaltet den Film als ei- kann.“ Sie kompiliert Szenen aus dem öffentlichen nen Dialog zwischen Land und Wasser. Land (đất) und Leben, in Städten, an religiösen Orten, profanes All- Wasser (nứớc) bilden im Vietnamesischen den Begriff tagsgeschehen und traditionelle Tänze und Rituale. der Nation (đất nứớc) und sind somit in der Entstehung Dazu denkt die Filmemacherin aus dem Off über Vietnams untrennbar. Dieser elementare Gegensatz ist Wahrnehmungsapparate, die Rolle der Technologie zugleich kulturelles Konzept und ordnendes Prinzip METROPOLIS und sich wandelnde Beziehungen nach: zu und zwi- des Films. So wechselt ›Forgetting Vietnam‹ zwischen SO 19.04. schen Bildern und ihren Bedeutungen, zwischen Zeit Aufnahmen von 1995 und 2012 – zwischen Vergessen 15 UHR und Erinnerung und darüber, wie die Produzent*innen und Erinnerung, Altem und Neuem. Im Alltag ihrer der Bilder zugleich individuell und kollektiv ein Archiv Protagonistinnen spielen diese Dualitäten eine wich- dieser Beziehungen erstellen. Nicht zuletzt hat sich tige Rolle. So erwachen die alten Kriegstraumata im der kunsthistorische Diskurs des Westens schon im- kollektiven Gedächtnis immer wieder neu, sobald aktiv mer besonders für das »Andere« in der Perspektive versucht wird, sie zu vergessen. Gleichwohl hinterfragt der fernöstlichen Bildgebungstechniken interessiert der Film durch das Aneinanderfügen der verschiede- – gewissermaßen führt Trinh auch diese Auseinan- nen Aufnahmezeiträume den Imperativ einer linearen dersetzung mit den Mitteln des Digitalen fort. Zeitlichkeit in Bezug auf Vergangenes und Gegenwart. Beide sind immer Ausdruck des jeweils anderen.

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The Politics of Form and Forces Was sich berührt Vortrag von Trinh T. Minh-ha FESTIVAL- „Für mich durchzieht Politik das tägliche Leben; sie Mit den Positionen wollen wir aktuellen Formen und thematischen ZENTRUM ist Dimension des Bewusstseins der eigenen Exis- Trends nachgehen, historische Verbindungen entdecken, uns beein- FR 17.04. tenz. [...] Die Form stark zu machen, heißt, den wich- druckende Filmemacher*innen würdigen sowie das Gespräch mit 11 UHR tigen Beitrag [des] Lebens als kontinuierlichen krea- dem Publikum und weiteren Gästen suchen. Auch blicken wir auf Be- tiven Prozess anzuerkennen.“ rührungspunkte der von uns ausgewählten Arbeiten. In diesem Jahr In diesem Vortrag geht es um Politiken der Form und etwa sind das die Lesung mit Gespräch zum neuen Buch über das damit um eine Konstante in Trinhs Gesamtwerk. Für Werk Gerhard Friedls und die Installation »Missing Films« von Laura ihre Filme bedeutet das, die Auseinandersetzung mit Horelli. Sie arbeitete mit Friedl an zwei Filmen, die nie fertiggestellt der Form in ihrer jeweiligen Anwendung sichtbar zu wurden. Passend dazu wurde im Nachlass des 2018 verstorbenen machen und das Bewusstsein des Publikums immer Klaus Wildenhahn ein Hörstück geborgen: Auch dieses hätte, wie die auch auf den Prozess der Herstellung zu lenken. Skizzen von Horelli und Friedl, ein Film über Arbeitsbedingungen und Form und Inhalt befinden sich Trinh zufolge in einer gewerkschaftliche Organisation werden können … untrennbaren Wechselwirkung zueinander. Die darin Der Komplex der Inszenierung im Dokumentarfilm hat sich vielerorts liegende Bedeutung kann nur politisch wirksam wer- ins Filmprogramm eingeschrieben und findet lautes Echo in den Posi- den, wenn sie beweglich und unabhängig von Auto- tionen, wenn sich bei »So Much I Want to Say« die Scharniere zwischen ritäten bleibt. „In seiner Forderung nach Bedeutung Fakt und Autofiktion lockern, in den »Schwarzen Wellen« dokumen- vergisst das Dokumentarische häufig, wie es entstan- tarische Positionen entschlossen mit dem Bedürfnis nach Inszenie- den ist, und dass das Ästhetische und das Politische rung und Narration vermengt werden und bei Eva Könnemann infrage in ihrer Beschaffenheit untrennbar sind.“ steht, ob es sich um vorgefundene oder erfundene Welten handeln mag. All diese Formen bereichern den Begriff des Dokumentarischen.

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Gerhard Friedl. Ein Arbeitsbuch Buchpräsentation mit Lesung und Filmvorführung Gerhard Benedikt Friedls Werk ist ebenso schmal schäftigung mit den prekären Arbeitsbedingungen FESTIVAL- wie einzigartig. Die Filme ›Knittelfeld – Stadt ohne des Servicepersonals in Las Vegas sein sollen. ZENTRUM Geschichte‹ (1997) und ›Hat Wolff von Amerongen Zehn Jahre nach Friedls Tod im Sommer 2009 macht DO 16.04. Konkursdelikte begangen?‹ (2004) haben die Mög- der von Volker Pantenburg herausgegebene und hier 11 UHR lichkeiten dokumentarischen Arbeitens entscheidend vorgestellte Band ›Gerhard Friedl. Ein Arbeitsbuch‹ erweitert. Mit scheinbar einfachen Mitteln – stati- das Schaffen des Filmemachers zum ersten Mal um- GAST: VOLKER schen, präzise komponierten Einstellungen, gleich- fassend sichtbar. Nach der Vorführung von ›Knittel- PANTENBURG mäßigen Horizontalschwenks und in die Bildtiefe feld – Stadt ohne Geschichte‹ wird das Projekt ›Panik hineingleitenden Kamerafahrten, konterkariert von von 94‹ in einer Lesung vorgestellt. Über die gesamte einer nüchtern vorgetragenen, rapportartigen Erzäh- Festivaldauer werden zudem ›Shedding Details‹ und lung aus dem Off – gelingt es Friedl, im Zusammen- ›The ‘Frontier’ Owners‹ im Ausstellungsraum des spiel der Montage ein kristallklares und zugleich her- Festivalzentrums präsentiert. metisches, dicht geknüpftes Gewebe herzustellen. Gerhard Friedl. Ein Arbeitsbuch, hg. von Volker Pan- Nach ›Amerongen‹ wandte sich Friedl den Arbeits- tenburg, Österreichisches Filmmuseum / Synema, kämpfen in den USA im ausgehenden 19. Jahrhun- Wien 2019. dert zu, doch ›Panik von 94‹ kam über das Recher- chestadium nicht hinaus. ›Shedding Details‹ (2009) Knittelfeld – Stadt ohne Geschichte und dessen unbekanntes Komplementärstück ›The Gerhard Benedikt Friedl, AUT/D,1997, 35 min, OmeU ‘Frontier’ Owners‹ (2008), gemeinsam mit Laura Ho- Aus dem Off: die Geschichte der Familie Pritz, ein Es- relli bei einem Stipendium in den USA entstanden, kalationsnarrativ immer groteskerer Verbrechen. Im lassen Spuren dieser Auseinandersetzung erkennen Bild: unscheinbare Orte der österreichischen Klein- und hätten der Auftakt zu einer umfassenderen Be- stadt Knittelfeld. 48 49 POSITIONENPOSITIONEN

Missing Films Shedding Details Film- und Audioinstallationen Gerhard Friedl, Laura Horelli, USA/D 2009, Video, 25 min, OmeU Manche Filme werden nie realisiert, aber es gibt Spu- Slavica Tricolic wird nach zehn Jahren Arbeit in einem ren, die ahnen lassen, was sie hätten sein können. Megaresort in Las Vegas durch eine Finte entlassen. Laura Horelli und Gerhard Friedl treffen 2007 in L. A. Sie bittet darum, ihre Geschichte aufzuzeichnen. ERÖFFNUNG aufeinander und entwickeln die Idee zu einem Film- The ‘Frontier’ Owners AUSSTELLUNG projekt, in dem es um Arbeitsbedingungen und ge- Gerhard Friedl, Laura Horelli, USA/D 2008, Video, 21 min, engl. OF werkschaftliche Organisation in großen Hotelcasinos Las Vegas, das ist nicht nur die Stadt des Glücksspiels, FESTIVAL- von Las Vegas gehen soll. Es entstehen die Vorstu- sondern auch die Heimat der einflussreichsten US- ZENTRUM dien ›Shedding Details‹ und ›The ‘Frontier’ Owners‹. amerikanischen Gewerkschaft. Sieben Akteur*innen DO 16.04. Klaus Wildenhahn und Gerd Haag wollen 1977 einen der Culinary Union Local 266 geben Auskunft über 13:30 UHR Dokumentarfilm über die Situation der Arbeiter*innen ihre Arbeit. im Erzbergbau und in der Stahlindustrie des Sieger- lands machen. Auch diesen Film wird es niemals ge- Da wo die Kamine qualmen, ben, aber aus den Tonrecherchen entsteht schließlich da musst du später hin ein Hörstück für den WDR. Klaus Wildenhahn, Gerd Haag (R), BRD 1978, Audio , 86 min, dt. OF Beiden Ansätzen ist gemein, dass sie sich neben 2500 Jahre Erzbergbau gehen nicht spurlos an Mensch spezifischen Arbeitsbedingungen auch für die vor- und Landschaft vorbei. Auf Tonband festgehalten: »Un- gefundene gewerkschaftliche Organisation vor Ort terhaltung, Erzählung, Geschichten, Geschichte.« Auch interessieren, sich allerdings damit konfrontiert se- in den fux Lichtspielen, Freitag, 17. April um 17 Uhr. hen, insbesondere auch von fehlender Organisation im Arbeitskampf berichten zu müssen. Und so zeigt Die Ausstellung kann während der Öffnungszeiten im sich hier wohl eine doppelte Lücke: Es sind fehlende Festivalzentrum besucht werden. Filme über einen immer wieder fehlenden Kampf. Donnerstag bis Sonntag, jeweils ab 10.30 Uhr 50 51 POSITIONEN

So Much I Want to Say Filmprogramm: Weibliche Autofiktion und Selbstermächtigung wird zur Chronik der Familie, zur Erforschung des FESTIVAL- Das Leben jedes Menschen ist eine Geschichte. Erst eigenen Vorkommens (Chan Hau Chun), belegt mit ZENTRUM als Erzählung erhält es Sinn. Der formgebende Ins- (found) Footage, dessen Echtheit ebenso vorgeblich FR 17.04. tinkt sortiert, unterdrückt, hebt hervor, verfeinert zu ist (Barrada) wie die Verlässlichkeit des Voice-overs 14 UHR einer Kontur. Nicht zur Wirklichkeit, sondern zu ei- (Prouvost). So sehr sie das Postulat der Authentizi- nem Konzept. Das weibliche ICH ist Knotenpunkt für tät demontieren, so sehr hadern sie mit dem gesell- kulturelle und geschlechtspolitische Verhältnisse. Es schaftlichen Entwurf des Weiblichen. Von der Über- setzt sich sprechend, schreibend, filmend zu sexis- setzung dieses Zweifels in ästhetische Strategien, die tischen, rassistischen, paternalen Festschreibungen multiperspektivische Subjektivitäten etablieren und ins Verhältnis. Es bezieht immer, auch als ästheti- die Scharniere zwischen Fakt und Fiktion lockern, da- scher Kunstgriff, Haltung. Es kann gar nicht anders: von möchte das Programm erzählen. Darüber wollen »So much I want to say«. Wir zeigen verschiedene wir reden. Mit Expertinnen und mit EUCH. KURATIERT Narrative weiblicher ICHs: queere (Reeves, Prodger), VON BIRGIT postkoloniale (Barrada, Hatoum) und solche, die mit Hand-Me Downs GLOMBITZA UND den propagandistischen Effekten des Mediums spie- Yto Barrada, MAR/F 2011, 15 min, engl. OF MARA MARXSEN len (Prouvost). Widerspenstige Autofiktionen, die die Measures of Distance Mona Hatoum, GB 1988, 16 min, engl. OF Verbindung zwischen Autorin, Erzählerin, Bild-Ton- 32+4 Ebene und Publikum durchtrieben infrage stellen. Chan Hau Chun, HK 2015, 32 min, OmeU Manches wirkt präsentisch, anderes meditativ oder Monsters in the Closet bewusst narzisstisch. Wer ein Bild hat, wird gese- Jennifer Reeves, USA 1993, 15 min, engl. OF hen, war da, kann sich gestalten, kann Subjekt und SaF05 Charlotte Prodger, GB 2019, 39 min, engl. OF Objekt seines Blicks sein (Reeves). Die Identität eines Dit Learn weiblichen ICHs wird aufgefächert (Hatoum). Filmen Laure Prouvost, BEL 2017, 16 min, engl. OF 52 53 POSITIONEN

Schwarze Wellen – panoramatisches Kino aus (Ex-)Jugoslawien

Filmprogramm B-MOVIE Filme sind wesentliche zeitgeschichtliche Dokumen- Von der »Schwarzen Welle« der 70er bis zur »Neuen SA 18.04. te einer Gesellschaft und werden dann besonders Belgrader Schule« der vergangenen Dekade versam- 18 UHR wertvoll, wenn das kollektive Gedächtnis zersplittert. melt das Programm vier singuläre dokumentarische Die komplexen politischen Zusammenhänge des Viel- Positionen aus dem ehemaligen Jugoslawien sowie GAST: MARKO völkergebildes Jugoslawien und seiner bewegten Ge- dem heutigen Serbien und Montenegro, die sich ent- GRBA SINGH schichte laden uns ein auf eine Wanderung durch die schlossen mit dem Bedürfnis nach Inszenierung und Landschaften und Räume des Balkans. Narration vermengen. Es sind Filme, deren Panoramen sich öffnen und uns KURATIERT VON so neue Perspektiven anbieten: etwa durch den Blick MARKO Oglav in die schwindelerregende Mittelachse eines Rund- Živko Nikolić, Jugoslawien 1977, 10 min, ohne Dialog MIJATOVIC UND blicks oder aufgetrennt und auf dem Filmstreifen neu Abdul & Hamza STEFFEN arrangiert, horizontal wie vertikal. Marko Grba Singh, SRB 2015, 50 min, OF GOLDKAMP Ob es um das Los eines Esels geht, um in Serbien Daljine Ivan Salatić, Jelena Maksimović, SRB/MNE 2014, 19 min, OF gestrandete Migrant*innen, um Liebende im Schat- Ljubav ten bedrohlich wirkender Monumente oder um den Vlatko Gilić, Jugoslawien 1972, 25 min, ohne Dialog konkreten Versuch, sich durch dokumentarische Mit- tel mit der eigenen Kindheit zu beschäftigen – dieses Kino erzählt vom Wandern zwischen verlorener und neuer Identität. 54 55 CARTE BLANCHE POSITIONEN Dokumentarische Fiktionen Zeit-Reisen Zwei Filme von Eva Könnemann Zwei Filme ausgewählt von Werner Ružička FESTIVAL- Werner Ružicka,ˇ langjähriger Leiter der Duisburger Das offenbare Geheimnis ZENTRUM Filmwoche, präsentiert seit 2019 seine Carte Blanche Eva Könnemann, D 2015, 29 min, OmeU DO 16.04. auf unserem Festival: In den Osten Brandenburgs, Bei einer Recherche über Ortswappen stößt die Regis- 14:30 UHR nach Bali. Hart an der Grenze zu Polen wird nach der seurin auf die kleine Gemeinde Emmelsum in NRW. Wende neu verteilt. Schäfereien etwa. Wilhelm, der Ihr Wappen zeigt eine große Biene auf grünem Grund. GAST: JOSIE Schäfer, hat keine Chance. Rücker erzählt seine Ge- Emmelsum hat rund 300 Einwohner*innen, war nie RÜCKER schichte, die auch die Geschichte eines abgewickelten selbstständig und besitzt keine besonderen Sehens- Staates ist. Blicke auf eine exotische »Trauminsel«. würdigkeiten. Ein Film über das Nichts. Nur die Exis- ›Balifilm‹ ist entstanden aus Bild- und Tonmaterial, tenz eines Binnenhafens lässt an eine Verbindung zu das Mettler auf Reisen Anfang der 90er gesammelt einer anderen, vielleicht größeren Welt glauben. hat: lyrische Beobachtungen, unterlegt mit indonesi- schen Bronze- und Holzinstrumenten. Der Beobach- Welt an Bord ter bleibt ein Fremder, lässt der Insel ihre Fremdheit. Eva Könnemann, D 2019, 29 min, OmeU Es ist eine Vergangenheit in diesen Filmen, die sich Als sei sie für die Aufnahmen sauber am Ufer auf- FESTIVAL- nicht historisch erschließt. Sie ergibt sich aus der Art gereiht worden, zieht die Welt in diesem Film vorbei. ZENTRUM des gewählten Materials, seines aufmerksamen Um- Hauptperspektive ist die einer Kamera an Bord eines SO 19.04. gangs mit den Menschen und Dingen. Seinem Ver- Frachtschiffs, und Binnenschiffer*innen berichten 15:45 UHR trauen auf die Essenzen von Film: Bilder und Töne. von ihrem einzigartigen Leben auf Fahrt. Eine Filme- macherin ist mit an Bord und will Teil dieser Welt wer- GAST: EVA Wilhelm, der Schäfer Josie Rücker, D 2004, 26 min, dt. OF den. Doch um was für eine Welt handelt es sich? Ist KÖNNEMANN Balifilm es eine vorgefundene oder doch eher eine erfundene Peter Mettler, CDN/Bali 1998, 29 min, ohne Dialog Welt? Und wo mag die Freiheit wohl am größten sein? 56 57 SPECIAL

In memoriam Robert Frank Paper Route Kurzfilmprogramm Robert Frank, CAN/CH 2002, 23 min, engl. OF An einem winterlichen Morgen, noch vor Sonnenauf- FESTIVAL- Am 9. September 2019 im kanadischen Nova Scotia gang, begleitet Robert Frank den Zeitungsausträger ZENTRUM verstorben, hinterlässt Robert Frank ein singuläres, Robert McMillan auf seiner täglichen Tour durchs SO 19.04. gleichsam bodenständiges wie erratisches Werk zwi- ländliche Nova Scotia, wo Frank über viele Jahre 12:30 UHR schen experimentellem Film, Fotografie und Schrift. selbst lebte. Die Kamera erkundet die Landschaft so- Als Fotograf bereits bekannt und erfolgreich, legt wie McMillans Begegnungen mit seinen Kund*innen. EINFÜHRUNG: Frank 1959 für einige Zeit die Fotokamera beiseite Aus dem Off führt Frank im Plauderton ein uferloses VOLKO und sagt: „Ich mache Filme. Jetzt spreche ich zu den Gespräch, einzig angetrieben vom Wunsch, das Leben KAMENSKY Leuten, die sich in meinem Sucher bewegen. Nicht der Menschen besser verstehen zu lernen. einfach und nicht besonders erfolgreich.“ Hunter Harry Smith at the Breslin Hotel 1984 Robert Frank (R), Stephan Balint (B), BRD 1989, 36 min, OmeU Robert Frank, USA 2017, 11 min, engl. OF „Es geht um einen Mann, dessen Bestimmung darin Als Allen Ginsberg 1984 erfährt, dass seinem Freund liegt, keine Bestimmung zu finden. (…) Ein Mann, der Harry Smith die Zwangsräumung im Breslin Hotel in befürchtet, dass er niemals finden wird, was seine Vor- New York bevorsteht, regt er Robert Frank an, den stellungskraft ihm zu suchen aufträgt; ein mystischer Auszug auf Video festzuhalten. Über eine Woche hin- Wanderer, der mit Zug und Auto (…) durch Sprache und weg präsentiert der exzentrische Maler, Filmema- Landschaft reist“, so Robert Frank zu seinem im Spät- cher, Musikologe, Anthropologe und Mystiker Smith sommer 1989 im Ruhrgebiet gedrehten Film, der sich vor laufender Kamera Objekte seiner üppigen Samm- sprunghaft-assoziativ zwischen Themen wie Faschis- lung: Kunst, Bücher, Filme, Feldaufnahmen indigener mus, Musikgeschichte, Prostitution und Rassismus Musik. 33 Jahre später entsteht aus den Aufnahmen bewegt. ein Film, der sich als Franks letzter erweisen wird. 58 59 SPECIAL

Peggy Parnass – Reiseführer durch 23 Tage im Mai Überstunden an Leben Klaus Wildenhahn, D 1993, 120 min, dt. OF Gerhard Brockmann, Jürgen Kinter, D 2018, 67 min, dt. OF FUX LICHTSPIELE Episoden aus 23 Tagen Streik in Brandenburg – dem Filmcollage über Peggy Parnass, Schauspielerin, Ge- FR 17.04. ersten seit 60 Jahren in Ostdeutschland. Auslöser richtsreporterin, Freigeist und unermüdliche Kämp- 14 UHR war der Verkauf der Elekro-Stahlwerke an den itali- ferin für Frieden und Gerechtigkeit. Der Abend ist der enischen Riva-Konzern durch die Treuhand. Auf den Erinnerung an Parnass’ Eltern Simon und Hertha ge- MIT RASMUS Anruf eines alten Gewerkschaftsfreundes hin fuhr widmet, die von den Nazis in Treblinka ermordet wur- GERLACH UND Klaus Wildenhahn mit Kameramann Klaus Groth den. Als Kind musste sie miterleben, wie die Familie GÄSTEN nach Brandenburg. Am ersten Mai drehen sie Stepp- am frühen Morgen auf Viehwagen in die Polizeikaser- FESTIVAL- tanz im Frack, nach 20 Tagen Streik filmen sie den ne in Altona verschleppt, ihr Vater dann am 28. Okto- ZENTRUM Kung-Fu-Film ›Das Schwert‹ bis 1 Uhr nachts im ber 1938 von der Exerzierhalle der Viktoria-Kaserne FR 17.04. Streiklokal. Dann wieder Alltag des Streiks: Streiken- aus im Rahmen der sogenannten Polenaktion an die 19 UHR de und Arbeitswillige prallen am Werktor aufeinan- polnische Grenze deportiert wurde. 17.000 polnische der, dazwischen Lkw-Fahrer und Kranführerinnen – Juden und Jüdinnen ohne deutschen Pass sind da- GÄSTE: PEGGY Frauenberuf noch, mit der Wende ruckzuck raus. Die mals gewaltsam aus Deutschland vertrieben worden. PARNASS, Jungen werden umgeschult, die Alten freigesetzt. Am 1939 kam Peggy mit ihrem Bruder Gady mit den Kin- GERHARD BROCK- Anfang und Ende dieses schwarz-weißen Dokumen- dertransporten nach Schweden und lebte später bei MANN, JÜRGEN tarfilms steht das gleiche Bild: ein leicht schäbiger einem Onkel in London. Nach ihrer Rückkehr nach KINTER Raum einer Kneipe in Brandenburg. Man tanzt etwas Hamburg hat sie sich mit vielen Aktivitäten in die Ge- ungelenk zu Popmusik – der Streik ist vorbei. schichte der Hansestadt eingeschrieben.

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Enthusiasmus (Donbass-Sinfonie) Festivalzentrum Dziga Vertov, Sowjetunion 1931, 65 min, OmeU 1931 wurde der erste sowjetische Tonfilm erstmals Erneut sind wir in der frappant Galerie im fux. Hier METROPOLIS vollständig aufgeführt: Vor 1800 Arbeiter*innen zeig- steht unser Infocounter, wir haben die Installation FR 17.04. te Vertov, der auch eine Rede auf Jiddisch hielt, in der Friedl/Horelli/Wildenhahn aufgebaut, und in der von 21:30 UHR Schauburg an der Reeperbahn ›Enthusiasmus‹ – dort uns eingerichteten Vorführung finden die meisten wo nun die »Tanzenden Türme« stehen. Einen Monat Diskussionen und Lectures aus der Reihe Positionen GAST: PETER später wird der Film vom SPD-Reichsinnenminister und der Retrospektive statt. Auch einige der Specials KUBELKA verboten. Seither zerfiel die Filmkopie. Die ›Donbass- haben dort ihren Platz oder in den fux Lichtspielen Sinfonie‹ bringt industrielle Klänge sowie Blicke in einmal die Treppe rauf. Das kleinste Kino Hamburgs die Arbeitswelt im Donbass-Becken in Einklang: auf ist seit dem vergangenen Jahr unser viertes Fes- der Straße, vor Stahlkochern und Dreschmaschinen, tivalkino. Achtet auf Aushänge und checkt Social Close-ups von Arbeiter*innen – mit einer Besonder- Media: Bei großer Nachfrage wiederholen wir dort heit: Es fehlt das sozialistische Pathos. Die Kamera ausgewählte Filme. Das Festival der kurzen Wege: macht übermütige Sprünge. Die Montage bekommt Viele der internationalen Gäste logieren bei dock eu- ein Maschinenballett zustande. rope, essen in der cantina fux&ganz, und am Ende Peter Kubelka aus Wien ging ab 1972 daran, den Film sacken wir alle ab im Keller! in seiner experimentellen Form weiterzuführen, mit einer leichten Verschiebung von Bild und Ton („Re- Festivalzentrum Synchronisation“) statt nüchterner Wiederherstellung. frappant Galerie, fux eG, täglich ab 10.30 Uhr Für einen intensiveren Blick auf die Geschichte dieses dokfilmclub Films und seine Restaurierung bieten wir am Sams- Keller, fux eG, täglich ab 22 Uhr tag, 18. April um 16 Uhr ein Gespräch von Rasmus fux eG Gerlach mit Peter Kubelka im Festivalzentrum an. Bodenstedtstraße Ecke Zeiseweg, 22765 Hamburg 6262 63 dokfilmclub Support your local festival Warum und zu welchem Ende schauen wir Dokumen- Die freund*innen der dokumentarfilmwoche ham- tarfilme? Warum haben wir noch kein Dokflix gegrün- burg sind ein gemeinnütziger Verein für Dokumen- det? Warum können manche keinen Slot gönnen? tarfilminteressierte, die unser Festival unterstützen Der Ort, wo Antworten auf nicht gestellte Fragen wollen. Das können Tätigkeiten beim Festival sein, ihr tief im Glas zu finden sind, liegt mal wieder im Keller. könnt mit Ideen oder Ressourcen helfen. Gern darf Donnerstag bis Samstag, ab 22 Uhr im Keller fux eG überdies in gestaltender Rolle mitgetan werden. Der freund*innenverein hat sich zudem vorgenommen, DO: Linus & Sven über das Jahr einige Veranstaltungen und Screenings FR: Zitterpartie X dokumentarfilmwoche von Dokumentarfilmen zu organisieren. Wer Interes- Philomεnon, Pistol Pete, Zitroni se hat, spricht das Team beim Festival an oder meldet SA: Frau Kraushaar, sich unter [email protected]. Argumentepanzer aka Ted Gaier, face*

Kinos / Tickets

EINTRITTSPREISE: 8 € / 6 € ERM. dh Kleine Theaterstr. 10 Gaußstr. 25 FESTIVALPASS: www.metropoliskino.de www.lichtmess-kino.de 35 € / 25 € ERM. fd freund*innen der dokumentarfilmwoche hamburg Bodenstedtstraße Ecke Zeiseweg Brigittenstr. 5 www.fux-lichtspiele.de www.b-movie.de 64 65 Filmindex A-Z

32+4 ...... 53 Night Passage ...... 43 Impressum Filmauswahl und Organisation: A Tale of Love ...... 41 Oglav ...... 55 dokumentarfilmwoche hamburg e. V. Francesca Bertin, Tim Gallwitz, Abdul & Hamza ...... 55 Paper Route ...... 59 c/o fux eG, Bodenstedtstr.16, Rasmus Gerlach, Felix Grimm, At the Bottom of the Sea ...... 32 Peggy Parnass – 22765 Hamburg Maren Grimm, Sam Heinrichs, At the Margin ...... 10 Überstunden an Leben ...... 61 [email protected] Volko Kamensky, Johanna Klier, Border South ...... 9 Persistence ...... 28 www.dokfilmwoche.com Sophie Peterson, Malte Rollbühler, Campo ...... 15 Piqueuses ...... 30 Bernd Schoch Color-blind ...... 19 Present.Perfect...... 13 Redaktion: Tim Gallwitz Daljine ...... 55 Property – Bildredaktion: Annika Börm Gästebetreuung: Francesca Bertin Das offenbare Geheimnis ...... 57 Träume von Räumen ...... 23 Grafik: Felix Grimm Website: Claudia Wondratschke Delphine et Carole, insoumuses ...... 20 Purple Sea ...... 24 Social Media: Sophie Peterson Diary of an Organism ...... 11 Ralfs Farben ...... 16 V.i.S.d.P.: Felix Grimm Presse: Antje Strohkark Dit Learn ...... 53 Reassemblage ...... 7 Druck: Drucktechnik Altona Kopienlogistik: Thorkil Asmussen Eine Seltenheit sind Uhren Reiseführer durch Übersetzungen: Maren Grimm, Sam und Landschaften ...... 18 23 Tage im Mai ...... 60 Texte: Alejandro Bachmann, Tim Heinrichs, Sophie Peterson Enthusiasmus (Donbass-Sinfonie) .. 62 SaF05 ...... 53 Fleischwochen ...... 17 Shedding Details ...... 51 Gallwitz, Rasmus Gerlach, Felix Forgetting Vietnam ...... 45 Shoot for the Contents ...... 39 Grimm, Maren Grimm, Sam Heinrichs, Fotonachweise: Hand-Me Downs ...... 53 Sie ist der andere Blick ...... 31 Volko Kamensky, Johanna Klier, S.58: Philip Brookman Harry Smith at the Breslin Space Dogs ...... 33 Sophie Peterson, Malte Rollbühler, S.59: Robert Frank, distributed by The Hotel 1984 ...... 59 Surname Viet Given Name Nam ...... 40 Bernd Schoch, Mark Stöhr Museum of Fine Arts, Houston Hunter ...... 58 Taste of Hope ...... 14 If It Were Love ...... 27 That Which Does Not Kill ...... 29 Just Don’t Think I’ll Scream ...... 25 The ‘Frontier’ Owners ...... 51 Die dokumentarfilmwoche hamburg wird unterstützt durch: Knittelfeld – Stadt ohne Geschichte 49 The Fourth Dimension ...... 44 Last Night I Saw You Smiling ...... 26 The Last Painting ...... 18 Ljubav ...... 55 Transit Circle...... 11 Measures of Distance ...... 53 Un film dramatique ...... 12 Monsters in the Closet ...... 53 Welt an Bord ...... 57 Nach zwei Sunden waren zehn Who Is Afraid of Ideology? ...... 21 Minuten vergangen ...... 6 Wunderschein ...... 19 Naked Spaces – Living Is Round ...... 38 Zustand und Gelände ...... 22 66 67 drucktechnikaltona große rainstraße 87 | 22765 hamburg-altona telefon 040.393201 | fax 040.39900897 [email protected] | drucktechnik-altona.de