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Sendung vom 21.07.1999

Dr. Brigitte Hamann Historikerin im Gespräch mit Jürgen Martin Möller

Möller: Zu Gast bei Alpha-Forum ist heute die Wiener Historikerin Brigitte Hamann. Frau Hamann, wenn man sagt "Wiener Historikerin", dann trifft das in Ihrem Fall eigentlich nur in Maßen zu, denn Sie sind gebürtige Westfalin. Oder doch Rheinländerin? Hamann: Ja, ich bin Westfalin, meine ganzen Vorfahren stammen aus Westfalen. Deswegen habe ich mich auch immer so geniert: Ich hätte gerne einen wirklich bunten Stammbaum gehabt, aber leider Gottes ist es nun einmal so, wie es ist. Möller: Sie haben nun Ihr ganzes Leben als Erwachsene in Wien verbracht, aber schon im ersten Satz hört man, daß Sie die Sprache noch nicht so richtig angenommen haben. Hamann: Das hat einen ganz einfachen Grund. Ich habe mich in der ersten Zeit sehr bemüht, Wienerisch zu reden. Da haben mich aber alle Leute immer nur ausgelacht, weil ich das falsch gemacht habe. Da dachte ich mir dann: "Habt's mich gern, ich habe keine Lust mehr, mich anzustrengen, jetzt spreche ich so, wie ich bin." Leider wird das immer stärker, je älter ich werde, und darum ist das vielleicht auch nicht unbedingt die beste Methode, sich in Wien beliebt zu machen. Aber es ist nun einmal so: Man kann eben die eigene Geschichte nicht so stark verleugnen. Ich muß aber dazu sagen, daß ich mit 20, 21 Jahren nach Wien gekommen bin. Möller: Sie sind studienhalber nach Wien gekommen? Hamann: Ja, ich wollte zwei Kultursemester machen. Ich habe also in Münster studiert, wie das für Westfalen so üblich ist, und wollte dann zwei Kultursemester machen. Damals sind die meisten Kommilitonen – im Rahmen der deutsch-französischen Freundschaft – nach Paris gegangen. Ich wollte aber nach Wien. Dorthin bin ich eigentlich nur deshalb gegangen, weil Karajan damals der Direktor der Oper in Wien gewesen ist und ich wenigstens einmal Musik nicht in der sogenannten Provinz, sondern dort erleben wollte, wo Karajan arbeitete. Ich bin dann auch praktisch jeden Abend in die Oper oder in den Musikverein gegangen: Das war schon eine schöne Zeit für mich, diese zwei Semester. Ich habe da aber auch sehr tüchtig studiert. Ich habe sehr fleißig Scheine gemacht, weil ich rasch fertig werden wollte. Dabei habe ich dann auch meinen Mann kennengelernt. Möller: Sie haben Ihre Scheine in Germanistik und in Geschichtswissenschaft gemacht. Hamann: Damals war eigentlich noch die Germanistik mein Hauptfach gewesen, denn wir hatten in Münster dafür doch sehr gute Professoren gehabt: vor allem gab es damals dort noch Jost Trier. In Wien war dann die Germanistik freilich nicht so toll, und so bin ich mehr in die Geschichte hineingekommen. Außerdem ist es ja so: Wenn man in Wien lebt, dann kommt man doch zwangsläufig auf die Geschichte. Wien hat mich als Stadt fasziniert, das muß ich ganz ehrlich sagen. Ich hatte damals eine richtige Wien-Manie: Ich habe mir wirklich alles angeschaut. Das habe ich so gründlich gemacht, daß ich dann immer viel mehr wußte als die Wiener Studenten selbst. Denen mußte ich dann immer beibringen, wo was ist und in welcher Kirche Beethoven eingesegnet worden ist usw. Ich habe mir in der Zeit die komischsten Sachen angelesen und auch angeschaut. Das heißt, in der damaligen Zeit hing bei mir diese Wienbegeisterung schon auch mit einer Geschichtsbegeisterung zusammen. Obwohl man eigentlich von Geschichtsbegeisterung gar nicht so richtig sprechen kann: Aber ich hatte doch ein starkes Interesse für die Geschichte, das tatsächlich erst in der Wiener Zeit so recht in mir geweckt worden ist. Von der Zeit an war dann Geschichte mein Hauptfach. Möller: Sie machten das sogar mit einer Fokussierung, zu der man etwas spitzzüngig sagen könnte: Sie betrieben österreichische Geschichte mit deutscher Gründlichkeit – in einem guten Sinne. Hamann: Ich weiß nicht, man darf nicht immer so tun, als wären die Deutschen gründlich und die Österreicher schlampig. Das hört man sehr häufig, aber das stimmt natürlich nicht, wie wir alle wissen: Das ist ja klar, denn so etwas hängt ganz einfach von den jeweiligen Individuen ab. Aber ich hatte eigentlich von Anfang an immer einen etwas anderen Blick auf die österreichische Geschichte als die "eingeborenen" Österreicher. Das hat man mir oft vorgeworfen, aber das ist ja etwas ganz Natürliches: Wenn man als Erwachsener und Fremder – ich kannte in Wien ja keinen Menschen, als ich dorthin gegangen bin – in ein Land kommt, dann sieht man dieses Land natürlich auch mit weniger Scheuklappen, mit weniger Traditionen und mit weniger Legenden überfrachtet, die man ansonsten im Hinterkopf mit sich herumtragen würde. Man betrachtet so ein Land dann nüchterner und eben als Fremder. Ich glaube, daß die Distanz für die Geschichtsforschung unglaublich wichtig ist, daß man eigentlich als Fremder zu einem Thema kommen sollte, um auch die Möglichkeit zu haben, gegenüber der Tradition eine Spur objektiver sein zu können. Ich glaube auch heute noch, daß das richtig ist und daß man es nicht so machen sollte, wie das zum Teil heute noch in Österreich üblich ist: daß man als sozialdemokratischer Historiker sozialdemokratische Geschichte macht und daß man als christlich-sozialer Historiker christlich-soziale Geschichte macht. Dort ist dann nämlich alles aufgeteilt, und ein jeder hat seine eigenen Mythen im Kopf. Ich glaube, die wichtigste Aufgabe eines Historikers besteht doch darin zu sehen, wo Mythen vorhanden sind, und dann nachzuweisen, daß diese Mythen nicht stimmen und wie die Wirklichkeit tatsächlich war. Ich weiß sehr gut, daß man das nicht hundertprozentig nachweisen kann. Aber es geht doch darum, daß man die Wahrheit wieder ans Licht bringt und daß man nach besten Kräften beweist, daß diese Mythen nicht stimmen. Diese Einstellung liegt eigentlich meiner ganzen Arbeit zugrunde. Damit habe ich mich gegen den normalen Trend in Österreich am Anfang nur eher schwer behaupten können. Aber jetzt geht das schon besser. Möller: Darauf wollte ich vorhin auch hinaus: Denn natürlich ist auch die deutsche Gründlichkeit zum Teil genauso ein Mythos wie die österreichische Schlamperei. Ihre ganze Arbeit als historische Publizistin – wenn ich Sie einmal so bezeichnen darf – könnte man eigentlich unter den Sammelbegriff stellen, daß Sie bequeme Legenden und Mythen ganz einfach durch Genauigkeit und durch gründliche Recherche zum Teil auch sehr gründlich kaputt gemacht haben. Hamann: Das ist bei mir auch so eine Art von Gerechtigkeitssinn, daß ich mir sage: In der Geschichte sind oft und häufig die falschen Leute hochgejubelt worden, und die falschen Leute wurden zu Verbrechern gemacht. Ich habe meine Dissertation ja erst sehr spät gemacht, als ich nämlich schon drei Kinder hatte und Hausfrau war. Ich nahm mir dafür den Kronprinzen Rudolf vor. Das ist also jener, den man immer mit Mayerling zusammenbringt. Ich wollte damit einerseits ganz in die österreichische Geschichte einsteigen, weil ich damals auch noch das Gefühl hatte, ich müßte eigentlich so sein, wie die anderen: Ich bin sehr gerne in Wien, und ich wollte beweisen, daß ich auch dazugehöre und eine gute Österreicherin und Wienerin bin. Ich bin das nie geworden, aber damals wollte ich das wirklich beweisen. Ich habe festgestellt, daß dieser Rudolf in der Geschichte immer nur wegen seiner Liebesgeschichte mit Mary Vetsera auftauchte - da gibt es ja auch diese Unzahl von schrecklichen Filmen um diese Person – und er deswegen einfach unter seinem Wert verkauft worden ist. Ich habe gesehen, daß da ein ganz interessanter Liberaler des 19. Jahrhunderts mit sehr zukunftsweisenden Ideen aufgetreten ist, der eine Hoffnung für viele Leute darstellte, die mit diesem monarchischen System nicht mehr einverstanden waren. Möller: Er war ein scharfer Kritiker dieser monarchischen Zustände. Hamann: Ja, er war auch ein böser Kritiker des Adels und der Aristokratie. Er war ein Freund des Bürgertums, der sich auch wirklich besonders an jüdische Journalisten angelehnt und sie sozusagen zu seinen Ersatzvätern ernannt hat. Das stellte natürlich in den Begriffen des habsburgischen Hofes eine Ungeheuerlichkeit dar. Das genau ist es: Man hat als Historiker die Verpflichtung, in der Geschichte auch einmal danach zu suchen, ob es Leute gibt, die es wert sind, aus der Versenkung hervorgeholt oder anders dargestellt zu werden. Das habe ich ja später auch mit Berta von Suttner versucht, einer wirklich sehr bedeutenden Frau der österreichischen Geschichte z. B. im Hinblick auf die Friedensbewegung. Möller: Und Sie haben das auch mit Rudolfs Mutter gemacht, der doch so lang und breit verkitschten Sissi. Hamann: Ja, das hatte mich auch geärgert. Ich wollte eigentlich nie etwas über Elisabeth schreiben. Jetzt komme ich nun doch auch auf die Quellen zu sprechen, die bei mir immer sehr wichtig sind. Ich hätte mich nie im Leben mit der Kaiserin Elisabeth beschäftigt – das wurde dann übrigens mein erfolgreichstes Buch –, weil mich dieser ganze Kitsch immer schon so gelangweilt hat. Ich habe mir immer gedacht: "Um Gottes willen, über die würde ich ja nie etwas schreiben wollen." Ich hatte ja zuerst einmal das Rudolf-Buch geschrieben. Von Rudolf aus gesehen, ist Elisabeth doch eher sehr negativ zu beurteilen, weil sie sich um dieses Kind nie gekümmert hatte: Obwohl das ein Sohn war, der ihr so sehr ähnlich war. Im Zuge meiner Recherchen zum Rudolf-Buch habe ich allerdings in Bern das poetische Tagebuch der Elisabeth gefunden. Ich suchte eigentlich nach dem verlorengegangenen Abschiedsbrief aus Mayerling, den Rudolf kurz vor seinem Tod an seine Mutter geschrieben hatte. Dieser Brief ist wohl zerstört worden, aber ich hatte ihn trotzdem immer noch gesucht und gesucht und gesucht. In Bern habe ich dann dieses geheimnisvolle Kästchen in die Hand bekommen. Da hatte ich dann eine Quelle, und da habe ich gesehen: Um Gottes willen, Elisabeth ist ja gar nicht so, wie man sie darstellt. Sie war vor allem später, in ihren fünfziger Jahren, eine sehr komplexe und sehr schwierige Frau. Da mußte ich dann ganz einfach diese Biographie schreiben. Möller: Da fragt man sich zunächst einmal, wie es dazu kommt, daß der Nachlaß einer österreichischen Kaiserin in die Schweiz gelangt und nicht in irgendeinem Wiener Hof- und Staats- und Geheimarchiv versenkt worden ist. Hamann: Gerade das ist ja das Lustige. Elisabeth hat gewußt, was mit den Papieren ihres Sohnes geschehen war nach dessen Tod, nach Mayerling: Die wichtigen Sachen wurden alle vernichtet. Sie hat gefürchtet, daß ihre eigenen Papiere in Wien ebenfalls nicht sicher wären - womit sie völlig recht gehabt hat. Denn das, was sie in ihren Gedichten geschrieben hat, richtete sich ja ebenfalls gegen die Wiener Aristokratie, gegen den Wiener Hof, ja sogar gegen die habsburgische Kaiserfamilie, also gegen ihre eigenen Verwandten. Sie war ja auch eine Oppositionelle, die aus Wien geflohen war, weil sie sich dort nicht wohl gefühlt hat. Sie hat von den Habsburgern als der "verkommenen Brut" geschrieben usw. Sie hat ganz genau gewußt, daß dieser Nachlaß in Wien nicht überleben würde. Sie hat ihn in die Hände einer Republik gegeben, in vollem Bewußtsein, was sie da macht – denn in der Schweiz war er sicher. Sie gab ihn persönlich an den Schweizer Bundespräsidenten. Der sollte ihr dann wenigstens posthum Gerechtigkeit widerfahren lassen, indem er dafür sorgen sollte, daß diese Gedichte gemäß ihrem Willen im Jahr 1950 veröffentlicht werden. Aber leider Gottes ist dieses Kästchen dann in der Versenkung verschwunden und in Vergessenheit geraten. Ich habe es dann wiedergefunden. Möller: Wenn man sich Ihre Bücher ansieht, die ja eine sehr große Bandbreite abdecken, dann fällt ein gemeinsamer Nenner auf: Sie schreiben Biographien. Das ist etwas, was in der Historikerzunft über lange Jahrzehnte hinweg eigentlich eher verpönt war. Es wurde gesagt, das sei unzureichend, das sei zu oberflächlich, das sei zu populistisch. Es zeigt sich aber, daß man über Biographien sehr viel Hintergrund und Zusammenhänge erklären kann und daß man das vor allem einem größeren Publikum erklären kann. Wie sind Ihre Erfahrungen hinsichtlich der Rezeption Ihrer Bücher in der Öffentlichkeit? Hamann: Das wollte ich von vornherein so machen. Ich hatte mir sehr lang und breit überlegt, wie man Geschichte auch an eine große Öffentlichkeit bringen kann, denn vor meiner Heirat – das ist so eine Art von Vorleben, das ich hatte – erfuhr ich doch eine sehr gute journalistische Ausbildung: Ich war immerhin zehn Monate lang Redakteurin bei einer deutschen Tageszeitung gewesen. Meine Karriere war also wirklich sehr kurz, weil ich dann geheiratet habe. Mein Mann war Historiker und an der Universität in Wien Professor für die frühe Neuzeit, also das 16. Jahrhundert: ein unglaublich belesener und interessanter Mann. Aber er war doch, wenn ich dieses platte Wort hier verwenden darf, in einem sehr vornehmen Elfenbeinturm gefangen. Er hat unglaublich gelehrte Sachen geschrieben. Ich habe ja auch mit ihm über viele Jahre zusammengearbeitet: Das heißt, ich war so eine Art Privatsekretärin und habe für ihn getippt – mehr war das nicht. Ich habe dagegen immer Opposition gemacht, weil ich gesagt habe: Das sind so interessante Themen, das ist doch eigentlich unsozial, wenn man so wichtige und unglaublich spannende Geschichten nur für sich behält und höchstens einmal für zwei Kollegen, die das verstehen, einen gelehrten Artikel schreibt – und die das dann sowieso kritisieren. Man hat als Historiker doch eine Verpflichtung, über das Geschichtsbild der Öffentlichkeit zu wachen und das nicht nur ein paar Journalisten zu überlassen, die sich nur auf Sekundärliteratur stützen können. Denn schon aus Gründen der Zeiteinteilung können Journalisten gar nicht anders vorgehen. Das war dann auch meine Motivation, selbst zu schreiben: Das geschah aus dieser Opposition heraus, denn die Dissertation sollte mein erstes Buch sein. Ich hatte nämlich noch keine Dissertation, weil ich dazu noch nicht gekommen war. Ich hatte drei Kinder, saß zu Hause und wollte meinem Mann beweisen, daß man wissenschaftlich arbeiten und gleichzeitig viele Leser haben kann. Das war damals noch in den siebziger Jahren, also in der Hochzeit der soziologischen Geschichtsauffassung: Jeder, der etwas auf sich hielt, hat in seinen Büchern und Artikeln Tabellen veröffentlicht und das Ganze in Soziologendeutsch verfaßt. Es sind dabei auch keine Namen vorgekommen: Daher brauchte man auch kaum noch Namensregister in den Büchern. Ich habe mir freilich gedacht, daß mir das völlig egal ist, denn ich hatte sowieso keine Beziehung zur Universität, das geschah - wenn überhaupt - nur über meinen Mann. Ich dachte mir damals, daß mir das, was da gemacht wird, eigentlich gleichgültig ist: Ich selbst wollte demgegenüber Bücher schreiben, die zunächst einmal den Standard erfüllen. Denn mein Mann hat immer gesagt, er geniert sich mit mir, wenn ich so journalistisch schreibe. Es war also schon auch klar, daß ich meinen Mann nicht blamieren durfte: Das heißt, ich mußte also wissenschaftlich ordentlich arbeiten. Deswegen habe ich das erste Buch auch gleich als Dissertation angelegt: Die Dissertation war jedoch 1000 Seiten dick, und das Rudolf-Buch habe ich auf 500 Seiten zusammengestrichen. Das habe ich so zusammengestrichen, damit allein dieser Umfang die Leser nicht sofort zu sehr erschreckt. Ich wollte also beweisen, daß das möglich ist. Deswegen galt ich in Wien – das Buch wurde auch gleich ein Erfolg – immer so ein wenig als anrüchige Person: Ein Historiker darf nicht so schreiben wie Frau Hamann! Das habe ich dann aber doch ziemlich lange durchgehalten, weil ich einfach der Überzeugung bin, daß es auch einen solchen Weg geben muß. Ich will ja gar nicht sagen, daß nun alle Historiker plötzlich Biographien schreiben sollen. Aber diese Rigorosität, mit der man in den siebziger Jahren gesagt hat, daß Biographien unwissenschaftlich seien, habe ich mit meinem westfälischen Dickschädel einfach nicht eingesehen. Ich habe mir gedacht, daß ich das so schreiben will, wie ich das will. Wenn ich an der Universität hätte Karriere machen wollen, dann hätte ich mir das nicht leisten können. Aber ich saß ja "nur" zu Hause bei meiner Kinderschar und habe mir gesagt: Ich mache das jetzt so, wie ich mir das vorstelle, und ich möchte dafür auch Leser haben. Ich hatte tatsächlich so eine Art von Sendungsbewußtsein: Ich wollte den Leuten beweisen, daß Rudolf wirklich eine interessante historische Figur ist. Und das habe ich dann auch geschafft. Man braucht natürlich sehr viel Dickköpfigkeit dazu, weil man damit zwar Leser finden kann – die ich tatsächlich gefunden habe –, aber in der sogenannten Fachwelt galt ich immer als sehr unseriös. Da habe ich mir dann nur gedacht: Das sollen sie ruhig alle behaupten, ich mache doch das, was ich will. Möller: Die Protagonisten Ihrer früheren Bücher waren die Habsburger. Hamann: Da bin ich aber nur hineingerutscht, denn ich war wirklich nie ein Habsburger-Verehrer. Ich wollte ursprünglich nur die Rudolf-Biographie machen, aber dann habe ich ja ständig Quellen gefunden. Als ich dann auch noch das Elisabeth-Tagebuch gefunden habe, mußte ich ganz einfach eine Elisabeth-Biographie schreiben. Dann habe ich etwas von Max von Mexiko gefunden, und ich mußte etwas über Max schreiben. Es war so, daß ich diese Biographien nicht nur aus der Sekundärliteratur heraus machen, sondern daß ich aus den Originalquellen heraus arbeiten wollte. Wenn man dann ständig Quellen findet, dann wird man ständig auf solche Themen gestoßen. Und auf einmal war ich Habsburger-Spezialistin, obwohl ich mich so nie gefühlt hatte - ganz einfach, weil kein anderer da war. Möller: Aber die Tatsache, daß diese Bücher als Bücher so gut gelaufen sind, zeigt ja auch, daß für diese Art der Darstellung ein öffentlicher Bedarf vorhanden war. Hamann: Das habe ich ja immer gesagt. Man darf ja die Leute nicht für dumm verkaufen: Sie wollen wirkliche Information haben, sie wollen ja nicht irgendwelche Märchengeschichten hören. Sie sind ja daran interessiert, möglichst wahr an die Geschichte heranzukommen – zumindest meine Leser wollen das so. Ich bin ganz stolz darauf, daß ich damals sogar das Habsburger-Lexikon ohne einen Schilling an staatlicher Subventionierung gemacht habe: Das war ein biographisches Lexikon sämtlicher Habsburger vom elften Jahrhundert an. Ich konnte das frei produzieren und verkaufen, weil es so gut aufgemaschelt war, wie man in Wien sagt. Das heißt, da sind schöne Bilder drin, man kann sich vorstellen, wie diese Leute ausgesehen haben, und man kann ganz einfach auch hin und her blättern. Ich selbst habe schon als Kind immer sehr gern im Lexikon gelesen, weil man darin immer so schön hin und her springen konnte: In diesem Fall, also in diesem Lexikon, vom Vater zur Mutter und weiter zur Schwiegertochter usw. Man kann von einer historischen Figur zur anderen springen. Möller: Wie erträgt es das manchmal etwas fragile österreichische Selbstbewußtsein, daß sich da eine Piefkinesin an die Heiligtümer der Nation macht und zur Fachfrau für die Habsburger aufsteigt? Ich habe gelesen, daß es inzwischen schon so ist, daß Angehörige des Hauses Habsburg zu Ihnen kommen, um sich über Details zu informieren. Hamann: Na, sowieso. Es war am Anfang schwierig, aber ich war ja auch gar nicht so in der Wiener Gesellschaft drin: Dazu hatte ich viel zu viel zu tun. Sie müssen sich vorstellen, ich hatte einen Sechs-Personen-Haushalt zu führen: meine Schwiegermutter, die schon sehr alt war und die bei uns im Haus gelebt hat, mein Mann und die drei Kinder. Ich hatte überhaupt keine Zeit, mich um Leute drum herum zu kümmern. Ich wollte das dann ab einem bestimmten Zeitpunkt auch gar nicht mehr, denn die Wiener Gesellschaft ist ganz klein, und ein jeder kennt da jeden. Darin wollte ich nicht zu sehr involviert sein. Ich wollte nämlich ein wenig meine Außenseiterposition halten, um meine Objektivität möglichst aufrechterhalten zu können. Ich weiß, daß es diese Objektivität nicht zu hundert Prozent gibt, aber ich wollte doch meine Distanz bewahren. Natürlich gab es auch immer wieder Vorwürfe in der Richtung, und das Wort "Piefke" verfolgt mich heute noch - besonders nach dem Hitler-Buch, das ist ja ganz klar. Möller: Darauf wollte ich nun gerade zu sprechen kommen. Wenn man so will, dann war Ihre Behandlung der Habsburger ja gesellschaftlich gesehen immer noch im "grünen Bereich", denn... Hamann: Nein, das war damals gesellschaftlich nicht im "grünen Bereich", denn im Rudolf- wie im Elisabeth-Buch ist z. B. Kaiser Franz Joseph nicht sehr gut weggekommen. Aber genau der ist ja nun ein großes österreichisches Heiligtum. Da wurde dann schon gesagt: "Die Hamann hat wieder etwas Fürchterliches über den Franz Joseph gesagt." Das hat mir damals sehr geschadet. Möller: Gut, so gesehen kann man sagen, daß das unter den verschärften österreichischen Bedingungen noch im gelben Bereich war. Sie sind dann aber wirklich in den roten Bereich gegangen: Was hat Sie denn veranlaßt und mit welchen Überlegungen sind Sie an dieses Thema herangegangen: "Hitlers Wiener Jahre und Hitlers Prägung durch seine Wiener Jahre"? Was hat Sie veranlaßt, das einmal wirklich zu recherchieren und nicht nur erneut das abzuschreiben, was bisher dazu von einem Hitlerforscher auf den anderen tradiert worden ist? Hamann: Erstens habe ich gesehen, daß es da eine klare Lücke in der Forschung gibt: Das hat ja niemand vorher gemacht. Das heißt, es hat wirklich einer vom anderen abgeschrieben – und die meisten haben sogar nur aus "Mein Kampf" abgeschrieben. Aber das ist keine historische Quelle in dem Sinn, was Hitler dort über seine Jugend erzählt: Denn das stimmt eben meistens nicht. Der erste Schritt besteht also darin, daß man eine Forschungslücke sieht. Dann habe ich dieses Thema praktisch 20 Jahre lang mit mir herumgetragen und mich nicht getraut, das zu machen. Aber ich hatte natürlich auch immer noch andere Sachen zu schreiben. Das Thema hatte mich ursprünglich gepackt während meiner Dissertation, also während der Arbeit am Rudolf-Buch. Denn dabei habe ich mich mit den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts beschäftigt: Da kam Lueger vor, da kam Schönerer vor. Schönerer hat sich anreden und anjubeln lassen als "Heil, dem Führer". Das Begrüßungszeichen der Alldeutschen war "Heil", und ihr "Führer" war Georg Ritter von Schönerer. Es gab bei den Versammlungen der Schönererianer diese Schilder mit der Aufschrift "Eintritt für Juden verboten!" oder "Nur für Deutsche". In Österreich war es sehr wichtig, Deutsche gegenüber den Ungarn, den Tschechen, den Slowaken und all den anderen abzugrenzen. Es gab den Lueger mit seinem Schriftzug "Kauft nicht bei Juden", mit seinem Auftreten als Volkstribun, und es gab sein Ausgrenzen einer kleinen Minderheit in Wien, eben der Juden, um die Masse der anderen Wiener, die auch aus vielen Einwanderern bestand, enger zusammenzuschweißen. Deswegen hat man eine Minderheit aufgebaut, die angeblich gefährlich war: Das waren die Juden – ob sie nun reich waren oder arm. Während des Schreibens am Rudolf-Buch vor 20 Jahren – das Buch erschien 1978 – bin ich auf dieses Thema gekommen. Ich habe mir gedacht, mein Gott, dieses "Heil dem Führer" hat es also damals schon gegeben. Das Hakenkreuz wiederum gab es damals bereits bei den Liszt-Jüngern. Ich bin eigentlich durch diese Zeichen und diese Formeln darauf gekommen, daß Hitlers Wurzeln doch sehr viel stärker in Wien anzusiedeln sind, als man sich das in der Literatur überhaupt vorstellt. Ich habe mir daraufhin die ganze biographische Literatur über Hitler – Sie wissen, wie viele Bücher es über Hitler gibt – angesehen und dabei festgestellt, daß darüber nirgends etwas geschrieben steht. Ich habe gesehen, daß das, was da geschrieben wurde, oft der blanken Phantasie entsprungen ist. Meistens wird das sowieso nur ganz kurz abgehandelt: So wie man sich Wien zu der Zeit eben vorstellt. Möller: In dieser Beschreibung, die es bis zu Ihrem Buch gab, war es ein fester Bestandteil, daß Hitler eigentlich von klein auf – niemand weiß woher – eine ganz fixe antisemitische Besessenheit gehabt hätte. Hamann: Ja, natürlich, so hat er selbst es ja auch immer wieder dargestellt. Möller: In Ihrem Buch kommt aber heraus, daß er sich dieses Instrument möglicherweise nur von Lueger abgekuckt und von ihm gelernt hatte, daß man damit politisch zündeln und die Leute einfangen kann. Das macht die Sache ja, wenn man so will, eher noch schlimmer. Hamann: Das finde ich auch. Möller: Denn so muß man sich eben auch klar machen, daß es da einen begabten Demagogen gegeben hat, der einfach nur verstanden hat, was bei den Leuten ankommt. Der Antisemitismus ist daher auch etwas, das er sich als massenwirksames Thema aus der Umgebung geholt hat. Hamann: Genau. Aber hier müssen wir nun eine Unterscheidung treffen: Das sind jetzt wirklich die frühen Jahre, denn er ist dann mit 24 Jahren nach München gegangen. In diesen frühen Jahren hatte er wirklich gute, sogar besonders gute Kontakte zu Juden in diesem Männerheim, in dem er gelebt hat. Er hatte viele jüdische Bekannte. Man hat früher – im Rahmen dieser Stereotypen – ja immer gesagt, daß die Juden gefährlich seien und nur ans Geschäft denken würden, daß sie aber auch gescheit seien. Man hat die Juden also immer für gescheiter gehalten. Das zieht sich bei Hitler dann immer durch. Wenn man bei ihm manches Spätere ein wenig abklopft, dann liegt dieser großen Angst vor den Juden immer auch dieses Stereotyp zugrunde, das besagt: "Die Juden sind gescheiter als wir, paßt also auf und laßt sie nicht so hoch kommen, denn wenn sie gleichberechtigt sind, dann stecken sie uns alle in den Sack." Diese Entwicklung und dieses Stereotyp findet man auch beim jungen Hitler: Er hat offenbar gedacht, wenn er sich im Männerheim - in dieser Gesellschaft von arbeitslosen und oft auch von gescheiterten Männern – an die Juden hält, dann hält er sich an die Gescheiteren. Man hat mir natürlich vorgeworfen, daß ich Hitler als Menschen darstelle, der auch eine Entwicklung hat. Das heißt, er hat gewußt, daß Juden keine Verbrecher sind, er hat gewußt, daß seine ganzen späteren Theorien nicht stimmten, weil er ja menschliche Beziehungen zu Juden gehabt hatte. Das hat mich auch überrascht, das habe ich ja selbst nicht gewußt. Ich will ja dazu um Gottes willen nicht irgendwelche unhaltbaren Thesen aufstellen, aber während der Recherchen bin ich auf einen nach dem anderen gestoßen, so daß ich mir gedacht habe: "Das darf doch nicht wahr sein! Warum war das bei Hitler so?" Denn es gab in diesem Männerheim an sich nicht besonders viele Juden: Es gab den normalen Durchschnitt von acht bis zehn Prozent an Juden, so wie das in Wien zu der Zeit allgemein üblich war. Ich dachte mir immer, daß das eben mit etwas ganz anderem zusammenhängen müßte: Er hat den Antisemitismus als politisches Instrument erst eingesetzt, als er als Politiker in die Öffentlichkeit gegangen ist: Das war nach 1918. Nachher hat er das dann sicherlich völlig verinnerlicht, das ist klar. Möller: Es war so, daß er ab diesem Zeitpunkt die Erinnerungen und Erfahrungen reaktiviert hat, die er in Wien gemacht und die er sich zum Teil eben von einem Lueger abgekuckt hatte. Hamann: Sehen Sie, wenn man sich die Geschichte wirklich in den Einzelheiten ansieht, dann stellt man fest, daß sie immer komplizierter wird. Das ist eben nicht so einfach, wie man es sich heute macht: "Der ist gut, und der andere ist böse." So einfach ist es nicht, denn Hitler hat sich seine antisemitischen Thesen und auch die Art, wie er damit als Volkstribun umgegangen ist, bei dem großen Volkstribun von Wien, bei Dr. Karl Lueger, dem Bürgermeister von Wien, abgeschaut. Lueger war damals das Haupt der christlich- sozialen Partei, also einer katholischen Partei. Hitler war aber alles andere als ein Katholik und ein Freund der Kirche. Er hat sich aus allen Parteien das herausgenommen, was er für gut gehalten hat. Er hat sich bei dieser katholischen Partei, die er ansonsten als Partei abgelehnt hat, von Lueger, den er in "Mein Kampf" später auch als den größten Bürgermeister aller Zeiten gepriesen hat, sogar diese Art der Agitation eines Volkstribuns abgeschaut. Möller: Nun sind Sie, Frau Dr. Hamann, wenn man so will, als Seiteneinsteigerin in diese Zunft der Hitlerexperten eingedrungen und haben dort eine überraschend freundliche Aufnahme gefunden. Ich kenne keine Reaktion aus der Riege der etablierten Historiker in der Art, daß sie an der Qualität oder auch an den Ergebnissen Ihrer Recherchen in Sachen Hitler in der Substanz irgend etwas auszusetzen hätten. Hat Sie das überrascht? Hamann: Wenn Sie mich so fragen, hört es sich vielleicht merkwürdig an, wenn ich sage, es hätte mich überrascht, wenn es anders gewesen wäre. Nein, das liegt ganz einfach an der Art der Forschung. Ich glaube, wenn man sich ganz dezidiert und sehr intensiv auf historische Quellen aus der entsprechenden Zeit stützt und dabei sehr intensiv forscht – und ich habe für dieses Hitler-Buch nun wirklich lange geforscht und kenne mich in Wien auch wirklich gut aus –, dann trägt das auch Früchte. Ich glaube einfach, daß eine gute Quellenforschung ein so sicherer Boden ist, daß man sich darauf wohl fühlen kann: Ich habe nun einmal gerne einen sicheren Boden unter den Füßen. Wenn man bloß irgendwelche Thesen aufstellt, dann denke ich mir immer: "Das schwankt, und da biegt man sich ja nur irgend etwas zurecht." So etwas ist einfach nicht mein Ding. Aber diese Gewißheit und diese Sicherheit, die einem auch bei einem so schwierigen Thema die Quellen bieten, ist meiner Ansicht nach eine Gewähr dafür, daß einen die Kollegen auch akzeptieren: Wenn Historiker offen sind gegenüber Ergebnissen von Kollegen - auch wenn gesagt wird, ich wäre möglicherweise gar keine Kollegin, was mir aber auch egal ist –, dann müßten sie das eigentlich wirklich anerkennen. Ich selbst mag ja auch am liebsten diejenigen Historiker, die fleißig in Archive gehen. Daß man in Archive geht, ist aber, wie ich glaube, im Moment nicht sehr modern unter den Historikern. Ich glaube allerdings, daß das unter den jüngeren Historiker nun doch wieder und hoffentlich anders wird. Möller: Das ist ein heikles Feld. Hamann: Ich weiß. Möller: Ich erinnere mich an einen Auftritt von David Irving, der vor circa 20 Jahren den etablierten Historikern ebenfalls genau das vorgeworfen hat. Damit hatte er zum Teil sogar recht, aber er hat dann daraus verheerend falsche Schlüsse gezogen. Hamann: Natürlich, so ist es. Möller: Um Sie jedoch aus diesem falschen Zusammenhang herauszubringen: Ihr Buch über Hitler ist ja nun weiß Gott kein Freispruch für Herrn Hitler, sondern macht einfach klar, daß die Motive und der Vorlauf eine Sache sind, die aber nichts an der Umsetzung, an dem, was er daraus gemacht hat und an den schrecklichen Ergebnissen ändern. Hamann: Richtig, da muß man selbstverständlich vorsichtig sein. Es kommt natürlich dazu, daß man die Quellen auch auswählen muß: Das geht gar nicht anders, weil man sie sonst nicht in ein einzelnes Buch hinein bekommt, denn es sind ja massenhaft Quellen vorhanden. Man muß also auswählen, und man muß sich immer wieder selbst zurückrufen, wenn man vorpreschen will: Man kommt da nämlich auch manchmal in einen Sog hinein. Der Gefahr war ich mir allerdings bewußt, denn ich hatte schon zu viel geschrieben, um nicht zu wissen, daß ich mich mit dem Hitler-Buch in überhaupt keinen Sog begeben darf, daß ich immer wieder abstoppen muß. Das ist auch kein Buch, das man schnell schreiben könnte, bei dem man auf einen Verlag hereinfallen darf, der zu einem sagt: "So, jetzt machen Sie das mal in zwei Jahren, und dann haben wir das in der Tasche!" Dazu braucht man nämlich ganz einfach viel Zeit – schon allein, um sich selbst immer wieder kontrollieren zu können und um sich selbst auch immer wieder zurückzunehmen und zu sagen: "Hoppla, da stimmt jetzt etwas nicht mehr, da mußt du jetzt korrigieren." Darum habe ich für dieses Buch eben auch so lange gebraucht: Ich habe allein, um dieses Buch dann zu schreiben, vier Jahre gebraucht. Da gibt es also eine Gefahr, über die man sich im klaren sein muß. Andererseits besteht natürlich auch die Gefahr, daß man zu ideologisch an so ein Thema herangeht, um anderen Leuten zu gefallen und weil es gerade in den politischen Mainstream paßt: Das will ich auch nicht. Das heißt, daß das eine Gratwanderung wird, habe ich gewußt, und deswegen habe ich mit diesem Thema doch beinahe 20 Jahre gewartet, bis ich mir gedacht habe: "Wenn ich es jetzt nicht schreibe, dann werde ich zu alt dafür, dann kann ich das nie mehr machen." Ich hatte ganz einfach das Gefühl: "So, jetzt traue ich mich. Jetzt traue ich es mir zu, dieses Buch ausgewogen, aber auch ehrlich und nicht ideologisch machen zu können." Ich hätte es selbst im letzten Stadium noch zurückgezogen, wenn ich das Gefühl gehabt hätte, daß es schiefgelaufen ist. Möller: Das ist es nach allem, was man nicht nur über das Buch lesen kann, sondern was man auch feststellt, wenn man dieses Buch selbst liest, mit Sicherheit nicht. Und es ist mit Sicherheit auch kein Buch, aus dem alte Nazis oder Neonazis irgendeinen Honig saugen könnten, um das hier noch einmal deutlich festzustellen. Aber ich muß Ihnen in diesem Zusammenhang ganz einfach noch kurz eine persönliche Geschichte erzählen. Als ich mich auf unser Gespräch vorbereitet und zu meiner eigenen Verblüffung festgestellt habe, daß Sie aus stammen, fiel mir ein, daß es bei Karl Kraus in diesem "wunderschönen" Schreckensgemälde "Die letzten Tage der Menschheit" – in diesem Panorama des Ersten Weltkriegs – eine bitterböse kleine Szene gibt, in der der österreichische Erzherzog Friedrich in einem Kriegskino sitzt und sich die neueste Generation von weittragenden großen Kanonen des Hauses Krupp aus Essen vorführen läßt. Immer wenn es einen Einschlag gab, hat er, da das damals noch die Zeit des Stummfilms war, den Ton dazu gemacht: "Bumsti!" Das ist nun eine sehr weite Kurve, die ich hier einschlagen will: Sie haben auch ein sehr schönes und gründliches Buch über Berta von Suttner geschrieben, die ja eine frühe pazifistische Aktivistin gewesen ist, und Sie selbst sind eine Frau, die sich das ganze Panorama des Habsburger Vielvölkerstaats, dieses Fleckerlteppichs, angesehen hat. Wenn Sie mit diesem Hintergrund - mit , mit dem Habsburger Vielvölkerstaat – auf die Hinterlassenschaften dieses Vielvölkerstaates schauen und sich betrachten, was da passiert: Was fällt Ihnen dazu ein? Auch unter dem Stichwort, daß Sie sich selbst ja auf die pazifistischen Kategorien von Berta von Suttner und deren Denkweise sehr emphatisch eingelassen haben. Hamann: Bei der Suttner ist es wiederum auch nicht so einfach. Als Pazifistin müßte sie sagen: "Um Gottes willen!" Ich selbst bin ja, offen gesagt, ein Kriegskind, und ich bekomme panische Angst, wenn ich solche Flugzeuge höre und sehe: Das hat also auch etwas mit meiner eigenen Biographie zu tun. Das ist einerseits also klar. Aber die Suttner hat auch gesagt: "Wenn im Nachbarhaus ein Mann eine Frau ermorden will, und diese Frau laut schreit, dann muß man ihr zu Hilfe eilen!" Damit bekam sie damals natürlich mit den reinen Pazifisten Schwierigkeiten, denn z. B. Tolstoi hatte ja gesagt: "Jede Art von Soldatentum, von Waffengebrauch, ist zu verurteilen." Die heutige Situation ist natürlich eine unglaublich schwierige Geschichte. Ich hatte vor allem Angst davor, daß die Amerikaner da voll einsteigen – aber ich weiß auch nicht, wer es denn sonst hätte machen sollen. Ich weiß nämlich nicht, ob die EU schon so weit wäre. Ich hatte diese Angst, weil ich daran zweifle, daß die Amerikaner bei einem so komplizierten Gefüge wie dem Balkan wirklich wissen, was sie tun. Wenn man sich mit der österreichischen Geschichte beschäftigt und sich dabei vor allem die Balkankriege vor dem Ersten Weltkrieg und den Ausbruch des Ersten Weltkriegs selbst angesehen hat, dann hat man in Wien wahrscheinlich sehr viel größere Angst, daß sich am Balkan im Vergleich zu anderen Gegenden in der Welt irgend etwas Großes entzünden kann. Je weiter weg man vom Balkan ist, desto geringer wird meines Erachtens diese Angst, und desto leichter fällt es einem zu sagen: "Ach Gott, mit diesem kleinen Land werden wir schon fertig." Denn das ganze System dort wackelt ja: Es wackelt Mazedonien, es wackelt Griechenland usw. Wir sehen das ja am Beispiel von Mazedonien, daß sich dieses Problem immer weiter ausweitet. Ich kann Ihnen auch keine Lösung anbieten, denn für den Balkan hat es in der Geschichte noch nie eine Patentlösung gegeben. Man muß freilich sagen, daß der Balkan auch ein Ergebnis der österreichischen Vielvölkerpolitik ist, denn z. B. Bosnien und die Herzegowina haben ja auch zu Österreich gehört. Österreich hat diese dortigen Religionskonflikte auch noch verstärkt, indem es dort immer wieder eine katholische Mission betrieben hat. Sie haben ja tatsächlich den Franziskaner-Orden immer wieder zur Missionierung dorthin geschickt. Die Geschichte wurde damit immer komplizierter. Auf dem Balkan ist es eben nicht so einfach wie bei der Teilung der Tschechoslowakei, bei der man sagen konnte: Hier sind die Slowaken, und dort sind die Tschechen. So etwas geht ja auf dem ganzen Balkan nicht, denn die verschiedenen Leute leben dort ja nebeneinander. Es gibt ja auch diese Vielzahl an gemischten Ehen mit Kindern. Wenn man sich aber Milosevic ansieht, kann man sehen, daß man auch heute noch mit nationalen Parolen mitten in Europa ganz "erfolgreich" Politik machen kann: Je ärmer die Leute sind, je weniger sie sonst an Werten haben, desto leichter ist es für Leute mit nationalistischen Parolen, beliebt zu werden. Das ist das, was mich so ängstigt – und da kommen wir dann eben wieder zurück zu Hitler. Da ist immer wieder dieselbe Frage: Wie wird ein Diktator groß? Indem er armen Leuten einredet, sie seien etwas Besseres, weil sie die richtige Rasse haben, und die anderen seien Untermenschen, weil sie eine andere Rasse oder Nationalität haben. Möller: Der Nationalismus ist daher ein billiger Trost, um sich aus der konkreten Misere in eine Traumkonstruktion flüchten zu können. Hamann: Das war immer schon so gewesen. Das war auch das Problem im Jahr 1918, als die Deutschen dachten, nun wäre alles zusammengebrochen: die Monarchie war zu Ende usw. Es gab dann diesen totalen Haß auf den Versailler Vertrag, auf den Hitler ja auch sehr abgefahren ist. Das ist natürlich auch die große Gefahr im heutigen Rußland. Möller: Es gab ja in den Jahren vor dem Zusammenbruch des Kommunismus eine kurze Phase, in der auch in Osteuropa fast so etwas wie eine Habsburger- Nostalgie ins Leben trat und in der aus diesem alten "Völkerkerker" zumindest in Teilelementen ein wiederbelebbares Konzept gestrickt werden sollte. Aber es ist wohl ganz offensichtlich nicht machbar, diese Art von übernationalistischer Reife, die ja zum Teil in der Habsburger-Konstruktion schon drin gewesen ist, z. B. für den Balkan zu modernisieren. Hamann: Ich glaube das auch nicht. Ich habe ja nun wirklich sehr viel Kritik an der Monarchie in Österreich-Ungarn geübt, aber man muß doch auch sagen, daß ab 1867 – erst, aber immerhin – etwas Bestimmtes wirklich einzigartig gewesen ist: Es gab eine bürgerlicher Gleichberechtigung aller Nationalitäten und aller Religionsgemeinschaften vor dem Gesetz. Das heißt, es gab dabei auch lokale Schwierigkeiten, aber es gab für jeden die Möglichkeit, zum Kaiser nach Wien zu gehen und seine Rechte einzufordern. Es gab vom Kaiserhaus aus keine Diskriminierung – auch nicht gegenüber den Juden. Möller: Franz Joseph war mit Sicherheit kein Nationalist: Das ist ein kategorialer Unterschied. Hamann: Natürlich. Möller: Ein Albaner, der heute zu Herrn Milosevic geht und von ihm als Staatsoberhaupt sein Recht bekommen will, macht andere Erfahrungen. Wir kommen nicht darum herum: Das ist das, was uns zur Zeit alle bewegt. Aber Sie haben – eigentlich immer schon – als Buchautorin auch noch eine ganz andere Palette: Sie haben sich damals als Mutter von halbwüchsigen Kindern den Spaß gemacht, auch für sie die richtige historische Lektüre zu schreiben. Denn auch auf diesem Gebiet gab es eine Marktlücke. Hamann: Ja, ich wollte für meinen Buben, der sich für Geschichte interessiert hat, etwas in der Richtung haben. Da gab es aber nichts. Es gab nur so komische und pseudo-lustige Sachen wie zu... Möller: Maria Theresia. Hamann: Ja, über Maria Theresia gab es etwas: verkitscht wie sonst noch was. Ich habe mir ganz einfach eingebildet, ich müßte ein Buch schreiben, das sehr vergnüglich ist und bei dem die Kinder nicht aufhören zu lesen. Denn mein Sohn z. B. war damals zwölf Jahre alt und mußte Probe lesen: Ich hatte immer nur Angst, daß er mit dem Lesen aufhört und nicht mehr weiterlesen mag. Aber er hat dabei wirklich gelacht und sich amüsiert. Ich wollte damit nur zeigen, daß man für Kinder auch die Geschichte auf einem adäquaten Niveau so aufbereiten kann, daß sie daran erstens Vergnügen haben - das ist ganz wichtig – und daß sie zweitens ihr Leben lang dann aber doch wissen, was bei Maria Theresia alles passiert ist. Sie sollen also nicht nur wissen, daß sie 16 Kinder hatte, sondern sie sollen auch etwas über die Kriege mit Friedrich II. wissen. Ich hoffe, Sie haben bemerkt, daß ich als Österreicherin "Friedrich II." gesagt habe und nicht "Friedrich der Große". Meine Kinder, die dieses Buch gelesen haben, wissen sogar, was die "pragmatische Sanktion" war. Das habe ich doch sehr genau und auch sehr ehrgeizig so umgesetzt, daß sie es verstehen können. Möller: Sie sind – und damit kommen wir zum Anfang zurück – sozusagen auf den Spuren von Herbert von Karajan nach Wien gegangen und haben dann auch ein Buch über geschrieben. Auch das ist ein Buch für Kinder, die nicht nur das kitschige Wolferl und den Mozartkugel-Schmäh usw. kennenlernen sollen. Statt dessen haben Sie ein Buch geschrieben, das eine Verbindung von gründlicher Information mit Unterhaltsamkeit herstellt. Hamann: Das besteht aus viel Alltagsgeschichte, denn die Alltagsgeschichte ist natürlich für Kinder das A und O. Möller: Verehrte Frau Hamann, ich bedanke mich sehr für unser Gespräch. Liebe Zuschauerinnen und Zuschauer, zu Gast bei Alpha-Forum war heute die Wiener Historikerin Brigitte Hamann, von der wir gelernt haben, daß sie aus Essen stammt.

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