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NATIONALELF Den Zauber verloren Nach dem 1:4-Debakel von Florenz mag Fußball-Deutschland nicht mehr an das Märchen vom WM-Titel glauben. Mit seiner Philosophie des aggressiven Tempospiels scheint Jürgen Klinsmann seine junge Mannschaft zu überfordern. Mancher Trainer empfiehlt einen Systemwechsel. ALEXANDER HASSENSTEIN / GETTY IMAGES (L.); OLIVER BERG / DPA (R.) BERG / DPA (L.); OLIVER / GETTY IMAGES HASSENSTEIN ALEXANDER Führungstrio Löw, Klinsmann, Bierhoff, deutsche Niederlage gegen Italien: Eklatanter Mangel an Klasse

ie Augenblicke, in denen Jürgen an ein Märchen verloren zu haben. Der Das Problem ist die Qualität der höchs- Klinsmann seine wahre Gemüts- Erneuerer hat seinen Zauber eingebüßt. ten deutschen Spielklasse im Allgemeinen Dverfassung preisgibt, sind rar gewe- Der schwäbische Weltbürger ist einem und der für die Nationalelf in Frage kom- sen in den bislang 19 Monaten als Bundes- Irrtum erlegen. Er war davon ausgegan- menden Akteure im Besonderen. Mit Sor- trainer. Vorigen Donnerstag, kurz nach 14 gen, mit einer klar definierten Spielidee, ge beobachten Insider die Dreiteilung der Uhr in der DFB-Zentrale, war so ein Mo- einer optimistischen Verkaufe und dem in einen schier übermächtigen ment. Klinsmann eröffnete die Pressekon- Ausnutzen aller Ressourcen wie Fitness- Anführer (Bayern München), drei respek- ferenz, zu der man ihm nach dem 1:4-De- spezialisten oder Psychologen die Defizite table Verfolger (, Hamburg, Schal- bakel seiner Mannschaft in Italien drin- seines Personals ausgleichen zu können. ke) und einen Rest, dessen Auftritte oft ein gend geraten hatte, mit der Aufforderung Das Publikum hatte ihm seine Roadmap Bild des Jammers abgeben. „Ab Platz fünf an die Journalisten, nicht nur zu fragen, zum WM-Finale in Berlin dankbar abge- ist die Tabelle ein Zufallsprodukt, eine sondern auch mal ihre Meinung zu sagen. nommen. Wer so furios startete wie er – im Momentaufnahme, denn fast jeder schlägt „Wir wollen uns mit euch austauschen.“ September 2004 etwa gab es ein mutiges, jeden, und drei Punkte gibt es oft für er- Doch Klinsmanns gereiztes Mienenspiel offensives 1:1 gegen allerdings vom Jetlag barmungswürdige Vorstellungen“, beklagt passte nicht zu seinen generösen Worten. sedierte Brasilianer –, dem glaubte man der Ex-Manager eines Erstligisten. Das Gesicht sagte: Ich habe meinen Heim- auch gern, dass sich bis zum Juni 2006 alles Wer sich wundert, dass eine deutsche flug nach Los Angeles verschieben müs- weiterentwickeln werde. Wachsen. Stei- Elf seit Oktober 2000 gegen keine große sen. Ich bin zu dieser außerordentlichen gern. Verbessern. Fußball-Nation mehr gewinnen konnte, Öffentlichkeitsarbeit gedrängt worden. Ich Hinderlich nur, dass Klinsmanns Kerle muss sich nur die Rolle anschauen, die will mich nicht mit euch austauschen. nicht auf einem eigenen Raumschiff Rich- Klinsmanns Eleven in dieser Liga spielen. Und während neben ihm Co-Trainer Jo- tung WM unterwegs sind, sondern fest ver- Etliche von denen, die bei den wenigen achim Löw und der Manager Oliver Bier- ankert in einem deutschen Alltag, der Bun- Topclubs spielen, sitzen dort meist auf hoff in den neuen, feinen Ausgehanzügen desliga heißt, der überdreht ist, überschätzt der Bank, wie , Bastian eines DFB-Sponsors saßen, hatte sich der und selbstgerecht – und zur National- Schweinsteiger und Gerald Asamoah. Und Bundestrainer wie zum Protest Turnschu- mannschaft, so wie sie Klinsmann ausge- wer einen Stammplatz innehat wie Bernd he und Seemannspulli übergestreift. „Nein, richtet hat, eine seltsam distanzierte Hal- Schneider oder , dessen wir sind von unserem Konzept überzeugt tung pflegt. Club ist vom Spitzenfußball so weit weg und werden von ihm nicht abweichen“, das Der Kern der „Problemchen“, die Klins- wie die DFB-Truppe von einem Sieg über war die Botschaft des Tages. Das klang mann vorigen Donnerstag süßsauer ein- die Niederlande. nicht siegesgewiss, sondern trotzig. räumte, als gehörten sie zum Konzept, liegt Das Wehklagen über die deutschen Ver- Jürgen Klinsmann, 41, hat hoch gepo- nicht in seinem Wohnsitz Huntington teidiger, die vorigen Mittwoch nur der ita- kert, er hat viel bewegt, aber knapp hun- Beach, nicht im Umgang mit von ihm ge- lienischen Gnade wegen von weiteren Ge- dert Tage vor dem WM-Eröffnungsspiel ringgeschätzten Profis wie Christian Wörns gentreffern verschont blieben, relativiert scheint Fußball-Deutschland den Glauben oder im Stallgeruch eines Sportdirektors. sich durch einen Blick auf ihre Herkunft. In

180 der spiegel 10/2006 Kauf. Nach dem hilflosen Quergeschiebe von Rudi Völlers EM-Truppe sollte das at- traktive Offensivspiel erst mal für eine Stimmungsaufhellung im Lande sorgen. Diese Strategie trug die Mannschaft im- merhin auf den dritten Platz im Confede- rations Cup. Die Anfälligkeit für Konter – die Deut- schen mussten bei dem Turnier elf Gegen- tore hinnehmen – glaubte Klinsmann im Jahr zwei seiner Regentschaft abstellen zu können. Nun müsse das System verfeinert werden, erläuterte sein fürs Taktische zu- ständiger Kompagnon Löw, die Defensive verbessert werden, ohne die offensiven Stärken zu verlieren: „Das System muss sitzen wie ein paar alte Schuhe.“ Das System, bei dem der Gegner früh attackiert wird und die Vierer-Abwehrrei- he sich auf einer gedachten Linie bewegt, erfordert Schnelligkeit mit den Beinen und mit dem Kopf, die Fähigkeit zur Antizipa- tion und ein Gefühl für den Raum. Dass es nicht leicht würde, deutschen Profis diesen Organisationsgrad beizubringen, ahnte Löw schon im SPIEGEL-Gespräch im ver- gangenen August: „Einige beobachten nur das Spiel, und bei Ballverlust haben sie dann keine Orientierung, sie können nicht eingreifen.“ Damals konnten sich Löw und Klins- mann immerhin noch auf den jugendlichen Elan verlassen, der manche Schwäche kompensieren hilft und der mit Talenten wie Schweinsteiger, Podolski und die deutsche Equipe belebte. Doch die Hochgelobten des Vorjahres sind längst keine Aktivposten mehr, teils weil sie von Verletzungen zurückgeworfen wur- den, teils weil sie die für Jungprofis typi- sche Talsohle durchschreiten, teils weil sie mit ihrer Rolle als Hoffnungsträger einer Nation heillos überfordert sind. Geradezu exemplarisch beobachtet man in Köln derzeit die Wandlung des Lukas Podolski vom unbekümmerten, leichtfüßi- gen Jugendlichen zu einem Berufskicker, der nicht nur auf dem Rasen Leistung ab- liefern muss. Podolski, 20, hat jetzt Ge- schäftspartner, die von seiner Persönlich-

JOERG MUELLER / VISUM JOERG MUELLER keit Besitz ergriffen haben – eine Bank, Werbestars Podolski, Schweinsteiger: Als Hoffnungsträger heillos überfordert eine Krankenversicherung, ein Computer- spielehersteller, ein Sportartikelkonzern. den glorreichen Siebzigern rekrutierte sich staunend zu. Oder er darf das Spektakel – Wenige Tage vor der „desolaten Vorstel- die Nationalelf vornehmlich aus zwei wie bei Chelsea – von der lung“ (Hannovers Trainer Peter Neururer) Blöcken – Profis der Meisterclubs FC Bay- Reservebank aus betrachten. der Klinsmänner enthüllte Adidas in Ham- ern und Borussia Mönchengladbach. Bei Angesichts dieses eklatanten Mangels burg ein Plakat, 70 Meter hoch, 21 Meter der Renaissance 1990 stand die Hälfte der an Klasse und internationaler Erfahrung breit, mit Podolski und Schweinsteiger im Weltmeister-Elf bei Spitzenadressen der mehrt sich die Zahl der Bundesliga- roten Dress der Nationalelf. italienischen Paradeliga im Sold. Die der- Coachs, die Klinsmanns Vorwärtsstil für Seit der im polnischen Gliwice geborene zeitigen Defensivspieler spielen in Verei- ein übermäßiges Risiko halten. Die wenigs- Stürmer in der Bundesliga eingeschlagen nen des Mittelmaßes wie Hannover, Dort- ten wollen kurz vor der WM dem Bundes- hat wie ein Meteorit, hat man ihn mit mund und Berlin. trainer in den Rücken fallen, aber die Ten- Wayne Rooney verglichen und mit Johan Wenn sich die europäischen Topkräfte denz in der Bewertung ist klar: Klinsmann Cruyff, er wurde von Franz Beckenbauer zur Wochenmitte in der Champions League überfordert seine Spieler. „Die sollen et- neben und messen, sitzt der deutsche Nationalvertei- was spielen, das sie nicht können. Oder zum Stammspieler der Nationalelf geadelt, diger – Münchens ausge- das sie nicht verstanden haben“, sagt einer. er saß bei „Wetten, dass …?“ auf der nommen – vor seinem Flachbildschirm und Anfangs nahm Klinsmann die Schwä- Couch und posierte für den DFB-Partner schaut dem Hochgeschwindigkeitsfußball chen seiner Defensivabteilung bewusst in Telekom. Er ist in ein kompliziertes Lu-

der spiegel 10/2006 181 xusleben hineingestoßen worden – und nun sucht er Halt. Es war kein schlechter Gedanke von Klinsmann, dem gefrusteten Publikum neue, unverbrauchte Gesichter anzubieten. Und das Potential der Generation Podolski ist auch gewiss höher einzuschätzen als das der Generation Wörns. Als Problem bleibt nur, dass in Mannschaftssportarten wie Fußball die jungen Kräfte geführt werden sollten von erfahrenen Spielern. Unter Trainern ist ein Modell verbreitet, wonach eine Mannschaft funktioniert, wenn sie über eine stabile Mittelachse ver- fügt: den Torwart, zwei Innenverteidiger, zwei zentrale Mittelfeldspieler, einen Ziel- spieler im Angriff. Jungprofis werden gern auf den Außenpositionen eingeführt, wo sie von einem Routinier im Zentrum Kom- mandos empfangen können und wo Fehler nicht unmittelbar zu Toren führen müssen. Ein solches Modell kann Klinsmann nicht anwenden, er hat keine modern spie- lenden Innenverteidiger mit Erfahrung und Klasse. Der Nationalelf fehlt so etwas wie der demografische Mittelbau, Spieler im Alter von Ende zwanzig, auf dem Höhe- punkt ihrer Leistungsfähigkeit – Ballack und sind die Einzigen aus dieser Teil-Generation, um deren Förde- rung sich die Bundesligaclubs in den sorg- losen Neunzigern nicht gekümmert haben. Hoffnung schöpft der Trainerstab aus der dreiwöchigen Vorbereitungszeit zur WM, in der das Team die anspruchsvolle

Der Nationalmannschaft fehlt so etwas wie der demografische Mittelbau.

Pressingtaktik einstudieren soll. Vereins- trainer halten das für ein schwieriges Un- terfangen: „Solche Automatismen“, sagt einer, „brauchen Monate.“ An Empfehlungen, wie dem Dilemma zu entkommen wäre, mangelt es nicht. Manche Trainer raten, die Viererkette „tie- ferzustellen“, also den Raum zwischen Tor- wart und Abwehrreihe zu verkürzen. An- dere wie Klinsmanns ehemaliger Welt- meister-Kollege Jürgen Kohler halten den Einsatz von Wörns für „die beste Option“. Und in Curitiba, in Brasiliens Süden, ge- währt Lothar Matthäus Einblick in seinen taktischen Erfahrungsschatz. Der Rekord- Nationalspieler, der nur wenige Stunden nach der 1:4-Pleite von örtlichen Journalis- ten gefragt wurde, ob er jetzt den Club schon wieder verlassen müsse, um die deut- sche Nationalelf zu retten, sieht Parallelen zwischen Klinsmanns Team und seinen Schützlingen von Atlético Paranaense. „Bei einer jungen, unerfahrenen Mann- schaft ist es sicherer, den zwei Innenver- teidigern einen freien Mann zur Seite zu stellen“, sagt Matthäus. „Man kann den auch Libero nennen.“ Alfred Weinzierl; Dirk Kurbjuweit

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