und Faschismus im ZeichenvonKollaboration Die französischeLiteratur Barbara Berzel und Jacques Chardonneund Jacques Brasillach Robert Alphonse deChâteaubriant,

edition lendemains 29 Die französische Literatur im Zeichen von Kollaboration und Faschismus edition lendemains 29 herausgegeben von Wolfgang Asholt (Osnabrück), Hans Manfred Bock (Kassel) und Andreas Gelz (Freiburg) Barbara Berzel

Die französische Literatur im Zeichen von Kollaboration und Faschismus Alphonse de Châteaubriant, und Jacques Chardonne Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbi- bliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Umschlagabbildung: Cornelia Hellstern, München, unter Verwendung eines Briefes von Alphonse de Châteaubriant an Dr. Karl Epting (Nachlass und Bibliothek Karl Epting, Hänner © Wilhelm Epting, Stuttgart).

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein.

© 2012 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwer tung außer- halb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikrover fil mun gen und die Einspeicherung und Ver arbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Werkdruckpapier. Internet: http://www.narr.de E-Mail: [email protected] Printed in Germany ISSN 1861-3934 ISBN 978-3-8233-6746-8

Nicht müde werden

Nicht müde werden sondern dem Wunder leise wie einem Vogel die Hand hinhalten.

Hilde Domin, Hier (1964)

Inhalt

Vorwort ...... 11

1. Einleitung ...... 13 1.1 Kollaboration und Besatzung – heute ...... 13 1.2 Das Spektrum der schriftstellerischen Kollaboration ...... 28 1.3 „Figures d’écrivains fascistes“ ...... 32 1.4 Le „‚ballet des crabes’“ ...... 38 1.4.1 Henry de Montherlant...... 39 1.4.2 Abel Bonnard ...... 42 1.4.3 Pierre Drieu la Rochelle ...... 45 1.4.4 Marcel Jouhandeau ...... 49 1.4.5 ...... 53 1.4.6 Louis-Ferdinand Céline...... 55 1.5 Autoren- und Textwahl ...... 61 1.6 Faschismus und die Literatur des französischen Faschismus . 64 1.7 Aufbau ...... 73

2. Forschungsstand ...... 81

3. Alphonse de Châteaubriant La Gerbe des Forces: Nouvelle Allemagne (1937) ...... 93 3.1 Alphonse de Châteaubriant ...... 93 3.2 Versuchte Rehabilitierung ...... 109 3.3 La Gerbe des Forces: Nouvelle Allemagne ...... 114 3.3.1 Aufbau ...... 115 3.3.2 Stil und Strategie ...... 118 3.3.3 Zeitgenössische Rezeption ...... 121 3.3.4 Geballte Kraft: Ein französischer Dichter erlebt das neue Deutschland (1938): Geleit- und Vorwort...... 127 3.4 Das Bild der Deutschen: Heldenhafte Germanen und romantische Dichter und Denker ...... 130 3.5 Hitler – die „Kultfigur“...... 135 3.5.1 „L’âme ‚réaliste’ allemande“ ...... 143 3.6 Feindbilder ...... 145 3.6.1 Bolschewismus ...... 145 3.6.2 Individualismus und Liberalismus ...... 152

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3.6.3 Demokratie und Parlamentarismus ...... 156 3.7 Der Nationalsozialismus ...... 158 3.8 „Lohengrins Bauern“ ...... 167 3.9 Die nationalsozialistische Rassenideologie ...... 169 3.10 Deutschland, das Kreuz und das Hakenkreuz ...... 172 3.11 Fazit Châteaubriant ...... 180

4. Robert Brasillach Notre avant-guerre (1941) & Journal d’un homme occupé (1955) ...... 183 4.1 Robert Brasillach ...... 183 4.2 Versuchte Rehabilitierung ...... 198 4.3 Notre avant-guerre & Journal d’un homme occupé ...... 205 4.3.1 Notre avant-guerre ...... 206 4.3.1.1 Zur Werkgenese ...... 206 4.3.1.2 Aufbau und Inhalt...... 208 4.3.2 Journal d’un homme occupé ...... 209 4.3.2.1 Zur Werkgenese ...... 209 4.3.2.2 Aufbau und Inhalt...... 210 4.4 Politischer Hintergrund: Die Dritte Republik und die Volksfront ...... 212 4.5 Vom „Präfaschismus“ der Action française zum Faschismus . 218 4.6 Reisen zum Faschismus: Italien – Belgien – Spanien – NS-Deutschland ...... 223 4.6.1 Italien ...... 223 4.6.2 Belgien ...... 224 4.6.3 Spanien ...... 227 4.6.4 NS-Deutschland: Hundert Stunden bei Hitler ...... 232 4.6.4.1 Der Nationalsozialismus ...... 233 4.6.4.2 Hitler, der „Poet“ ...... 235 4.7 Genese einer Germanophilie ...... 240 4.7.1 Faszination ...... 240 4.7.2 Der „Münchner“ in „romantischer“ Kriegsgefangenschaft ...... 241 4.7.3 Zu Gast in Weimar und Berlin ...... 243 4.7.4 Liaison mit dem deutschen Genius ...... 247 4.8 Faschismus – „Ce mal du siècle“ ...... 252 4.8.1 Jugendkult...... 259 4.8.2 Je suis partout ...... 261 4.9 Feindbilder ...... 265 4.9.1 „Die Juden“ ...... 265 4.9.2 Kommunismus ...... 269

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4.9.2.1 Katyn versus… ...... 271 4.9.2.2 … „la Sainte Russie“ ...... 276 4.9.3 Großbritannien und Amerika...... 278 4.10 Pétain und die Révolution nationale ...... 279 4.11 Fazit Brasillach ...... 282

5. Jacques Chardonne Le Ciel de Nieflheim (1943) – „ein Büchlein, das schweigt, obwohl es spricht“ ...... 285 5.1 Jacques Chardonne ...... 285 5.1.1 Von Barbezieux über Montoire nach Nieflheim ...... 288 5.1.2 Autour de Barbezieux: Chronique privée (1940) ...... 289 5.1.3 L’Été à La Maurie (Dezember 1940) – Chronique privée de l’an 1940 (Februar 1941) ...... 291 5.1.4 Voir la figure (Juni und Oktober 1941) ...... 294 5.1.5 Weimar (1941/1942) – Le Miroir des livres nouveaux 1941-1942 ...... 298 5.1.6 Le Ciel de Nieflheim (1943) – Attachements (1943) ...... 299 5.1.7 Libération – Epuration: Détachements (1945/1969) ...... 304 5.2 Versuchte Rehabilitierung ...... 308 5.3 Voyage au bout de la nuit? Deutschlandrundreise (1941) und die Weimarer Dichtertreffen im Herbst 1941 und 1942 ...... 313 5.4 Le Ciel de Nieflheim ...... 317 5.4.1 Aufbau, Inhalt und Stil ...... 318 5.4.2 Das „Vorwort“...... 322 5.5 Feindbilder ...... 323 5.5.1 „Der Russe“ / Russland ...... 324 5.5.2 Kommunismus ...... 325 5.5.3 Großbritannien und Amerika...... 327 5.5.3.1 Großbritannien ...... 327 5.5.3.2 Amerika...... 329 5.6 Deutschland und die Deutschen ...... 332 5.7 Der Nationalsozialismus ...... 340 5.8 „Ici, occupation correcte, douce, très douce“ ...... 351 5.9 Europa ...... 356 5.10 Kritik an der Dritten Republik und der Demokratie ...... 359 5.11 Antisemitismus? ...... 362 5.12 Euthanasie ...... 364 5.13 Fazit Chardonne ...... 367

6. Schlussbetrachtungen ...... 371

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7. La littérature française sous le signe de la collaboration et du fascisme – Alphonse de Châteaubriant, Robert Brasillach et Jacques Chardonne ...... 383

8. Abkürzungsverzeichnis ...... 391

9. Literaturverzeichnis ...... 393 9.1 Primärliteratur ...... 393 9.1.1 Châteaubriant ...... 393 9.1.2 Brasillach ...... 394 9.1.3 Chardonne ...... 397 9.2 Sonstige Primärliteratur / Zeitgenössisches Schrifttum ...... 398 9.3 Sekundärliteratur ...... 408 9.4 Internetquellen ...... 435 9.5 Allgemeine Nachschlagewerke ...... 437

10. Namensregister ...... 441

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Vorwort

Die vorliegende Arbeit, in begonnen und in Freiburg i. Br. vollendet, wurde im September 2011 von der Philologischen Fakultät der Albert- Ludwigs-Universität Freiburg i. Br. als Dissertation angenommen. Ein- schlägige Sekundärliteratur wurde bis August 2011 berücksichtigt. An dieser Stelle möchte ich mich bei den zahlreichen Wegbegleitern, die zum Entstehen dieser Arbeit beigetragen haben, bedanken. Mein besonde- rer Dank gilt meinem Doktorvater Herrn Prof. Dr. Frank-Rutger Haus- mann für die Anregung zu diesem interdisziplinären Forschungsprojekt sowie für seine stetige, kenntnisreiche und sympathische Unterstützung. Herrn Prof. Dr. Wolfgang Asholt bin ich nicht nur für die Bereitschaft zur Übernahme des Zweitgutachtens, sondern auch für die Aufnahme der Untersuchung in die von ihm herausgegebene Reihe edition lendemains zu Dank verpflichtet. Für den fruchtbaren Gedankenaustausch sei dem inter- disziplinären Promotionskolleg Geschichte und Erzählen der Freiburger Uni- versität gedankt. Mein weiterer Dank richtet sich an Herrn Wilhelm Epting für die Genehmigung, zwei bis dato unveröffentlichte Briefe Alphonse de Châteaubriants an seinen Onkel Dr. Karl Epting zitieren und für die Um- schlaggestaltung verwenden zu dürfen. Danken möchte ich den hilfsberei- ten Mitarbeitern der Universitätsbibliothek Freiburg i. Br., namentlich Herrn Dr. Marcus Schröter, Fachreferent für Geschichte, für die unkompli- zierte und zügige Beschaffung benötigter Sekundärliteratur. Für die groß- zügige Förderung der Drucklegung dieser Arbeit möchte ich schließlich der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein meinen Dank aussprechen. Mein aufrichtiger Dank gebührt meiner Familie und meinen Freunden, ohne deren vielseitige, unermüdliche Unterstützung diese Dissertation nicht vorliegen würde. Für die gelungene Mischung aus Humor, Inspira- tion, kritischer Lektüre, Langmut, Motivation und technischer Versiertheit danke ich sehr herzlich meinen Eltern und Geschwistern sowie Simone Baum, Stephanie Baumann, Annette Gräber, Dorothea Groß, Benedikt Gursch, Cornelia Hellstern (nicht nur, aber insbesondere für die Umschlag- gestaltung), Urte, Georg, Ute und Jürgen Mein, Manon Nguyen, Marcus Obrecht, Sandra Pfahler, Elsbeth Ranke-Hein, Henrike Sattler und Michael Schulz.

In großer Dankbarkeit widme ich meinen Eltern diese Arbeit.

Freiburg i. Br., im Sommer 2012

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1. Einleitung

1.1 Kollaboration und Besatzung – heute

Mesdames et Messieurs de l’Académie, L’illustre d’Alembert, dont vous m’avez fait l’honneur, et je vous en remercie, de m’appeler à occuper le fauteuil, parlait „l’égalité académique“. Il voulait dire que tous les académiciens, quelles que soient leur origine sociale, leurs con- victions, leurs erreurs ou celles de leurs parents, sont égaux. Au nom de cette égalité, je vous demande d’accueillir avec moi l’ombre de quelqu’un qui avait plus de titres à prendre ma place, et à qui je dois d’être celui que je suis: Ramon Fernandez, mon père. Il s’est fourvoyé en politique, et j’ai toujours con- damné, publiquement, sa conduite pendant l’Occupation. Collaborer avec les Allemands, non, c’était indigne d’un homme qui avait été l’ami de Proust, de Gide, de Saint-Exupéry, de Malraux, qui l’était encore de Paulhan et de Mauriac, malgré leurs divergences. […] [A]utant ses opinions politiques ont toujours été pour moi inacceptables, au- tant j’admire son œuvre. Et je vous ferai cet aveu: parmi les motifs qui m’ont poussé à souhaiter faire partie de votre Compagnie, le dernier n’a pas été de faire retentir sous la Coupole, à côté de celui de Richelieu, le nom de Ramon Fernandez.1 Mit diesen feierlichen Worten, den in der Déclaration des Droits de l’Homme et du Citoyen (1789) verbürgten Gleichheitsgrundsatz aller Menschen be- schwörend, eröffnete der fast achtzigjährige Schriftsteller Dominique Fer- nandez2 im Dezember 2007 den Discours de réception anlässlich seiner Wahl

1 So der Beginn der Antrittsrede des neuen Akademiemitglieds am 13. Dezember 2007. S. http://www.academie-francaise.fr/immortels/ unter „Dominique Fernandez“ sowie den Rubriken „Discours et travaux académiques de Dominique Fernandez“ und „Discours de réception et réponse de M. Pierre-Jean Ré- my, 13 décembre 2007“ (letzter Zugriff am 2. 8. 2011), Hervorhebung der Verfasserin (künftig gekennzeichnet mit den Initialen „BB“). Zu den „deux premiers paragraphes criants de vérité de ce discours“ vgl. die Kommentierung Pierre Assoulines (*1953), Schriftsteller (u.a. Lutetia, 2005), Literaturkritiker und langjähriger Chefredakteur von Lire unter dem Titel „Vertu de l’ego-histoire“ am 16. 12. 2007 in seinem -Blog „La république des livres“. S. http://passouline.blog.lemonde.fr/2007/12/16/vertu- de-lego-histoire/ (letzter Zugriff am 22. 4. 2012). Der Arbeit sei vorausgestellt, dass Anzahl und Umfang der Fußnoten der an dieser Stelle eingearbeiteten Forschungsli- teratur geschuldet sind. Ferner finden sich hier Hintergrundserläuterungen, die für eine nicht bis ins Detail mit der Thematik vertraute Leserschaft als hilfreich erachtet werden. Der Fließtext ist jedoch ein unabhängig vom Anmerkungsapparat zu lesen- der eigenständiger Text. 2 Die schillernde Vaterfigur hatte Dominique Fernandez (*1929), Normalien, Italienisch- Professor, Literaturkritiker (u.a. L’Express, Le Nouvel Observateur), Essayist und Schriftsteller, bereits in L’école du sud und Porfirio et Constance (1991) beschäftigt. Fer- nandez’ Lebensthema, die Homosexualität, durchzieht „als Reflex eines privaten und

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in die Académie française. Das attentum parare gelang dem frisch gekürten Immortel auf unerwartete Weise, erwies er doch im Exordium, der bekann- termaßen prominentesten Stelle einer Rede, nicht seinem Vorgänger, dem Medizinprofessor und Résistant Jean Bernard (1907-2006) die Reverenz, sondern vielmehr seinem Vater.3 Dies ist insofern signifikant, als Ramon Fernandez4 (1894-1944) nicht nur brillanter Literaturkritiker der Zwischen- kriegszeit und Verfasser namhafter Studien zu Molière (1929), Gide (1931), Balzac und Proust (1943) war, sondern, gleichsam das Negativ Jean Ber- nards, als überzeugter Faschist mit zu den virulentesten kollaborierenden Schriftstellern zählte. Ein Jahr später veröffentlichte Dominique Fernandez die über achthundert Seiten starke Biografie Ramon5 (2008), in der er sich

eines gesellschaftlichen Befreiungsprozesses“ leitmotivisch seine Werke (u.a. L’étoile rose, 1978; Signor Giovanni, 1981; Le rapt de Ganymède, 1989). Der Roman über einen neapolitanischen Kastraten (Porporino ou les Mystères de Naples, 1974) sowie der Be- richt über Vita und Ermordung des italienischen Filmregisseurs Pier Paolo Pasolini (1922-1975) in Dans la main de l’ange (1982) wurden mit dem Prix Médicis respektive dem ausgezeichnet. Flügge, Manfred: Die andere Liebe: Der Romancier und Essayist Dominique Fernandez. In: Ders.: Die Wiederkehr der Spieler: Tenden- zen des französischen Romans nach Sartre. Marburg: Hitzeroth, 1992, S. 135-148, hier S. 138. 3 Zu den „partes orationis“ vgl. Ueding, Gert; Steinbrink, Bernd: Grundriß der Rheto- rik: Geschichte - Technik - Methode. 4., aktualis. Aufl. Stuttgart; Weimar: Metzler, 2005, S. 259-277, insb. S. 259f. 4 Der von (1871-1922) geschätzte Ramon Fernandez, in Paris geborener Sohn eines mexikanischen Diplomaten und einer französischen Modejournalistin, gehörte seit Beginn der zwanziger Jahre zum Literatenkreis von Jacques Rivières Nouvelle Revue Française (folgend abgekürzt mit NRF) und war u.a. mit François Mau- riac, Roger Martin du Gard und Antoine de Saint-Exupéry befreundet. Auf den Ro- man Le Pari (1932, Prix Femina) folgte 1935 Les Violents, in dem sich die Distanzierung des Mitglieds des Comité de vigilance des intellectuels antifascistes vom ultralinken Spek- trum und seine Annäherung an den „socialisme fasciste“ niederschlägt. 1937 schloss sich Fernandez Jacques Doriots faschistischem Parti Populaire Français an und schrieb fortan für die kollaborationistische Presse (u.a. für Je suis partout, L’Emancipation nati- onale, La Gerbe, Drieu la Rochelles NRF) oder pries Goebbels auf Radio Paris. Im Au- gust 1944, kurz vor der Befreiung von Paris und der ihn erwartenden Anklage, ver- starb mit dem fünfzigjährigen Ramon Fernandez eine der Schlüsselfiguren der literarischen Kollaboration. Drei Monate nach Fernandez’ Tod wurde Haftbefehl ge- gen ihn erlassen. Mercier, Pascal: „Ramon Fernandez“. In: Juillard, Jacques; Winock, Michel (Hgg.): Dictionnaire des intellectuels français: Les personnes. Les lieux. Les moments. Nouv. éd. Paris: Editions du Seuil, 2009, S. 572-573. Zum Haftbefehl s. Fer- nandez, Dominique: Ramon. Paris: Editions Grasset & Fasquelle, 2008, S. 790. 5 Rezensionen u.a. von Altwegg, Jürg: „Mein Vater, der Faschist: Ein Achtzigjähriger schließt seinen Frieden mit Vichy“. In: FAZ, 14. 1. 2009, S. 29; Laux, Thomas: „Auf der rechten Seite stehen“. In: Dokumente 4-6 (2009), S. 115-116; exemplarisch für die französische Presse: Amette, Jacques-Pierre: „Mon père, cet écrivain collabo“. In: Le Point, N° 1895, 8. 1. 2009, S. 78-80; Lançon, Philippe: „Et Ramon a mal tourné“. In: Libération, Livres, 15. 1. 2009, S. II-III; Rérolle, Raphaëlle: „Le fantôme du père“. In: Le Monde des livres, 16. 1. 2009, S. 1 und 5.

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ausführlich dem widersprüchlichen Leben und Wirken seines vom Kom- munismus zum Faschismus konvertierten Vaters widmet: „Si beau dans la mort, si blâmable dans l’action: est-ce possible? Où fut la vérité de cet homme qui est mon père?“6 Dominierte in der eingangs zitierten Laudatio die kategorische Verurteilung des Kollaborateurs Ramon Fernandez, er- weist sich Ramon als zeitweilig psychologisierend-entkulpabilisierende7 Spurensuche des in letzter Instanz pronominal mit dem Vater verschmel- zenden Sohnes. Den väterlichen Tod interpretiert Dominique Fernandez als schuldbewusst intendierte, doch konsequente und würdevolle Selbst- auslöschung: Sauver sa dignité: voilà l’obsession, en cet été 1944, de celui qui sait avoir perdu sa vie. […] Comment revenir au tragique? Me retirer, comme Alceste, dans un désert? Impossible, et d’ailleurs, non souhaitable. Reste une autre solution, plus radicale, et qui mettra une sourdine aux blâmes, aux anathèmes: le suicide.8 Während die private Inthronisierung des Vaters durch den Sohn nahezu unbemerkt und ohne öffentliche Gemütserregung vonstattenging, schlugen die Wogen hoch, als das französische Kultusministerium im Januar 2011 gedachte, den zweifelsohne umstrittensten Romancier Frankreichs des vergangenen Jahrhunderts zu ehren: Den fünf Jahrzehnte zuvor verstorbe- nen Louis-Ferdinand Céline, „Rassist, Antisemit, Genie und nationaler

6 Fernandez, Dominique: Ramon, S. 14. 7 Vgl. Wertungen wie „RF“ habe in der „un-extremistischen“ La Gerbe publiziert, nie- mals jedoch in „l’infect Je suis partout“. Ebd.: S. 682. Vgl. diesbzgl. Alice Kaplans Rezension: „The question Dominique must contend with is this: how did his father veer from Proust to Doriot? [...] For Dominique, his father’s fascism and collaboration boils down to a series of reinforcing circumstances: repressed homosexuality, alcohol- ism, shame over not having fought in World War I and even the fact that his father’s first wife (Dominique’s mother), whom the son is too quick to dismiss as an asexual bluestocking and killjoy, wouldn’t let him dance the tango.“ Hinsichtlich der „Anekdoten“, die Dominique Fernandez zur Entlastung des Vaters anführe, verweist Kaplan auf die Schwierigkeit „to measure a family story against a literary reading, and a literary reading against an archive. For the historian, they’re not equal. For the son, they coexist, footnotes of the heart.“ Kaplan, Alice: „Ghostly Demarcations“. In: The Nation 290, 6, 15. 2. 2010, S. 29-32, Zitate der Reihe nach S. 31, 32. Ähnlicher Te- nor bei Galster, welche Dominique Fernandez Beschönigung und versuchte Rehabili- tierung vorwirft und die Selbstmordhypothese des Sohnes, die einhergeht mit der anmaßenden Verurteilung inkonsequenter „Wendeh[ä]ls[e]“, ablehnt. Galster, Ingrid: „Auf der Suche nach der Wahrheit: Frankreich während der Okkupation – neue Ver- öffentlichungen bringen nicht nur Licht in eine dunkle Zeit“. In: NZZ, 12. 12. 2009, S. 63. So auch Assouline, der Dominique Fernandez’ Parallelisierung der kollaborie- renden Schriftsteller mit „les Sartre et consorts“, die nach Kriegsende den Stalinismus glorifiziert hätten, kritisiert, denn „l’URSS n’occupait pas la quand ils chantai- ent ses louanges.“ Assouline, Pierre: „Le père perdu“. In: Le Magazine littéraire 482 (Jan. 2009), S. 28-29. Hierzu s. Fernandez, Dominique: Ramon, S. 663-666. 8 Ebd.: S. 789, Hervorhebung BB.

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Großschriftsteller“9 in Personalunion – ein Skandalon für den Präsidenten der Association des fils et filles de déportés juifs de France Serge Klarsfeld10: [I]l faut attendre des siècles pour que l’on célèbre en même temps les victimes et les bourreaux. […] La République doit maintenir ses valeurs: Frédéric Mitter- rand [ministre de la Culture et de la Communication] doit renoncer à jeter des fleurs sur la mémoire de Céline, comme François Mitterrand a été obligé à ne plus déposer de gerbe sur la tombe de Pétain.11 Als daraufhin der in Folge von den Célinisten als „ministre de la censure“12 kritisierte ministre de la Culture die bête noire aus dem Recueil des célébrations nationales strich, war die Polemik perfekt. An Céline, „[qui] se tient soi- gneusement à l’écart de la collaboration officielle“13, so Henri Godard, eme- ritierter Professor der Universität Paris-IV-Sorbonne und Herausgeber des Céline’schen Œuvre in der Bibliothèque de la Pléiade, scheiden sich die Geis- ter. Hatte Iris Radisch am 27. Januar 2011 in der ZEIT das „Monster Céline“ als „unverdaulich“ deklariert und argumentiert: „Die Eingemeindung des großen Autors unter Nichtbeachtung von seinen Nachtseiten ist unmög- lich. Die unter Berücksichtigung seines Antisemitismus aber auch. Es gibt keinen genialen Mister Jekyll, der unabhängig vom rassistischen Mister Hyde agierte“14, befand Jürg Altwegg in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung doch gerade: „Als Anerkennung seiner Bedeutung ist die Präsenz auf der Liste der nationalen Gedenktage, die keine Ehrenlegion für moralische Verdienste ist, kein Skandal.“15 Bereits 1985 hatte der Le Monde-Literatur-

9 Radisch, Iris: „Keine Ehrung für Rassisten: Das Monster Céline bleibt unverdaulich“. In: Die ZEIT, 27. 1. 2011, S. 46. Ausf. zu Céline s. Kp. 1.4.6 10 Der jüdische Historiker und Jurist Serge Klarsfeld (*1935), u.a. Verfasser von Vichy- Auschwitz: le rôle de Vichy dans la solution finale de la question juive en France (1983/85), und seine Frau Beate Klarsfeld (*1939) wurden durch ihren Einsatz bei der Verfol- gung von NS-Kriegsverbrechern wie bspw. Klaus Barbie (1913-1991), dem ehemali- gen deutschen Gestapo-Chef von Lyon, bekannt. 11 Der Schauspieler und Regisseur Frédéric Mitterrand (*1947), Neffe des von 1981 bis 1995 amtierenden sozialistischen Staatspräsidenten François Mitterrand (1916-1996), wurde 2009 zum Ministre de la Culture et de la Communication ernannt. S. „[Polémique autour de Céline] Le texte intégral de Serge Klarsfeld“, 20. 1. 2011, http://bibliobs. nouvelobs.com/actualites/20110120.OBS6593/polemique-autour-de-celine-le-texte- integral-de-serge-klarsfeld.html (letzter Zugriff am 12. 8. 2011). 12 Beuve-Méry, Alain; Wieder, Thomas: „Frédéric Mitterrand fait volte-face et écarte Céline des célébrations de 2011“. In: Le Monde, 23./24. 1. 2011, S. 21. 13 Zitat aus der von Godard ursprünglich für die Broschüre der Célébrations nationales verfassten Würdigung Célines, wiedergegeben unter der Überschrift „Exclure Louis- Ferdinand Céline?“ in der Rubrik „Débats“ in: Le Monde, 25. 1. 2011, S. 19. 14 Radisch, Iris: „Keine Ehrung für Rassisten“. Vgl. auch Kéchichian, Patrick: „Il faut s’opposer à la célébration d’un auteur antisémite“. In: Le Monde, 25. 1. 2011, S. 19. 15 Altwegg, Jürg: „Kein Gedenken für Céline“. In: FAZ, 25. 1. 2011, S. 32. Mit ähnlichen Argumenten verteidigte in Frankreich Godard in Reaktion auf die Streichung des „écrivain à deux faces“ von der Liste der Jubilare „[l]a création artistique [qui], quand elle est authentique, constitue par elle-même un ordre qui ne se confond pas avec les

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kritiker Bertrand Poirot-Delpech das durch den im positiven wie auch im negativen Sinne sprachgewaltigen16 Schriftsteller verkörperte unlösbare Dilemma wie folgt auf den Punkt gebracht: „‚La cause est entendue: Céline est génial. La cause est entendue: Céline est abject (…) Depuis que Céline est mort, nous tournons fous dans ce débat entre esthétique et morale’“.17 Dass diese Zwickmühle durch Umtaufen der ministerialen Broschüre in Recueil des commémorations nationales weniger verzwickt gewesen wäre, erscheint fragwürdig.18 Vergleichsweise leise hingegen fielen im April 2012 die prophezeiten „cris d’orfraie“ aus, als der „écrivain collabo“ Pierre Drieu la Rochelle – seines Zeichens Faschist, Antisemit und „styliste hors pair“, der nach der französischen Niederlage im Herbst 1940 die Leitung der berühmten Lite- raturzeitschrift La Nouvelle Revue Française (NRF) übernommen hatte – „enfin toute sa place dans la Pléiade“ fand „à condition de ne pas ployer sous le poids du mythe romantique et vénéneux et […] de ne jamais disso- cier son esthétique de son idéologie, ni de laisser l’une éclipser l’autre.“19

autres ordres de valeurs, notamment pas avec la morale.“ Dass der Künstler dem mo- ralischen Imperativ enthoben sei, verneinte wiederum der ehemalige stellvertretende Chefredakteur von Le Monde des livres Patrick Kéchichian, „car il y a unité de la per- sonne de l’homme et de l’écrivain. Refuser cette séparation, c’est d’ailleurs une ma- nière de respecter l’écrivain, d’envisager sa parole comme intégralement responsable et son œuvre comme un ensemble cohérent.“ Vgl. „Exclure Louis-Ferdinand Céline?“ Weiterführend s. die Diskussion Godards und Kéchichians vom 19. 2. 2011 zum Thema „Céline et nous“ in der samstäglichen Radiosendung Répliques des Philoso- phen Alain Finkielkraut auf France Culture: „Répliques par Alain Finkielkraut: Céline et nous“, 19. 2. 2011, http://www.franceculture.com/emission-repliques-celine-et- nous-2011-02-19.html (letzter Zugriff am 2. 8. 2011). 16 Zu dem gegen Céline ebenso wie Ernst Jünger erhobenen Vorwurf der Gewaltver- herrlichung und dem „Konzept der ‚gewaltsamen Sprache’ […] und ihre behauptete Nähe zur Gewaltsamkeit“, vgl. Gumbrecht, Hans Ulrich: „Zauberer Merlin be- schimpft den Stabsoffizier. Louis-Ferdinand Céline und Ernst Jünger: Der Schriftstel- ler und die Körpererfahrungen im Ersten Weltkrieg“. In: FAZ, 13. 7. 2000, S. 56. 17 Beuve-Méry, Alain; Wieder, Thomas: „Frédéric Mitterrand fait volte-face et écarte Céline des célébrations de 2011“, Kursivierung im Text. 18 Die Umbenennung zieht der Historiker Jean-Noël Jeanneney, Mitglied des zwölfköp- figen Komitees, das alljährlich über die von einer Kommission des Kultusministeri- ums erbrachten Vorschläge berät, in Erwägung. 2009 hatte dieses Gremium den Vor- schlag, Brasillach zu seinem hundertsten Geburtstag zu ehren, abgelehnt. S. Ebd. 19 Assouline, Pierre: „Drieu sur papier bible“, 20. 4. 2012, http://passouline.blog. lemonde.fr/2012/04/20/drieu-sur-papier-bible/ (letzter Zugriff am 22. 4. 2012), Her- vorhebung BB. Wie bereits dem Titel der 1.936 Seiten umfassenden Ausgabe zu ent- nehmen ist (Pierre Drieu la Rochelle: Romans, Récits, Nouvelles, Collection Bibliothèque de la Pléiade (N° 578), 2012), wurden die politischen Essays (u.a. Socialisme fasciste, 1934; Avec Doriot, 1937) nicht berücksichtigt. Vgl. weiterführend das Dossier von France Inter mit einem Interview des Herausgebers der Drieu’schen Pléiade-Edition Jean-François Louette: „Dossier: Drieu la Rochelle dans la Pléiade“, 10. 4. 2012, http://www.franceinter.fr/dossier-drieu-la-rochelle-dans-la-pleiade (letzter Zugriff am 22. 4. 2012). Ausf. zu Drieu la Rochelle s. auch Kp. 1.4.3.

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Die „Fälle“ Ramon Fernandez, Louis-Ferdinand Céline und Pierre Drieu la Rochelle führen eindrücklich vor Augen, dass auch mehr als sech- zig Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs der „Verrat der Intellektuel- len“, so der deutsche Titel von Julien Bendas20 (1867-1956) kulturkritischem Essay aus dem Jahre 1927, ein sensibles und hochaktuelles Thema ist. Noch immer wirft die Kollaboration ihren „Schatten“ auf Frankreich, der in dem zum „Co-Immortel“ beschworenen Ramon Fernandez eindrücklich Gestalt angenommen hat. Beredter Ausdruck hierfür ist die Kontroverse um die Foto-Ausstellung Les Parisiens sous l’Occupation, die von März bis Juli 2008 in der Bibliothèque historique de la ville de Paris (BHVP) zu sehen war.21 270 bisher unveröffent- lichte Farbfotografien aus den Jahren 1941 bis 1944, aufgenommen von dem französischen Fotojournalisten und Korrespondenten der Propagan- dazeitschrift Signal André Zucca22 (1897-1973), zeigten ein mit der als „années noires“ apostrophierten Besatzung Frankreichs durch NS- Deutschland inkompatibles Bild, nämlich das eines trotz Okkupation ver- störend schönen Paris in Farbe, das „auf eine geradezu unanständige Wei- se“ lebte23: „Überfüllte Pariser Caféterrassen im hellen Sonnenlicht, bunte

20 Der Essay La Trahison des clercs des jüdischen Philosophen, Schriftstellers und „dreyfusard“ erschien zwischen August und November 1927 in der NRF. Im Verlauf der Epuration (vgl. Kp. 1.2) zeigte sich Benda unversöhnlich: „‚J’admets qu’on exalte les œuvres de Béraud, Maurras, Brasillach (en tant qu’elles ne prêchent pas la trahi- son), cependant qu’on les fusille comme collaborateurs.’“ (Les Lettres françaises, 2. 10. 1947). Prochasson, Christophe: „Julien Benda“. In: Juillard, Jacques; Winock, Michel (Hgg.): Dictionnaire des intellectuels français, S. 158-159, hier S. 158f. Zu Ben- da s. auch Kp. 1.4.4. 21 Begleitend zur Ausstellung erschien ein Katalog, versehen mit einem Vorwort von Jean-Pierre Azéma: Baronnet, Jean: Les Parisiens sous l’Occupation: Photographies en couleurs d’André Zucca. Préface de Jean-Pierre Azéma. Paris: Gallimard, Paris Biblio- thèques, 2008. 22 Zur Biografie des im Oktober 1944 kurzzeitig wegen Kollaboration verhafteten Zuc- ca, den Azéma als „individualiste forcené“, „à sa manière un anar de droite, qui n’était pas alors germanophobe“ charakterisiert, vgl. Azéma, Jean-Pierre: Préface. In: Baronnet, Jean: Les Parisiens sous l’Occupation, S. 5-11, hier S. 7. Knapp und, wie es die Wahl der Überschrift ahnen lässt, wenig kritisch fällt Nicole Zuccas Kurzbiografie ihres Vaters aus. Zucca, Nicole: Biographie d’André Zucca (1897-1973), self-made- man et chasseur d’images. In: Ebd.: S. 174. 23 Ritte, Jürgen: „Die dunklen Jahre in Agfacolor: Eine Fotoausstellung über Paris unter deutscher Besatzung“. In: NZZ, 16. 4. 2008, S. 46. Zucca war der einzige französische Fotograf, dem die deutsche Besatzungsbehörde in Paris die neueste technische Er- rungenschaft, den Agfacolor-Film, der gute Lichtverhältnisse erforderte, zur Verfü- gung stellte. Strahlender Sonnenschein und die Wahl der Sujets vermitteln „den An- schein von Heiterkeit und ungebrochener Lebensfreude“ – Willms zufolge eine aufgrund der „irgendwie fatal nostalgisch und verklärend wirkenden Farbaufnah- men“ „gefälschte Normalität“, oder aber, so Ritte kritischer, „[e]ine ‚Normalität’, die lange Zeit nicht zum französischen Selbstbild als kämpfende Nation passen wollte, eine Normalität auch, die Zucca als bunte Kulisse vor jene andere Wirklichkeit

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Strassenszenen im Arbeiterviertel von Belleville, Badende am Seine-Ufer, hübsche junge Damen in eleganten Roben auf der Pferderennbahn von Longchamp – auch das war Paris in den Jahren unter deutscher Besat- zung.“24 Diese einseitige Zurschaustellung der von der deutschen Propa- ganda bewusst kolportierten „Leichtigkeit des [Pariser] Seins“25, einher- gehend mit der als ungenügend monierten historisch-politischen Kommentierung durch Ausstellungskommentare und Bildlegenden, die den frappierend (farben-)frohen Eindruck zurechtgerückt hätten, löste eine lebhafte Polemik aus: Während Kritiker die „‚exposition light et glamour‘“ verurteilten, die Zucca in einen Robert Doisneau26 der Besatzungszeit ver- wandle, lobten Befürworter dieses „‚témoignage précieux et inédit‘“.27 Viel- leicht war es zudem „[d]as banale Gesicht des Bösen“, das auf den Fotos dokumentierte Nebeneinander „ganz ‚normaler‘ – und realer – Täter (ein x- beliebiger Wehrmachtssoldat) neben ganz ‚normalen‘ Pariser Bürgern in

schiebt, in der Hunger herrschte, in der Menschen verfolgt und deportiert wurden.“ Willms, Johannes: „Die unwirklichen Jahre: Farbphotographien von André Zucca zeigen Paris während der deutschen Besatzung“. In: SZ, 14. 4. 2008, S. 12; Ritte, Jür- gen: „Die dunklen Jahre in Agfacolor“. 24 Ders.: „Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins: Wirbel um eine Pariser Ausstellung zu den Jahren der Besatzung“. In: NZZ, 16. 5. 2008, S. 47. 25 So der unter Anspielung auf Milan Kunderas Roman aus dem Jahre 1984 gewählte Titel von Rittes obig zitiertem Artikel. 26 Zu dem Pariser Fotografen Robert Doisneau (1912-1994), den die (romantischen) Schwarz-Weiß-Aufnahmen seiner Heimatstadt (darunter die legendäre Aufnahme Le Baiser de l‘Hôtel de Ville aus dem Jahr 1950) berühmt machten, vgl. bspw. Stüben, Björn: „Ehrliche Milieustudien vom Paris der 50er: Vor 100 Jahren wurde der franzö- sische Fotograf Robert Doisneau geboren“, 14. 4. 2012, http://www.dradio.de/ dkultur/sendungen/kalenderblatt/1728065/ (letzter Zugriff am 3. 6. 2012). 27 Zit. in Guerrin, Michel: „La photo, la propagande et l’histoire“. In: Le Monde, 27./28. 4. 2008, S. 2, Kursivierung im Text. Guerrin betont in diesem Kontext die Komplexität und vielfältige Instrumentalisierbarkeit von Fotografien, schlussfol- gernd: „[I]l est impossible de rester neutre ou passif devant des images qui ne le sont pas.“ Aufschlussreich sind Guerrins Hinweise auf eine bereits Anfang 2000 geplante Zucca-Ausstellung, die aufgrund von Divergenzen zwischen Nicole Zucca sowie Mitarbeiterinnen der BHVP und des Centre national de la recherche scientifique (CNRS) hinsichtlich der Gewichtung von Zuccas kollaborationistischem Engagement nicht realisiert wurde. Ders.: „Comment a échoué une exposition critique des photos de Paris occupé“. In: Le Monde, 25. 4. 2008, S. 24 sowie Ders.: „La photo, la propagande et l’histoire“. Nur ein Jahr nach der Ausstellung erschien im Sommer 2009 bei Découvertes Gallimard La vie culturelle dans la France occupée: Nicht nur den Einband ziert eine Farbfotografie des nicht als Signal-Fotograf ausgewiesenen Zucca, auch der Prégénérique mit dem Titel „Moments de vie culturelle dans Paris occupé: la vision d’André Zucca“ besteht aus fünf, davon vier doppelseitigen, kommentarlos abge- druckten Zucca-Aufnahmen, deren Interpretation dem Leser anheimgestellt bzw. zu- getraut wird. Barrot, Olivier; Chirat, Raymond: La vie culturelle dans la France occu- pée. Paris: Gallimard (Découvertes Gallimard, Histoire; 548), 2009. Vgl. hierzu auch Kp. 2.

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einer ganz ‚normalen‘ Alltagssituation“, das die Gemüter erregte.28 Doch schon Jean-Paul Sartre (1905-1980) hatte 1945 geschrieben: „Il faut d’abord nous débarrasser des images d’Epinal: non, les Allemands ne parcouraient pas les rues, l’arme au poing“.29 Von der im Affekt avisierten Schließung der Ausstellung sah die Stadt Paris dennoch ab und händigte stattdessen den Besuchern ein vor fälschli- chen Rückschlüssen „warnendes“ Informationsblatt (Avertissement) aus – „De ces images sont généralement bannis la souffrance, l’exclusion, le malheur. On n’y voit guère non plus les manifestations ou les traces de l’opposition à l’Occupation, de la répression des rafles de juifs.“ – , nicht ohne den dokumentarischen Stellenwert der Fotografien des „esthète ger- manophile“ zu betonen.30 Augenfälligstes Resultat der hitzigen Debatten

28 So Rittes Hypothese angesichts des „Kuriosums“ des enormen Aufsehens um die Pariser Ausstellung, während doch nur kurz zuvor Jonathan Littells Schilderung der monströsen Lebensbeichte des fiktiven SS-Offiziers und multiplen Mörders Dr. Max Aue in Frankreich begeistert rezipiert worden war (Les Bienveillantes, 2006, Prix Gon- court und Grand Prix du Roman der Académie française). Diese Gegenüberstellung be- darf indes der Relativierung, handelt es sich doch bei Littells Werk um „Fiktion“, bei Zuccas Fotografien um, wenngleich nur eine, dafür aber direkt anschaubare „Reali- tät“ mit Zeugnischarakter. Ritte, Jürgen: „Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins“. Zur deutschen Rezeption von Littells Roman vgl. bspw. die von der FAZ im Februar 2008 initiierte Diskussion via Internet Reading Room mit renommierten Vertretern aus den Geschichts- und Literaturwissenschaften, unter ihnen der Freiburger Romanis- tik-Professor Frank-Rutger Hausmann, ausgewiesener Kenner der Rolle (sowie der Akteure) der Geisteswissenschaften im Dritten Reich 1933-1945 (2002), und Helmuth Kiesel, Professor für Neuere deutsche Literaturgeschichte an der Universität Heidel- berg (u.a. Ernst Jünger: Die Biographie, 2007). Vgl. die Ankündigung: „Ein Holocaust- Roman, wie es ihn noch nie gegeben hat? Acht Experten eröffnen heute im F.A.Z. Reading Room im Internet die Diskussion um Jonathan Littells ‚Die Wohlgesinnten‘ – Wir stellen die Beteiligten vor“. In: FAZ, 4. 2. 2008, S. 40. S. auch „Frankfurter Allge- meine Lesesaal: Jonathan Littell ‚Die Wohlgesinnten’“, http://lesesaal.faz.net/littell/ (letzter Zugriff am 14. 8. 2011). 29 Sartre, Jean-Paul: Paris sous l’Occupation. In: Ders.: Situations III: Lendemains de guerre. Paris: Gallimard, 1949, S. 15-42, hier S. 18. Wenngleich Sartre, so Azéma prä- zisierend, das eben aus diesem Grund schlechte Gewissen der Franzosen thematisier- te, sei dies nicht „la tasse de thé d’un Zucca“ gewesen. Azéma, Jean-Pierre: Préface. In: Baronnet, Jean: Les Parisiens sous l’Occupation, S. 8. 30 So der Wortlaut des Anfang April als Reaktion auf die Kontroverse in mehrere Spra- chen übersetzten, mir vorliegenden Avertissement der Mairie de Paris, wobei es sich um eine Zusammenfassung von Jean-Pierre Azémas Vorwort zum Ausstellungskata- log handelt. S. Mairie de Paris: Avertissement. [Paris: 2008], o.S., Hervorhebung BB. Zudem veranlasste der Pariser Bürgermeister Bertrand Delanoë eine Reihe ausstel- lungsbegleitender Vorträge und Diskussionsveranstaltungen, u.a. mit den renom- mierten Historikern und ausgewiesenen Vichy- und Besatzungszeit-Spezialisten Jean-Pierre Azéma und Pascal Ory zu Themen wie La photographie est-elle un bon témoin de l’histoire? (31. 5. 2008) oder Vérité des images, vérité de l’occupation (9. 6. 2008). S. „Dispositif d’information des visiteurs de l’exposition ‚Des Parisiens sous l’Occu- pation’“, 25. 4. 2008, http://www.paris.fr/accueil/Portal.lut?portal_component=

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war jedoch neben der Entfernung der Ausstellungsplakate die Verände- rung des Titels in Des Parisiens sous l’Occupation. An die Stelle des scho- ckierend konkreten, fast spürbar deiktischen bestimmten Artikels, trat als „différance“31 im Sinne Jacques Derridas der indefinite, der qua Definition auf eine unbestimmte, diffuse, doch eingeschränkte Anzahl von Parisern unter der Besatzung hinwies: „Il s’agit là d’un témoignage saisissant d’une certaine vision de la vie quotidienne de certains Parisiens pendant les années noires, de l’Occupation à la Libération.“32 Der durch Zuccas Auf- nahmen gerade nicht offensichtlich selektive Eindruck eines unrühmlichen, kollektiven Arrangements der Besetzten mit den Besatzern sollte auch durch die unübersehbare Modifizierung des Titels von „den“ Parisern ab- gewendet werden. Indes stellt sich die Frage der Relation: Ist es allein die unzulängliche wissenschaftliche Ausstellungskonzeption und -präsenta- tion, die Ausdruck der bis heute währenden Weigerung ist, sich grundle- gend mit allen Facetten der Besatzungszeit und der Kollaboration ausei- nanderzusetzen – oder nicht auch das Ausmaß der Empörung?33 „[Q]uelle est la part de vérité renfermée par ces images?“ fragt ebenfalls die Germanistin und Philosophin Cécile Desprairies in ihrer jüngsten Neu- erscheinung Sous l’œil de l’occupant: La France vue par l’Allemagne 1940-1944 (2010), in der sie Fotografien der NS-Propagandakompanien im besetzten Frankreich in Augenschein nimmt. Die Offenlegung ihrer Inszenierung führt zur bedeutsamen Präzisierung der Leitfrage: „La question n’est donc peut-être pas tant celle de la véracité que la façon dont ces photos nous

17&page_id=1&elected_official_directory_id=-1&document_id=52965 (letzter Zugriff am 2. 8. 2011). 31 So der Hinweis Kneißls, die zudem zu Recht bemerkte, dass mangels alternativer, wirkungsvoll konterkarierender Aufnahmen oder Dokumente die (kritische) Inter- pretation alleinig dem Betrachter überlassen und folglich „der Unterschied zwischen den beiden Lesarten der Ausstellung [...] letztlich doch nur ein rein grafischer [blieb].“ Kneißl, Daniela: Ausstellungs-Rezension zu Des Parisiens sous l’occupation 20.03.2008-01.07.2008, Bibliothèque historique de la ville de Paris. In: H-Soz-u-Kult, 14. 6. 2008, http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/id=99&type= rezausstellungen (letzter Zugriff am 2. 8. 2011), Hervorhebung BB. 32 Der zum damaligen Zeitpunkt auf der Homepage der Stadt Paris einzusehende Text, dem dieses Zitat entstammt (http://www.paris.fr, letzter Zugriff am 28. 3. 2009), ist nicht mehr online, deswegen sei verwiesen auf dessen Wiedergabe unter „André Zucca: Les Parisiens sous l’occupation“, 5. 10. 2011, http://www.actuphoto.com/ 7683-andre-zucca-les-parisiens-sous-l-occupation.html (letzter Zugriff am 22. 4. 2012). 33 Ersteres ist das in eine rhetorische Frage gekleidete Fazit Guerrins (La photo, la propagande et l’histoire), Zweitgenanntes konkludiert Hanimann, demzufolge Frank- reich „noch viel Zeit [brauche], um seiner Geschichte wirklich ins Gesicht zu sehen.“ Zuccas Bilder seien ein weiterer Beleg dafür, dass sich die Wirklichkeit „im weiten Zwischenraum zwischen Résistance und Vichy“ abgespielt habe. Hanimann, Joseph: „Die Sonne scheint auch in finsteren Jahren: Eine Pariser Ausstellung mit Fotografien aus der Besatzungszeit empört Frankreich“. In: FAZ, 25. 4. 2008, S. 37. Vgl. auch Kneißls bereits zitierte Ausstellungs-Rezension zu Des Parisiens sous l’occupation.

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parlent.“34 Plakative, „laute“ Schwarz-Weiß-Aufnahmen reihen sich in diesem „album riche, étonnant, détonnant“35 neben subtile, „leise“. Wäh- rend die Kamera des deutschen Propagandafotografen die betont fröhli- chen Gesichter miteinander scherzender, in Waffenbrüderschaft vereinter französischer Soldaten der Légion des volontaires français contre le bolchevisme (LVF) und von Wehrmachtssoldaten einfängt, fokussiert „l’œil de l’occu- pant“ andernorts folgende an eine Holztür angebrachte handschriftliche Bekanntmachung: „Das Schloss von Fontainebleau ist unter den Schutz der deutschen Ehre gestellt.“ – datierend vom 16. Juni 1940, d.h. zwei Tage nach dem deutschen Einmarsch in Paris, niedergeschrieben und unter- zeichnet vom Direktor des Museums Charles Terrasse, ausgewiesener Kunsthistoriker sowie Verfasser von Biografien und Werkanalysen zu Albrecht Dürer (1935/36) und Holbein (1936).36 Retrospektiv wirkt die Schlichtheit des Aushangs, die stilistische Eleganz und sprachliche Kor- rektheit umso bedrückender, als die Besatzungswirklichkeit diese sich auf den militärischen Ehrenkodex beziehende Ankündigung als Phrase ent-

34 So Desprairies (*1957) in der nicht nummerierten, vier Seiten umfassenden Einlei- tung, in der sie die doppelte Zielsetzung der Fotografien der Propagandakompanien (1941/42: 12-13.000 Mann) unter dem Kommando General Hasso von Wedels (Die Propagandatruppen der deutschen , 1962) betont: Ermutigung der deutschen Truppen und Entmutigung der Besetzten. Desprairies, Cécile: „Introduction“. In: Dies.: Sous l’œil de l’occupant: La France vue par l’Allemagne 1940-1944. Paris: Ar- mand Colin, 2010, o.S., Hervorhebung BB. Ausf. s. auch Barkhausen, Hans: Filmpro- paganda für Deutschland im Ersten und Zweiten Weltkrieg. Hildesheim u.a.: Olms Presse, 1982, insb. S. 192-243. 35 Vgl. die Besprechung von Cariguel, Olivier: „Cécile Desprairies Sous l’œil de l’occu- pant.“ (Rezension). In: Revue des deux mondes (janvier 2011), S. 186-187, hier S. 187. 36 „Soldat français, soldat allemand, même combat“, fotografiert im Mai 1942 in Metz von Hanns Hubmann; „Le message du château de Fontainebleau“, fotografiert am 8. 7. 1940 in Fontainebleau, wahrscheinlich von Heinz Fremke. Vgl. Desprairies, Cécile: Sous l’œil de l’occupant, der Reihe nach S. 94-95 und 48-49. Zur LVF s. auch Kp. 1.3. Sous l’œil de Vichy könnten komplementär zu Desprairies Album die Auf- nahmen der propagandistisch inszenierten Relève, welche die Rückführung eines französischen Kriegsgefangenen im „freiwilligen“ Austausch gegen drei französische Facharbeiter für Deutschland vorsah, am Bahnhof von Compiègne genannt werden: Am 11. 8. 1942 kehrten die ersten aus der Kriegsgefangenschaft entlassenen Franzo- sen in ihre Heimat zurück, während als Gegenleistung ein Zug „freiwilliger“ franzö- sischer Arbeitskräfte zur Abfahrt nach Deutschland bereit stand. Um Lavals Ver- dienst an diesem Vorzeigeergebnis der erfolgreichen Kollaborationspolitik nicht zu schmälern, verbot die Vichy-Zensur die Veröffentlichung der Fotografien, auf wel- chen neben dem Regierungschef Vertreter der deutschen Besatzungsmacht zu sehen waren. Maréchal, Denis: Un autre regard sur le fonds photographique de Vichy, la Relève, au filtre de la propagande. In: Images de la France de Vichy 1940-1944: Images asservies et images rebelles. Textes de Denis Peschanski, Yves Durand, Do- minique Veillon, Pascal Ory, Jean-Pierre Azéma, Robert Frank, Jacqueline Eichart, Denis Maréchal. Paris: La Documentation Française, 1988, S. 249-253.

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larvte.37 Thront hierüber bewusst, quasi als Versinnbildlichung des Macht- gefälles zwischen Sieger und Besiegtem, das – der NS-Bürokratie gemäß – maschinengeschriebene und von einem deutschen Major und Komman- danten abgezeichnete Zugangsverbot? Hinter dieser Tür, an diesem ge- schichtsträchtigen Ort, an dem Napoleon I. (1769-1821) am 6. April 1814 seine Abdankung erklären musste, hatte nunmehr auch die französische Kultur dem deutschen Besatzer das Feld zu räumen. „Schutz“ und „Ehre“ wurden dem usurpierten und in der Folge geplünderten Königsschloss keineswegs zuteil. Gleichsam als Negativ zu diesen propagandistischen Bildern sowie zu Zuccas positivem Paris der Nazizeit präsentiert Desprairies in Form eines weiteren Fotoalbums Schlüssel- und „Erinnerungsorte“38 der Kollaboration in der Capitale. In Ville lumière, années noires: les lieux du Paris de la Collabora- tion (2008) ist die dunkle Kehrseite der Lichterstadt auf 140 aus der Okku- pationszeit datierenden, oftmals unveröffentlichten Aufnahmen insbeson- dere von Gebäuden – oder ihren Liegenschaftsplänen – zu sehen, hinter deren Fassaden mit dem deutschen Besatzer kollaboriert wurde: „La mémoire des pierres est âpre. Ici, pas de soleil. Plutôt la face cachée de la lune.“39 Aus dem Erstaunen, dass „in plaque-happy Paris“40, der von Ge- denktafeln geradezu übersäten Metropole, die düstere Vergangenheit der Kollaborationsorte zumeist verschwiegen wird, als hieße es den ehedem

37 Laut Unterlagen des Bundesarchiv-Militärarchivs Freiburg war die dem Militärbe- fehlshaber Frankreich unterstellte Kreiskommandantur 781 vom 25. 11. 1940 bis 10. 6. 1942 in Fontainebleau einquartiert. S. Tessin, Georg: Verbände und Truppen der deutschen Wehrmacht und Waffen-SS im Zweiten Weltkrieg 1939-1945. Bd. 16. Verzeichnis der Friedensgarnisonen 1932-1939 und Stationierungen im Kriege 1939- 1945, bearb. von Christian Zweng. Teil 4: Besetzte Gebiete Nord, West, Süd. Osna- brück: Biblio Verlag, 1997, S. 59. 38 In Anlehnung an Pierre Noras Metapher der „lieux de mémoire“, der in dem sieben Bände umfassenden gleichnamigen Werk „‚eine in die Tiefe gehende Analyse der ‚Orte’ in allen Bedeutungen des Wortes’“ vornahm, „‚in denen sich das Gedächtnis der Nation Frankreich in besonderem Maße kondensiert, verkörpert oder kristalli- siert hat.’“ Etienne François und Hagen Schulze übertrugen Noras Konzept auf Deutschland und edierten die Deutschen Erinnerungsorte in drei Bänden. François, Etienne; Schulze, Hagen: Einleitung. In: Dies. (Hgg.): Deutsche Erinnerungsorte. Bd. 1. Broschierte Sonderausgabe. München: C. H. Beck, 2003, S. 9-24, hier S. 15f. 39 S. Assouline, Pierre: Le sombre génie des lieux. In: Desprairies, Cécile: Ville lumière, années noires: les lieux du Paris de la Collaboration. Paris: Denoël, 2008, S. 15-20, hier S. 15. Alle Gebäude, deren Fotografien u.a. aus dem Bundesarchiv in Koblenz stam- men, sind mit einem Hinweis auf ihr „Leben“ vor, während und nach der Besatzung versehen. Zu Konzeption und Quellen vgl. die einleitenden Bemerkungen der Ver- fasserin: Desprairies, Cécile: Introduction. In: Dies.: Ville lumière, années noires, S. 21-24, hier S. 22f. 40 Der Rezensent unterstreicht nicht nur Desprairies’ historisches, sondern auch thera- peutisches Bemühen im Umgang mit den dunklen Jahren der Lichterstadt. Rosbot- tom, Ronald C.: „Cécile Desprairies Ville lumière, années noires“ (Rezension). In: French Review 83/2 (Dezember 2009), S. 431-432, hier S. 431.

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unheilvollen genius loci geheim zu halten, gingen Desprairies Publikationen hervor.41 Wer weiß oder möchte heute noch daran erinnert werden, dass sich in dem 1941 von den Nationalsozialisten requirierten Hôtel particulier des jüdischen Gemäldehändlers Paul Rosenberg in der 21 rue La Boétie (8e) das Institut d’étude des questions juives (gegründet im Mai 1941, ab März 1943 mit dem Zusatz et ethno-raciales) befand, Sammelbecken antijüdischer Denunzierungsschreiben und Organisationsstätte der antisemitischen Pro- paganda-Ausstellung Le Juif et la France?42 „Les façades haussmanniennes sont [...] des déclics de la mémoire. La pierre de taille agit comme une ma- deleine“, so Assoulines proustisch inspirierter Vergleich, doch „[q]ui a envie qu’on lui rappelle les mauvais souvenirs? Certainement pas les successeurs. Ni personne.“43 Verzeichnet und somit der Vergessenheit entrissen werden auch „Leerstellen“ wie das im Jahre 1993 abgerissene Hôtel d’Albe auf den Champs-Élysées, unter dessen Dach nicht nur die Deutsche Arbeitsfront residierte, sondern auch die Redaktion der antisemi- tischen Kollaborationszeitung Au Pilori, die den pathologischen Diatriben Célines ein Forum bot, und an dessen Standort nunmehr ein feudales Art Déco-Gebäude steht, in dem seit 2005 das glamouröse Luxuslabel Louis Vuitton logiert.44 Es sind nicht nur die Bücher Desprairies’, die einen Eindruck davon vermitteln „pourquoi ce passé passe si mal“, so der Journalist des Nouvel Observateur Laurent Lemire angesichts der jüngsten Veröffentlichungen über die Kollaboration und Epuration unter Anspielung auf Eric Conans und Henry Roussos Studie Vichy, un passé qui ne passe pas (1994).45 Wort-

41 Von Serge Klarsfeld in seinem Vorwort als Referenzwerk gelobt, stellt Desprairies folgende über 600 Seiten umfassende Veröffentlichung mit dem Titel Paris dans la Collaboration (2009) eine nach den Arrondissements geordnete Inventarisierung der von der deutschen Besatzungsmacht okkupierten bzw. requirierten Gebäude und Wohnungen dar, u.a. bebildert mit Fotografien der deutschen Propaganda sowie ver- sehen mit zahlreichen Zitaten aus der deutschen und französischen Literatur. Des- prairies, Cécile: Paris dans la Collaboration. Préface de Serge Klarsfeld. Paris: Edi- tions du Seuil, 2009. Vgl. auch die Vorstellung beider Werke durch Galster, Ingrid: „Auf der Suche nach der Wahrheit“. Zu der für die französische Hauptstadt typi- schen Huldigung des „‚Génie du lieu’“ äußert sich Ritte im Rahmen der Rezension von Alain Dautriats Paris-Stadtführer (Sur les murs de Paris…: Guide des plaques com- mémoratives, 1999) via 1.347 Gedenktafeln als Wegmarken vornehmlich der französi- schen Republik. Ritte, Jürgen: „Sur les murs: Gedenktafeln als Pariser Stadtführer“. In: NZZ, 26. 11. 1999, S. 66. 42 Desprairies, Cécile: Ville lumière, années noires, S. 176f. S. auch Dies.: Paris dans la Collaboration, S. 258; Dies.: Sous l’œil de l’occupant, S. 102f. Besagte Ausstellung war von September 1941 bis Januar 1942 im Palais Berlitz zu sehen. 43 Assouline, Pierre: Le sombre génie des lieux, S. 15 und 20. 44 Vgl. den Liegenschaftsplan in Desprairies, Cécile: Ville lumière, années noires, S. 150. 45 Lemire, Laurent: „De la collaboration à l’épuration: Une France très occupée“. In: Le Nouvel Observateur, N° 2477, 26. 4. 2012, S. 116. Lemire (*1961) bezieht sich auf fol- gende Publikationen aus der Feder amerikanischer, deutscher und französischer Au-

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spielerisch pointiert fällt sein Resümee über das „okkupierte“ Frankreich aus: „On a cru vider son sac mais il reste toujours quelques secrets au fond. Pendant quatre ans, la France fut très occupée, en effet. A survivre d’abord, à croire en Pétain dans un premier temps, à résister peu à peu, à régler ses comptes ensuite et à s’en remettre très difficilement.“46 Das Interesse an der Okkupation und der Kollaboration führt weit über die französischen Landesgrenzen hinaus. Von April bis Juli 2009 zog eine unter Federführung des Institut Mémoires de l’édition contemporaine (IMEC) in Caen konzipierte und dem literarischen Leben Frankreichs zur Zeit der NS-Besatzung gewidmete Ausstellung mehr als 100.000 Besucher in die Public Library: Die unter Mitwirkung Robert O. Paxtons, Emeritus der Columbia University sowie renommierter Vichy- und Faschismus-Spe- zialist (Vichy France: Old guard and new order, 1940-1944, 1972), kuratierte Ausstellung hielt mit hunderten von Dokumenten und Exponaten der drei- ßiger bis fünfziger Jahre aus Archiven internationaler Leihgeber Rückschau auf das Verhalten und Wirken französischer Schriftsteller, Journalisten und Verleger im weiten Spektrum „[b]etween Collaboration and Resistance“.47

toren: Alan Riding Et la fête continue: La vie culturelle à Paris sous l’Occupation (2012, engl. Original: And the show went on: cultural life in Nazi-occupied Paris, 2010), Jean- Pierre Azéma L’Occupation expliquée à mon fils (2012), August von Kageneck La France occupée (2012), Jean-Marc Berlière et Franck Liaigre Ainsi finissent les salauds: séquestra- tions et exécutions clandestines dans Paris libéré (2012). 46 Ebd. 47 Der vollständige Ausstellungstitel lautete Between Collaboration and Resistance, French Literary Life under Nazi Occupation, 1939-1945. Vgl. den mit rund 650 Dokumenten, da- runter zahlreiche Fotografien und Faksimiles oftmals unveröffentlichter Privatkorres- pondenzen und Tagebücher, reich bestückten französischsprachigen Ausstellungska- talog (446 Seiten): Paxton, Robert O.; Corpet, Olivier; Paulhan, Claire: Archives de la vie littéraire sous l’Occupation: À travers le désastre. Ce livre est réalisé à l’occasion de l’exposition présentée sous le titre Between Collaboration and Resistance, French Lite- rary Life under Nazi Occupation, 1939-1945 à la New York Public Library (NYPL), d’avril à juillet 2009. Une première version de cette exposition a été présentée sous le titre A travers le désastre, la vie littéraire française sous l’Occupation, au Mémorial de Caen, du 13 novembre 2008 au 3 janvier 2009. Paris: Éditions Tallandier et les Édi- tions de l’IMEC, 2009. Claire Paulhan und Olivier Corpet stützen sich dabei auf ihre 2004 veröffentlichten Recherchen (Archives des années noires: artistes, écrivains et édi- teurs). Die New Yorker-Ausstellung war jüngst unter dem (Buch-)Titel Archives de la vie littéraire sous l’Occupation im Hôtel de Ville de Paris (Mai bis Juli 2011) zu sehen, der Katalog erschien in unveränderter Neuauflage (2011). Die Publikation besagten Aus- stellungskatalogs war am 17. 6. 2010 Anlass für France Culture, Robert O. Paxton (*1932) und Jean-Pierre Azéma (*1937), der kurz zuvor 1940, l’année noire: de la déban- dade au trauma (2010) veröffentlicht hatte, zu einer Diskussionsveranstaltung in Erin- nerung an den 70. Jahrestag der Ankündigung des Waffenstillstandsersuchens durch Pétain (17. 6. 1940) einzuladen. S. „Tout arrive! par Arnaud Laporte: Jean-Pierre Azéma, Robert O. Paxton“, 17. 6. 2010, http://www.franceculture.com/emission- tout-arrive-jean-pierre-azema-robert-o-paxton-2010-06-17.html (letzter Zugriff am 15. 8. 2011). Zur Kommentierung der New Yorker Ausstellung s. Galster, Ingrid: „Auf

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Auch und gerade „[a]u fond de l’abîme“, wie Paxton die Zeit zwischen der Niederlage Frankreichs bis zur Befreiung charakterisiert, spielten die fran- zösischen Intellektuellen als personae publicae eine bemerkenswerte, im Vergleich zu den Nachbarländern bedeutende Rolle: Seit jeher standen Literatur und Politik in Frankreich in besonders engem Konnex, nur hier wurde „‚die Literatur von der Nation als ihr repräsentativer Ausdruck empfunden‘.“48 Von ihnen, die im Jahrzehnt vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs leidenschaftlich über nationale und internationale Konflikte debattiert hatten, deren Kulminationspunkte die Auseinandersetzung mit dem Front populaire, der Spanische Bürgerkrieg, das Münchner Abkommen, die Konfrontation von Kommunismus und Faschismus oder das national- sozialistische Deutschland waren, erwartete man Aufklärung über die Gründe der schmachvollen Niederlage und Perspektiven für die Gesun- dung Frankreichs.49 Dies spiegeln die zur Schau gestellten Unterlagen wi- der, welche die Kuratoren als „‚archive existentielle‘“ qualifizieren, als „porteur d’une histoire personnelle et donc d’une émotion, d’une pré- sence.“50 Auf vielfältige Weise führen diese Erinnerungsobjekte „la respon- sabilité des mots“51 vor Augen, denn, so die Gleichung François Mauriacs

der Suche nach der Wahrheit“. S. auch Rothstein, Edward: „Sorrow, Pity, Celebra- tion: France under the Nazis“. In: , 25. 4. 2009, C1. Ausf., den Katalog insgesamt würdigende Rezension mit kritischem Hinweis auf die Vernach- lässigung bedeutender Archive (z.B. das Arno Brekers) sowie die gänzliche Ausspa- rung deutscher Forschungen bei der Gesamtkonzeption von Ausstellung und Kata- log durch Hausmann, Frank-Rutger: Rezension zu Archives de la vie littéraire sous l‘Occupation: A travers le désastre. In: Informationsmittel (IFB) IFB 09-1/2, http://ifb.bsz-bw.de/bsz307580105rez-1.pdf?id=2816 (letzter Zugriff am 15. 8. 2011). Vgl. die diesbzgl. mit Hausmann übereinstimmende Kritik durch Betz, der im Jahr 2001 im Rahmen einer Rezension aktueller deutscher und französischer Publikatio- nen zur Kollaboration in Ansehung des Dictionnaire historique de la France sous l’Occupation (2000) von Jean-Paul und Michèle Cointet seine Verwunderung über das Desinteresse an deutschen Quellen kundtat und zudem mangelnde deutsche Sprach- kenntnisse bei den französischen Historikern und Lexikon-Autoren vermutete. Betz, Albrecht: „Wie national war die Kollaboration? Auch die französische Vergangenheit will nicht vergehen“. In: NZZ, 19. 5. 2001, S. 93. 48 Ernst Robert Curtius, zit. in Jurt, Joseph: Schriftsteller und Politik im Frankreich der dreißiger Jahre. In: Brockmeier, Peter; Wetzel, Hermann H. (Hgg.): Französische Lite- ratur in Einzeldarstellungen. Bd 3: Von Proust bis Robbe-Grillet. Stuttgart: Metzler, 1982, S. 133-216, hier S. 133. 49 Paxton, Robert O.: Au fond de l’abîme. In: Ders.; Corpet, Olivier; Paulhan, Claire: Archives de la vie littéraire sous l’Occupation, S. 6-17, hier S. 6. 50 Corpet, Olivier; Paulhan, Claire: L’Archive, la mémoire et l’histoire. In: Ebd.: S. 24-25, hier S. 24, Kursivierung im Text. 51 Ebd. Vgl. Assoulines positive Würdigung der Pariser Ausstellung, nach deren Besich- tigung „[c]hacun repart avec ce qu’il veut emporter de ce voyage dans le temps, mé- ditation sur la responsabilité des mots, ceux qui tuent et ceux qui sauvent.“ Assou- line, Pierre: „‚Pas de salauds d’un côté, ni de héros de l’autre’“, 1. 6. 2011. S.

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(1885-1970), des einzigen Immortel, der sich in der literarischen Résistance engagierte52: „Ecrire, c’est agir. C’est parce que nos actes nous suivent, que nos écrits nous suivent.“53 Vor diesem Hintergrund gewinnt das Forschungsanliegen vorliegender Arbeit Kontur: Im Zentrum stehen ausgewählte Werke literarischer Kolla- borateure, ihres Zeichens renommierte Schriftsteller der Zwischenkriegs- zeit, die zu unterschiedlichen, jeweils signifikanten Zeitpunkten in der Vorkriegszeit („avant-guerre“), im Verlauf des „Sitzkrieges“ („drôle de guerre“) – d.h. der nahezu kampflosen Phase an der deutsch-französischen Grenze zwischen Hitlers Überfall auf Polen am 1. September 1939 bis zum Beginn der deutschen Westoffensive am 10. Mai 1940 – und in der Endpha- se der Okkupation entstanden.54 Ziel ist es, Alphonse de Châteaubriants Reisebericht La Gerbe des Forces: Nouvelle Allemagne (1937), Robert Brasil- lachs autobiografische Erinnerungsbücher Notre avant-guerre (1941) und Journal d’un homme occupé (postum, 1955) sowie Jacques Chardonnes Essay Le Ciel de Nieflheim (1943) auf faschistisches Gedankengut zu untersuchen und darüber hinaus zu eruieren, ob diese Texte als „Schreiben“ und „Han- deln“ im Sinne einer Befürwortung der nationalsozialistischen Ideologie und der Unterstützung eines europäischen Faschismus zu qualifizieren sind.

http://passouline.blog.lemonde.fr/2011/06/01/pas-de-salauds-dun-cote-ni-de-heros- de-lautre/ (letzter Zugriff am 22. 4. 2012). 52 Sapiro, Gisèle: La guerre des écrivains: 1940-1953. Paris: Fayard, 1999, S. 15. 53 Vgl. Mauriacs Artikel Autour d’un verdict (, 3. 1. 1945), zit. in Paxton, Robert O.; Corpet, Olivier; Paulhan, Claire: Archives de la vie littéraire sous l’Occupation, S. 403, Hervorhebung BB. 54 Der Arbeit zugrunde liegt ein „weiter“ Kollaborationsbegriff, verstanden als pro-na- zistisches Engagement bereits vor der französischen Niederlage im Sommer 1940 und der offiziellen Kollaborationsankündigung durch Philippe Pétain (1856-1951) in sei- ner Radioansprache vom 30. 10. 1940. Zur Biografie Pétains, dem „Verteidiger“ und „Retter“ Verduns (1916), Marschall (1918), Generalinspekteur der Armee (1922-1931), Kriegsminister (1934), Botschafter in Spanien (1939) und Chef de l’Etat (ab 10. 7. 1940), der u.a. wegen Kollaboration und Hochverrat im August 1945 zum Tode verurteilt, von de Gaulle – im Unterschied zu Laval und Darnand – begnadigt und zu lebens- langer Haft (Île d’Yeu) verurteilt wurde, vgl. bspw. Pedroncini, Guy: Pétain, le soldat: 1856-1940. Paris: Perrin, 1998. Zum „Pétain-Kult“ s. Waechter, Matthias: Der Mythos des Gaullismus: Heldenkult, Geschichtspolitik und Ideologie: 1940-1958. Göttingen: Wallstein, 2006 (Moderne Zeit; 14), S. 37-42. Zu Pétain s. auch Kp. 4.10, zum Vichy- Regime vgl. die im Forschungsstand kondensierte Sekundärliteratur.

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1.2 Das Spektrum der schriftstellerischen Kollaboration

Unter dem programmatischen Titel Littérature et propreté informierte der Verleger und Dichter der Résistance Pierre Seghers55 (1906-1987) am 7. Sep- tember 1944 in Le Parisien libéré über den wenige Tage zuvor getroffenen Beschluss des Comité National des Ecrivains (CNE)56: Die Mitglieder des während der années noires von der kommunistischen Widerstandsorganisa- tion Front National gegründeten klandestinen Vereinigung des Front, später Comité National des Ecrivains, „‚[u]nis dans la victoire et la liberté comme nous le fûmes dans la douleur et l’oppression’“57, forderten die Regierung zur Bestrafung der Schriftsteller auf, die sich während der deutschen Be- satzung des Vaterlandsverrats schuldig gemacht hatten. Diesen Straftatbe- stand erfüllten dem CNE zufolge die Kollegen, welche der Gruppierung Collaboration angehört, Einladungen nach Hitler-Deutschland und Finan- zierungen durch dieses angenommen sowie kraft ihrer Publikationen und ihres Einflussvermögens zur Unterstützung der NS-Propaganda beigetra- gen hatten58: [T]ous ceux-là doivent être jugés. Jugés sévèrement. Des écrivains français ont tenté, dès 1940, de transformer le désastre matériel de la France en une pourriture de l’esprit. A côté de la trahison militaire, ils instauraient le régime de la véritable trahison des clercs. L’éclat de leur nom, leur talent, leur prestige, ils le mettaient au service de l’occupant. […]

55 Seghers, der 1939 die Zeitschrift Poètes casqués 39, 40 ins Leben gerufen hatte, nach der Niederlage umbenannt in Poésie 40… (1940-1947), in der u.a. Aragon und Eluard schrieben, gründete nach dem Krieg die Editions Seghers, deren Reihe Poètes d’aujour- d’hui das Verlagshaus berühmt machte. Auf Anregung Pierre Seghers und seines Freundes Pierre Emmanuel wurde 1983 in Paris die Maison de la Poésie gegründet. Mercier, Pascal: „Pierre Seghers“. In: Juillard, Jacques; Winock, Michel (Hgg.): Dic- tionnaire des intellectuels français, S. 1268-1269; weiterführend vgl. bspw. Seghers, Pierre: La poésie et la Résistance. In: La Littérature Française sous l’Occupation. Actes du Colloque de Reims (30 septembre – 1er et 2 octobre 1981). Bd. 1. Reims: Presses Univ. de Reims, 1989, S. 137-142. 56 Vgl. Sapiro, Gisèle: La guerre des écrivains, insb. Kp. 7 „Le sens de la subversion: Le Comité National des Écrivains“, S. 467-562, und Kp. 8 „Le tribunal des lettres“, S. 563-626. Ausf. zu Formierung und Formen der insb. aus dem linkspazifistischen Milieu hervorgegangenen Résistance s. Babilas, Wolfgang: Der literarische Wider- stand. In: Kohut, Karl (Hg.): Literatur der Résistance und Kollaboration in Frank- reich: Geschichte und Wirkung II (1940-1950). Tübingen: Gunter Narr, 1982 (Schwer- punkte Romanistik; 19), S. 31-150. 57 Aus dem Manifeste des écrivains français, erschienen am 9. 9. 1944 in Les Lettres françai- ses, das insgesamt mehr als sechzig Intellektuelle unterzeichneten, so neben Pierre Seghers u.a. Albert Camus, Julien Benda, André Malraux und Jean-Paul Sartre. Zit. in Sirinelli, Jean-François: Intellectuels et passions françaises: manifestes et pétitions au XXe siècle. Paris: Fayard, 1990, S. 143ff., hier S. 144. 58 Ebd.: S. 145.

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Ces écrivains sont coupables. Le public doit connaître leurs noms. Ce n’est pas faire tort à la littérature française que de faciliter une opération de net- toyage. Les noms… Une commission en dressera la liste.59 Die Anprangerung der „trahison des clercs“ erfolgte unter Rekurs auf Ju- lien Benda, der schon 1927 in seiner berühmten gleichnamigen Schrift pos- tuliert hatte, es sei nicht Aufgabe der Intellektuellen60 „in die politische Arena hinabzusteigen“61, was vor und während der Grande Guerre und abermals in den Krisenjahren vor Ausbruch und während des Zweiten Weltkriegs geschehen war.62 Als ursächlich für diesen Verrat befand der Historiker Robert Aron (1898-1975) rückblickend „‚leur déception à l’égard d’un pays trop disloqué, trop incertain, pour satisfaire à leurs vœux de fraternité. Un traître est avant tout l’enfant d’un pays en désaccord.’“63

59 Vgl. Pierre Seghers Artikel Littérature et propreté (Le Parisien libéré, 7. 9. 1944), faksi- miliert in Paxton, Robert O.; Corpet, Olivier; Paulhan, Claire: Archives de la vie litté- raire sous l’Occupation, S. 401, Kursivierung im Text, Hervorhebung BB. 60 Zur „Geburt der Intellektuellen aus dem Geist der Dreyfus-Affäre“ und Intervention der Schriftsteller vgl. das gleichnamige Kapitel in Jurt, Joseph: Das literarische Feld: Das Konzept Pierre Bourdieus in Theorie und Praxis. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1995, S. 209-225. Insg. zu dieser Thematik vgl. die Publikation von Winock, Michel: Das Jahrhundert der Intellektuellen. Aus dem Franz. von Judith Klein. 2., unveränd. Aufl. Konstanz: UVK Verlagsgesellschaft mbH, 2007. Detailliert s. Charle, Christophe: Naissance des „intellectuels“: 1880-1900. Paris: Les Editions de Minuit, 1998. 61 Benda, Julien: Der Verrat der Intellektuellen (La trahison des clercs). Mit einem Vor- wort von Jean Améry. Aus dem Franz. von Arthur Merin. Frankfurt a. M. u.a.: Ull- stein, 1983, S. 114. Als „clerc“ definierte Benda diejenigen, „deren Amt die Verteidi- gung ewiger und interessefreier Werte wie der Vernunft und der Gerechtigkeit ist“. Der „clerc“ müsse „bereits von seiner Wesensbestimmung her nahezu alle patrioti- schen, politischen, religiösen und moralischen Behauptungen von sich weisen, die, insoweit sie der Verfolgung praktischer Ziele dienen, meist zwangsläufig die Wahr- heit zurechtbiegen müssen.“ Vgl. Benda, Julien: Einleitung zur Neuausgabe 1946. In: Ebd.: S. 13-83, hier S. 13, 80. Zu Benda s. auch Kp. 1.1. 62 Zur wirtschaftlichen und politischen Krise in den dreißiger Jahren vgl. z.B. Jurt, Joseph: Historischer Überblick. In: Kohut, Karl (Hg.): Literatur der Résistance und Kollaboration in Frankreich: Geschichte und Wirkung I (1930-1939). Wiesbaden: Aka- demische Verlagsanstalt Athenaion; Tübingen: Narr, 1982 (Schwerpunkte Romanis- tik; 18), S. 26-39. S. auch Jurts repräsentativ für die Schriftstellergeneration der dreißi- ger Jahre vorgenommene Skizzierung des politischen Engagements von Louis Ara- gon (Mitglied der 1920 in Frankreich gegründeten Kommunistischen Partei), André Malraux und André Gide (Antifaschisten und Angehörige unterschiedlicher Genera- tionen), Georges Bernanos (Emanzipation von der extremen Rechten) und Pierre Drieu la Rochelle (Vertreter des intellektuellen Faschismus) in Ders.: Schriftsteller und Politik im Frankreich der dreißiger Jahre. 63 Robert Aron, zit. in Betz, Albrecht: „Trahison“ des Clercs? In: Ders.; Martens, Stefan (Hgg.): Les intellectuels et l’Occupation, 1940-1944: Collaborer, partir, résister. Paris: Ed. Autrement, 2004 (Collection Mémoires; 106), S. 311-322, hier S. 311, Hervorhe- bung BB.

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