Der Dezemvirat in Sage Und Geschichte
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I. Der Dezemvirat in Sage und Geschichte. Von Professor Dr. W. Soltau in Zabern (Elsaß). Die Erzählungen von der schlimmen Lage und Ver- schuldung der Plebs, von der römischen Gesandtschaft nach Athen 452 v. Chr., von den guten Gesetzgebern 451, welche das römische Landrecht in X Tafeln zusammenstellten, und weiter von den tyrannischen Dezemvirn, welche, die plebeji- schen Freiheiten nicht achtend, die jungfräuliche Virginia für eine Sklavin eines Klienten des Dezemvirs Appius Clau- dius erklärten und deren Vater sie töten mußte, um sie nicht entehren zu lassen, endlich die zweite secessio plebis und der Sturz des Dezemvirats durch die braven Optimaten Valerius und Horatius. — Das sind Geschichten, das ist keine Geschichte. Alles dieses ist so sehr dem Unglauben moderner Forscher be- gegnet, daß die ganze Gesetzgebung der XII Tafeln von ihnen in eine viel spätere Zeit verlegt, der Dezemvirat als Gebilde der Sage aus der Geschichte verwiesen worden ist. Bekannt ist, daß die ζ. T. geschickten Versuche, dies zu erweisen — namentlich von E. Lambert (l'histoire tra- ditionelle des XII tables), von Ettore Pais (studi storici), J. E. Hoekstra (de decemviri en hun wetgewing) — nicht gelungen sind. Wenn namentlich schon durch Flavius oder bald nach ihm eine Rekonstruktion der älteren römischen Geschichte in der Pontifikalchronik erfolgt ist1), so ist es ausgeschlossen, Soltau, Die Anfänge der römischen Geschichtschreibung 99f. Zeitschrift für Kechtsgesohiohte XXXVIII. Rom. Abt. 1 Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services Authenticated Download Date | 7/7/15 1:30 PM 2 W. Soltau, daß die Hauptepochen der Geschichte der voraufgehenden, zwei Jahrhunderte einfach erfunden sein sollten.1) Die Hauptgründe, welche die genannten Forscher gegen sie vorgebracht haben, sind jedenfalls bereits widerlegt. Wichtiger aber als diese Elemente der Überlieferung über den Dezemvirat ist das, was sich aus einer Geschichte der römischen Verfassung und aus den Berichten der Anti- quare über ihre Entwicklung ergibt.2) Wenn ζ. B. festgestellt werden kann, daß um die Zeit des Dezemvirats wichtige politische Reformen durchgeführt worden sind, so ist das von größerer Bedeutung als irgend- welche annalistische Schilderungen über eine Zeit, die doch nur einer viel späteren Epoche angehören. Aus jenen kann wenigstens mit größerer Bestimmtheit dargetan werden, was jene Gesetzgeber bezweckt haben. Eine streng geschichtliche Forschung hat abzusehen von den romanhaften Schilderungen der Verfassungskämpfe, welche die politischen Gesinnungen der Parteimänner des 1. Jahrhunderts v. Chr. wiederspiegeln sollten. Aber sie hat um so mehr Wert auf die antiquarische Uberlieferung zu legen, am meisten aber auf dasjenige, was außerdem über die Grundsätze des römischen Staatsrechts feststeht und aus ihm erschlossen werden darf.3) I. Der sicherste Ausgangspunkt ist die Feststellung der Veränderungen, welche die einzelnen Beamten durch den Dezemvirat oder sogleich nachher erfahren haben. Auch diese sind mit in den Kreis der Betrachtung zu ziehen, soweit sie in näherem Zusammenhang mit den Reformen der Dezemvirn stehen. Bei der Unsicherheit der Überlieferung4) und bei der Historische VierteJjahrschrift 1914.. 321. 2) Vgl. Sol tau. Zur römischen Verfassungsgeschichte. Philologus 1916, 504. 3) Soltau, Zur röm. Verfassungsgeschichte. Philologus 1916, 535. 4) Mit Recht urteilt so auch Mo m ms en, Röm. Geschichte I 287 darüber: „Unmöglich kann . die große Krise, der die XII Tal'eln ent- sprangen, in solche romantische Abenteuerlichkeiten und politischen Un- begreiflichkeiten ausgelaufen sein.1' Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services Authenticated Download Date | 7/7/15 1:30 PM Der Dezemvirat in Sage unci Geschichte. 3 tendenziösen Entstellung, welche dieselbe über den De- zemvirat erfahren hat, ist es nämlich nicht nur er- laubt, sondern geradezu notwendig, die Bedeutung der Tätigkeit jener Männer aus den Wirkungen, welche un- mittelbar nach ihrer Tätigkeit festgestellt werden können, zu erschließen. Es ist ζ. B. allgemein anerkannt, daß die Zwölf taf el- gesetzgebung noch nicht das conubium patrum et plebis gewährt hat, dieses vielmehr erst nach einigen Kämpfen durch das Canuleische Gesetz (444) legitimiert worden ist.1) Aber erstrebt ist es bereits in der Zeit der Dezemvirn. Viel- leicht sogar von ihnen selbst. Andrerseits ist klar, daß die um 443 eingesetzten Zen- soren zwar selbst nicht von den Dezemvirn vorgesehen wor- den sind, daß aber die Zensusordnung, die locatio vectiga- lium und die ultro tributa, kurz die ganze Ordnung des Budgets und die Festsetzungen über den Zensus bereits in eine kurz vorhergehende Zeit gehören, im wesentlichen das Werk des Dezemvirats sind.2) Allerdings ist nach dieser Richtung hin Vorsicht ge- boten. Es wäre gewiß verkehrt, alle möglichen Neuerungen, welche bald nach dem Dezemvirat eingeführt sind, auf Rech- nung der Dezemvirn zu setzen. Es ist z. B. gar nicht einmal wahrscheinlich, daß die Dezemvirn Anordnungen getroffen oder beabsichtigt hätten, welche die Plebiszite aufs neue einführen sollten und über die Möglichkeit, ihnen Gesetzes- kraft zu verleihen, Bestimmungen getroffen hätten, wie das valerisch-horatische Gesetz sie eingeführt hat.3) Desgleichen wäre es sehr unvorsichtig, die Idee einer Vermehrung der Oberbeamten, wie sie zuerst 443 erfolgt ist, a priori auf die Dezemvirn zurückzuführen. Es mag später, nachdem gesicherte Ergebnisse über die Vermehrung der Magistrate durch die Dezemvirn festgestellt sind, auch der Militärtribune gedacht und eine Erklärung für sie ge- 1) Aber geplant ist es sehr wahrscheinlich auch schon vor diesen. Trotz Cicero, de re publica 2, 37. 2) Vgl. Soltau, Über den Ursprung von Zensus und Zensur in Rom (Deutsche Philologenversammlung 1883 S. 146). 3) Vgl. Soltau, Die Gültigkeit der Plebiszite 3. 147. 1* Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services Authenticated Download Date | 7/7/15 1:30 PM 4 W. Soltau, sucht, darf aber nicht von vornherein dieser Frage präjudi- ziert werden. Zwei Mittel gibt es, das Wesen und die Beschaffenheit der durch die Dezemvirn geschaffenen Neuordnungen zu er- fassen: zunächst der Wortlaut der XII Tafeln, sodann die Neuerungen, welche sicher nach den Dezemvirn in Rom bestanden. Über den ersten Punkt steht so viel fest : Die XII Tafeln haben in Rom seit ihrer Veröffentlichung allgemeine An- erkennung gefunden. Nie hat man, auch als manche ihrer Anordnungen veraltet waren, diese abrogiert, sondern unter formeller Beibehaltung sie faktisch durch Neuordnungen ersetzt. Aus allem hier Gesagten geht hervor, daß die XII Tafeln durchweg im Sinne der Gesamtheit gegeben waren und zwar so, daß fast alle berechtigten Wünsche der Plebejer berück- sichtigt worden waren. Neben dem Landrecht, das zwar nach den Vorstellungen unserer Zeit manche Härten ent- hielt, die aber in jener Zeit durchaus nicht beanstandet wurden, war dem Volke ein Prozeßrecht verliehen, das für alle Zeiten vorbildlich gebheben ist. An die Stelle eines Pro- zeßganges vor den Pontífices, welche nach sakralen Satzun- gen mit priesterlichen Vorurteilen Recht sprachen, trat ein Zivilprozeß, welcher durch Trennung in dem Verfahren in iure und dem in iudicio durch Geschworene weitgehende Garantien bot, daß das bürgerliche Recht ungebeugt jedem Bürger zuteil wurde. Nicht minder wichtig waren die politischen Rechte, welche teils durch die XII Tafeln, teils durch besondere gesetzliche Festsetzungen begründet wurden, die wir nur aus den seit 449 bestehenden staatlichen Ordnungen er- schließen können. Das Wichtigste ist das, was uns das bekannte Gesetz quae de capite civis Romani nisi comitiis centuriatis statui vetaret meldet. Cicero, de re publica 2, 36, 611). Hierin liegt nicht nur, daß der Kapitalprozeß den co- mitia centuriata reserviert sein sollte, sondern auch, daß bei !) Vgl. Livius 3, 55, 4. Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services Authenticated Download Date | 7/7/15 1:30 PM Der Dezemvirat in Sage und Geschichte. 5 geringeren Delikten, soweit eine Provokation erhoben wurde, diese den comitia leviora überlassen bleiben sollte. Was waren das aber für comitia? Gewiß nicht die comitia curiata, die außer bei sakralen und gentilrechtlichen Fragen nicht mehr berufen wurden. Aber auch noch nicht die comitia tributa, die erst 366 eingeführt sind.1) Da der- artige Multprozesse, bevor die Prätur eingeführt ward, allein durch die Volkstribunen geleitet werden konnten, wenn Aediles oder Quästoren die Multa aufgelegt hatten, so hegt in diesem Gesetze auch so viel, daß — mindestens nach Absicht der Dezemvirn — die concilia plebis unter Leitung der Tribune fortbestehen und über Multprozesse entscheiden sollten. So war denn auch im Kriminalprozeß das Recht des Volkes auf Provokation voll gewahrt. Durch die Dezemvirn müssen aber, wie mein Aufsatz2) ,,Die lex centuriata de imperio" erwiesen hat, diese Komitien reformiert worden sein und in der demokratischen Form auf der Grundlage der Tribus (des Populus tributim censu aetate ordinibus descriptus) eine volksfreundliche Umgestal- tung erhalten haben. Zu dieser Neuordnung der Volksversammlungen und ihres Verhältnisses zueinander, welche das Volk gleichfalls durchaus befriedigen mußte, kam .nun das weitgehende Ent- gegenkommen, das durch die Dezemvirn und seit ihnen den plebejischen Beamten erzeigt wurde.3) Schon aus dem oben über den comitiatus maximus Ge- sagten geht hervor, daß es den Dezemvirn zweifellos ganz fern gelegen hat, den Tribunat zu beseitigen. Sie haben den einzelnen