Der Neurologe Ludwig Edinger Und Die Universität Frankfurt Am Main
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Der Neurologe Ludwig Edinger und die Universität Frankfurt am Main Udo Benzenhöfer Ludwig Edinger zählt zweifellos zu den bedeutendsten Frankfurter Universitätsmedizinern. In der vorliegenden Arbeit soll nach einem kurzen Überblick über Leben und Werk1 der Komplex „Edinger und die Universität Frankfurt“ näher betrachtet werden. In einem Exkurs wird Edinger als Kritiker bestimmter Bestrebungen der Medizin seiner Zeit konturiert. Leben und Werk im Überblick Ludwig Edinger wurde am 13.4.1855 in Worms geboren (HW S. 68). Er stammte aus einer wohlhabenden jüdischen Familie, sein Vater war Textilfabrikant, seine Mutter Arzttochter (HW S. 68). Er hatte vier Geschwister (HW S. 68f.). 1872 machte Edinger in Worms das Abitur (HW S. 69). Er studierte Medizin in Heidelberg (1872-1874) und Straßburg (1874-1877) (HW S. 69). 1876 beendete er bei Wil- helm Waldeyer in Straßburg seine Dissertation „Über die Schleim- haut des Fischdarmes“ (HW S. 68, E S. 38, K S. 33; die Arbeit wurde noch 1876 im Archiv für mikroskopische Anatomie veröffentlicht). Laut Emisch (S. 38) legte Edinger im Herbst 1876 das Doktorexa- men ab. Die Approbation erhielt er nach Ablegen der ärztlichen Prüfung erst im März 1877 (E S. 38; S. 39: Faksimile der Approba- 1 Die Darstellung erfolgte im Wesentlichen auf der Grundlage von Emisch 1991 (abgekürzt: E), Heuer/Wolf 1997 (abgekürzt: HW), Kreft 2005 (abgekürzt: K) und der 2005 veröffentlichten Autobiographie (Edinger 2005, abgekürzt: EA). 18 tionsurkunde). 1877/78 absolvierte Edinger seinen Militärdienst in Worms bzw. in Straßburg (HW S. 40). 1878/79 war er Assistent an der Medizinischen Universitätsklinik in Straßburg unter Adolf Kussmaul (HW S. 70). 1879 bis 1882 hatte er ein Stelle als Assistenz- arzt an der Medizinischen Universitätsklinik in Gießen bei Franz Riegel (HW S. 70; Edinger entschied sich nach eigener Angabe auch deshalb für Gießen, um seiner Familie nahe zu sein; diese war nach dem Tod seines Vaters nach Frankfurt am Main umge- zogen; S. 80). In Gießen habilitierte er sich 1881 mit der Schrift „Untersuchungen zur Physiologie und Pathologie des Magens“, die Venia legendi für Innere Medizin erhielt er im Mai 1881 (E S. 52). Nach seiner Autobiographie wurden der „einst fest versprochenen Habilitation […], – der Antisemitismus war inzwischen mächtiger geworden – ungemeine Schwierigkeiten in den Weg gelegt“ (EA S. 83). Edinger „erzwang sie nach eigenen Angaben „aus Stolz und Rechtsgefühl“ (EA S. 83).2 Nach einem bei Emisch (S. 55) faksimilierten Zeugnis für Edinger legte er seine Assistentenstelle in Gießen im Oktober 1882 nieder. Nach eigener Aussage war „nirgendwo eine klinische oder anatomische Stelle [gemeint: an einer Universität] für mich, den mit der jüdischen Abstammung Belasteten, zu haben“ (Edin- ger S. 87). Edinger verbrachte die Folgezeit auf wissenschaftlichen Reisen. Die Reisen führten ihn nach Berlin (u. a. zu Robert Koch, Paul Ehrlich und Ernst Leyden), nach Leipzig (u. a. zu Julius Cohn- heim, Carl Weigert, Paul Flechsig und Carl Ludwig) und nach Paris (zu Jean-Martin Charcot) (EA S. 87-96). In den ersten Apriltagen 1883 ließ Edinger sich in Frankfurt am Main als Arzt nieder (EA S. 97). In seiner Autobiographie schrieb 2 Nur nebenbei: Laut Autobiographie durfte Edinger nach der Niederlas- sung in Frankfurt in Gießen keine Vorlesungen mehr halten, obwohl er dies beantragt hatte (EA S. 96). Er führte dies auf die oben erwähnten antisemitischen Tendenzen zurück. 19 er, dass er sich als „Spezialist für Nervenkrankheiten“ bezeichnete (EA S. 99).3 Edinger forschte in Frankfurt weiter, er konzentrierte sich zunächst auf die Anatomie des Nervensystems (EA S. 100). Nach eigener Angabe richtete er im eigenen Schlafzimmer eine Mikros- kopierstelle ein (EA S. 101). Er arbeitete u. a. mit der Weigertschen Markscheidenfärbung (EA S. 101). Etwas morbide erscheint aus heutiger Sicht, dass er sich aus einer Entbindungsanstalt in Mar- burg in Kisten verpackt die Köpfe von toten „Früchten“ schicken ließ. Nach der Entnahme der Gehirne, die er dann in härtende Flüs- sigkeiten legte, verbrannte er die Köpfe im Ofen, nachdem er die Haushälterin aus dem Haus geschickt hatte (EA S. 101). 1884 hielt er in Frankfurt ein Kolleg über das Thema Zentral- nervensystem (EA S. 102), daraus ging das 1885 veröffentlichte Buch „Zehn Vorlesungen über den Bau der nervösen Centralorgane“ hervor (EA S. 102). Bis 1911 erschienen acht jeweils überarbeitete und vermehrte deutsche Auflagen, dazu Übersetzungen ins Franzö- sische, Englische, Russische und Italienische (E S. 73).4 Mit seinen bescheidenen Mitteln gelangen Edinger wichtige Ent- deckungen. Die Angaben zu einem einschlägigen Komplex, näm- 3 Laut Autobiographie war er „fast der Erste in Deutschland, der diese Spezialbezeichnung wagte“ (EA S. 97). Nur in Berlin seien noch zwei Ärzte speziell als Nervenärzte bekannt gewesen, „aber auch sie nannten sich noch ‚Elektrotherapeuten’“. Schon Kreft (S. 57) konnte die genannte Bezeichnung im Frankfurter Adressbuch für das Jahr 1884 nachweisen. Hier der vollständige Eintrag: „Edinger Ludwig, Dr. med., practischer Arzt u. Spezialist für Nervenkrankheiten, Kaiserhofstr. 18. Sprechst. v. 8-9 Uhr Vorm. und von 3-4 Uhr Nachm. für Unbemittelte Sonntags von 8-10 U. Vorm.“ (S. 102). 4 Ab der vierten Auflage 1893 hieß das Werk „Vorlesungen über den Bau der nervösen Centralorgane des Menschen und der Thiere“. Ab der sechsten Auflage war das Werk zweibändig angelegt (Bd. 1 erschien 1900, Bd. 2 1904). Von der siebten Auflage erschien Band 1 1904, Band 2 1908. Von der achten Auflage (1911) erschien nur der erste Band (vgl. dazu die Angaben im Karlsruher Virtuellen Katalog). 20 Ludwig Edinger (Quelle: Album der Medizini- schen Fakultät Frankfurt) lich dem der „Gefühlsbahn“ bzw. „Gefühlsbahnen“, sind in seiner Autobiographie nicht eindeutig, ich kann sie hier nur wiedergeben: Nach einer Stelle hatte er „Ende 1885“ (EA S. 103) den „zentralen Verlauf der Gefühlsbahnen [Plural!]“ im Gehirn entdeckt. Er habe an „siebenmonatlichen Feten“ gefunden, dass diese „Bahnen“ „nach ihrer Kreuzung hinauf in das Zwischenhirn zogen“ (EA S. 103; bis dahin hatte man laut Edinger angenommen, dass die „Bahnen des Gefühls […] nach einer Kreuzung im verlängerten Marke im Klein- hirn endeten“). Auf S. 120f. gab Edinger ein anderes Entdeckungs- datum an und äußerte gleichzeitig Kritik an seiner ersten Beschrei- bung: „Was ich 1884 [!] über die Bahnen [!] des Gefühls zum Gehirn gefunden, konnte nur teilweise richtig sein […]“. Er habe deshalb weitergeforscht und 1888 zuerst bei Fröschen, bald auch bei Säu- gern entdeckt, dass „außer der von mir gesehenen Bahn [!] zum Gehirn noch eine andere existierte, und diese musste im Rücken- mark schon auf die zum Eintritt der Nerven gekreuzte Seite gelan- gen“ (EA S. 120f.). 21 Doch es wird noch komplizierter, wenn man die Ausführungen von Kreft zu diesem Komplex genau liest. Nach Kreft S. 82 promovierte 1983 Hannelore Böhm mit einer Arbeit über die „Erforschung der sog. Schmerzbahn seit Ludwig Edinger […]“ in Magdeburg. Kreft gab nicht an, auf welches Jahr Böhm die „Ursprungsentdeckung“ datierte, er schrieb aber mit Hinweis auf eine Veröffentlichung von Edinger („Über die Verbindung der sensiblen Nerven mit dem Zwi- schenhirn“) im Anatomischen Anzeiger 2 (1887), S. 145-153, dass die Entdeckung, „dass die sensible Hinterstrangbahn nach ihrer Kreu- zung bis in den Thalamus hinaufzieht“, 1885 erfolgt sei (K S. 82). Kreft referierte dann laut Fußnote die Arbeit von Böhm, wonach Edinger schließlich „1889“ [!] den Nachweis einer zweiten sensiblen Bahn geführt habe (ohne Verweis auf eine Originalarbeit Edingers). Um hier Klarheit zu schaffen, wäre eine genaue Durchsicht der Veröffentlichungen Edingers aus den 80er Jahren unter besonderer Berücksichtigung der möglichen Differenz von Angaben zum Ent- deckungsjahr und zum Erstveröffentlichungs- bzw. Erstvortragsjahr notwendig.5 Der von mir benutzten Überblicksliteratur war im Übrigen nicht zu entnehmen, wann die entsprechenden Bahnen erstmals nach Edinger benannt wurden. Wann auch immer dies geschah, die Bezeichnung Edinger-Bahn für die Vorderseitenstrangbahn setzte sich (trotz schon zu Edingers Lebzeiten obwaltender Bestrebungen, 5 Ich kann nur hoffen, dass sich ein Anatom oder ein Neurologe einmal dieses Themas annimmt. Dabei sind vor allem die Arbeiten Edingers im Anatomischen Anzeiger zu analysieren. Ausdrücklich möchte ich darauf hinweisen, dass es auch in diesem Fall (wo eigentlich nicht?) Streit um die Priorität gab. Als Kritiker der Priorität Edingers erwies sich, wie ein Zufallsfund ergab, ein gewisser L. Auerbach aus Frankfurt; er publizierte im Anatomischen Anzeiger 4 (1889), S. 407-411 „Bemer- kungen in bezug auf ‚die Fortsetzung der hinteren Rückenmarkswurzeln zum Gehirn’ (L. Edinger)“ und ebd., S. 481-482 eine kritische „Zuschrift an die Redaktion“. 22 Benennungen nach Entdeckern in der Anatomie zu eradieren)6 so fest, dass der Name auch noch im aktuellen Pschyrembel (2012, S. 2235) präsent ist. Unter dem Stichwort „Vorderseitenstrangbahn“ kann man lesen: „[…] Tractus spinothalamicus anterior, latera- lis; Edinger-Bahn; zusammenfassende Bezeichnung für mehrere Leitungsbahnen des Rückenmarks, deren Fasern aus Hinterhorn- zellen entspringen, zum größten Teil in der Commissura alba zur Gegenseite kreuzen, dort im Vorderseitenstrang aufsteigen u. in der grauen Substanz des Rückenmarks, der Formatio reticularis des Rhomb- und Mesencephalons, im Tectum mesencephali u. im Tha- lamus enden“. Nicht vergessen werden sollte, dass Edingers Name noch in einer weiteren Denomination (zumindest