Jörg Drews

“…bewundert viel und viel gescholten…”: Hermann Hesses Werk zwischen Erfolg und Mißachtung bei Publikum und Literaturkritik

This paper explores Hesse’s reception amongst literary critics, concentrating on the contrast between Hesse’s deeply felt personal sincerity and his gradual loss of credi- bility amongst young German intellectuals in the postwar period, when the view gained ground that Hesse’s books did little more than convey what his convention- ally educated readers craved to hear. For them, Hesse offers a popular version of the search for meaning, without any aesthetic encumbrances, allowing the reader to feel superior to the average “Bürger”. There may be a case for viewing Hesse’s work as evading many of the central preoccupations of modernity, primarily because of his inexperience of metropolitan life and revolutionary involvement, omissions that undoubtedly colour his style and contribute the flavour of a bygone age to his wri- tings. Yet this lack of scope and the thematic restrictedness of his writings should not blind us to their underlying humane concerns. Hesse is still relevant today on account of his anti-militarism and for his many perceptive literary reviews, in which he dis- played a keen awareness of the constituents of a modernity that, paradoxically, eluded him in other areas of his creative career.

Im Mai 2002 wurde im Marbacher Deutschen Literaturarchiv die Ausstellung zur Entstehungsgeschichte des Glasperlenspiels eröffnet. Ich wollte hinfahren und erwähnte das nebenbei gegenüber Freunden und Kollegen. Kopfschütteln und Naserümpfen waren nicht zu übersehen; also gleich noch eins drauf: Im Herbst fahre ich nach London zu einer Hesse-Konferenz. Alle wundern sich noch mehr, welche Laune, welche irritierende Wendung da mit einem Kritiker und Germanisten vorgegangen sein muß, der doch sonst eher für das steht, was die amerikanischen Kollegen “modernism” nennen, und dazu gehört Hesse ja nun wirklich nicht. Die Reaktionen sind keineswegs zufällig und keineswegs nur auf mich bezogen. Germanistik und Literaturkritik in Deutschland haben sich in den letzten Dezennien nicht sonderlich intensiv um Hesse gekümmert; von Karlheinz Deschners Buch Kitsch, Konvention und Kunst von 1957 bis zu den Bemerkungen Rolf Vollmanns in seinem Romanführer Die wunder- baren Falschmünzer von 1997 sind ihre Einlassungen eher herablassend kri- tisch,1 wenn sie nicht Hesses Werk insgesamt verwerfen, jedenfalls nicht ernst nehmen in dem Maße, wie , , , Alfred Döblin und Günter Grass ernst genommen werden. Noch 2002

1 Karlheinz Deschner: Kitsch, Konvention und Kunst. München 1957. Rolf Vollmann: Die wunderbaren Falschmünzer. Band 2. Frankfurt/M. 1997. 22 konnte man die Verlegenheit bemerken, in die der Auftrag zu einer Würdigung von Hesses Glasperlenspiel bei der Eröffnung der Marbacher Ausstellung Lothar Müller brachte, der das Kunststück fertigbrachte, dennoch deutlich zu werden, so deutlich wie Burkhard Müller in seinem Aufsatz zum 125. Geburtstag Hesses von seiner Langeweile bei der Lektüre des Glasperlenspiels berichtet und Hesse schließlich nur für seine Jugendwerke retten möchte,2 jene, die vor dem 40. Lebensjahr entstanden, was das doppelte Problem ergibt, daß dann also der Steppenwolf nicht zu den bedeutenden, den zu ‘rettenden’ Werken Hesses zählte, zugleich aber Hesse am Ende doch eine Reife zuge- sprochen wird, die ihm andere Kritiker überhaupt absprechen und dies zu sei- ner spezifischen “Charakterpathologie” rechnen. Müller ist nicht der einzige, der dann doch seine Liebe zu einzelnen kleinen Prosastücken Hesses und deren trockenem schwäbischem, man müßte vielleicht sagen: alemanni- schem Humor gesteht und an diesen wenigen Punkten Hesse nahe bei und Johann Peter Hebel sieht; Rolf Vollmanns Herz ist auch zerris- sen und sein Urteil gespalten: Hesse schreibt wirklich keine gute Prosa, er schreibt umständlich, geziert, feierlich, betulich (niemals eitel, das ist wahr), und seine Seele ist voll von Botschaften, und sein Kopf voller Gedanken, die noch schlechter gedacht sind als seine Botschaften gefühlt. Aber sowohl hier im Narziß als auch im benachbarten Steppenwolf gibt es dann Passagen (sie haben immer schon angefangen, wenn man sie bemerkt), in denen eine merkwürdige, meist eine erotische Phantasie plötzlich ganz unge- hemmt und sehr genau ausdrückt, wie ihr zumute ist. Die Sprache bekommt dann mit einem Male einen Ton, der, so sehr man sich wehren mag, ins Herz geht; man möchte das gar nicht gern, denn alles bleibt wirr und unklar, aber es ist dann auch eine so betörende Ehrlichkeit mit im Spiel, und so kann man fast gar nicht anders als für ein Weilchen diesem Klang sich öffnen.3 “Für ein Weilchen” wenigstens, und fast widerwillig; ansonsten scheint die Härte der Urteile Deschners und Gottfried Benns vorzuherrschen, und in ihrer Gesellschaft Arno Schmidt, der um 1930 einzig zum “Dichter des Steppen- wolfes” in hoher Verehrung steht und dem er auch später wieder die Reverenz erweist, indem er erwähnt, wie sehr er früher, einst, vor vielen Jahren dem HARRY HALLER – er schreibt den Namen ganz in Versalien – “mit tiefer Ehrerbietung” gegenüber gestanden habe,4 offenbar vor allem in jenen Jahren zwischen ca. 1930 und 1935, in denen er selbst seine ersten Gedichte schrieb und niemand anderen als Kritiker und Gutachter sich denken konnte als Hesse,

2 Burkhard Müller: Der Humor des Nachtpfauenauges. Sein Om-Denken ist kein Umdenken, und alle Stufen führen immer zum Jugendwerk zurück: Vor 125 Jahren wurde geboren. In: Süddeutsche Zeitung. 2. Juli 2002. 3 Vollmann, a.a.O., S.1029. 4 Die Formulierung findet sich als Widmung bzw. Untertitel auf dem Typoskript des Gedichts “Verbrüderung”, das Arno Schmidt wohl kurz nach 1930 Hesse zuschickte, um ein Urteil bittend. Postkarte Schmidts an Hesse von 22. Mai 1950, im Besitz des Hermann-Hesse-Archivs, freundlicherweise mitgeteilt von Volker Michels.