DEFGH Nr. 217, Samstag/Sonntag, 19./20. September 2020 FEUILLETON 19

von joseph hanimann nanzierten Veranstaltungen bezeugen die künstlerische Initiativenvielfalt der Stadt. ie Frage „Wie weiter?“ hat sich Kultur und Kunst wurden in für die europäische Wander- stets vorwiegend von Künstlervereinen ge- Kunstbiennale „Manifesta“ tragen. Unter dem Titel „Local Heroes“ D schon früher gestellt. Als diese zeigt das Museum „Regards de Provence“ 2014 in Sankt Petersburg in in einer ehemaligen Desinfizierungsan- den Sog von Putins Expansionspolitik auf stalt für Gastarbeiter am Vieux Port ein Pa- der Krim geriet, riefen Künstler und Kura- norama von Graffiti- und Spraykünstlern toren zur Absage auf. Diesmal kam das Vi- zwischen und Marseille. Arbeiten rus dazwischen. Doch für die ursprünglich des deutschen Kollektivs 1UP, des Sprayer- auf Juni angesetzte Eröffnung der „Mani- Duos Moses & Taps oder des Franzosen Fa- festa 13“ in Marseille war unter den durch- bien Rap Azou demonstrieren, wie ähnlich gespielten Maßnahmen eine Annullierung man vom Märkischen Sand bis zur Marseil- die letzte Option. Und es erwies sich als Ret- ler Steilküste die städtischen Einrichtun- tung, dass sich die Schau nach der Erfah- gen mit Farbe bearbeitet. rung in Russland weg von der reinen Kunst- schau mit internationalem Panoramablick Abraham Poincheval wollte hin zu einer sozialen, urbanen und kultu- sich in einen Bienenstock setzen. rellen Einbindung in den jeweiligen Veran- staltungsort gewandelt hat. Ging nicht – wegen Corona Seit Ende August werden die Ausstellun- gen etappenweise eröffnet. Ohne die gut Der Mangel des Hauptprogramms er- 80 lokal entwickelten Veranstaltungen im weist sich im Nebenprogramm als Vorteil: Parallelprogramm „Parallèles du Sud“ wä- Das Disparate wird in die Extreme getrie- re die Manifesta 13 bestenfalls ein in den ben. Der französische Performance-Künst- Raum stenografiertes Konzept. Und eine ler Abraham Poincheval sollte sich eigent- Bestätigung, wie unbefriedigend die Er- lich auf der Insel des Château d’If vor Mar- satzlösungen aus Digitalien sind. seille zwei Wochen lang in einen Bienen- stock einschließen lassen. Auch dieses Pro- Die Hafenstadt war Drehscheibe jekt fiel Covid-19 zum Opfer, doch führt für Exilanten, Migranten und der Künstler stattdessen vor, wie man sich auf ein solches Abenteuer vorbereitet. Abenteurer – 2500 Jahre lang Sympathisch wirkt dagegen das vollau- tomatische Ruderboot vom Forlane 6 Stu- Dabei war das von den drei Kuratoren dio, ein Nachbau des Modells vom engli- Alya Sebti, Katerina Schuschalina und Ste- schen Erfinder John Fitch aus dem Jahr fan Kalmár komponierte internationale 1786, der statt wie damals mit Dampf- nun- Hauptprogramm „Traits d’union.s“ – Ver- mehr mit Sonnenenergie im Marseiller Ha- bindungswege, Bindestriche – klug ausge- fen einsam die Runden dreht, weil das Vi- dacht. Mit den sechs topografischen The- rus Mitnehmen von Passagiere unmöglich menkegeln „Haus“, „Refugium“, „Asyl“, macht. „Disobey Orders, Save the Artists“, „Hafen“, „Park“, „Schule“ sprach das klingt es hingegen von der „American Hauptprogramm einige der größten Pro- Gallery“ aus dem malerischen Endoume- bleme von Marseille an. Die Hafenstadt Die Installation des russischen Künstlers Arseny Zhilyaev im Musée Grobet-Labadié zeigt eine Fußballmannschaft, die nicht mehr aus Sportlern besteht, sondern Quartier herüber, wo die Galeristin Pamela war im Laufe ihrer 2500-jährigen Ge- nur noch aus Polizisten oder Milizen: „The Keepers. One-dimensional Sphere Game“ (2020). FOTO: NADIA FATNASSI King in einer reizvollen Ausstellung 13 zeit- schichte Drehscheibe für Exilanten, Mi- genössische Künstler eingeladen hat, den granten und Abenteurer, und sie hat noch 1941 von Varian Fry geretteten Kollegen immer das Flair der weiten Welt, aber ihre , , Sophie Taeuber- geopolitische Bedeutung ist ein Schatten Arp , ein Denk- früherer Tage, auch wenn sie neuerdings mal zu setzen. an Eleganz und kultureller Attraktivität Angetreten war die Manifesta in Mar- hinzugewonnen hat. Dennoch hat sie wei- seille ursprünglich unter einem Bürger- terhin mit Armut, Wohnungsnot und Sozi- Verweigert die Befehle! meister, der seit 25 regierte und wegen sei- alproblemen zu kämpfen. Es ist die einzige nem verfilzten Regime in die Kritik gera- französische Großstadt, in der diese Pro- ten war. Nach den Stadtwahlen im Juni bleme nicht in der Banlieue liegen, son- In Marseille hat die Manifesta eröffnet – jedenfalls ein bisschen. sieht sie sich nun der neuen Bürgermeiste- dern mittendrin, in den Nordvierteln, mit rin Michèle Rubirola von den Grünen ge- blühendem Drogenhandel und einer über- Die Kunstbiennale gelingt immer dort, wo sie das Disparate ins Extrem treibt genüber. Der Ton habe sich geändert, es forderten Polizei. werde mehr auf die Bevölkerung gehört, Vor der Manifesta 13 hat der Architekt sagt der Manifesta-Kurator Stefan Kal- Winy Maas vom Büro MVRDV mit der Stu- Bel des amerikanischen Diplomaten Vari- ANZEIGE menisch-ägyptisch-kanadischen Künstle- már: „Wo wir uns mit unseren Program- die „Le Grand Puzzle“ die Topografie des an Fry hatten sich Künstler und Intellektu- rin Anna Boghiguian im Kapellenraum der men auf eine Stärkung der Gegenstimmen Ortsweiträumig untersucht. Mit 15 500 pri- elle – darunter , Wilfredo Vieille Charité leisten das nicht. Die Assozi- einstellten, stehen wir plötzlich an der Sei- vatisierten Sackgassen und „Gated Com- Lam, André Breton, , Hannah ationen zerblättern im Raum. Es ist, als wä- te der Regierungsmacht“.Das sei eine inter- munities“ befindet Marseille sich unter- Arendt – eingefunden und harrten auf Aus- »In re die Schau nicht ganz zu Ende kuratiert. essante Herausforderung. Vielleicht ist es wegs zu südamerikanischen Verhältnis- reisemöglichkeiten nach Amerika. Schärfere Akzente und eine gezieltere aber auch ein Problem. sen. Gleichzeitig bietet die Stadt mit 115 Der Londoner Künstler und Designer diesem Eingliederung in die Museumsbestände Der dritte Programmteil, der unter Quadratkilometern geschütztem Natur- Marc Camille Chaimowicz sollte das Erdge- Roman sitzt wäre nötig gewesen. Die Ausstellung „Le dem Titel „Le Tiers Programme“ für Sozial- raum zwischen Meer und Bergen eine ein- schoß des Cantini-Museums ausstatten, Port“ im Historischen Stadtmuseum bestä- arbeit und Kunstvermittlung zuständig zigartige Landschaft. 40000 Wohnungen konnte wegen des Virus’ aber London absolut jedes tigt das. Sie zeigt nur drei Künstler, dafür ist, lässt sich von dieser neuen Situation je- wurden aber als baufällig eingestuft und nicht verlassen. Er filmte dort in seiner Ga- Wort an der richtigen eingehend. Unter ihnen ist die in Algier ge- denfalls nicht beirren. In 8 Anlaufstellen zwei Gebäude haben 2018 beim Einsturz leriewohnung die Räume einer halb ferti- borene und an der Cornell-Universität leh- quer durch die Stadt hat jeder Passant frei- acht Menschen in den Tod gerissen. Die gen Ausstellung und schickte den Film mit Stelle und schafft es so, rende Samia Henni. Unter dem Titel „Phar- en Zugang, zum Ausruhen, Plaudern, Sich- Stadt steckt zwischen Verwahrlosung und dem Titel „Stuart’s Way“ als praktisch ein- vomeigentlich Unaus- makologie des Wohnraums“ hat sie aus pri- Informieren oder auch, um in einem per- Baufieber. zigen Beitrag nach Marseille. Man sieht vaten Lebenszeugnissen der Leute eine In- formativen Kunstakt einen Wahlzettel von Mit ihren Themen warf die Manifesta al- den Künstler dort, dem Zuschauer abge- SHORTLIST sprechlichen zu erzählen.« stallation geschaffen, die Mikro- mit Ma- Le Pens Front National zerknüllt in den Pa- so die richtigen Fragen auf. Doch was tun, wandt, in seiner Wohnung sitzen und aus krogeschichte in Marseille verknüpft. pierkorb zu schießen. wenn die Ausstellungssäle schütter be- dem off einen Text sprechen. Klaffender Jury Deutscher Buchpreis Auch diese Künstlerin musste wegen Co- Hier im heruntergekommenen Belsun- stückt bleiben, weil die Künstler mit ihren könnte die Abwesenheit kaum wirken. Der vid ihre Pläne revidieren. Statt Archivmate- ce-Quartier hätten vor kurzem noch die Ku- Werken nicht anreisen konnten? Was tun, Bezug zu den anderen Museumssälen mit rial benützt sie Protokolle mit Marseillern geln gepfiffen, erzählt der Leiter des Kunst- wenn man als Kurator ständig umdisponie- Werken von Hannah Black, aber auch zu Bürgern über ihre Wahrnehmung des zentrums La Compagnie unbeeindruckt. ren muss und das Publikum nur spärlich den aus der Sammlung des Musée Cantini Stadtraums. Jede Befriedigung des Bedürf- Seit zwanzig Jahren führt er diesen Ort. kommt, das internationale, weil es nicht stammenden, von Max Ernst, André Mas- nisses nach einem sicheren Dach über dem Ausgestellt wird die in Berlin lebende Foto- kann, und das lokale, weil es nicht mag? son, Wilfredo Lam, André Breton in Mar- zarett, Elendsquartier für Obdachlose und nungenaus der Irrenanstalt von Rodez, Ar- Kopf, so suggeriert Hennis Installation, grafin Arina Essipowitsch mit ihren gro- Die Ausstellung „Refugium“ im Musée seille gezeichneten surrealistischen Tarot- ist seit 1986 ein Museum. Das Eingesperrt- thur Rimbauds Gedichtmanuskript „Voyel- enthält schon Hinweise auf künftige sozia- ßen Faltarbeiten, die sie vor aller Augen zu Cantini ist dafür ein symptomatischer Fall. Karten, geht vollkommen verloren. sein in sein materielles Elend, seine Krank- les“ über die imaginierten Vokalfarben, Ro- le, ökologische, politische Probleme. immer wieder neuen Ansichten entfaltet. Ausgehend von einer Episode von 1940 Ähnliches gilt für die Ausstellung „L’Ho- heit, seinen Wahn oder einfach in seine land Barthes’ Bilder vom „Sehen“ der Spra- Zum Überzeugendsten gehören aber Man mag dieses ständige Umfalten als Em- während der deutschen Besatzung Nord- spice“ in der Vieille Charité im Marseiller Sprache war ein passendes Thema für die- che, Walter Benjamins Text „Haschisch in manche Beiträge aus dem Programmteil blem für die noch bis zum 20. November frankreichs sollte sie die Spannung zwi- Panier-Viertel. Dieses Gebäude aus dem sen Ort. Das über verschiedene Säle verteil- Marseille“ – verlangt aber nach Kontext „Parallèles du Sud“.Diese von örtlichen In- dauernde Manifesta nehmen. Auf dass schen öffentlichem Raum, Privathaus und 17. Jahrhundert war Armenasyl, Notunter- te Panorama mit künstlerischen Aus- und Deutung. Die Installationen des Mar- stitutionen eingebrachten und von der Re- sich nach der Entfaltung im Oktober doch Versteck spürbar machen. In der Villa Air- kunftfür Kinder und Alte, Zuchtanstalt, La- bruchsversuchen – Antonin Artauds Zeich- seiller Künstlerkollektivs Aoziz und der ar- gion Provence-Alpes-Côte d’Azur direkt fi- noch ein lesbares Bild ergebe.

Der große Roman einer ISABELLA HAMMAD Liebe zwischen den Kulturen und das Epos einer Zeitenwende.

der

aus »ISABELLA HAMMAD IST EIN UNGEHEURES TALENT UND IHR BUCH EIN WUNDER.« Zadie Smith

ROMAN LUCHTERHAND