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2013 Das Leben auf dem Lande in aus der Sicht zweier Nobelpreisträger – Gegenüberstellung von Pearl S. Buck, Die gute Erde und Mo Yan, Das rote Kornfeld Literarische Gesellschaft Lüneburg, Vortrag von Gisela Müller am19.3.2013

Inhaltsverzeichnis 1. Fragestellung 1 2. Die Autorin Pearl S. Buck 1 - 2 3. Der Inhalt von „Die gute Erde“ 2 - 3 4. Historischer Hintergrund 3 - 4 5. Erzählstruktur und Erzählstil 4 - 5 6. Brauchtum 5 - 9 7. Die gute Erde 9 - 10 8. Der Autor Mo Yan 10 - 11 9. Erzählstruktur und Inhalt 11 – 12 10. Die Hauptfiguren 12 – 14 11. Der Enkel 15 – 16 12. Tradition und Revolution 16 – 17 13. Die Sprache der Gewalt und der Gefühle versus Sprache des einfachen Bauern Wang Lung 17 - 19

1. Fragestellung

Die Wahl Mo Yans zum Literaturnobelpreisträger 2012 war eine große Überraschung und führte zu einer Diskussion, ob ein Anhänger des chinesischen Systems überhaupt gewählt werden dürfte. Schon einmal hat die Verleihung des Literaturnobelpreises großes Aufsehen erregt, nämlich die an Pearl S. Buck 1938. Sie „gehört zu den umstrittenen Entscheidungen des Nobelpreiskomitees. Die Kritiker dieser Entscheidung hielten ihre Romane für literarisch wertlos und eigentlich für Trivialliteratur. Die seither verwendete inoffizielle Regel, den Nobelpreis nur an Autoren zu verleihen, die bereits vorher mindestens einmal dafür nominiert waren, wird in den Feuilletons bis heute „Lex Buck“ genannt.“ 1 Beide Autoren beschäftigen sich mit der chinesischen Gesellschaft auf dem Lande, also dem Leben der Bauern. Die Ablehnung ist einmal ästhetischer, einmal politischer Natur. Das war der Anreiz für mich, genauer hinzuschauen.

2. Die Autorin

Pearl Sydenstricker wird am 26. Juni 1892 in Hillsboro, West-Virginia geboren. Ihr Geburtsname Sydenstricker findet sich in der häufig verwendeten Schreibweise Pearl S. Buck wieder. Sie ist die Tochter eines Missionars der Presbyterianer, der sich berufen fühlt, in China die „ Heiden“ zum Christentum zu bekehren. Diese Bewertung entspricht der üblichen Arroganz des Westens gegenüber den wenig bekannten Hochkulturen Asiens. Somit verbringt sie einen Teil ihrer Kindheit im Kaiserreich China. Pearl wächst zweisprachig auf. Sie teilt das Schicksal ihrer chinesischen Spielkameraden: Hunger und frühes Leid. Drei von Pearls Geschwister sterben an Krankheiten. Der Strenge des Vaters entflieht das Mädchen, indem es liest.

Von 1910 bis 1914 studiert sie an einem College in Virginia, USA. 1917 heiratet sie und zieht mit ihrem Mann, dem amerikanischen Agrarexperten John Lossing Buck, in die chinesische Provinz Anwhei. Während ihr Mann Feldforschung über „Die Bodennutzung in China“ (1937) an der Universität Nanjing betreibt2, arbeitet Buck von 1922 bis 1932 als Professorin für englische Literatur ebendort, in der Hauptstadt der Republik China. Ihre Tochter leidet

1 unter der Erbkrankheit Phenylketonurie3, die zu damaliger Zeit medizinisch noch nicht erforscht ist. 1935 lässt Buck sich scheiden und heiratet ihren Verleger Walsh. Die beiden adoptieren im Laufe der Jahre acht Kinder. In ihrem Buch The Child Who Never Grew (Geliebtes unglückliches Kind) fasst sie 1950 all ihre leidvollen Erfahrungen, die sie mit ihrer Tochter gemacht hat, zusammen.

Nach Walshs Tod 1960 engagiert Buck sich auf vielen neuen Gebieten: Bildhauerei, Filmregie, Landwirtschaft. Sie gründet Hilfsorganisationen für behinderte Kinder und für Kinder amerikanischer Soldaten und asiatischer Frauen. Mit 70 belegt sie einen Tanzkurs; der 40 Jahre jüngere Tanzlehrer, T.F.Harris, wird ihr Freund und Biograph. Am 6. März 1973 stirbt sie in Danby, Vermont.

The Good Earth aus dem Jahre 1931 ist ihr zweiter Roman, der 1933 mit dem Titel Die gute Erde ins Deutsche übersetzt wurde. 1932 bekommt sie dafür den Pulitzer-Preis, 1938 den Nobelpreis.

Sie veröffentlicht 80 Werke sowie fünf Romane unter dem Pseudonym John Sedges.1

3. Der Inhalt „Die gute Erde“

In Pearls S. Bucks Roman geht es um den Aufstieg eines armen Kleinbauern zum Großgrundbesitzer, der gekoppelt ist an den Abstieg der Familie Hwang. Buck zeichnet die Lebensgeschichte des Wang Lung von seiner Hochzeit bis zum nahen Tode nach. Er lebt mit seinem alten Vater als Bauer vom Ertrag eines kleinen Landes und kann sich daher nur die hässliche O-lan, die der angesehenen städtischen Familie der Hwang als Sklavin dient, als Ehefrau leisten. O-lan erweist sich als tüchtige Arbeiterin und gebiert ihm zwei Söhne und eine Tochter, die, wie sich bald herausstellt, durch Mangelernährung schwachsinnig ist. Durch einen glücklichen Umstand kann Wang Lung gutes Land von der Familie Hwang dazukaufen, doch die Hungersnot, die infolge der Dürre ausbricht, trifft auch ihn. Die völlig abgezehrte Familie entschließt sich, nach Süden zu gehen; O-lan tötet vor dem Aufbruch ihr viertes Kind unmittelbar nach der Geburt, um die Familie nicht mit einem weiteren Esser zu belasten. Wang Lung verkauft, um die Reise zu finanzieren, auf Anraten seiner Frau Möbel und Gerätschaften, nicht jedoch sein Land. Während seine Frau und die beiden Söhne in der Stadt im Süden betteln, verdingt er sich als Rikscha-Fahrer und erfährt so vom Leben der wohlhabenden Chinesen und der dort lebenden Weißen. An eine Rückkehr in die Heimat ist wegen des geringen Einkommens nicht zu denken, bis Wang Lung und O-lan sich bei Revolutionswirren an der Plünderung des Hauses einer reichen Familie beteiligen und viel Geld sowie Schmuck erbeuten. Damit können sie nicht nur zurückkehren, sondern auch im großen Stil weiteres Land von der Familie Hwang kaufen. Wang Lung steigt zum Großgrundbesitzer auf, der sein Land nicht mehr allein bewirtschaften kann, seine Frau schenkt ihm ein Zwillingspaar. Er entschließt sich, eine sinnliche und verwöhnte Frau aus dem Freudenhaus in sein Haus aufzunehmen, was O-lan verbittert. Auch sein verhasster Onkel zieht mit Frau und Sohn bei ihm ein. Er kann Wang Lung erpressen, da er Mitglied einer Räuberbande ist, die die Landbewohner überfallen, ausrauben und töten. Der

1 http://de.wikipedia.org/wiki/Pearl_S._Buck 2 Jonathan D. Spencer, Chinas Weg in die Moderne, 1990, dt.1995, S. 515 3 angeborenen Stoffwechselstörungen. … Betroffene Patienten können die Aminosäure Phenylalanin nicht abbauen, wodurch diese sich im Körper anreichert und Phenylpyruvat, Phenylacetat oder Phenyllactat entsteht, was unbehandelt zu einer schweren geistigen Entwicklungsstörung mit einer Epilepsie führt. http://de.wikipedia.org/wiki/Phenylketonurie

2 Onkel und sein Sohn haben bislang Wangs Familie davor bewahrt. O-lan stirbt an einem Geschwür, bald darauf auch Wang Lungs Vater. Während seine beiden älteren Söhne die Schule besuchen, als »Gelehrter« bzw. Kaufmann tätig sind und heiraten, hat er seinen jüngsten Sohn zum Nachfolger als Bauer bestimmt. Dieser weigert sich jedoch, Bauer bzw. Grundbesitzer zu werden, und schließt sich den Revolutionären an. Auf Betreiben des ältesten Sohnes zieht die Familie in die Stadt und übernimmt das Haus der verarmten Familie Hwang. Wang Lung, der noch eine späte Liebe mit der Sklavin Pfirsichblüte erlebt, sieht weiterhin »die gute Erde«, also sein Land, als Fundament seines Reichtums an. In seinem letzten Lebensjahr zieht er wieder in sein altes Haus auf dem Lande und lebt dort wie sein Vater. Doch die beiden ältesten Söhne planen bereits einen Teil des Grundes nach seinem Tod zu verkaufen. Sie trösten ihren Vater, der sie belauscht, mit einem falschen Versprechen, es nicht zu tun.

4. Historischer Hintergrund4

1911 wird die mandschurische Qing-Dynastie mit dem Kindkaiser Puji gestürzt. (s. Film Der letzte Kaiser) Erste Versuche, eine Verfassung mit einer demokratischen Gewaltenteilung zu installieren, werden nach kurzer Zeit durch eine Militärdiktatur zerstört, die 1917 sogar eine Rückkehr zum Kaisertum versucht und dabei scheitert. Eine starke Zentralmacht kann nicht aufgebaut werden, sondern unter Räuberbanden, Warlords und Regionalregierungen zerfällt China in viele Teile. Vor dem Ersten Weltkrieg gehen verstärkt Gebildete zum Studium ins westliche Ausland, und während des ersten Weltkrieges werden Tausende von Arbeitern und Soldaten nach Europa gebracht. Viele von ihnen kehren nach dem Krieg zurück und übernehmen Verantwortung in den Parteien. Zwei politische Bewegungen versuchen zu einem Einheits- und Zentralstaat zurückzuführen, die Nationalrevolutionäre Partei Guomindang (GMD) unter Sun Yat-sen (gest. 1925) und seinem Nachfolger Chiang Kai-shek sowie die KPCh. Die finanziellen Mittel sind knapp, da die Eisenbahnen und die Industrie zu 50 – 90 % in den Händen von Ausländern liegen, die in eigenen Wohngebieten, den sogenannten Konzessionen, wohnen und dort ihre eigenen Gerichte haben. Diese Sonderrechte werden erst im Januar 1943 aufgehoben. Die Bauern bezahlen ihre Pacht an die Grundherren und kaum an den Staat. Geld haben jene Warlords, die ausländische Interessen unterstützen. So gibt Japan großzügig Kredite an ihre chinesischen Verbündeten und lässt sich dafür Wirtschaftsmacht übertragen. Dennoch gelingt es der GMD durch Ausbildung eines Elitekorps, im Nordfeldzug 1926 große Teile der wirtschaftsstarken und fruchtbaren Ostprovinzen von Kanton bis Nanjing zu erobern und dort die Macht der Warlords zu brechen. Chiang Kai-shek geht dabei nach Bedarf Bündnisse mit der KPCh, aber auch mit Industriellen und Großgrundbesitzern ein. Da China um 1918 noch zu 85 – 90 % bäuerlich geprägt ist, führen Missernten zu großen Katastrophen, zu Bauernrevolten und Hungertoten, wie z.B. 1920/21 mit 500 000 Toten in fünf Provinzen. Bei den Bauernunruhen 1926/7 werden Grundherren gelyncht und das Land verteilt. Diese Unruhen spielen in beiden Romanen eine Rolle. Der Kampf der Warlords dagegen führt zu Blutbädern unter den Bauern und zur Vernichtung ihrer Ernte. Auch die Kämpfe zwischen den Japanern und Chinesen in Jinan 1928 sowie der Chinesisch-Japanische Krieg 1937 – 45 spiegeln sich wieder, letzterer nur bei Mo Yan. Gerade die Missernten und Bauernunruhen spielen in der „Guten Erde“ eine Rolle. Wang muss seine Tiere schlachten und seinen Hausrat verkaufen und mit der ganzen Familie nach dem Süden in die Städte ziehen. Zum ersten Mal fährt er mit der Eisenbahn, die er als „Feuerwagen“ bezeichnet, er hat Angst vor der Technik. In der Stadt müssen alle betteln

4 Alle historischen Informationen gehen auf Jonathan D. Spence, Chinas Weg in die Moderne, 1990, dt. 1995 zurück.

3 gehen, Diebstähle begehen, niedere Tätigkeiten verrichten und sich in Armenküchen ernähren, um wenigstens eine warme Mahlzeit pro Tag zu haben. Als Provinzen werden Anhwei (Hauptstadt Hefei) und Jiangsu (Hauptstadt Nanjing) genannt. Die beiden Parteien KPCh und GMD schwanken in den 20-iger Jahren ständig zwischen Misstrauen, Zweckbündnissen und Zusammenarbeit, z.T. beeinflusst von den Auseinandersetzungen zwischen Stalin und Trotzki ab 1924. Dabei betont die KPCh den Antiimperialismus, die Propaganda gegen alles Fremde, versucht auf dem Lande eine allgemeine Bildung durchzusetzen und regional auch Bauern- und Arbeiterräte und Kooperativen zu gründen. Solche Reden hört Wang in der Stadt (119), ohne sie recht zu verstehen. Sein Kapital, um aufs Land zurückzukehren, gewinnen er bzw. O-lan bei einer Arbeiterrevolte gegen die reichen Häuser in der Stadt. Sein dritter Sohn gerät offensichtlich unter den Einfluss dieser Funktionäre. Er verlangt Schulbildung, die der Vater für einen Bauern nicht für nötig hält, und setzt sie mit Hilfe des ältesten Bruders durch. Nicht nur verweigert sich der Jüngste Bauer zu werden, sondern steigt bei der Revolutionsarmee ein und flieht aus dem Haus, als sein Vater ihn verheiraten will. (360f.) Ob es die kommunistische Armee oder die der GMD ist, bleibt offen. Beides ist möglich, dass die KPCh zwischen 1927 und 34 im Gebiet zwischen Anwhei und Hubei durch Bauernsowjets starken Einfluss haben. (Spencer 459) Die Enkel lehnen bereits das Studium der vier Bücher des Konfuzius ab. Der politische Hintergrund dazu ist, dass die beiden chinesischen Parteien das Studium der klassischen Sprache als zu schwierig abgeschafft und durch eine vereinfachte Umgangssprache ersetzt haben.

5. Erzählstruktur

Pearl S. Buck erzählt ganz konventionell. In der Regel erfährt der Leser so viel wie die Hauptperson Wang Lung, doch ist immer wieder der allwissende Erzähler zu erkennen, ohne dass er in Kontakt mit dem Leser tritt. Die Zeit läuft chronologisch ab, von dem Hochzeitstag Wangs mit der Sklavin O-lan aus dem großen Haus des Großgrundbesitzers Hwan bis kurz vor seinem Tod. Rückblicke gibt es nur als Erinnerungen der Personen, Vorausdeutungen nur als deren Zukunftspläne und –hoffnun- gen. Der Erzähler verfolgt Schritt für Schritt den Aufstieg des einfachen Bauern Wang Lung zum Großgrundbesitzer und Inhaber des großen Hauses der Hwangs in der Stadt, der ihm aufgrund seines Fleißes und der guten Haushaltung sowie Lebenstüchtigkeit seiner Frau gelingt. Durch das Verhalten der Söhne – sie wollen keine Bauern sein – und der Verschwendungssucht der großen Verwandtschaft wird angedeutet, dass sich der Kreislauf vom Gipfel zum Abstieg, wie er an der Familie Hwang vorgeführt wird, wiederholt. Dabei wird ohne großes Aufheben die grundlegende Idee vom Kreislauf des Lebens vorgestellt, wie der Buddhismus ihn z.B. im Rad des Lebens darstellt, der Daoismus in Yin und Yang und die Erfahrung im Wechsel der Generationen. Dieses ist im Sinne des Konfuzianismus im Aufstellen der Generationentafel als Objekt der Anbetung manifestiert. Offensichtlich hat diese traditionelle Erzählweise und Zeitstruktur mit zum Vorwurf z.B. Faulkners geführt, Buck verfasse triviale Literatur. Denn als ihr Roman 1931 erschien, war die moderne Literatur schon vom stream of conciousness geprägt und der allwissende Erzähler durch andere Erzählweisen abgeschafft.

Bucks Art des Erzählens hat allerdings den großen Vorteil, dass die für die Europäer und Amerikaner weitgehend fremde Welt der chinesischen Bauern von 1931 und früher sich Schritt für Schritt entfaltet und verstehbar wird. Völlig andere Bräuche, völlig andere Verpflichtungen in der Familie, traditionelle Hierarchien werden mit dem einen Leben des Wang Lung bekannt gemacht. Genau das hat auch zum Nachdenken über alte Vorurteile der

4 „schlitzäugigen Verbrecher“ aus Filmen und der „gelben Gefahr“ Wilhelms II. geführt und zu einem veränderten Chinabild beigetragen. Mit diesem Werk „gewannen die Amerikaner auch eine erste Vorstellung von den Lebensverhältnissen im ländlichen Raum Chinas“. Das Buch wurde in 1,5 Mio. Exemplaren verkauft. (Spencer S. 467)

…und Erzählstil

Buck pflegt einen überschaubaren Satzbau aus kurzen Hauptsätzen, wenigen Erläuterungen und Nebensätzen, der sehr passend für die Geschichte des ungebildeten Bauern Wang Lung ist. Dennoch schafft sie es schon im ersten Absatz, das einfache Haus und die Lebensgewohnheiten der Bewohner nahezubringen: drei Räume, ein hustender Vater, der täglich versorgt werden muss. Nach zwei Seiten weiß der Leser, dass die Mutter vor sechs Jahren gestorben ist und Wang in Ermangelung einer Frau im Hause entgegen jedem Brauch die Frauenarbeit machen muss. Sein Hochzeitstag, mit dem der Roman beginnt, verheißt ihm die Wiederherstellung der Ordnung und des Brauches, die neue Frau im Haus wird alle Pflichten erfüllen. Dem Brauchtum werde ich ein eigenes Kapitel widmen. Wang Lung ist ungebildet und damit unwissend in allen politischen Fragen und zeitgeschichtlichen Ereignissen. Damit er das Nötigste begreift, werden immer wieder Gespräche dargestellt, in denen er die wichtigsten Informationen bekommt – ob die Stadt vom Krieg bedroht ist, warum Männer von Soldaten festgehalten und weggeschleppt werden, wie eine Sklavin in den großen Häusern geschlagen und von den Herren und den Dienern sexuell missbraucht wird. Dadurch kann er für sich und seine Familie die richtigen Entscheidungen treffen. Eine weitere Besonderheit ist die Vermittlung der chinesischen Art, Botschaften, vor allem unangenehme, nicht direkt auszusprechen, sondern bildhaft und verblümt zu vermitteln. Die prägnanteste Szene ist die, als der Arzt Wang mitteilt, dass dessen Frau O-lan unweigerlich sterben muss, da ein kopfgroßes Geschwür ihre Organe z.T. schon zerstört hat. Für den Weg von der Stadt auf den Bauernhof verlangt er 10 Silberstücke, für eine Medizin 50 Silberstücke, für eine garantierte Heilung zunächst 500, dann jedoch 5000 Silberstücke. (269f.) Diesen Betrag könnte Wang nur durch den Verkauf seines ganzen Besitzes aufbringen. Damit weiß er, dass O-lan nicht mehr zu helfen ist. Auf diese Weise macht Buck ihre Leser auf viele Besonderheiten der chinesischen Lebensart und Literatur aufmerksam.

6. Brauchtum

 Hierarchie in der Familie

Die Familie ist nach dem Alter absolut hierarchisch aufgebaut, alt geht vor jung. Der alte Vater Wangs bekommt als erster morgens heißes Wasser, eventuell mit einigen Teeblättern gewürzt. (12) Selbst in der größten Hungersnot bekommt er das beste Essen, was da ist, und nicht der schwer arbeitende Sohn. Denn die Söhne garantieren die Altersversorgung der Eltern. „Dem alten Mann ging es von allen am besten, denn wann immer auch nur ein Krümelchen da war, so bekam er es, selbst wenn die Kinder gar nichts hatten. Stolz dachte Wang Lung bei sich, dass ihm niemand in seiner Todesstunde vorhalten könne, er hätte sich nicht um seinen Vater gekümmert.“ (88) Klaglos nimmt Wang jede Kritik seines Vaters hin, für den Reisessen Verschwendung ist, das Baden am Hochzeitstag das kostbare Wasser unsinnig verbraucht, das zum Wässern der Erde nötig ist. Deswegen verspricht ihm Wang, es nach dem Bad über die Erde zu gießen, „dann

5 ist es nicht verschwendet“ (15). Zwar denkt Wang wütend an die Klagen des Vaters, hütet sich aber, diesen laut zu kritisieren. (16) Auch die die beiden ältesten Söhne Wangs wagen nicht ihrem Vater zu widersprechen, sondern behandeln ihn gemäß der Tradition. Beide sind zur Schule gegangen, beide lehnen das Bauerndasein ab, denn der eine ist Senator in der Stadt geworden, der andere ein erfolgreicher selbstständiger Getreidehändler. (379) Sie belügen ihren Vater, das Land nicht zu verkaufen. Nur der dritte Sohn geht seinen eigenen Weg. Er zeigt, dass eine neue Zeit beginnt. Ebenso zwingend ist die Ehrerbietung gegenüber allen älteren Familienmitgliedern. Nachdem Wang das erste fruchtbare Feld in Stadtnähe vom Großgrundbesitzer Hwang erworben und mit der guten Erde einen Überschuss erwirtschaftet hat, gilt er in seinem Dorf als reich. Deswegen verlangt die Familie des Onkels, die vor Faulheit strotzt, sieben Kinder hat und deren Leben Wang als Beschmutzung des Familiennamens empfindet, dass er die Mitgift für die Töchter zahlt. Tante und Onkel machen das Schicksal für ihr Dasein verantwortlich. Wang darf ihnen nicht widersprechen, obwohl er es besser weiß, auch die Spielsucht seines Onkels kennt. (70, 72) Als er es trotzdem tut und dem Onkel seine Faulheit vorwirft, reagiert der Onkel wütend. „Das Blut stieg seinem Onkel in das gelbe Gesicht, und er sprang auf seinen Neffen zu und schlug ihn heftig rechts und links ins Gesicht. ‚So‘, schrie er aufgebracht, ‚das hast du für deine Sprache zur väterlichen Generation! Hast du denn keine Religion und Moral, dass dir jeglicher Sohnesgehorsam abgeht? Hast du nicht in der heiligen Schrift gelernt, dass ein Mann niemals einen Älteren zurechtweisen darf?‘ Wang Lung stand stumm da und war sich seines Fehlers bewusst, aber der Zorn über diesen Mann, der sein Onkel war, ließ sein Herz zu Stein werden.“ (73) Dennoch gibt er dem Onkel das geforderte Geld. Unter dieser Erpressung aufgrund der Verwandtschaft leidet er bis an sein Lebensende. Selbst als sein Cousin zu den Soldaten geht, muss er ihn und dessen Kompanie in sein großes Haus in der Stadt aufnehmen und versorgen. Dieser belästigt die Frauen des Hauses und führt freche Reden, bis die Soldaten weiterziehen. (342 – 351) Der einzige Vorteil für Wang ist, dass sein Hof nie von der Räuberbande der Rotbärte überfallen wird, die den Nordwesten des Landes Anwhei brandschatzen. Denn sein Onkel gehört zu dieser Bande und beschützt ihn und sein Haus als Gegenleistung für Unterkunft und Verpflegung der Familie. (245f.) Anzeigen darf er den Onkel nicht, da er dann bei der Polizei ausgepeitscht würde, weil er gegen ein älteres Familienmitglied Klage erhebt.

 Die Rolle von Mann und Frau

Ebenso festgelegt wie das Verhalten in der Familie ist die Rolle von Frau und Mann. Der Mann arbeitet auf den Feldern, betreut die Tiere, verwaltet das Vermögen und zieht gegebenenfalls in den Krieg. Die Frau hat die Pflicht Söhne zu gebären, um die Altersversorgung der Eltern zu sichern. Von Geburt an wird sie „Sklavin“ genannt. So sagt O-lan bei der Geburt des dritten Kindes, eines Mädchens: „Diesmal ist es nur eine Sklavin, nicht der Rede wert.“ (75) Wang hält das Mädchen sogar für die Ursache seines Unglücks, dem erpresserischen Onkel Geld geben zu müssen. Die Eltern haben jederzeit das Recht, ihr Mädchen als Sklavin zu verkaufen, entweder in Zeiten der Not oder zum Einsparen der Mitgift. Bleibt das Mädchen zu Hause, müssen die Eltern dafür sorgen, es rechtzeitig zu verheiraten, möglichst mit 12 Jahren, damit es noch Jungfrau ist und den Eltern keine Schande macht. Die Mutter ist verpflichtet, dem Mädchen alle Tätigkeiten in Haus und Hof beizubringen, ihr Ehrfurcht und Unterwürfigkeit gegenüber allen Männern im Haus einzutrichtern, auch gegenüber den Brüdern.

6 O-lan ist eine besonders hervorragende Hausfrau. Sie führt ihren Haushalt gut und ist sparsam, flickt alle Kleidung, verschönert die Räume und arbeitet auf den Feldern mit. (38 – 41) Sie ist nicht schwatzhaft, aber oft besser informiert als ihr Mann, da sie genau hinhört, was im Dorf und in der Stadt getuschelt wird. Dadurch gibt sie Wang manch guten Rat, so dass er die richtigen Entscheidungen treffen kann. Pearl. S. Buck stellt sie geradezu als ideale Frau dar, die ihre Rolle ganz ausfüllt. Mit ihrer Figur wird die überwiegend bäuerliche Gesellschaft Chinas gut charakterisiert. Aber selbst wenn in Deutschland das Frauenwahlrecht erst 1918, in Kanada und den USA erst 1920 eingeführt wird, selbst wenn in der BRD erst am 1.7.1958 den Ehemännern durch das Gleichstellungsgesetz das Recht entzogen wurde, ihren Frauen die Berufstätigkeit zu verbieten, ist das mit der Figur von O-lan gezeichnete Frauenbild schon beim Erscheinen des Romans 1931 im Westen nicht mehr zeitgemäß und dürfte Verwunderung hervorgerufen haben.

 Kinder: Geburt und Einführung in die Gesellschaft

Als O-lan ihr erstes Kind bekommt, lehnt sie jede Hilfe von einer anderen Frau ab. Sie bekommt das Kind allein, braucht nur von Wang ein scharfes Rohr zum Durchtrennen der Nabelschnur. Zum Glück für die ganze Familie ist das erste Kind ein Sohn. Der Brauch fordert, dass das Kind in einer alten Hose des Mannes dem Vater präsentiert wird, dass die Frau roten Zucker mit Wasser zum Trinken und das ganze Dorf rotgefärbte Eier als Zeichen für die Geburt eines Sohnes bekommt. (46 – 49) Nach einem Monat wird es mit einem Fest in die Dorfgemeinschaft eingeführt. Den geladenen Gästen werden lange Nudeln als Zeichen für ein langes Leben vorgesetzt. Die Gäste erhalten 10, die Gratulanten zwei rotgefärbte Eier. (53) Die Ein-Monatsfrist entspringt der Erfahrung, dass viele Kinder in den ersten 10 Tagen sterben, nach einem Monat werden die Überlebenschancen größer. (321) Die hauseigenen Götter erhalten als Dank vier Räucherstäbchen. (51) Der größte Triumph für die frischgebackenen Eltern ist die Vorstellung des Sohnes in dem großen Haus am zweiten Tag des neuen Jahres, an dem sich traditionsgemäß die Frauen besuchen. Wie schon vor der Geburt geplant (44), hat O-lan allen neue Kleider genäht. „…die Frau kleidete das Kind in ein rotes Gewand und zog ihm die tigergesichtigen Schuhchen an, die sie ihm gemacht hatte, und setzte ihm auf sein von Wang Lung am letzten Tag des alten Jahres frisch rasiertes Köpfchen das rote Käppchen, in dessen vordere Mitte sie einen kleinen goldenen Buddha gestickt hatte, und setzte ihn auf das Bett. Dann kleidete auch Wang sich rasch an, während seine Frau noch einmal ihr langes schwarzes Haar frisch auskämmte und es dann mit der silbernen Haarnadel, die er ihr gekauft hatte, zu einem Knoten feststeckte. Dann zog sie ihre schwarze Jacke an, die aus dem gleichen Stück Stoff gemacht war wie sein neuer Anzug, vierundzwanzig Fuß guter Stoff, zu dem der Stoffhändler ihnen noch eine Zugabe von zwei Fuß gegeben hatte, wie es Sitte war..“ (58) Der Torhüter empfängt sie überfreundlich. Zwar nimmt Wang die Einladung zum Tee an, lässt den dann aber stehen, „als wären die Teeblätter von zu minderer Qualität für ihn“ (59). Das ist seine Rache für die schlechte Behandlung bei der Heimführung der Braut. Auch O-lans Besuch bei der alten Herrin gerät zum Triumph. Die schlechte Wirtschaftslage des Hauses macht es unmöglich, dass auch nur eine Person zum neuen Jahr neue Kleider bekommt. O-lans Kleidung überstrahlt die der Reichen. Wie schon beim Brautpreis, werden die Bräuche nur beim ersten Kind vollständig erzählt, so dass der Leser die Darstellung wieder als exemplarisch auffassen kann. Das größte Unglück der Familie Wang ist die Geburt des dritten Kindes, eines schwachsinnigen Mädchens Die Tanten jagen sie aus ihren Räumen und die Cousins und Cousinen spielen nicht mit ihr. (314) Wang entwickelt eine besondere Beziehung zu seinem „Närrchen“ und beschützt es sein Leben lang. Damit weicht er hier von der Tradition ab. Nur

7 am Ende seines Lebens macht er sich Sorgen um sie, besorgt Gift, damit seine letzte Konkubine Pfirsichblüte sie nach seinem Tod umbringen kann. Doch diese weigert sich und verspricht, für die Behinderte zu sorgen. Damit schließt auch sie sich dem Traditionsbruch an. So zeigt mit dieser Figur Buck den Chinesen eine Möglichkeit, das Verhalten zu ändern, was durch Traditionen geprägt ist.

 Brautwerbung und Brautpreis

Da der Roman mit Wangs Hochzeit beginnt, wird gleich am Anfang das Verfahren der Werbung und des Handelns um die Braut erzählt. Der Bräutigam darf die Braut nicht vor der Ehe sehen. Die armen Bauern können sich keinen Werber leisten. So geht Wangs Vater zu dem großen Haus und fragt nach einer heiratsfähigen Sklavin. Als Verlobungsgeschenk bringt er zwei vergoldete silberne Ringe und silberne Ohrringe mit. Damit besitzt der Vater die Sklavin. Dennoch bedarf es einer großen Übergabezeremonie, in der die bekannten Lebensdaten der Braut dem Bräutigam genannt werden. (27 – 29) O-lan ist wegen einer Hungersnot von ihren Eltern mit 10 Jahren verkauft worden und hat 10 Jahre im großen Haus in der Küche gedient. Ihre Füße wurden als Sklavin nicht eingebunden, da sie nicht zierlich trippeln können muss, um einem Mann zu gefallen. Die nächste Werbung führt die Tante durch. Sie kauft die schöne Hure Lotos als Zweitfrau Wangs von der Bordellbesitzerin. Als Vermittlungsgebühr bekommt die Tante 10 Silberstücke. Die Bordellbesitzerin erhält 100 Silberstücke, „und das Mädchen wird kommen für Jadeohrringe und einen Jadering, einen Ring aus Gold, zwei Gewänder aus Satin und zwei aus Seide, ein dutzend Paar Schuhe und zwei seidene Decken fürs Bett.“ (210) Außerdem muss ihre bisherige Dienerin Kuckuck mit in Wangs Haus umziehen. Kuckuck ist die ehemalige Geliebte des Großgrundbesitzers, die Wang das letzte Land der Hwangs verkauft hat. Bei allen anderen Hochzeiten der Familie Wang, bei denen die Väter Absprachen über 10- jährige Kinder treffen und Kuckuck die Brautpreise aushandelt, werden nur noch allgemeine Angaben wie „Schmuck und Kleider“ gemacht. Dadurch kann der Leser die genannten genauen Aufzählungen als exemplarisch für den Brautpreis ansehen, den arme oder reiche Leute bezahlen können.

 Bildung und Beamtentum

Traditionsgemäß bekommen Bauernkinder keine Schulbildung, sondern lernen alles, was sie zur Bestellung der Felder brauchen, von ihren Vätern oder Verwandten. Nur die Reichen lassen ihre Söhne, nicht die Töchter, zur Schule gehen oder ihnen Privatunterricht geben. Deswegen ist Wang Lung in der Stadt im Süden – in der Provinz Kiangsu - sehr erstaunt, als ein junger Mann in einer politischen Rede alle zur Weiterbildung auffordert. Ihm werden auf der Straße Papiere (Flugschriften?) in die Hand gedrückt, die er nicht lesen kann. Er fühlt sich von allem nicht angesprochen. (118) Erst als Wang nach der Rückkehr in sein Dorf weiteres Land von den Hwangs gekauft hat und immer reicher wird, schämt er sich, dass er die Kaufverträge für sein Korn nicht lesen kann, die ihm die Händler vorlegen. (174f.) Deswegen schickt er seinen ältesten Sohn mit 12 Jahren auf die Schule in der Stadt. Dasselbe Recht fordert auch der zweite Sohn. Wangs Stolz steigt ins Unermessliche, als sein Ältester lesen und schreiben kann und bei Verkaufsverhandlungen Vertragsfehler korrigiert. (231) Der Vater glaubt sogar, dass der Sohn Mandarin5 werden könnte, eine völlige Übertreibung. Denn die Staatsbeamten müssen ein langjähriges Studium

5 http://de.wikipedia.org/wiki/Mandarin_(Titel)

8 der konfuzianischen Schriften absolvieren und seit 1368 harte Staatsprüfungen ablegen, wobei immer nur so viele die Prüfungen bestehen, wie Beamte gebraucht werden. Der Lehrer der Kinder z.B. ist ein Mann, der die Staatsprüfungen nicht bestanden hat. (176) Durch die Bildung kann der Älteste immerhin in der Stadt zum Senator aufsteigen, d.h. er hat wohl staatliche Prüfungen bestanden. Ebenso erfolgreich ist der zweite Sohn. Er ist besonders in Wirtschaftsfragen geschickt, wird zunächst Gehilfe bei einem Kornhändler und macht sich später selbstständig. Auch setzt ihn der Vater als Verwalter des Familienvermögens ein, (356) während er vor der Verschwendungssucht des Ältesten und seiner Familie mehr und mehr Angst bekommt. (318) Auch der Jüngste setzt mit Hilfe seines Bruders seine Schulbildung durch. Dadurch weigert er sich Bauer zu werden, sich verheiraten zu lassen, sondern schließt sich der Revolution an, in der besonders die Kommunisten die Bildung für alle fordern. So zeigt Pearl S. Buck vor allem bei diesem Thema den Wandel in der chinesischen Gesellschaft in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts nur an der Erfahrungen einer einzigen Familie, die wiederum exemplarisch für die Zeit stehen kann. An einigen Stellen des Romans wird allerdings deutlich, dass das Beamtentum unterwandert wird, da Ämterkauf zu Amt und Würden führt, um das Ansehen einer Familie zu steigern. (61) Dies führt zu unfähigen Menschen in wichtigen Verwaltungsstellen, die Katastrophen nicht verhindern, weil sie das Geld selbst verbrauchen. (289f.) Volksaufstände sind die Folge. Das hat u.a. mit den unsicheren politischen Verhältnissen nach 1911 zu tun, dem ständigen Streit zwischen Regionalherrschern verschiedenster Provenienz. Solche Passagen zeigen, dass ein allwissender Erzähler sich hinter der Figur des Wang versteckt und Buck versteckte Kritik an der Politik durchführt.

7. Die gute Erde

Der Titel entspricht ganz und gar der Hauptfigur, die ihr Lebenselexier aus der Erde saugt, die sie bestellt. Wang prüft mit der Hand die Qualität seiner Felder, er empfindet Glück beim Gang durch seinen Besitz. Er geht während der Hungersnot lieber in die Stadt zum Arbeiten als sein Land zu verkaufen. Er verbietet seinen Söhnen dies zu tun. Er sieht seine Frau und sein Kind mit dem Staub der Erde bedeckt und empfindet sie dadurch als eins mit dem Landbesitz und mit sich selbst. Die Erde muss gegen Heuschrecken und Flutkatastrophen verteidigt werden. Auch heilt „die gute dunkle Erde“ Wangs Liebesskrankheit. (228) Aber der Titel hat auch eine religiöse Qualität. Aus der Erde der Felder werden die Häuser gebaut und die Götterstatuen geformt, die beiden „kleinen, ernsthaften Figuren“, und mit rotem Papier bekleidet. (31) Sie sollen die Erde fruchtbar machen und das Haus und die Bewohner schützen. Dass die Erde wichtiger ist als die Figuren, zeigt sich an dem ersten gemeinsamen Arbeitstag auf den Feldern. „Kein bestimmter Gedanke formte sich in seinem Kopf , nur die vollkommene Gemeinsamkeit, mit der sie die Erde umgruben und sie der Sonne preisgaben, diese Erde, aus der sie lebten und aus der ihr und ihrer Götter Haus gemacht worden waren. Schwer und dunkel lag die Erde vor ihnen, und ihre Krumen fielen leicht von ihren Schaufeln. Hin und wieder kam ein Stückchen Holz ans Licht und auch wohl ein Ziegelrest. Das bedeutete nicht viel. Irgendwann vor langer Zeit waren hier Männer und Frauen begraben worden, hatten hier ihre Häuser gestanden, waren zerfallen und wieder zur Erde geworden. So würde auch eines Tages ihr Haus zerfallen, und auch sie würden sterben und auch wieder zur Erde werden.“ (40f.) Der Kreislauf des Lebens wird in der Erde aufgehoben und durch sie möglich. Diese Vorstellung ähnelt der griechischen Urmutter Gaia, aus der alle Götter und alles Leben entstehen.

9 Dieser Aspekt wird in der größten Hungersnot verstärkt, als Wang von seinem Feld Erde holt, mit Wasser verrührt und seinen Kindern zu essen gibt – „Gnadenerde“ (94) Das Problem der Reichen ist, dass sie „die Kraft der Erde“ nicht mehr spüren bzw. wahrhaben wollen, deswegen auch das Land leichtsinnig verkaufen. (164) Wang verliert dagegen sein Leben lang den Kontakt zu der gottgleichen Erde nicht. (316) Diese Fähigkeit hat seinen Aufstieg und Reichtum ermöglicht. Als Zeichen der neuen Zeit setzt sein zweiter Sohn schon auf Finanzgeschäfte. Da die Söhne bereits den Verkauf des Landes planen, werden sie ihre Habe verlieren und damit das Schicksal des Hauses Hwang wiederholen. Ob diese zentrale Aussage des Buches trivial ist, wie es die Kritiker Buck vorgeworfen haben, wage ich nicht zu bewerten. Die Missachtung der Natur und die Folgen des immer weitergehenden Raubbaus an den natürlichen Ressourcen dieser Welt sind uns allen hinreichend bekannt. Der Bauer Wang dagegen lebt mit der Natur und bewahrt sie.

Zwischenbemerkung

Ich weise darauf hin, dass ich das 500 Seiten starke Werk von Mo Yan nicht komplett vorstellen kann, hoffe aber die Lust zum Selberlesen zu wecken.

8. Der Autor Mo Yan

Mo Yan wird 1956 in Gaomi in der Provinz als Bauernsohn geboren. Sein Name ist eigentlich Guan Moye, sein Pseudonym heißt „der Sprachlose“. In seiner Nobelpreisrede erklärt er, dass er als Junge sehr geschwätzig gewesen sei und seine Mutter sich immer einen zurückhaltenden Jungen gewünscht habe. Deswegen habe er dieses Pseudonym mit Selbstironie gewählt.6 Als 12-jähriger verlässt er während der Kulturrevolution die Schule und arbeitet in der Landwirtschaft und Fabrik. 1976 schließt er sich der Befreiungsarmee des Volkes an.7 Er beginnt Literatur zu studieren, Erzählungen zu schreiben und 1984 an der Literaturabteilung der Kulturakademie der Armee zu unterrichten. Im Jahr 1986 schließt er das Studium an der Kunsthochschule der Volksbefreiungsarmee ab. Um sozial- und krankenversichert zu sein, bekommt er ein Gehalt vom Künstlerforschungsinstitut des Kultusministeriums wie andere Künstler auch. 1981 erscheint seine erste Novelle in einer Literaturzeitschrift. Erst durch den Kurzroman „Der kristallene Rettich“ (1986) wird er bekannt. In „Die Knoblauchrevolte“ (1988, dt. 1997) und „Die Schnapsstadt“ (1992, dt. 2002) übt er scharfe Kritik an der chinesischen Gesellschaft. In „Frosch“ (dt. 2013) setzt Mo sich mit der Ein-Kind-Politik auseinander. Sein Roman „Das rote Kornfeld“ (1987, dt. 1993) wird 1987 verfilmt und bekommt auf der Berlinale 1988 den Goldenen Bären. Seine Erzählkunst charakterisiert das Nobelpreiskomitee, zitiert von Knud von Harbou in der „Bühne 11“ vom 1.11.12, als „Mischung aus Faulkner, Charles Dickens und Rabelais“. Er selbst beschreibt in der Nobelpreisrede 2012, wie er dem durch die Dörfer ziehenden Geschichtenerzähler lauscht und dessen Geschichten zu Hause nacherzählt, dabei zunächst ein familiäres, dann ein nachbarschaftliches Publikum gewinnt. Auch probiert er Veränderungen des Gehörten aus und prüft die Wirkung. Geleichzeitig entspricht er damit den Leitlinien der KPCh, die Mao schon im Mai 1942 aufstellt, der Künstler müsse die Traditionen des Volkes aufgreifen.8

6 http://www.nobelprize.org/nobel_prizes/literature/laureates/2012/yan-lecture_ty.html 7 Die Chinesische Volksbefreiungsarmee … ist nach offiziellen Angaben mit rund 2,5 Millionen Soldaten die größte Armee der Welt. Den kollektiven Oberbefehl über die Streitkräfte übt die Zentrale Militärkommission aus, …. Demgegenüber übt der Verteidigungsminister eher repräsentative und administrative Funktionen aus. http://de.wikipedia.org/wiki/Volksrepublik_China#Milit.C3.A4r 8 Spencer a.a.O., S 562

10 Die Kritik der chinesischen Regimegegner, vor allem der im Ausland lebenden, entzündete sich an Mo Yans Weigerung, auf der Frankfurter Buchmesse 2009, auf der China Gastland war, bei einer Podiumsdiskussion mit Dissidenten an einem Tisch zu sitzen.9 Ihm wurde 2009 wie 2012 vorgeworfen, Unterstützer des Regimes zu sein. Auch dazu nimmt er in Oslo Stellung. Er glaubt von sich selbst, die „dunklen Seiten der Wirklichkeit“ trotz staatlicher Zensur darzustellen, da er wie jeder Erzähler “den Standpunkt der Allgemeinheit einnehmen“ müsse.6 Nach der Verleihung des Nobelpreises empörten sich Dissidenten im In- und Ausland darüber, dass Mo Yan gesagt hatte: „Zensur sei ebenso ein notwendiges Übel wie lästige Sicherheitskontrollen am Flughafen.“ "Er sollte sich schämen", sagte Künstler . Der Regimekritiker verwies darauf, dass in China Künstler und Schriftsteller verhaftet oder bedroht würden. Mos Äußerungen vom Donnerstag seien eine mit der Regierung abgestimmte Erklärung. "Er ist ein Wächter des diktatorischen Systems und zugleich sein Nutznießer", sagte Ai.“10 Auf diese Diskussion gehe ich später ein.

9. Erzählstruktur und Inhalt

Mo Yans Roman ist nicht chronologisch aufgebaut, sondern springt im Zeitraum von 1923 bis ungefähr 1985 hin und her, so dass der Leser sehr konzentriert aufpassen muss, in welcher Zeit er sich befindet. In Oslo weist Mo Yan darauf hin, dass er westliche Vorbilder hat, sowohl Dichter wie auch die westliche Erzähltechnik.6 Gemeint ist wohl die der Moderne. Das unterscheidet ihn grundsätzlich von Pearl S. Buck. Drei Zeitabschnitte bilden die Schwerpunkte. In die erste Zeit fallen der Beginn des Zusammenlebens zwischen Großvater und Großmutter 1923 und ihr Aufstieg zu Ansehen und zu Reichtum durch die gutgehende Brandweinproduktion aus der roten Hirse und den Schutz der regional mächtigen Räuberbande der Eisengesellschaft, deren Mitglied Großvater wird. 1925 – 1928 wird als das goldene Zeitalter des Banditentums bezeichnet. (367) In die zweite Zeit, die des Chinesisch-Japanischen Krieges 1937 – 1945, fällt die Zerstörung des gesamten Eigentums durch Kriegshandlungen, der Tod der Großmutter bei einem japanischen Angriff 1939, die Gefangennahme des Großvaters durch die Japaner und seine Verschleppung in ein Arbeitslager auf Hokkaido, aus dem er 1958 zurückkehrt. In die dritte Zeit fällt das Leben des Enkels, die Rückkehr des Großvaters aus dem Arbeitslager 1958, sein Tod 1976, der Umgang der Kommunisten mit den alten Kämpfern und die Veränderung des Lebens in Stadt und Land. Alle Handlungen wiederzugeben, ist unmöglich. So versuche ich thematisch vorzugehen.

Mo Yan lässt den Enkel die Familiengeschichte von zwei Generationen, nämlich Großeltern und Eltern, in Ich-Form und Erzählbericht erzählen. Da der Enkel aus der Rückschau berichtet, ist er allwissend in dem Sinne, dass er die Entwicklung der Familie überblickt. Er existiert gleichzeitig in zeitlicher Distanz zur Welt der Vorfahren in Gaomi und ist doch Teil von ihr, da er seine Jugend dort verbracht hat und der Ort ein Sehnsuchtsort für ihn geworden ist. „Erst als Erwachsener habe ich erkannt, dass Nordost-Gaomi der zweifellos schönste und abstoßendste, heroischste und feigste, trinkfreudigste und liebestollste Ort auf der Welt ist. … Jahrzehntelang, über Jahrzehnte, die nur ein Moment der Ewigkeit sind,

9 http://de.wikipedia.org/wiki/Mo_Yan; http://de.wikipedia.org/wiki/Rotes_Kornfeld; Urs Bugmann, Er gibt Chinas kleinen Leuten eine Stimme, in: Neue Luzerner Zeitung 12.10.12 10 https://microshop.spiegel.de/SDMACASPON1129

11 huschten scharlachrote menschliche Gestalten durch die Hirsefelder und verwoben sich zu einem gewaltigen menschlichen Netz. Sie töteten, sie plünderten, sie verteidigten ihr Land in einem tapferen, aufwühlenden Ballett, neben dem wir, ihre getreuen Nachkommen, die heute das Land bewohnen, blass erscheinen. Inmitten des Fortschritts ahne ich beunruhigt den Rückschritt der menschlichen Gattung.“ (10) Da Mo Yan selbst aus Goami stammt, deckt er gleich auf der zweiten Seite den biographischen Bezug zu seinen Romanfiguren auf. Gleichzeitig gibt er in kürzester Form den Inhalt wieder und lässt eine leise Kritik an seiner Zeit anklingen. Zum Schluss werden noch einmal die gleichen Töne angeschlagen. „Ich stehe mitten in dem dichtbewachsenen Feld voll Hybridhirse und denke an Szenen unübertrefflicher Schönheit, die ich nie wieder sehen werde. Unter dem hohen klaren Herbsthimmel des achten Monats bedeckt Hirse wie ein glänzendes Meer von Blut die Erde. Wenn die herbstlichen Regenfälle reichlich sind, verwandelt sich das Feld in ein sumpfiges Meer, und die roten Spitzen der Hirse steigen aus dem trüben gelben Wasser auf und rufen tapfer den blauen Himmel über sich an. Wenn die Sonne durch die Wolken bricht, leuchtet der Meeresspiegel, und Himmel und Erde sind von reichen majestätischen Farben bedeckt. Das ist der Inbegriff des Menschseins, nach dem ich mich sehne, nach der ich mich immer sehnen werde.“ (489f.) Hier wird der Fortschritt in der Landwirtschaft, der Anbau der ertragreicheren Hybridhirse, als Zerstörung der Schönheit bewertet, die ehemalige Welt in einer adjektivreichen Schilderung nahezu religiös überhöht. Dieser Überhöhung entspricht im letzten Absatz die Aufforderung der Geister der Vorfahren, den letzten roten Hirsehalm zu finden und als Talismann und Totem der ruhmreichen Familie in die Zukunft zu tragen. Diesen Auftrag erfüllt der Autor offensichtlich mit seinem Roman.

10. Die Hauptfiguren

Die Hauptfiguren sind der Großvater Yu Zhan’ao (1903 -1976) und die Großmutter Dai Fenglian (1907 – 1939). Zu ihnen gehört der Onkel Liu Luohan, der Vertraute und Aufseher in der Schnapsbrennerei. Nicht ganz gleichgewichtig sind der Vater Dougnan und die Mutter Quian’er. Der Name des erzählenden Enkels bleibt offen. Die Großeltern lernen sich 1923 kennen. Dai soll 16-jährig mit dem leprakranken Sohn des reichen Schnapsbrenners Shan Tingxiu verheiratet werden. Sie ist 1,60 m groß, wiegt 60 kg, hat eingebundene Füße, ist reich gekleidet und mit schwerem Silberschmuck behängt. Der Urgroßvater ist Silberschmied. (54) Mit einer Sänfte, also unsichtbar für alle Männer, wird sie ins Haus des Bräutigams getragen. Die Großmutter durchbricht immer wieder die Konventionen. In der stickigen Sänfte reißt sie ihren Schleier ab und lüftet den Vorhang der Sänfte. Als der Zug von Räubern überfallen wird, können sich die Blicke von Dai und Yu begegnen und ihre Leidenschaft entbrennt. Nach der Ankunft im Hause Shan hält sich die Großmutter ihren Ehemann mit einer Schere vom Leibe, so dass die Hochzeit nicht vollzogen wird. Ihren Fluchtversuch am anderen Morgen verhindert der Schwiegervater. Als ihr Vater der Sitte gemäß sie am dritten Tag noch einmal nach Hause führen will, erwartet Yu sie im Kornfeld und nimmt sie inmitten der Hirse zur Frau. Daraus entsteht der Sohn Dougnan. Yu ermordet Vater und Sohn Shan, Dai wird als rechtmäßige Erbin der Brennerei anerkannt. Von Anfang an wird ihre Eigenständigkeit und Tatkraft hervorgehoben. Sie widersetzt sich der ungewollten Ehe, sie desinfiziert das neu gewonnene Haus von Leprakeimen und verschönert es. Sie organisiert mit Hilfe von Liu Luohan, der Vorarbeiter mit Schlüsselgewalt bleibt, die Schnapsbrennerei. Sie stellt sich unter den Schutz des Richters Cao, indem sie ihn zu ihrem Pflegevater ernennt. Sie wehrt sich gegen die Zweitfrau und fängt selbst ein Verhältnis an. Sie lernt schießen und unterstützt die Kämpfer im Krieg gegen die Japaner,

12 wobei sie 1939 erschossen wird. Ihre Beerdigung zwei Jahre später soll das größte Ereignis des Landes werden, gerät aber durch den Angriff eines chinesischen Warlords zum größten Desaster. Ihre Gestalt bewertet der Enkel wie folgt: „Ich bin fest überzeugt, dass sie tun durfte, was sie wollte, denn sie war die Heldin des Widerstandes, eine Vorkämpferin der sexuellen Freiheit, das Musterbild einer emanzipierten Frau.“ (22) Damit macht er sie zum Vorbild einer modernen Frau.

Yu Zhan’ao ist einer der Sänftenträger, die Dai zum Haus des Ehemanns tragen. Er ist zu dieser Zeit 20 Jahre alt, sehr kräftig, ist seit dem zweiten Lebensjahr ohne Vater aufgewachsen und hat schon als 16-jähriger den Geliebten seiner Mutter, den Abt des nahen Tiangi-Klosters, ermordet. (134) Er verfällt danach der Spielsucht, die ihm der neue Bezirksrichter mit einer harten Strafe austreibt. Yu wird aufgrund seiner Stärke Sänftenträger, was er bei Dais Hochzeit bereits seit zwei Jahren macht. (134) Yu ist stark, gewaltbereit und zielstrebig. So gibt er sich nicht damit zufrieden, als einfacher Arbeiter in der Schnapsbrennerei zu arbeiten, sondern zwingt Dai, vor den Arbeitern zuzugeben, dass er der Vater ihres Kindes ist. Das Zeichen seiner Anerkennung ist, dass er mit ihr im Westhof zusammenleben kann und nicht mehr bei den Arbeitern im Osthof schläft. Gemeinsam machen Yu und Dai die Schnapsbrennerei zu einem hervorragenden Geschäft und werden reich und angesehen. Genauso dramatisch wie ihr Kennenlernen ist ihr Leben. Sie wehren sich gemeinsam gegen die Räuberbande des gefürchteten Anführers Blatternarbe. Yu lernt solange schießen, bis er die „Fähigkeit der sieben Pflaumenblüten“ besitzt. „Großmutter legte sieben Kupfermünzen wie eine Pflaumenblüte auf die Theke und ging dann aus dem Weg. Großvater stolzierte hinter der Theke auf und ab, dann drehte er sich plötzlich um, zog seine Pistolen und fing an zu feuern. Peng, peng, peng, peng, peng, peng, peng: sieben Schüsse in schneller Folge. Die Kupfermünzen flogen in die Höhe, die Kugeln fielen zu Boden, vier blieben in der Wand stecken. Großmutter und Großvater traten an die Theke, hielten die Laternen hoch und stellten fest, dass die Tischplatte nicht einen Kratzer aufwies. Er hatte die ‚Fähigkeit der sieben Pflaumenblüten‘ erworben.“ (203) Damit schützt er nicht nur sein Haus, sondern das ganze Dorf und wird als Berater in allen allgemeinen Fragen anerkannt. Ebenso nimmt Yu es mit der „Eisengesellschaft“ des Anführers Schwarzauge auf, doch hat diese Begegnung eine andere Qualität. Nach Großvaters Seitensprung mit dem Dienstmädchen Lian’er 1926 (366) und der Geburt einer Tochter (227) geht die Großmutter mit Schwarzauge fremd. (232) Um die Schande zu beseitigen, fordert Großvater diesen zum Faustkampf auf, wird jedoch von ihm besiegt. Er bildet selbst eine Räuberbande von 800 Männern. Der gerissene Bezirksrichter Cao Mengjiu schafft es 1928 alle außer Großvater gefangen zu nehmen und erschießen zu lassen. 10 Jahre später wird Yu allerdings in die Eisengesellschaft aufgenommen, wird deren stellvertretender Kommandant (398) und bezeichnet sich selbst als Bandit (234). Die Eisengesellschaft ist später auf 200 Mann und 50 Reiter angewachsen und eine eigene Macht im Chinesisch-Japanischen Krieg (308). Sie gibt sogar eine eigene Währung heraus (312). In diesem Krieg aber verliert der Großvater nicht nur seine beiden Frauen und die Tochter, sondern auch seine ganze Habe. Er gerät in japanische Gefangenschaft und wird in ein Arbeitslager gebracht, aus dem er erst 1958 zurückkehrt. Er hat seine Fähigkeit zu sprechen verloren. 1976 stirbt er.

Das Leben der Mutter Qian’er und des Vaters Dougnan wird sehr viel weniger beschrieben. Qian’er ist 15 Jahre alt, als die Japaner 1940 das Dorf überfallen. Sie und ihr Bruder werden

13 im trocknen Brunnen versteckt. Dort stirbt der dreijährige Bruder an Fieber und Hunger, obwohl die Schwester alles versucht, ihn zu retten. Qian’er wird nach der Schlacht fast verhungert entdeckt, als der Großvater im Brunnen die geretteten Gewehre verstecken will. Sie wird in dessen Haus aufgenommen, da ihre Familie getötet worden ist, und von der Dienerin Liu gesund gepflegt. Diese befähigt sie, Dougnans Männlichkeit zu wecken. (291) So akzeptiert Großvater sie als Schwiegertochter. Dougnan wird in seiner Rolle als Räuber und Held im Kampf gegen die Japaner an der Seite seines Vaters Yu immer wieder erwähnt. Dass Yu sein leiblicher Vater ist, erfährt er von der Mutter erst unmittelbar vor ihrem Tod. Für Dougnans Leben ist der Kampf gegen die 600 Hunde prägend. Diese beherrschen nach der Zerstörung der Dörfer und dem Abschlachten der Menschen die Gegend. Denn die Tiere ernähren sich von den nicht bestatteten Leichen und vermehren sich dabei rasant. Beim Kampf gegen die Tiere wird Dougnan ein Hoden abgerissen, so dass Yu Angst darum hat, dass sich seine Familie nicht fortpflanzen kann. Dies verhindert Qian’er. Der erzählende Enkel ist der Beweis. Er beerdigt schließlich seinen Vater am Berg des Weißen Pferdes. Die geschilderte Entvölkerung des Landes entspricht den historischen Ereignissen. Nach dem Japanisch-Sowjetischen Nichtangriffspakt von 1941 verfolgen die Japaner in China die Taktik des dreifachen Totals:  total niedermetzeln,  total niederbrennen,  total ausplündern. In der von der KPCh kontrollierten Region, wo die meisten Grenzkämpfe stattfinden, entsteht dadurch ein Bevölkerungsverlust von 56,8%.11 Ob der Kampf gegen die Hunde außerdem eine Anspielung auf den in China berühmten Bürgerkriegsroman „Die Stadt der Katzen“ ist, auf dem Mars angesiedelt und von Lao She 1932/3 als Fortsetzungsroman veröffentlicht, kann ich nicht sicher entscheiden. Dort zerfleischen sich die beiden letzten Katzen, stellvertretend für die GMD und die KPCh eingesetzt, gegenseitig. Dass bei Mo die Hunde und Menschen für die beiden Parteien stehen, ist durchaus möglich. Dann läge in diesem Kapitel eine scharfe Kritik des Autors an Uneinigkeit und Richtungskämpfen.12 Mit der Erwähnung des Begräbnisortes wandelt sich die Familiengeschichte ins Allgemeinmenschliche, ja geradezu Religiöse, und zwar durch die Lebens- und Sterbeorte. Das Leben und Sterben der Großelter geschieht am Schwarzwasserfluss, der für die Fruchtbarkeit des Landes, das Wachsen der roten Hirse und damit für ein einträgliches Leben der Dorfbewohner sorgt. Gleichzeitig reinigt er die Menschen von Schuld und schlechten Eigenschaften. (488-90) An ihm finden allerdings auch die heftigsten Kämpfe statt: zwischen persönlichen Rivalen, zwischen rivalisierenden Räuberbanden, zwischen Chinesen und Japanern, zwischen Tieren und Menschen. Dort wird Leben gezeugt, getötet und gestorben. Dieser Ort umfasst schon in sich alle Gegensätze. Der Begräbnisplatz Berg des Weißen Pferdes vereinigt durch die Farbe Weiß im Gegensatz zu Schwarz im Flussnamen symbolisch den Gegensatz, mit dem die Grundlehre des Konfuzianismus, genauer des Daoismus in dem Symbol von Yin und Yang wiedergegeben wird (490). Zusammengelegt ergeben sie den Kreis als vollkommene Form. Dieses Symbol hat in 3 500 Jahren einen Wandel in der Deutung erfahren. „Sie stehen für polar einander entgegengesetzte und dennoch aufeinander bezogene Kräfte oder Prinzipien. Ein weit verbreitetes Symbol des Prinzips ist das Taijitu, in dem das weiße Yang (u. a. hell, hart, kalt, männlich, Aktivität) und das schwarze Yin (u.a. dunkel, weich, heiß, weiblich, Ruhe) gegenüberstehend dargestellt werden.“ Weitere Bedeutungsaspekte sind 11 Spencer a.a.O., S 557 und 551 12 Spencer a.a.O., S. 503

14  „gebend“ und „empfangend“,  die Erklärung von Wandlungsvorgängen und Prozessen und zur Darstellung der gegenseitigen Begrenzung und Wiederkehr von Dingen,  eine für das Volk bestimmten Ethik des Mittelmaßes,  der Grund für den Wandel der Jahreszeiten wie für das Verhalten der Menschen, die sich an dem Wechsel der Jahreszeiten ausrichten. Die frühe Han-Zeit gebraucht die Yin-Yang-Lehre als kosmologisches Erklärungsprinzip. Der Mensch ist (…) ein Partner des Himmels und reagiert auf diesen, ebenso wie der Himmel seinerseits auf gute und schlechte Taten des Menschen reagiert.“ 13 Im Aufgreifen des kulturbestimmenden Symbols von Yin und Yang gleichen sich die beiden Romane.

11. Der Enkel

Der erzählende Enkel nutzt nicht nur die Landschaft Gaomis als Rahmen für seine Geschichte, sondern auch sich selbst. Er führt sich als vierjähriger Ziegenhirte ein (10) und beschließt das Familiendrama mit seiner Rückkehr nach Goami (487ff.). Sein Leben wird kaum dargestellt. Wenige Erinnerungen verbinden ihn mit seinen Verwandten, so an die zweite Frau seines Großvaters und deren Tochter (454), an seinen Vater, den er 1957 im Keller vor Verfolgungen versteckt (232) – der Grund wird nicht genannt, ist wahrscheinlich die Verfolgung aller Kritiker durch die Partei 195714 - und dem er die Augen nach dessen Tod zudrückt. Das Grab liegt am Berg des Weißen Pferdes. (9) Auch denkt er an Spaziergänge mit seinem Großvater und an dessen abschließende Tat, sein Gewehr auszugraben und zu zerstören. (205) Zudem ist der Enkel Zeuge, wie sich 1985 ein Massengrab durch Dauerregen öffnet und der Kampf gegen die Japaner und die Hunde an den freigespülten Knochen sichtbar wird. (260) Deutlicher tritt der Enkel in seiner Funktion als Erzähler hervor. Er stellt - sich selbst oder dem Leser – Fragen (440), vor allem wenn er Bewertungen zu dem Erzählten abgibt. Grauenvoll und lyrisch zugleich beschreibt er die Vergewaltigung der zweiten Großmutter durch die Japaner. Lyrisch und mystisch wird ihr Geschlechtsteil zur „Grotte der Feen“, zum „vollendete[n] und zugleich majestätische[n] Auge Gottes“. (439) Gleichzeitig reflektiert der Erzähler die Eigenschaften von Mensch und Tier, unterscheidet die Menschlichkeit unter dem zügelnden Einfluss der Moral von dem gierigen Vernichtungswillen der Bestie. Da im Menschen beides steckt, sieht es der Erzähler offensichtlich als Aufgabe einer friedfertigen Gesellschaft an, das Tier im Menschen zu bändigen. (439f.) Hier zeigt sich, dass zum Verstehen von Literatur die Kenntnis der dazugehörigen Kultur und Gesellschaft gehört. Ein Chinese würde sicher entscheiden können, ob Mo Yan damit nicht nur die feindlichen Japaner, sondern auch die kommunistische Gesellschaft seiner Zeit kritisiert. Der Erzähler kommentiert seine eigene Darstellungsweise. Er lobt seine Worte als „gewählt“, seine Metaphern als eigene Erfindungen, die er beim Aufmarsch von Yus Truppe gegen die Japaner an der steinernen Brücke über dem Schwarzwasserfluss benutzt. Denn neben der kriegerischen Handlung schildert er die Morgenröte in bunten Farben. Darin unterscheidet er sich von seinem Vater, der diese sprachlichen Fähigkeiten nicht hat. Seine größte Angst ist gleichzeitig, dass sein Mund Worte ausspricht, „die schon vor mir andere immer wieder benutzt haben, und ich selbst werde mich in eine gut verkäufliche Ausgabe von Reader’s Digest verwandeln.“ (488) Das heißt wohl, dass der Enkel die Befürchtung des Schriftstellers Mo Yan ausspricht, trivial zu sein.

13 http://de.wikipedia.org/wiki/Yin_und_Yang 14 Spencer a.a.O., S. 525

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Erstaunlich ist ebenfalls die Reflexion über das Leben in Stadt und Land. Zur Stadt gehört die Vernunft, die Reflexion, zum Land das „Geheimnis, das tief verborgen keimt, das heranwächst, erstarkt und schließlich zu einer mächtigen ideologischen Waffe wird.“ (487) Die zweite Großmutter offenbart ein solches Geheimnis, nämlich das des zweiten Gesichts. Vom bösen Geist besessen, sagt sie Onkel Luohan sein schlimmes Ende voraus, vom Wieselgeist besessen, verlangt sie noch nach ihrem Tod Essen und redet in veränderter Sprache. Beide Male muss ein Exorzist sie von den Geistern befreien. Aus dem Grab aufsteigend und dem Enkel erscheinend, gibt sie ihm Ratschläge zur Gesundung seiner Seele. Glaubt der Leser zunächst, die Stadt bewirke das bessere, da aufgeklärte Leben, urteilt der Erzähler über sein Stadtleben anders: „Was hatte ich aus der Stadt mitgebracht? Die verlogenen Gefühle, mit denen ich mich in der besseren Gesellschaft infiziert hatte, und einen Körper, der sich solange im Schmutz des städtischen Lebens gesuhlt hatte, dass fauliger Gestank aus allen seinen Poren quoll.“ (487) Seine Gefühle halten an der Tradition des Dorfes fest und machen seine Gedanken ungewiss in der Luft schwebend. (488) Diese Zerrissenheit im Erzähler ist auch bei ihm der Spiegel des Gegensatzes von Tradition und Revolution, der wiederholt im Roman thematisiert wird.

12. Tradition und Revolution

Bei diesem Thema ist zu fragen, inwieweit der Roman eine Stellungnahme Mo Yans zum gegenwärtigen kommunistischen China enthält. Gibt die Geschichte einer Familie, die vor allem vor 1949 spielt, ein solches Urteil überhaupt her? Die Tradition wird angeprangert. Genau werden die Methode des Füße-Einbindens, die Schmerzen, die dabei entstehen, und die Folgen für das Ansehen des Mädchens mitgeteilt. Der Erzähler beurteilt diese Tradition als ein Zeichen des Feudalismus (55). Somit vertritt der Enkel die Position der Revolution. Zwiespältig fällt das Urteil über die mit größtem Pomp inszenierte Beerdigung der Großmutter zwei Jahre nach ihrem Tod aus. Einerseits trägt sie die „Zeichen einer alten Kultur“, andererseits ist sie das „Überbleibsel einer rückständigen, reaktionären Ideologie“. (330) Das große Desaster, das durch den Überfall auf die Beerdigung durch das Jiao-Gao- Regiment unter Füßchen Jiang entsteht, scheint ausdrücklich zu bestätigen, wie unzeitgemäß diese Beerdigung ist. Erstaunlich ist nur, dass der Beschreibung einschließlich einer Rückblende 52 Seiten gewidmet werden. Auch hier bestimmt der Widerspruch zwischen Zustimmung und Ablehnung die Erzählung. Die deutlichste Stellungnahme ist die Darstellung des Schicksals des alten Geng. Im Chinesisch-Japanischen Krieg hat er 18 japanische Bajonettstiche überlebt. Er glaubt, dass der Fuchsgeist die Wunden geleckt und damit das Blut gestillt hat. Mit 70 Jahren ist er deswegen noch Redner auf kommunistischen Dorfversammlungen, um „Beschwerden gegen die alte Ordnung vorzutragen“. (419) Geng selbst steht aber im Zeichen der Tradition, indem er für den Fuchsgeist eine Tafel im Hause anbetet und diese in der Kulturrevolution mit einem Beil vor der Zerstörung durch die revoltierende Jugend rettet. (418-22) Seine Lage hat sich 10 Jahre später radikal verändert, als er am 23. Tag des 12 Monats seinen 80. Geburtstag feiert. Der Lautsprecher auf dem Dorfplatz weckt ihn mit Propaganda. Er muss nach 36 Jahren die Fuchsgeisttafel und sein Strohkissen verheizen, nur um sich aus Schnee heißes Wasser zu machen, zum Essen hat er schon mehrere Tage nichts mehr. Streichhölzer gibt es nur auf Bezugsscheine. Schuld an seiner Misere ist der Zweigsekretär der Produktionsbrigade, der ihm die „fünf Garantien“ entzogen hat, die verdienten Kämpfern als Grundversorgung zustehen. (465) Geng geht von Unterschlagung aus. (468) Die Härte des

16 Sekretärs ist bekannt, denn er ist schuld am Tod von neun Menschen bei der Aktion “Der große Sprung nach vorne“.14 Dadurch wird der Sekretär nicht befördert. Geng geht zu dessen Haus und bekommt von der Frau Süßkartoffelplätzchen angeboten, die er als minderwertig („Hundefutter“) ablehnt. Der Sekretär ist bei einer Sitzung in der Kommune (467). Das Gebäude ist durch ein gewaltiges Stahltor mit Spitzen abgeriegelt, so dass niemand hinüberklettern kann. Was Geng dort sieht, zeigt den Gegensatz zwischen dem Leben der Parteimitglieder und dem der einfachen Menschen. „Leute mit neuen Kleidern und neuen Mützen, mit großen Köpfen, fleischigen Ohren und fettigen Mündern liefen auf und ab. Ein paar davon trugen abgesengte Schweineköpfe mit blutroten spitzen Ohren, andre silbrig glänzende Bandfische und wieder andere frisch geschlachtete Hühner und Enten. Er schlug mit dem Drachenknaufstock gegen die Metallstangen, so dass sie laut dröhnten. Aber die Leute drinnen waren zu beschäftigt, um ihm mehr als einen kalten Blick zuzuwerfen.“ (468) Ein einziger Mann kommt ans Gitter und verweist Geng mit seiner Bitte um Getreide auf den Dienstweg. Der gleiche Mann findet Geng am anderen Morgen. „Splitternackt hing er mit den Händen am Tor wie der gekreuzigte Jesus. Das Gesicht des alten Mannes hatte sich dunkelviolett verfärbt, die Gliedmaßen waren ausgestreckt, die starren Augen auf das Gebäude der Kommune gerichtet.“ (470) Diese Geschichte wird ohne Kommentar des Erzählers geschildert, Urteile gibt nur Geng, die Romanfigur, ab. Dieser bezeichnet den Sekretär als „kleinen Schweinehund“ (464). Die einzige Bewertung des Erzählers steckt in dem Vergleich mit Jesus. Ob der Leser daraus die Folgerung zieht, dass die Regierung Geng „hingerichtet“ hat wie Pilatus Jesus, ist ihm überlassen. Diese Kritik kann die Zensur kaum verbieten, da sie ja nur gedacht werden kann und Romane bekanntlich erfunden sind. Mit dieser Methode der verkappten Kritik gleicht Mo Yan den Dichtern der DDR, die im Land blieben und ihre Kritik „zwischen den Zeilen“ mitteilten oder durch Stoffe aus der Sagenwelt oder der Romantik mit ihrem absoluten Individualismus. So konnte jeder in Christa Wolfs „Kassandra“ die Stasi in den Praktiken des Eumelos erkennen.

Eindeutige Bewertungen enthält die Selbstanklage des Enkels auf den Schlussseiten. „Worte, die anderen, nicht mir gehören, dringen aus meinem Mund,…“ (488) Eindeutig ist auch die Anklage der Partei, den Anbau einer ungesunden Hirsesorte anstelle der roten Zuckerhirse angeordnet zu haben. „Die rote Zuckerhirse, die einem Meer von Blut glich, die Hirse, deren Lob ich immer wieder gesungen habe, ist in der tobenden Flut der Revolution ertrunken. Sie existiert nicht mehr. Sie wurde verdrängt von kurzstieliger, dickstämmiger, dichtblättriger Hybridhirse, die ein feines weißes Pulver bedeckt und deren Rispen so lang sind wie Hundeschwänze. Sie bringt einen hohen Ertrag, hat einen säuerlich bitteren Geschmack und verursacht Verstopfung. Kader oberhalb der Rangs eines Zweigsekretärs ausgenommen, haben die Gesichter aller Dorfbewohner die Farbe von rostigem Eisen.“ (489) Nicht nur mit der Geng-Geschichte, sondern auch mit der Wirkung der Hirse wird also die Ungleichheit sozialer Gruppen in der kommunistischen Gesellschaft hervorgehoben.

13. Die Sprache der Gewalt und der Gefühle versus Sprache des Bauern Wang Lung

Einige Male habe ich bereits die Romane von Buck und Mo Yan verglichen und Unterschiede

9 1958 – 63 2. Fünf-Jahres-Plan. Der große Sprung nach vorn = Entwicklung der Schwerindustrie, Abgabe aller Metallgegenstände wie Kochtöpfe und landwirtschaftliche Geräte, verstärkte Kollektivierung auf dem Lande, größte Hungersnot 1961/2 durch Abzug der Bauern in die Fabriken. http://www.uni-protokolle.de/Lexikon/Gro%DFer_Sprung_nach_vorn.html

17 festgestellt. Besonders verschieden ist die verwendete Sprache. Während Buck so einfach erzählt, dass die Sprache und Gefühle des einfachen Bauern Wang glaubhaft werden, sehr sparsam mit bildhaften Ausdrücken umgeht, explodiert bei Mo Yan die Erzählung in umschreibenden Bildern. Das möchte ich bespielhaft an der Darstellung von Gewalt und Gefühlen darstellen. Das Leben der Bauern in Gaomi ist weniger durch ihre Feldarbeit umschrieben als durch die Notwendigkeit, kämpfend ihren Besitz zu verteidigen, sei es in der Auseinandersetzung von rivalisierenden Räuberbanden, sei es gegen den regionalen mächtigen Warlord, sei es gegen die Japaner. Der Kampf gegen die Fremden durchzieht den ganzen Roman. In allen Einzelheiten werden Tod, Gewalt, Vergewaltigung, Verstümmelung von Lebenden und von Toten wiedergegeben. So ist der Kampf gegen die Japaner an der steinernen Brücke ein immer wieder auftauchendes Thema. Während sich die Kämpfer aus dem Dorf im Hirsefeld verstecken, müssen die Frauen für Essen sorgen und zu den Kämpfern tragen. Großmutter und Wang Wenyis Frau werden mit zwei Vögeln verglichen, „die am Himmel dahinschießen“. Sie scheinen damit unverletzlich zu sein. Die Farben der „scharlachroten Jacke“ und das geölte Haar, das „wie Ebenholz glänzt“ (80), eigentlich Zeichen ihres Reichtums, machen jedoch die Großmutter zur Zielscheibe für die Japaner – ihr Tod ist gewiss, bevor er erwähnt wird. Ein weiterer Vergleich macht ebenfalls den Ausgang der Schlacht deutlich, bevor sie überhaupt beginnt. Vater Dougnan soll am Flussufer das Auftauchen der japanischen Lastwagen melden. Sein Ruf „Da kommen die Lastwagen!“ wird mit einem Schwert verglichen, „das die Mannschaft mit einem Streich enthauptet“. Tatsächlich aber fallen die meisten aus Yus Truppe wegen der hervorragenden Ausrüstung der Japaner und der schlechten Waffen der Dorfbewohner. Wie sehr die Männer aus dem Dorf ihre Unterlegenheit spüren, erkennt der Leser durch die Beschreibung der Lastwagen, die für das Dorf eine unbekannte Technik sind. Ihr bäuerliches Verständnis zeigt sich in der Umwandlung der Autos zu Tieren – sie haben „pferdehufgroße Augen“. Man glaubt, „diese seltsamen Geschöpfe ernährten sich von Gras und Heu und tränken Wasser oder Blut.“ (83) Dougnan kommt der Lastwagen „wie eine gewaltige Schlange, die einen Igel verschluckt hat und jetzt schmerzhaft zuckt (99)“ vor. Auch hört man in ihren Geräuschen bekannte Naturkatastrophen. „Das Donnern der Motoren klang wie der Sturm vor dem Regenguss…“ (83) So erfährt der Leser durch die verwendete Sprache mehr, als der Erzähler mitteilt – hier die Rückständigkeit auf dem Lande und das bestehende Machtverhältnis zwischen Chinesen und Japanern. Deswegen ahnt er bereits, was dabei herauskommt. Bei allen Umschreibungen fließen ganz konkret Ströme von Blut, werden Köpfe vom Rumpf getrennt, quillt Gedärm aus dem Bauch, zerplatzen Gesichter – das Kampfgeschehen entsteht vor dem inneren Auge des Lesers in aller Deutlichkeit. Geradezu unerträglich genau wird die Folterung von Onkel Liuhan durch die Japaner geschildert, die sich nicht selbst die Finger schmutzig machen, sondern Dorfbewohner dazu zwingen. (46-51) Für das Tempo der Erzählung sorgen kurze knappe Hauptsätze von 4 – 13 Wörtern, um das Unerträgliche schnell hinter sich zu bringen. Besonders oft wird die Natur zum Spiegel seelischer Zustände. Auf dem Weg zum Ehemann wird Großmutter so durchgeschüttelt, dass sie sich übergeben muss und bittere Klagen anhebt, die die „Pfade der hintersten Hirsefelder erzittern“ (61) lassen. Die „klagenden Weisen einer einsamen Flöte scheinen der wilden Natur“ (62) zu entspringen. Für die Großmutter entsteht Todesfurcht, die wiederum personifiziert und naturalisiert wird. „Sie sah den Todesengel mit Lippen so rot wie Hirse und einem goldenen, kornfarbenen Gesicht.“ (62)

18 Auch Gefühle werden mit der gleichen Methode verdeutlicht. Großmutters Klagen wecken Yus „Samenkörner der Zuneigung, die tief in seinem Herzen schlummerten“ (62). Dreifache Wiederholung, Steigerung und Vergleich beschreiben seine neue Fähigkeit, zärtlich zu ein: „nahm Großmutters Fuß zart, sehr zart in die Hand, so zart, als hielte er einen neugeborenen Vogel,…“ (62) Während die Gefährdung durch den Überfall am Krötenloch von einem Gewitter begleitet wird, steht die Großmutter im Gegensatz dazu „ruhig und voll Selbstvertrauen“ und mit „einem Lächeln“ vor dem Räuber, der sie vergewaltigen will. Sie wirkt dabei wie eine unantastbare Madonna. Ihre Verletzlichkeit ist wieder in ein Bild gefasst, ein Blitzschlag lässt ihr Lächeln „in Millionen von umherwirbelnden Scherben“0 zerspringen (65). Nachdem Yu Großmutter in der Hirse am Ort des Überfalls zur Frau genommen und Mann und Schwiegervater ermordet hat, sitzt die Großmutter in dem geerbten und renovierten Haus mit undefinierbarer Unruhe. Auch diese Liebessehnsucht wird in ein Naturbild umgewandelt. „Auch wenn ihr physischer Körper auf dem Bett saß, war doch ihr Herz aus dem Fenster geflogen und schwebte wie ein Taube über einem Meer von roter Hirse.“ (169) Sie selbst gestaltet ihre Sehnsucht mit einem Scherenschnitt: Eine Grille hatte sich aus dem goldenen Käfig befreit, in dem sie gesessen und gesungen hatte.“ (169) Als Yu sich gleich darauf bei ihr als Arbeiter meldet, fällt ihr die Schere aus der Hand. (170) Dieses wird zur symbolischen Handlung, denn mit einer Schere hatte sie sich in der Hochzeitsnacht ihren leprösen Ehemann vom Leibe gehalten. Yu dagegen macht sie wehrlos. Damit ist dem Leser klar, dass die Zuneigung der beiden auf Gegenseitigkeit beruht.

Mit diesen Beispielen möchte ich verdeutlichen, dass es sich lohnt, Mo Yan zu lesen. Seine Sprache ist durch Vergleiche, Bilder und Symbole ganz besonders eindrucksvoll. Diese Gestaltungskraft ist ein guter Grund, ihm den Nobelpreis zu verleihen.

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