FLUCHTPUNKT LISSABON

180213_DI_lissabon_umbruch1A.indd 1 21.02.18 16:11 Für Elke Hinrichs

180213_DI_lissabon_umbruch1A.indd 2 21.02.18 16:11 Dierk Ludwig Schaaf

FLUCHTPUNKT LISSABON

Wie Helfer in Vichy-Frankreich Tausende vor Hitler retteten

180213_DI_lissabon_umbruch1A.indd 3 21.02.18 16:11 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. ISBN 978-3-8012-0525-6 Copyright © 2018 by Verlag J. H. W. Dietz Nachf. GmbH Dreizehnmorgenweg 24, 53175 Bonn Umschlag: Hermann Brandner, Köln Umschlagfoto: ullstein bild - TopFoto Typografie & Satz: Ralf Schnarrenberger, Hamburg Druck und Verarbeitung: CPI books, Leck Alle Rechte vorbehalten Printed in Germany 2018 Besuchen Sie uns im Internet: www.dietz-verlag.de

180213_DI_lissabon_umbruch1A.indd 4 21.02.18 16:11 1 | ARISTIDES DE SOUSA MENDES

Zwei Nachbarn, die sich nicht verstehen 9 Das General-Konsulat in Bordeaux 15 Chaos und Krise 19 Reaktionen aus Lissabon 28

2 | SALAZARS NEUTRALITÄT

Unter Kontrolle der PVDE 39 Die Windsors 46 »Operation Willy« 50

3 | DEMÜTIGUNGEN

Das Frauenlager Gurs 57 Das Männerlager Les Milles 64 Der Untergang von Paris 72 Der Waffenstillstand und die Regierung Pétain 83 Wunder von Lourdes 89

4 |

Luncheon im Commodore-Hotel 109 Ein stiller Amerikaner 113 Ankunft in 117 Zu Fuß über das Gebirge 132 und Walter Mehring 146

5 | LISA FITTKO UND WALTER BENJAMIN

Der Papier-Krieg 153 Lisa und der Philosoph 157 Benjamins Tod 162 »Wissen Sie, was ein Antifaschist ist?« 168

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180213_DI_lissabon_umbruch1A.indd 5 21.02.18 16:11 6 | ROOSEVELTS NEUTRALITÄT

Hendaye 181 Roosevelt und Franco 186 Montoire 192 Roosevelt und das Pétain-Régime 196 Roosevelt und die Flüchtlinge 205 Auslieferung auf Verlangen 214

7 | MARY JAYNE GOLD

Mademoiselle Miss 227 Le Vernet – ein Ansinnen 233 Villa Air-Bel 243 Staatsbesuch 250 Raymond Couraud, der »Killer« 263

8 | PIONIERE DER UNITARISCHEN KIRCHE

Robert Dexter, Charles Joy und die Sharps 269 Lissabon im Herbst 1940 276 Die Subak-Schwestern 279 Noel Haviland Field, ein Spion, der in die Kälte ging 283 Fluchtrichtung Schweiz 291

9 | »AUF DÜNNEM EIS«

Marseille im Winter 1941 295 Die Martinique-Route 307 Georg Stefan Troller 313 Peggy Guggenheim und Max Ernst 315 »Ein Wort – und alles ist gewonnen« 322 »Ein Wort – und alles ist verloren«, Leonora Carrington 326 Konsul Vladimir Vochoc 330

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180213_DI_lissabon_umbruch1A.indd 6 21.02.18 16:11 10 | ENDE DER DIENSTREISE

Vichy in der US-Diplomatie 1941 335 Vize-Konsul Hiram Bingham 339 Das Verhör 344 Die Abschiebung 348 Lissabon, letzter Hafen Europas 352 Varian Fry und Daniel Bénédite 357 Rückkehr, keine Heimkehr 359

11 | DIE ›BOCHES‹ RÄUMEN AUF

Erste Deportationen 369 Bénédite im Untergrund 375 Besetzung der ›freien‹ Zone 380 Annemasse – Genf 385 Marseille, der Alte Hafen 391

12 | DIE EINSAMKEIT DER RETTER 397

BIBLIOGRAPHIE

Quellen 415 Zeitungs-Artikel 418 Darstellungen 419 Bildnachweis 423

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180213_DI_lissabon_umbruch1A.indd 7 21.02.18 16:11 180213_DI_lissabon_umbruch1A.indd 8 21.02.18 16:11 1 | ARISTIDES DE SOUSA MENDES

ZWEI NACHBARN, DIE SICH NICHT VERSTEHEN

Sind es Männer, die Geschichte machen? Staatsmänner? Helden? Verbrecher? Revolutionäre? Entdecker? Auch Frauen selbstverständlich? Oder sind es Ideen, Überzeugungen, Strukturen, gesellschaftliche Bedingungen? Oder machen vielleicht auch Zufälle Geschichte? Zufälle, die die genann- ten Faktoren durcheinander wirbeln und den Menschen an eine Stelle bringen, wo er Historisches zu leisten hat? Für jede These gibt es Argumente. Historiker gehen heute von den Struk- turen als Motor der Geschichte aus. Aber am einfachsten lässt sich der Lauf der Geschichte immer noch an einzelnen Menschen nachvollziehen, vor al- lem dann, wenn es dramatisch wird und das Wort Schicksal verdient. Wie viele Völker in Europa haben sich auch die Portugiesen zu Beginn des neuen Jahrtausends die Frage gestellt, wer aus ihrem Volk in seiner gesamten Geschichte wohl der bedeutendste gewesen sei. Die Antwort lautete: Antonio Salazar, der Diktator, der fast 40 Jahre das Land regierte. Er kam auf Platz eins, weil er Portugal aus dem Zweiten Weltkrieg herausgehalten hatte, so die häu- figste Begründung. Auf Platz drei aber wählten die Portugiesen Aristides de Sousa Mendes, der gegen den ausdrücklichen Befehl Salazars Tausende vor der Verfolgung durch Nazi-Deutschland und vor dem Holocaust gerettet hatte. Die Geschichte des 20. Jahrhunderts ist in der öffentlichen Diskussion des Landes noch wenig aufgearbeitet. Andererseits ist das Volk im Blick auf seine Geschichte offen- bar tief gespalten.

Hinter der Frage, wer oder was die Geschichte bewegt, stellt sich die vielleicht wichtigere, ob und wann es dem Menschen gestattet ist, seinem persönlichen Rechtsempfinden zu folgen, statt den Anordnungen der Obrigkeit. Diese Fra-

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180213_DI_lissabon_umbruch1A.indd 9 21.02.18 16:11 ge mag für Deutschland einer Klärung nahe gekommen sein, nachdem das Nazi-Reich als Verbrecherstaat erkannt und die Verbrecher in Nürnberg und anderen Orts verurteilt wurden. Für Vichy-Frankreich dauerte die Klärung länger, für Spanien und Portugal hat sie erst begonnen. Und was ist mit den Vereinigten Staaten? Darf ein US-Bürger sich seiner Regierung widersetzen? Die Frage nach der moralischen Autonomie des Individuums, das ist zugleich die Frage nach seiner persönlichen Verantwortung, ist längst noch nicht be- antwortet.

Salazar und Sousa Mendes, so hätte man annehmen können, die beiden Pro- tagonisten des 20. Jahrhunderts, hätten sich gut verstehen müssen, waren sie doch fast gleich alt, kamen aus der gleichen Gegend und aus ländlichen Ver- hältnissen. Knapp vier Jahre Altersunterschied und zwanzig Kilometer Ent- fernung in den Bergen der Provinz Beira Alta, wo sie geboren wurden, das Jura-Studium in Coimbra, eine grundsätzlich konservative Einstellung und die Hinwendung zum Staatsdienst, sollte All’ das nicht verbinden? Aristides de Sousa Mendes wird am 19. Juli 1885 in dem Dorf Cabanas de Viria­to bei Viseu geboren. Sein Zwillingsbruder César ist ihm zehn Minuten voraus. Die Söhne aus einer alten Adelsfamilie mit Landbesitz leben in einem Haus, das die übrigen Dorfbewohner Palast nennen, umgeben von Dienern und Hauslehrern. Der Vater José de Sousa Mendes, Richter am Appellations- gericht in Coimbra, genießt hohes Ansehen. Vater José und Mutter Angelina do Amaral e Abranches sind wohlhabend, monarchistisch eingestellt und ka- tholisch. Der Vater gilt als gütig, die Mutter als streng. Nur zwanzig Kilometer entfernt wird am 28. April 1889 in dem Dorf Vi- meiro Antonio de Oliveira Salazar geboren. Sein Vater hat sich vom einfa- chen Landarbeiter zum Eigentümer eines kleinen Hofes hochgearbeitet. Man lebt bescheiden, das Haus steht direkt an der Straße. Antonio bewundert sei- nen zielstrebigen Vater, der den Hof bewirtschaftet, Saat und Erträge kalku- liert und dem Sohn beibringt, man dürfe niemals mehr ausgeben als man ein- nimmt. Das leuchtet dem Sohn ein. Die Mutter Maria do Resgate Salazar ist tief gläubige Katholikin. Sie beeinflusst ihn so sehr, dass er später – entgegen dem portugiesischen Brauch- ihren Namen annahm: Salazar.

Nach der Schulzeit meldet sich Aristides de Sousa Mendes wie sein Zwillings- bruder César zum Jura-Studium an der Universität Coimbra an. Die Hoch-

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180213_DI_lissabon_umbruch1A.indd 10 21.02.18 16:11 schule ist nicht weit von zu Hause, aber sie ist die renommierteste in Portugal und war lange die einzige. Sie sieht sich in einer Reihe mit den alten, hoch ge- achteten Bildungszentren Bologna, Oxford und der Sorbonne in Paris. Die Ge- bäude, zum Teil aus dem Mittelalter, stehen auf einer Art Akropolis über der Stadt Coimbra. Vielfältig verwinkelte Treppen führen hinauf. Hier residierten die christlichen Könige Portugals, als Coimbra noch die Hauptstadt war, vor der Rückeroberung des Südens und Lissabons. Die alten der Wissenschaft gewidmeten Gemäuer, die barocke Bibliotheca Joannina, benannt nach dem Gründer der Universität König Johann III., so- wie die Kirche, sie alle voller kostbarer Schätze, stehen an drei Seiten um einen rechtwinkligen Platz. Man betritt dieses Plateau durch das Eiserne Tor von der Via Latina aus, einer Strasse, in der früher nur lateinisch gesprochen werden durfte. An der vierten Seite des Platzes hat man einen atemberaubenden Blick auf das von grünen Hängen gesäumte Tal und den Fluss Mondego, der un- ter dem Berg, unter den Füssen des Betrachters, durchzufließen scheint. Den Anblick dieses Ensembles hoch über der Stadt und dem Land, vielleicht auch über dem Alltag, vergisst man nicht: ein inspirierender Ort zwischen Himmel und Erde. Politische Macht, Religiöse Überzeugung und wissenschaftliche Er- kenntnis, die besten portugiesischen Traditionen, scheinen sich hier verbün- det zu haben. Aber kann hier ein Aufbruch beginnen? Anfang des Jahrhunderts, als Sousa Mendes hier seine Aufnahmeprüfung besteht, ist Coimbra noch für Frauen verboten. Auch das ist Tradition. Die Studenten leben in Gemeinschaften, so genannten Republiken, von denen jede ihren eigenen Schlafsaal hat. Nach be- standenem Jura-Examen 1907 verlässt Sousa Mendes die Universität.

Im gleichen Jahr erscheint Antonio de Salazar an dem historischen Platz. Als Kind aus bescheidener Familie hat er nur mit Hilfe der Kirche über Pries- terseminare den Hochschulzugang geschafft. Er hatte zunächst die Absicht, Theologie zu studieren, ändert aber 1908 seine Meinung. Salazar wählt das Jura-Studium und wendet sich der Volkswirtschaft und der Finanzpolitik zu, ohne sein Interesse an religiösen Fragen zu verlieren. Ein Kommilitone im Schlafsaal, seiner Republik, ist der Theologie-Student Manuel Goncalves Cere- jera, mit dem er sich anfreundet. Die beiden verstehen sich, man unterstützt sich gegenseitig. Cerejera macht später Karriere in der Kirche, wird Erzbischof von Lissabon und Kardinal, der ranghöchste Kirchenfürst im Land. Nach der

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180213_DI_lissabon_umbruch1A.indd 11 21.02.18 16:11 Republik im Schlafsaal teilen sich Cerejera und Salazar zunächst in bestem Einvernehmen für eine lange Epoche die Macht über die gesamte Republik Portugal. Im Jahre 1910 stürmen aufgebrachte Demonstranten die katholische Fakul- tät und Salazar ist entsetzt über ihre Verwüstungen. Sie stören nicht nur die Ord­- nung der Universität, sie stören sein Weltbild. Unordnung ist ihm zuwider. Der Student Salazar ist fleißig und diszipliniert. Er promoviert als einer der besten seines Jahrgangs und bleibt als Professor für politische Ökonomie an der Uni- versität.

An der Tradition festzuhalten, auch an der kolonialen, ist der Leitgedanke der portugiesischen Gesellschaft und Politik. Seit den gescheiterten Versuchen Na- poleons, das Land zu vereinnahmen und gegen England in Stellung zu bringen, gelten liberale Ideen als unportugiesisch. Die Kolonien erlauben Wohlstand für eine kleine Schicht. Große Teile der Gesellschaft werden von der Macht und von jedem Vermögen ausgeschlossen. Eine Schlüsselrolle spielt dabei die geringe Bildung breiter Schichten. Es fehlen Aufstiegsmöglichkeiten. Aber Bil- dungsreformen sind unerwünscht, auch aus der Sicht des Aufsteigers Salazar. Die wirtschaftliche Rückständigkeit des Landes muss schon dem Studenten in Coimbra bewusst gewesen sein, dem Professor für Ökonomie sollte sie alltäg- licher Ausgangspunkt seiner Arbeit und Herausforderung sein. Aber sie stört ihn nie, weniger als jede soziale Unruhe. Antonio Salazar soll sich damals um eine junge Frau bemüht haben – aus wohlhabender Familie. Aber er erreicht sein Ziel nicht. Die Eltern verbieten ihrer Tochter den Umgang mit dem armen Bauernsohn. Salazar heiratet nie. Er führt auch kein ausschweifendes Junggesellenleben. Cerejera erzählte nach Salazars Tod, dieser habe das Leben eines Mönchs geführt. Später zeigt er sich zwar durchaus gern mit eleganten Frauen, bleibt aber immer auf Distanz.

Ganz anders Aristides de Sousa Mendes: Er verliebt sich in seine drei Jahre jüngere Cousine Angelina, die er Gigi nennt, heiratet sie 1908 und die beiden haben noch in demselben Jahr in Coimbra ihr erstes Kind. Dreizehn weitere werden folgen. Der junge Mann mit dem Jura-Examen tritt nicht in die Fußstapfen seines Vaters. Er will nicht Richter werden sondern Diplomat. Er will die Welt se- hen. Er bewirbt sich – wie sein Zwillingsbruder César – im Palacio das Neces-

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180213_DI_lissabon_umbruch1A.indd 12 21.02.18 16:11 sidades, dem Außenministerium in Lissabon. Auch dort stehen Tradition und korrekte Formalität hoch im Kurs. Das Königreich Portugal ist im Jahre 1910 keine sehr bedeutende Macht mehr, aber Lissabon hat einmal die halbe Welt regiert – was man der Stadt noch heute ansieht. Das Ministerium legt Wert darauf, in der Welt und zu Hause seinen Rang zu wahren. Sousa Mendes besteht auch diese Aufnahmeprüfung und wird im April 1910 zunächst Konsul zweiter Klasse in Demerara in Britisch Guayana. Doch bald hat er mit dem südamerikanischen Tropen-Klima solche Probleme, dass er schon nach einem Jahr die Rückkehr nach Lissabon beantragen muss. Nach ei- nigen Monaten der Erholung kommt die zweite Mission: er wird der Vertreter Portugals beim Sultan von Sansibar, der ihn zu schätzen lernt und hoch deko- riert. Danach folgen Posten in Curitiba und Porto Alegre in Brasilien.

Portugal trat 1916 auf der Seite der Alliierten in den Ersten Weltkrieg ein. Ex- peditions-Truppen wurden nach Flandern und in die afrikanischen Kolonial- gebiete entsandt. Ziel der militärischen Anstrengungen konnte nur sein, die Übersee-Gebiete vor einem Zugriff der Deutschen zu schützen. Aber die por- tugiesische Armee war weniger trainiert und vor allem schlechter ausgerüstet als andere. Deshalb wurde in Flandern wenig gesiegt, aber viel gestorben. Die Stimmung im Land wendete sich massiv gegen die Politik in Lissabon, zumal das Volk in dem Agrarland hungern musste. Militär-Putsche und kurzfristige autoritäre Regierungen lösten sich ab. Aristides de Sousa Mendes wurde 1919 aus dem diplomatischen Dienst in den einstweiligen Ruhestand versetzt. Das Ministerium warf ihm vor, Monarchist, d. h. Feind der Republik zu sein, die er jetzt zu vertreten hatte. Antonio Salazar traf der gleiche Vorwurf. Er wurde als Professor in Coim- bra abberufen, weil er in eine monarchistische Verschwörung verwickelt sein sollte. Er konnte allerdings schon bald an seinen Lehrstuhl zurückkehren, so- wie auch Sousa Mendes 1920 einen neuen Auftrag bekam: das Konsulat in San Franzisko. Er setzte die Diplomaten-Karriere fort, wenn auch nicht so glatt und weniger erfolgreich als sein Bruder César.

Salazar gelang 1928 der Sprung an die Macht, den er sich angeblich niemals gewünscht hat. Präsident Carmona ersetzte das republikanische Regime durch eine Militär-Junta, schlug zwei linksgerichtete Aufstände nieder und berief den Ökonomie-Professor aus Coimbra als Finanzminister in die Regierung.

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180213_DI_lissabon_umbruch1A.indd 13 21.02.18 16:11 Sein Sachverstand wird gebraucht, sein Ordnungssinn ist willkommen. Salazar verlangte und bekam von den Militärs vollständige Handlungsfreiheit. Man könnte sagen, er errichtete eine Diktatur in der Diktatur, es herrschte fortan das Diktat des Finanzministers. Parteien oder die öffentliche Meinung konn- ten ihn nicht stören. Schon seit 1926 wurde die Presse zensiert. Während weite Schichten des Volkes – nicht immer still – unter seiner strikten Sparpolitik litten, gelang es Salazar innerhalb von vier Jahren, die Staatsschulden unter Kontrolle zu bekommen und einen ausgeglichenen Haushalt vorzulegen. Ein wirtschaftlicher Aufschwung war das nicht, aber eine relative Stabilität war ge- währleistet. Dieser relative Erfolg festigte seine Stellung. Präsident Carmona war zufrieden mit seiner Leistung. Er ernannte Salazar, der faktisch bereits die Macht allein in der Hand hielt, 1932 zum Premierminis- ter. Salazar gab dem Staat eine neue Verfassung. Sein »Estado Novo« folgte dem Beispiel Italiens oder Spaniens: ein autoritärer Ein-Parteien-Staat, mit mäch- tiger Geheimpolizei, wirksamem Unterdrückungs-Apparat, umfassender Ju- gend-Organisation, mit Pressezensur, ohne Streikrecht und Versammlungs- freiheit, aber nicht unbedingt faschistisch. Dazu fehlt die Ideologie. Zu seinem ersten Außenminister machte Salazar César de Sousa Mendes, den Bruder von Aristides. Das dauerte aber nicht einmal ein Jahr, dann ent- ließ der Diktator den Minister ohne jede Begründung, nachdem dieser ihm in einer Kabinettssitzung widersprochen hatte. Salazar konnte nichts so schlecht ertragen wie Widerspruch. Es ging um Reformen im Bildungssystem. César hatte das Beispiel Schweden genannt, wo er sich auskannte. Er wurde nun- mehr als Botschafter nach Warschau entsandt. Die Brüder de Sousa Mendes gingen auf Distanz zu ihrem Regierungschef, César eher still, aber Aristides drückte sich privat gern drastisch aus. Er nannte Salazar den »portugiesischen Stalin«, wünschte ihm die Pest und hoffte, dass sein Name in Zukunft mit -Ver achtung ausgesprochen werde.1

Aristides ist seit 1929 Konsul in Antwerpen. Er hat nichts von der Strenge und Disziplin Salazars an sich. Er ist auch weniger zielstrebig und weniger angepasst als sein Bruder. Einmal verlangen seine vierzehn Kinder von seiner Frau aber auch von dem Vater viel Aufmerksamkeit, Energie und materiellen Aufwand. Personal und mehrere Musiklehrer müssen bezahlt werden. Vater Aristides macht es offensichtlich viel Spaß, in seiner musikalischen Familie als Dirigent den Ton anzugeben. Außerdem feiert er gern, ist großzügig, ge-

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180213_DI_lissabon_umbruch1A.indd 14 21.02.18 16:11 bildet und eloquent, hat Interessantes zu erzählen aus Sansibar, Südamerika, Kalifornien, kurzum: ein gern gesehener Gast auf dem konsularischen Parkett in Antwerpen und bis nach Paris, sowie bei Hofe in Brüssel. Er genießt das mondäne Leben, ein ganz anderer Mann also als der verschlossene Salazar, der Portugal kaum je verlässt. Während seiner sonst glücklichen Jahre in Antwer- pen sterben aber auch zwei seiner Kinder. Wegen seiner großen Familie lässt er sich bei den Ford-Werken in Antwer- pen einen Minibus bauen, mit dem sie alle gemeinsam reisen können – eine teure Einzelanfertigung. Er lässt zudem in Löwen eine mehrere Meter hohe Christus-Statue aus Stein meißeln und vor seinem Haus in Cabanas aufstel- len. Er übernimmt sich finanziell nicht nur einmal, rechnet die Finanzen des Konsulats nicht immer pünktlich ab und muss seinen Bruder um Geld bitten. 1938 löste der Diktator seinen Konsul in Antwerpen ab. Der hart arbeitende Salazar war nicht nur Regierungschef, er leitete auch das Außenministerium und andere Ressorts. Aristides de Sousa Mendes wäre jetzt gern Botschafter in Japan oder China geworden, aber Salazar verweigerte ihm das. Er vertraute ihm stattdessen das General-Konsulat in Bordeaux an, das für Portugal durch- aus wichtig war. Nach einem Gespräch mit Salazar schrieb Aristides an seinen Bruder César in Warschau: »Wir sprachen eine Stunde. Er war freundlich und herzlich. Ich habe das Gefühl, dass er – auch wenn er etwas genau wissen will – keine Kraft hat, zu entscheiden. Er hat große Angst und will nicht durch ein Attentat umgebracht werden. Möge Gott ihn beschützen«.2

DAS GENERAL-KONSULAT IN BORDEAUX

Am Quai Louis XVIII im Haus Nr. 14, mitten in Bordeaux am Ufer der Ga- ronne, liegt im zweiten Stock das portugiesische General-Konsulat. Sousa Mendes kommt am 29. September 1938 hier an. Die riesige Wohnung hat ei- nen weiten Blick über den Fluss, den Pont de Pierre, (die Steinerne Brücke) und die Stadt. Zwei Räume sind das Büro, in dem ein Vizekonsul und ein Se- kretär arbeiten, der Rest ist die private Wohnung – vorerst. Der gewaltsame Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich, die Sude- tenkrise, die Münchner Konferenz, das Alles ließ die Gefahr eines Krieges wahrscheinlicher werden. In den Hauptstädten Europas, auch in Lissabon, wurden die jeweils notwendigen Schritte erwogen.

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180213_DI_lissabon_umbruch1A.indd 15 21.02.18 16:11 Sousa Mendes sieht die Drohung und bringt die meisten seiner Kinder zu- rück nach Portugal. Aber er ist nicht immer so vorsichtig, wie seine Stellung es erfordert hätte. Er lässt sich in eine Liaison ein mit der etwa 30-jährigen Französin Andrée Cibial, die bald ein Kind von ihm erwartet. Außerdem un- ternimmt er im November 1939 mit seiner auffälligen Familienkutsche eine Fahrt durch Spanien nach Portugal, um dort seine kranke Tochter Fernanda und weitere Kinder in Sicherheit zu bringen. Er vermeidet es aber, sich im Außenministerium in Lissabon für diese Zeit abzumelden, wie es die Dienst- vorschrift verlangt. Wie die Tochter später berichtet, fahren sie hungrig, ohne Geld und ohne Lebensmittel los und ernähren sich von den »Früchten am Straßenrand«. Die Tochter wird mehrfach ohnmächtig. Obendrein verliert Sousa Mendes bei Salamanca in einer Kurve die Kontrolle über das Fahrzeug. Das Auto überschlägt sich und bleibt auf der Seite liegen. Die Tochter, weitere Geschwister und ihre Eltern klettern schließlich unverletzt aus dem Wagen. Dann aber kommt ein anderes Auto daher, in dem ausgerechnet die Frau des spanischen Diktators Franko sitzt. Sie erkennt das diplomatische Kennzeichen an Sousa Mendes’ Wagen und lässt anhalten. Sie erkundigt sich nach den Ver- unglückten und bietet ihre Hilfe an.3 Peinlicher hätte es für den Konsul kaum kommen können. Der Bruder Francos, Nicolas, ist spanischer Botschafter in Lissabon. Salazar dürfte die Geschichte bald erfahren haben. Der Beginn des Zweiten Weltkriegs am 1. September 1939 betraf Aristides de Sousa Mendes auch sehr persönlich. Sein Bruder César war immer noch Botschafter in Warschau. Er erlebte dort den deutschen Angriff, unmäßige Bombenangriffe und den Vernichtungswillen der Nazis. Erst nach der voll- ständigen Einnahme Polens durch die Deutschen konnte er das Land verlas- sen. Er berichtete dem Bruder, wie die Nazis ihre Ordnung in der bereits stark zerstörten und hungernden Stadt errichteten. Salazar wünschte, Portugal aus dem Krieg herauszuhalten. Dazu wollte er sich nach beiden Seiten kooperativ verhalten. Die General-Direktion des Au- ßenministeriums versendete am 11. November 1939 eine Dienstanweisung an alle portugiesischen Konsuln zur künftigen Behandlung von Asyl- und Tran- sit-Visa-Anträgen. Außenminister Salazar hatte sehr eindeutige Regeln aufge- stellt. Am 13. November lag das Papier auf dem Schreibtisch von Aristides de Sousa Mendes in Bordeaux: das Circular Nr. 14.4 Angeordnet wurde, dass Ausländer, die auf der Durchreise nach Portugal kommen und dann nach Amerika weiterreisen wollen, nicht behindert wer-

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180213_DI_lissabon_umbruch1A.indd 16 21.02.18 16:11 den sollten. Danach folgte das strikte Verbot für alle Konsuln, ohne Rück- frage in Lissabon Pässe oder Visa auszustellen für die folgenden Personen und Gruppen:

◆◆ Ausländer mit unbestimmter oder aberkannter Nationalität, Staatenlose, Russen, Träger eines »Nansen-Passes« (vom Völkerbund geschützte Flücht- linge, meist Juden). ◆◆ Personen, die keine triftigen Gründe für die Einreise nach Portugal vor- bringen oder die nicht frei in ihre Herkunftsländer zurückkehren dürfen. ◆◆ Juden, die vertrieben wurden oder ihre Staatsangehörigkeit verloren haben.

Das bedeutete, dass praktisch alle, die vor Hitler geflohen waren, aus Portu- gal ausgeschlossen werden sollten. Nicht alle portugiesischen Konsuln hielten sich in der Folgezeit genau an diese Regeln. In Berlin etwa, in Hamburg, in Luxemburg, Genua, Mailand und auch in Marseille wurde nicht streng nach Vorschrift gehandelt.5 Für persönlich Bekannte oder Prominente oder um Por- tugal Verdiente fanden die Konsuln mit etwas Phantasie durchaus Schlupflö- cher. Einige Diplomaten fühlten sich außerdem zugunsten der Geheimpolizei in ihrer Macht beschnitten und versuchten, ihre bisherigen Rechte weiter aus- zuüben. Auch der Generalkonsul in Bordeaux mochte sich nicht an den Buchstaben des Circulars Nr. 14 halten. Das Dekret veranlasste Sousa Mendes, ohne An- gabe von Gründen seine Rückberufung nach Lissabon zu beantragen. Er er- hielt keine Antwort des Ministeriums.6 Am 27. November und noch einmal am 6. Dezember bat er um die Erlaub- nis, dem österreichischen Geschichtsprofessor und Theologen Arnold Wiz- nitzer, der jetzt offiziell Bürger des Deutschen Reiches war, und seiner Familie ein Visum auszustellen. Er schien den Anweisungen zu folgen, es schien nur so, er hatte das Reisedokument bereits gestempelt, unterschrieben und ausge- händigt.7 Am 2. Februar 1940 klopfte der spanische Mediziner Eduardo Neira La- porte aus , der vor dem Franco-Regime flüchten musste, an der Tür Sousa Mendes’. Er hatte in der Armee der spanischen Republikaner eine füh- rende Rolle gespielt. Nun brauchte er ein Transit-Visum, um per Schiff nach Lissabon zu reisen und von da nach Bolivien. Der Konsul beantragte die Ge- nehmigung im Außenministerium. Nichts passierte. Knapp vier Wochen spä-

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180213_DI_lissabon_umbruch1A.indd 17 21.02.18 16:11 ter war Laporte wieder im Konsulat. Wenn er nicht morgen in La Rochelle sein Schiff nehme, werde er in Lissabon seinen Anschluss nach Lateiname- rika verpassen. Sousa Mendes unterschrieb das Visum, obwohl keine Ant- wort aus Lissabon vorlag. Diese kam am 11. März und war negativ, die Polizei PVDE hat sich gegen den Antrag ausgesprochen. Am 12. März landeten La- porte und seine Familie in Lissabon. Sie fielen bei der Pass-Kontrolle auf, durf- ten aber dennoch nach Südamerika weiterreisen. Der Vorfall wurde in den Palacio das Necessidades gemeldet. Der General-Sekretär des Außenministeri- ums schickte Sousa Mendes am 24. April 1940 »im Namen des Ministers« (Sa- lazar) eine förmliche Rüge: »… jede weitere Verletzung dieser Regel wird als flagranter Ungehorsam betrachtet und ein Disziplinarverfahren zur Folge ha- ben, wobei nicht zu übersehen sein wird, dass Sie schon mehrfach gewarnt und gerügt werden mussten.«8 Vor seinem Bruder César rechtfertigte sich Aristides, er habe Probleme mit dem Außenministerium, aber »wenn ich (Laporte) kein Visum ausgestellt hätte, wäre der Mann nie von hier weggekommen … Der portugiesische Sta- lin wollte sich auf mich stürzen wie eine wilde Bestie. Ich hoffe, dass es nun sein Bewenden damit hat, kann aber eine neue Attacke nicht ausschließen«.9 Mit seinem Gewissen habe er keine Probleme. Weitere Ungehorsamkeiten folgten. Eigenmächtig verhalf Sousa Mendes dem damals noch unbekannten Maler Salvador Dali zu einem Visum, sowie dem Wiener Komponisten und Dirigenten Norbert Gingold, der die Urauf- führung von Brechts Dreigroschenoper dirigiert hatte. Am 6. Mai stellte Sousa Mendes auch für Hélène de Beauvoir ein Visum aus, der jüngeren Schwester von Simone de Beauvoir, die ihrem Tuberkulo- se-krankem Freund nach Portugal folgen wollte. Es sollte nur für einen Mo- nat sein, aber dann wurden fünf Jahre daraus. Hélène de Beauvoir kam am 10. Mai 1940 in Lissabon an, dem Tag, als Hitlers Truppen die Niederlande, Belgien, Luxemburg und Frankreich angriffen. Eine frühere Rückkehr kam auch deshalb nicht in Frage, weil ihr Freund Lionel de Roulet, den sie im De- zember 1942 heiratete, ein Mitarbeiter de Gaulles war.10 Die Malerin entdeckte in Faro das Licht des Südens und fortan spiegelten sich die Kristalle der Sali- nen und die Reflexe des bewegten Wassers in ihren Bildern.

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180213_DI_lissabon_umbruch1A.indd 18 21.02.18 16:11 CHAOS UND KRISE

Am 10. Mai 1940 überschritten die deutschen Armeen die Westgrenze Deutsch- lands. Sie besetzten in kurzer Zeit Belgien, Luxemburg, die Niederlande und Nordfrankreich. Ein nie gesehener Strom von Flüchtlingen brach auf in Rich- tung Südwesten, um den Bomben, den Kampfhandlungen und möglichen Ver- folgungen durch die Nazis zu entkommen. Vor allem Juden sahen die Gefahr, in der sie sich befanden, aber auch links- gerichtete oder intellektuelle Flüchtlin- ge aus Deutschland, Österreich, Polen und der Tschechoslowakei, die sich in Frankreich in Sicherheit geglaubt hatten. Ihrer Flucht lag meistens die Annahme zu Grunde, die Deutschen würden nicht weit ins Land eindringen, nicht nach Paris, dann nicht über die Loire, nicht bis in den Südwesten. Die französische Regierung flüchtet nach Tours, dann nach Bordeaux. Di- plomatische Vertretungen von sechzig Ländern folgen, auch die Exilregierun- gen Polens, Belgiens und Luxemburgs, gefolgt von den bei ihnen akkreditier- ten diplomatischen Vertretungen. Teile der Armee lösen sich auf, so- fern sie nicht in Kriegsgefangenschaft HAIM KRÜGER UND geraten sind. Soldaten werfen ihre ARISTIDES DE SOUSA MENDES, 1940–1941 Waffen weg und machen sich einzeln oder in Gruppen auf den Heimweg. Auch Plünderer versuchen ihr Glück. Flüchtlinge mit Fahrrädern, Handkar- ren und überladenen Autos, Matratzen auf dem Dach, überschwemmen die Landstraßen, bombardiert und beschossen von deutschen Kampfflugzeugen.

Bordeaux versinkt im Chaos, weit mehr als andere Städte. Bis zum 10. Mai hatte die Stadt etwa 300.000 Einwohner, am Ende des Monats sind es bereits mehr als 700.000. Hotels sind ausgebucht oder geschlossen, weil mit Bombenangrif- fen zu rechnen ist. In den Parks, in Kirchen, in der Synagoge, um den Bahnhof

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180213_DI_lissabon_umbruch1A.indd 19 21.02.18 16:11 lagern Flüchtlinge. Der Bahnhof St. Jean gleicht einer Karawanserei. Dreißig Bahnpolizisten bemühen sich vergeblich, unter hungernden Frauen, schrei- enden Kindern und verirrten Soldaten Ordnung zu halten. Außerhalb des Bahnhofs warten weitere Züge voller Hilfe suchender Menschen auf ein Signal zur Einfahrt. Flüchtlinge schlafen in Autos, in Omnibussen auf Pferde Fuhr- werken. Die Versorgung bricht zusammen. In den Restaurants gibt es nichts mehr zu essen. Es fehlen Lebensmittel, obwohl die Stadt hunderttausende von Essensportionen verteilt. Cafés und Bäckereien werden gestürmt, sofern sie nicht schließen. Trinkwasser ist rationiert. Auch der Hafen ist bis an die Grenze seiner Kapazität ausgelastet. Allein im Juni werden 400 Schiffe gezählt.

Am 14. Juni überquert die Fahrzeug-Kolonne der französischen Regierung aus Tours kommend die Steinerne Brücke über die Garonne, um sich in der Prä- fektur sowie im Sitz der Militärverwaltung einzurichten, während gleichzeitig deutsche Truppen in Paris einmarschieren. Mehr als tausend Beamte folgen der Regierung, mindestens dreihundert Büro-Räume werden beschlagnahmt. Dem portugiesischen Botschafter in Frankreich wird das Schloss Lamarselle in St. Émilion zugewiesen. Die Banque de France richtet sich überstürzt in Bordeaux ein, ebenso große Firmenzentralen, sogar Strafgefangene aus Pari- ser Gefängnissen werden in die Départements um die Hafenstadt verlegt. Die Verwaltung des Staates versucht, Ruhe zu verbreiten, indem sie ungerührt wei- ter arbeitet. Am 22. Juni werden drei Todesurteile vollstreckt.

Kaum angekommen, am 15. Juni 1940, diskutiert die Regierung erneut die Op- tionen, um aus der katastrophalen Lage zu finden. Churchill beschwört die Franzosen, den Krieg fortzusetzen. Er versucht, eine Hilfszusage von US-Prä- sident Roosevelt für Frankreich zu erreichen. Am Abend des 16. Juni fällt die Entscheidung: Ministerpräsident Paul Reynaud tritt zurück, als ihm mitge- teilt wird, dass die Vereinigten Staaten Frankreich militärisch nicht zu Hilfe kommen werden.11 US-Botschafter William Bullitt ist entgegen ausdrücklicher Anordnung von Roosevelt, mit dem er persönlich befreundet ist, in Paris ge- blieben. So verliert Washington die Chance, auf die französische Regierung bei den anstehenden Entscheidungen einzuwirken. Roosevelt ist über seinen Botschafter verärgert. William Bullitt wird bald danach abberufen. Der Streit um die Verantwortung für die schnelle Niederlage mischt sich in die Suche nach einem gangbaren Weg für die Zukunft Frankreichs. Als neuen

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180213_DI_lissabon_umbruch1A.indd 20 21.02.18 16:11 Regierungschef ernennt Staatspräsident Albert Lebrun Marschall Philippe Pé- tain, den siegreichen Feldherrn des Ersten Weltkriegs, jetzt empfohlen von Reynaud. Pétain hat bereits eine Ministerliste in der Tasche, als Lebrun ihn am Abend des 16. empfängt.

Er und die Mehrheit der Minister wollen keine andere Möglichkeit mehr erken- nen, als die Deutschen um Waffenstillstand zu bitten. Pazifisten, Nazi-Freunde und Rechtsradikale verbünden sich gegen die, die weiterkämpfen wollen. Das Votum des (abwesenden) Oberkommandierenden für Nordafrika, General Charles Noguès, der in diesen Tagen siebenmal an den General Weygand tele- grafiert, Nordafrika mit seinen Vorräten und Ressourcen könne mit Hilfe der Flotte und der Luftwaffe dem Ansturm des Feindes noch lange widerstehen, beeindruckt sie nicht. Admiral Francois Darlan und der Oberkommandieren- de Maxime Weygand erklären, dazu brauche man 900.000 Soldaten und zwei- hundert Schiffe, aber die habe man nicht. Pétain ist auf ihrer Seite. Die Dritte Republik ist am Ende, ihre Verfassung obsolet.12 Wie um die Entscheidungen der französischen Politik zu beschleunigen, bombardiert die deutsche Luft- waffe Bordeaux in der Nacht vom 19. zum 20. Juni. 63 Menschen kommen ums Leben, 185 werden verwundet.

Am 17. Juni verlässt der Staatssekretär im Verteidigungsministerium, Charles de Gaulle, unter konspirativen Umständen zusammen mit dem britischen Li- aison-Offizier von einem Militärflugplatz aus Bordeaux in Richtung London, in seinem Gepäck die Ehre Frankreichs – wie Churchill anschließend notiert.13 Am Tag danach meldet er sich über die BBC bei seinen Landsleuten und ruft zum Widerstand gegen die Besatzung auf. Nur siebenundzwanzig ehemalige Minister und Abgeordnete – unter ihnen Edouard Daladier, Georges Mandel und Pierre Mendès-France – besteigen am 17. Juni im Hafen von Bordeaux das Schiff Massilia in Richtung Casablanca, von wo sie den Kampf gegen Deutsch- land fortzusetzen hoffen – vergeblich. In der Stadt selbst verurteilen Kommu- nisten den »Verrat der französischen Bourgeoisie« und rufen dazu auf, den Kampf gegen Hitler fortzusetzen.14

Das Inferno auf Straßen und Plätzen reicht bis in das Haus Nr.14 am Quai Louis XVIII. Auf dem neben dem Konsulat liegenden freien Platz des Quin- connes kampieren Hunderte. Eine lange Menschenschlange hat sich aufgestellt,

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180213_DI_lissabon_umbruch1A.indd 21 21.02.18 16:11 auch Alte, Kranke, Schwangere. Alle wollen ein Visum oder einen Pass. Por- tugal ist für sie die letzte Hoffnung. Es spricht sich herum, dass der Konsul gelegentlich großzügig ist. Die Schlange steht die Treppe hinauf und drängelt bis in die privaten Räume des Konsuls. Man kann aus der Schlange nicht weg, nicht zum Essen, nicht zum Schlafen, nicht zur Toilette, nicht zum Waschen, weil sonst der Platz in der Schlange verloren geht. Auch Kinder, die bei der Flucht ihre Eltern im Kugelhagel der deutschen Sturzkampfbomber sterben sahen, melden sich bei Sousa Mendes. Die Menschen sind erschöpft, hungrig, schmutzig und müde, der Verzweiflung nahe, berichtet César, der Neffe von Aristides. »Die meisten besaßen sowieso nur noch die Kleider, die sie am Lei- be trugen.«15 Sousa Mendes muss nach zahlreichen Zwischenfällen die Staats- macht bitten, für Ordnung zu sorgen. Seitdem stehen französische Soldaten am Treppenaufgang, auch in jedem Zimmer wacht ein Soldat und selbst in der Kanzlei des Konsuls. Am 17. Mai 1940 schickt Salazar noch einmal Telegramme an alle portu- giesischen Diplomaten in Frankreich, die ihnen untersagen, ohne Genehmi- gung aus Lissabon Visa an Flüchtlinge auszustellen. Das ist vollkommen ein- deutig, aber Aristides de Sousa Mendes hat angesichts der Katastrophen vor seiner Haustür am 21. Mai noch einmal in Lissabon angefragt, ob in soviel Not nicht andere Wege gefunden werden können.16 Die Antwort: Das Circular Nr. 14 ist anzuwenden. Ausnahmen dürfen nur in Lissabon genehmigt werden. Das aber würde Wochen dauern und voraussichtlich abgelehnt. Am 13. Juni verweigert das Ministerium in Lissabon Visa für etwa dreißig Personen, die der Konsul beantragt hat, darunter Visa für die Familie von Rabbi Chaim Krü- ger aus Warschau, der bereits nach Antwerpen geflüchtet war. Sousa Mendes kommt in Gewissensnot. Er hat den Rabbi Ende Mai bei einer Erkundungsfahrt durch die Stadt ken- nen gelernt. In der Nähe der Synagoge lagern tausend Juden, unter ihnen die Familie Krüger, – Vater, Mutter und fünf Kinder – unter freiem Himmel. Wel- che Regeln können in diesem Inferno noch gelten? Sousa Mendes erinnert sich seiner katholischen Erziehung, der geistigen und katholischen Traditio- nen Portugals, die er als Diplomat immer verteidigt hat. Er geht auf die Krü- gers zu und lädt sie ein, mit ihm zu kommen. Er habe Platz in seinem Auto und in seiner Wohnung, weil die meisten seiner Kinder nicht im Hause seien. Man setzt sich gemeinsam an den Tisch des Konsuls und kommt sich näher. Die kleinen jüdischen Kinder sind allerdings so erschrocken über ein Kruzi-

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180213_DI_lissabon_umbruch1A.indd 22 21.02.18 16:11 fix und christliche Bilder an den Wänden, dass sie nichts essen mögen.17 Sousa Mendes stellt sich vor als der Generalkonsul Portugals. Chaim Krüger freut sich über den glücklichen Zufall und bittet Sousa Mendes um Hilfe. Dieser lädt seine Gäste ein, vorerst bei ihm zu wohnen und verspricht die Visa zu be- antragen. Doch am 13. Juni kommt die Absage aus Lissabon. Was nun? Sousa Mendes verspricht dem Rabbi, er werde einen Weg finden, die Pa- piere für seine Familie zu beschaffen. Aber Krüger antwortet: Sie müssen nicht nur mir helfen, sondern all meinen Brüdern, die vom Tod bedroht sind. Wenn Sie nicht all meinen Brüdern helfen, dann nehme ich Ihre Hilfe nicht an. Fast zwei Jahre vor der Wannsee-Konferenz kann man nur ahnen, wieweit die Na- zis in ihrem Rassenwahn gehen würden. Aber für die schlimmsten Befürch- tungen gibt es schon im Juni 1940 Anlass. Und vor allem: Die deutsche Armee kommt jetzt täglich hundert Kilometer weiter nach Süden voran. Krüger und Sousa Mendes haben Informationen aus erster Hand über den Terror der Na- zis in Polen. Der Vizekonsul hört das Gespräch der beiden und sagt zu Sousa Mendes auf Portugiesisch, er dürfe jetzt nicht in eine Falle tappen und Versprechun- gen abgeben. Krüger begreift, was der Vize-Konsul sagen will und dringt auf Sousa Mendes ein, nicht auf die Warnung seines Stellvertreters zu hören.18 Für Sousa Mendes bedeutet die anstehende Entscheidung zunächst eine schwere Krise. »Mein Vater war auf einmal so müde, er blickte uns an, als wäre er von einer galoppierenden Krankheit befallen«, erzählt der Sohn Pedro Nuno, der das Gespräch ebenfalls mit anhört.19 Er legt sich ins Bett, will nie- manden hören und sehen, isst nicht, schläft nicht, er stöhnt und wälzt sich hin und her, als ob er einen Kampf zu bestehen hätte. Seine Frau und die beiden älteren Söhne, die er bei sich hat, sind ratlos.

Nach drei Nächten und zwei Tagen – am Sonntag den 16. Juni, an dem Tag als sich die französische Regierung zu Kapitulation und Waffenstillstand ent- schließt – steht Sousa Mendes wieder auf, erleichtert und voller Energie, aber seine Haare sind plötzlich weiß. Er weiß, dass ihm ein Disziplinarverfahren droht, er muss davon ausgehen, dass der Chef der Politischen Polizei Agos- tinho Lourenco an der portugiesischen Grenze die Papiere der Ankömmlinge genau überprüfen lässt, er hat eine Ahnung von dem Risiko, das er eingeht und bespricht sich ausführlich mit seiner Frau Angelina.20 Dann öffnet der Konsul die Tür zur Kanzlei und kündigt mit kraftvoller Stimme an: »Von nun

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180213_DI_lissabon_umbruch1A.indd 23 21.02.18 16:11 an werde ich allen ein Visum geben, es gibt keine Nationalitäten, Rassen, Reli- gionen mehr.« Der Sohn Pedro Nuno fährt fort: »Dann hat er uns gesagt, dass er eine Stimme gehört hat, die Stimme des Gewissens … und dass alles für ihn vollkommen klar sei,« so die Überlieferung. Sein Neffe César ergänzt: Er könne nicht zulassen, dass all diese Leute umkommen. Viele von ihnen seien Juden und in der portugiesischen Verfassung stehe eindeutig, dass Ausländern weder wegen ihrer Religion noch wegen ihrer politischen Überzeugung der Aufenthalt in Portugal verweigert werden darf. Diese Erinnerungen aus der Familie dürfen nicht allzu wörtlich genom- men werden. Sie sind später Basis für einen Mythos. Ein Chronist vergleicht die Krise von Sousa Mendes gar mit dem alttestamentarischen Kampf Jakobs mit dem Engel auf der Himmelsleiter. Auch am 14. und 15. Juni unterschrieb Sousa Mendes zahlreiche Visa, wie wir sehen werden. Vom Bett aus war das kaum möglich. Von nun an organisieren Sousa Mendes und Chaim Krüger das Ausstellen der Visa wie eine Fließbandarbeit. Sie beschleunigen das Verfahren bis an die Grenze ihrer Möglichkeiten, so viel ist unbestreitbar. Die älteren Söhne hel- fen. Der Rabbi steigt ohne sein Ornat hinab auf die Straße und sammelt jeweils kleine Stapel von Pässen ein. Er bringt sie auf den Schreibtisch, der Sekretär, José Seabra, stempelt das Visum hinein und Sousa Mendes unterschreibt. Der Sekretär, der die Namen und das Datum aller Visa in einen Ordner einzutra- gen hat, gibt bald auf. Er kommt nicht mehr nach. Er hört auch auf, die sonst üblichen Visa-Gebühren zu kassieren. Das würde jetzt zu lange dauern. Es soll zügig weiter gehen. Aristides Tochter Isabel und ihr Mann Jules d’Aout, die zu- nächst dagegen protestiert haben, dass der Vater seine Karriere ruiniert und das Schicksal seiner Familie riskiert, sie assistieren dann mit umso größerem Eifer, damit der Fluss der Papiere nicht abreißt. Der Ansturm der Flüchtlinge lässt nicht nach. Als der Sohn Pedro Nuno von der Universität zurückkommt, kann sich der sonst wohl erzogene nur mit den Ellbogen den Weg durch die Eingangstür und über die Haustreppe erkämpfen. Flüchtlinge stehen bis in die Wohnung, nur Küche und Schlafzimmer sind ihnen verwehrt. Klar, dass die abgekürzte Express-Methode zur Folge hatte, dass viele der Flüchtlinge den Konsul Sousa Mendes gar nicht persönlich zu Gesicht beka- men. Sie erfuhren gar nicht, welche Risiken er für sich und seine Familie ein- ging. Sie hielten wohl die Geschäftsführung des Konsulats für die aus Lissabon vorgegebene amtliche Linie. Sie hatten vor allem mehr als genug persönliche

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