Unendliche Universen
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Unendliche Universen Stefan Müller–Stach, Mainz i Vorwort Unsere Erde ist Teil eines gigantischen Universums, dessen Grund- prinzipien durch die Physik erklärt werden. Trotz aller Geheimnisse, die es noch birgt, wissen wir sehr viel darüber. In der Mathematik gibt es Universen ganz anderer Ausprägung. Sie bilden unendliche Reser- voire von Objekten, die sich in der materiellen Welt nicht wiederfin- den. Zusammen mit dem präzisen mathematischen Kalkül entfaltet sich aus diesen Universen eine Welt von faszinierender Schönheit und Vielfalt. Der Zusammenhang zwischen Mathematik und Physik ist nicht zu- fällig. Viele Wissenschaften können ihre Theorien nicht ohne Zuhil- fenahme mathematischer Strukturen ausdrücken und das mathema- tische Kalkül mit seiner Beweisstärke bildet die Grundlage der Di- gitalisierung und vieler anderer Technologien. Galileo Galilei hat die Mathematik einmal die „Sprache der Natur” genannt. Eugene Wigner hat ganz ähnlich von der Unreasonable effectiveness of mathematics in the natural sciences1 gesprochen. Es war ein weit darüber hinausgehendes Ziel von Gott- fried Wilhelm Leibniz, eine übergreifende Wissenschaftssprache – die Lingua Universalis – zu konstruieren, welche die Mathematik verall- gemeinert. Wie Umberto Eco und andere angemerkt haben, ist dieses große Ziel nie erreicht worden.2 Im Mai 2018 hielt ich im Studium Generale der Johannes Gutenberg Universität Mainz einen Vortrag mit dem Titel „Wahrheit, Beweis, Gedanke, Identität”. Darin erklärte ich aktuelle Neuentwicklungen innerhalb der Grundlagen der Mathematik, die innermathematische iii Anforderungen an den Gleichheitsbegriff und die computergestützte Überprüfbarkeit von Beweisen besser bewältigen können als tradi- tionelle Zugänge. Darüber hinaus stehen solche Ideen in engem Zu- sammenhang mit fundamentalen Fragestellungen in der Philosophie3 und der Physik4 und haben zahlreiche nützliche Anwendungen in der Informatik und vielen weiteren Bereichen. Dieses Buch stellt eine Ausarbeitung des Vortrags und der dahin- terliegenden Forschung dar, wobei kein Anspruch auf Vollständigkeit gelegt wurde. Die ausgewählten Aspekte spannen einen historischen Bogen von der Antike bis zur heutigen Zeit. Dies illustriert einmal mehr, dass sich der Erkenntnisgewinn in der Wissenschaft in der Re- gel auf langen Zeitskalen abspielt. Folgenden Menschen danke ich für Anmerkungen zum Vortrag und zum Text: R. Busse, A. Denkert, M. Dreyer, N. Haverkamp, J. Jost, S. Müller–Stach, A. Rödder, P. Stoll, C. Tapp und R. Wieland. Neustadt–Haardt, im Oktober 2021, Stefan Müller–Stach iv Roter Faden Wir wollen einige der Themen vorstellen, denen wir auf dem Weg durch das Buch begegnen werden. Die ersten beiden Fragen sind: Was ist ein Gedanke? und Wo sind die abstrakten Begriffe unseres Denkens lo- kalisiert? Auf diese beiden Fragen nach der Natur der Gedanken und der Ver- ortung unseres Denkens und unseres Bewusstseins gibt es trotz zahl- reicher jüngerer Erkenntnisse in den Lebenswissenschaften bis heute keine befriedigenden Antworten. Bereits Leibniz hat in seinem „Müh- lenbeispiel”5 darauf hingewiesen, dass jede Reise durch unser Gehirn nur eine Maschine – eben eine Mühle von innen – zeigen würde, oh- ne dass Wahrnehmungen, das Bewusstsein oder andere Qualia und emergente Phänomene des Lebens erkennbar wären. In der Tradition der Philosophie Platons wurde abstrakten Objekten und Begriffen eine Realität an einem ominösen Ort außerhalb der physikalischen Wirklichkeit zugewiesen. Eine gute Einstiegsfrage in die platonische Ideenlehre ist die Frage: Was ist eine Zahl? Zahlen sind allseits bekannte Objekte, die in der Wirklichkeit nicht selbst, sondern nur in Form von Anzahlen vorkommen. Mit kleinen Zahlen gehen wir souverän um, aber sehr große Zahlen entziehen sich vollständig unserer Vorstellung. Ähnliches gilt für ideale geometri- sche Gebilde, wie zum Beispiel Kreise, die in ihrer mathematischen Reinform höchstens näherungsweise in der Realität vorhanden sind. v Solche Figuren werden allgemein Räume genannt. Kollektionen wie die natürlichen Zahlen N bilden als Gesamtheiten diskrete Räume, so dass wir den Zahlbegriff als einen Teil des Raumbegriff auffassen können. Somit ist die Natur von Zahlen natürlicherweise verbunden mit der folgenden Frage: Was ist der allgemeinste Raumbegriff? Um ein besseres Gefühl dafür zu bekommen, setzen wir uns einge- hend mit topologischen Räumen und deren Verallgemeinerungen als Objekte in höheren Kategorien auseinander. Da wir mit solchen Erörterungen schon tief in der Mathematik ste- cken, beschäftigen wir uns mit ihrer Arbeitsweise und ihrem Einfluss: Wie ist die Arbeitsweise der Mathematik? und Welche Rolle hat sie in unserer Kultur? Dabei gehen wir insbesondere auf die Bedeutung und Nützlichkeit von Algorithmen und die damit verbundenen Berechenbarkeitsmo- delle in konkreten Anwendungsbeispielen ein. Es ist wichtig, in der Mathematik zwischen Syntax und Semantik zu unterscheiden. Die syntaktische Seite umfasst ein zugrunde liegendes formales deduktives System, in dem Beweise geführt werden. Dabei lässt sich folgende Frage stellen: Ist Beweisbarkeit gleich Berechenbarkeit? Dies ist in der Tat richtig. Jeder Beweis ist eine Berechnung in einem logischen Kalkül. In einem gewissen Sinne ist umgekehrt jede Berech- nung ein Beweis für die Aussage, die das Ergebnis der Berechnung behauptet. Die Frage ist in einem allgemeinen Sinne also zu bejahen. Eine schwierigere Frage ist das Entscheidungsproblem von Hilbert und Ackermann: Lässt sich entscheiden, welche Propositionen in ei- ner axiomatischen Theorie mit deduktiven Metho- den beweisbar sind? Eine solche Entscheidung wäre ein Algorithmus, der das Ergebnis 1 liefert, wenn die Proposition beweisbar ist und 0 andernfalls. Die vi Antwort auf diese Frage ist jedoch ein klares Nein, wie Alan Turing und Alonzo Church in ihren berühmten Arbeiten6 von 1936 gezeigt haben. Diese und weitere unentscheidbare Probleme, wie das Halte- problem für Turingmaschinen, beruhen auf der Existenz von unent- scheidbaren, aber rekursiv aufzählbaren, Teilmengen S der natürli- chen Zahlen. Diese entsprechen Algorithmen zur Berechnung einer partiell definierten Funktion f mit Werten 0 und 1, die mit dem Er- gebnis f(n) = 1 anhalten, wenn die Zahl n Element der Menge S ist und andernfalls nicht terminieren müssen oder den Wert 0 erge- ben. Wir werden darauf eingehen, ob es einen Berechenbarkeitsbegriff jenseits von Turingberechenbarkeit gibt, manchmal Hypercomputing genannt. Alan Turing hatte über diese Frage nachgedacht und den Turingtest7 entwickelt. Eine verwandte Frage ist, ob das menschliche Gehirn leistungsfähiger als eine Turingmaschinen ist: Was unterscheidet die menschliche Intelligenz von einem Computer? Viele Aspekte der Mathematik werden in der Sprache der Mengen- lehre beschrieben. Dies ist jedoch nicht die einzige Möglichkeit. Dies führt zu einer wesentlich umfassenderen Frage, die das Ziel dieses Buches darstellt: Welche Form der Grundlagen der Mathematik ist dem heutigen konzeptuell strukturalistischen ma- thematischen Denken besser angepasst als die tra- ditionelle Mengenlehre? Dieses innermathematische Problem ist auf zweierlei Arten und Wei- sen angegangen worden. Einerseits in syntaktischer Weise in Form der Typentheorie durch die Arbeiten des Logikers Per Martin–Löf, auf- bauend auf Ideen von Bertrand Russell, und andererseits in einer se- mantischen Variante durch die Theorie der höheren Kategorien, auf- bauend auf Ideen von Alexander Grothendieck. Vladimir Voevodsky hat vor wenigen Jahren mit seinem Forschungsprogramm „Univalent Foundations” die Theorie von Martin–Löf noch wesentlich weiterent- wickelt und die Interpretationen solcher Typentheorien in höheren vii (1; 1)–Kategorien werden derzeit ausgiebig studiert.8 Gleichzeitig er- öffnete die Typentheorie neue Möglichkeiten, in Mathematik und In- formatik Software Tools zu schaffen, die die Verifikation von Beweisen und Programmen erlauben. Durch die Typentheorie und die höheren Kategorien lassen sich Syn- tax und Semantik getrennt voneinander betrachten und die Vermi- schung beider in der Mengenlehre wird aufgelöst. Zudem ergeben sich in beiden Grundlagentheorien großartige Möglichkeiten, mit dem Be- griff der Gleichheit und ihren Varianten Isomorphie, Symmetrie und Äquivalenz adäquat umgehen zu können. In der Mathematik hat sich der gängige Gleichheitsbegriff im Lauf der Zeit nämlich als zu starr herausgestellt. Die dahinter liegende Frage ist: Was bedeutet die Gleichung A = A? Diese Frage führt in der Typentheorie zur Definition eines Identitäts- typs, der alle denkbaren Formen der Gleichheit beherbergen kann. Im letzten Teil des Buches widmen wir uns dem Begriff der Wahrheit und der Semantik: Wie kann der Begriff der Wahrheit definiert werden? Diese Frage wurde bereits im Altertum von Aristoteles und ande- ren gestellt und hat über viele Jahrhunderte zu einer Fülle von Er- klärungsversuchen geführt. Eine mögliche Verifizierung des Wahr- heitsbegriffs ist die Leibnizsche Suche nach einer allgemeinen Wis- senschaftssprache in Form eines symbolischen Kalküls, der Lingua Universalis, damit die Wahrheit von Aussagen in dieser Sprache auf syntaktische Weise durch einen Beweis möglich wäre. Dieser Ansatz ist plausibel, da der Begriff der Beweisbarkeit wesentlich leichter zu verstehen ist als der Wahrheitsbegriff. Deshalb stellt sich die Frage: Ist Wahrheit gleich Beweisbarkeit? Natürlich ist jede beweisbare Aussage in einem konsistenten logischen Kalkül wahr. Die Umkehrung gilt innerhalb eines festen deduktiven Systems jedoch in der Regel nicht, wie Kurt Gödel in seinem