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2016-08-16 11-29-06 --- Projekt: transcript.anzeigen / Dokument: FAX ID 0178437731119544|(S. 1- 2) VOR1639.p 437731119552 Aus:

Johannes Springer, Thomas Dören (Hg.) Draußen Zum neuen Naturbezug in der Popkultur der Gegenwart

September 2016, 304 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-1639-2

Die Popkultur ist wieder vermehrt von Naturbezügen geprägt. In Songs, Fil- men, Romanen, in der Auseinandersetzung mit Vergemeinschaftungen und dem eigenen Körper tauchen Wälder, Folkgitarren und grüne Hipster auf. Doch diese Phänomene sind keine naive Rückkehr zur Hippiekultur – sie werden zu dem der Popkultur ganz eigenen Spiel mit den gesellschaftlichen Verhältnissen. Die Beiträger_innen widmen sich diesem neuen Naturbezug in der Popkultur und thematisieren dabei u.a. New Weird America und Festivalkultur, Auto- renfilme und »Avatar«, und Vollbärte sowie Neuinterpretationen von Klassikern wie Vashti Bunyan oder Ken Kesey.

Johannes Springer (Dipl.-Pol.) forscht und unterrichtet zu Fragen populärer Kultur u.a. an der Hochschule Osnabrück. Thomas Dören (M.A.) ist Kulturwissenschaftler und -arbeiter.

Weitere Informationen und Bestellung unter: www.transcript-verlag.de/978-3-8376-1639-2

© 2016 transcript Verlag, Bielefeld

2016-08-16 11-29-06 --- Projekt: transcript.anzeigen / Dokument: FAX ID 0178437731119544|(S. 1- 2) VOR1639.p 437731119552 Inhaltsverzeichnis

7 Einleitung Johannes Springer und Thomas Dören

25 Von einem Berglöwen gefressen werden. Die Natur als Widerständigkeit in der ­ utopischen Literatur Millay Hyatt

35 Verloren in einem diamantenen Tag? ­ Die onto­logische Unbestimmtheit der -Kultur ­ und ihre Remediatisierung im New Weird America. ­ ­Eine ­kultur- und medientheoretische Reflexion auf Vashti Bunyans Stimme Jochen Bonz

65 »The newness, the newness of all«. ­­ Intensitäten ­und Kartierungen von Naturerfahrung ­ im ­US-amerikanischen Indie Folk Thomas Ebke

97 Den Kopf auf dem Land freibekommen? ­ Eine Relektüre künstlerischer »Zurück zur Natur«- Experimente der 70er Jahre Keith Halfacree

119 Musikfestivals als »zyklische Orte«: ­ Fairport’s Cropredy Convention Chris Anderton 139 »Du solltest jetzt eigentlich groß genug sein«: Homosoziale Bindungen und die Männlichkeit der Wildnis in Ken Keseys Manchmal ein großes Verlangen Jill E. Anderson

163 Zwischen Bären und Hipstern: ­ Vollbärte im Kontext geschlechtlicher und ­sexueller Identitäten in den westlichen 2000ern Thomas Dören

183 Das ist nicht unser Land: Das Kino von Ben Rivers Michael Sicinski

199 Eine natürliche Welt in der künstlichen. ­ Die mythisierte Wildnis in Sean Penns Into the Wild Benjamin Moldenhauer

215 Naturpornografie in Avatar Dan Podjed

235 Dual Nature – Pop Art und der Ursprung eines kritischen Naturbegriffs Tobias Lander

259 Aufbruch in die Höhe. Ein naturnaher Erfahrungsbericht Elke Krasny

275 »Im Pop kann es ›Natur‹ nur ›Over the rainbow‹ geben« Ein Interview mit Didi Neidhart. Von Johannes Springer

301 Autor_innen Einleitung

JOHANNES SPRINGER UND THOMAS DÖREN

Im Rückblick auf das erste Jahrzehnt unseres Jahrhunderts zeigen sich Charakteristika dieser Zeit, die im alltäglichen Erleben als Selbstver- ständlichkeiten erscheinen. Einen solchen Topos unserer Zeit bildet zweifellos das Thema »Natur«.1 In enormer Massierung fanden in den vergangenen Jahren symbolische Einschreibungen in Natur von thema- tisch andockender Literatur, Musik, Bild-Medien, Mode und anderen sozialen und kulturellen Aktivitäten und Bewegungen statt.2 Nicht nur auf der Ebene der kulturellen Produktion hat also ein »greening« statt­ gefunden, auch in der akademischen Diskussion dieser Felder haben sich insbesondere Ideen und Konzepte der Ecomusicology, des Ecocriticism und Green Cultural Studies Geltung verschaffen können.3 Vorliegendem

1 Von Natur als erster oder ursprünglicher Natur ist dabei erwartbar selten die Rede. Siehe hierzu u. a. Clark Ausführungen zu »Post-Nature« (2014) oder Mortons Idee von »Ecology without Nature« (2009), die Ideen wie Authentizi- tät, Reinheit, Ganzheit stark in Frage stellen. 2 Wir folgen hier Kleiners Skizzierung von Pop als Feld bzw. kultureller For- mation, die u. a. »Musik, Mode, Sexualität, Jugend, Filme, alltägliche Macht- kämpfe oder Szenebildung angeht.« (Kleiner 2011 46f). 3 Gerade für den Bereich der Ecomusicology trifft dies zu, wo es nun ein Ausgreifen des Ansatzes von Klassikeranalysen zu z. B. Grateful Dead (vgl. Kopp 2009) auf Avant-Pop wie James Ferraros Hypnagogic-Kompositionen (Ottum 2014) oder Joanna Newsoms Folk-Interpretation (Coleman 2014) gibt, wo vorher Pedelty (2012) oder Ingram (2010) Grundlagenarbeit betrieben. Ge- rade im Bereich von Popmusik als (Performance-)Industrie gibt es eine Legion an aktuellem Schrifttum. Zuletzt: Zifkos (2015) und Green et al (2015). Für andere Felder siehe z. B. Hochman (1998).

7 Draußen — Zum neuen Naturbezug in der Popkultur der Gegenwart

Buch geht es darum, zu eruieren, welche popkulturellen Schneisen in den letzten Jahren hin zur »Natur« beziehungsweise durch das Dickicht der Naturalisierung geschlagen wurden. Pop scheint uns dabei als Parameter zur Auseinandersetzung mit dem Dispositiv »Natur« in besonderem Maße geeignet zu sein. Zeich- nete sich Pop in den vergangenen 60 Jahren doch beständig durch eine interessante Doppelfunktion aus. Zum einen wirkte Pop als besonders feiner Seismograph, der gesellschaftliche Entwicklungen dadurch an- zeigte, dass er sie in die Zuspitzung führte und überdeutlich ausstellte. Zum anderen entwickelte die Popkultur Alternativen; man denke hier etwa an die großen Popsubkulturen wie die Mods, die und Punk und ihre gegenkulturellen Weltartikulationen und Werte. Ermutigt durch irritierende Umgangsweisen mit »Natur«, etwa in den musikalisch-sozi- alen Experimenten im Dunstkreis des »New Weird America« (vgl. Keen- an 2003) oder Jewelled Antlers (vgl. Stoppelkamp; Werthschulte 2007), in der Mode Cosmic Wonders (vgl. Momus 2007), in den Fotografien Mark Borthwicks (vgl. Springer 2010), in Peter Coffins Installationen, in Hipster- und queeren Vollbärten (vgl. Dören 2008), in der Renaissance von Denkern wie William Morris durch zeitgenössische Pop-Figuren wie Jeremy Deller oder Darren Hayman, in publizistischen Reihen wie Judith Schalanskys »Naturkunden«, in Filmen Ben Rivers’, Kelly Reichardts, Matthew Lessners (vgl. Springer 2011) oder im Multimedia-Phänomen Will Oldham fanden wir auch bezüglich des generellen Umgangs des Pop mit »Natur« eine entsprechende Doppelfunktion. Und entsprechend: einen besonders vielschichtigen, eigenwilligen und komplexen Umgang mit dem Phänomen. Das Thema gewinnt insbesondere dadurch an Kom- plexität, dass in dieser Naturthematisierung Pop-Prämissen, wie sie etwa Hecken 2012 (S. 96ff) in Abgrenzung zur Populärkultur unter dem Stich- wort Künstlichkeit als zwingende Voraussetzung von Pop formulierte, interessante Varianten erfahren (vgl. z. B. Dören und Neidhart in diesem Band dazu). Zwei wesentliche Beiträge, die zum Ende der Nullerjahre erschie- nen und den Versuch machten, diese popgeschichtlich und theoretisch zu sortieren, waren die weithin diskutierten Bücher zu »Retromania« von Reynolds (2012) auf der einen Seite, Greif (2010, 2011) zum Hipster auf der anderen. Beide thematisieren die popkulturelle Naturbegeisterung dieses Jahrzehnts an zentralen Stellen. Der ansonsten seine recht kultur- pessimistische These von Stagnation und der erstickenden Übermächtig- keit des Vergangenen ausbreitende Reynolds liest den amerikanischen Free-Folk mit seinen Bärten, das »Hinterwäldlerische und Gegenkultu-

8 JOHANNES SPRINGER UND THOMAS DÖREN — Einleitung

relle vereinigenden« Orten und mit freien Folk-, Drone-, Free--Jams aufwartenden Acts als zumindest ansatzweise das Pendant zum briti- schen Hauntology-Genre (vgl. Reynolds 2012: 311) Ruft man sich in Erinnerung, welche Vergangenheit die britischen Hauntologen in einem Akt von »radical nostalgia« (Bonnett) evozieren, nämlich den technokra- tischen Fortschrittsoptimismus der Nachkriegsjahrzehnte, den »popular modernism« (Fisher), Wohlfahrtsstaat und seine kulturellen Regulations- weisen, dann wird deutlich, wie man diese tentative Analogisierung auch deuten könnte: Free Folk und sein in verschiedenen Formen mit Natur spielendes Zeichenrepertoire als eine Kritik neoliberaler Gegenwart ins- besondere gentrifizierter amerikanischer Großstädte, in denen kollekti- ves Handeln und Leben, wie es diese »Horden« (vgl. Diederichsen 2005) nun performen, immer schwerer geworden ist, über den Umweg radi- kaler Nostalgie.4 Spiegel kommt in seinen umfangreichen, auf Keenans Pionierarbeit aufbauenden, empirischen Arbeiten zu dieser Szene (2012, 2013) zu ähnlichen Folgerungen: »How can ›free folk‹ be described in, or linked to, explicitly political terms? I presented ideas from a variety of texts that see these scenes especially as they manifested and accumu- lated in the mid-2000s) as a »spiritual community of values« fostering a collectivity and creativity that’s opposed to ›Corporate America‹ and a (neo-)conservative articulation of politics and society. Artistic collabo- ration, mutual care, a DIY ethos and a great musical or sonic openness opposing repressive or at least hegemonic form are combined into an al- ternative model of musical-social practice. But the actual chances of such an assemblage’s ›success‹ are hard to delineate.« (Spiegel 2013: 178)

4 Neidhart spricht in diesem Band zu diesem Zusammenhang eher kritisch von »Resignationsorten«. Der Zusammenhang zwischen Gentrifizierung von Innenstädten und kreativen Migrationsbewegungen jedenfalls ist ein vieldis- kutiertes Thema, im Speziellen für den Fall NYC/Upstate NY bzw. das Hudson Valley (vgl. Nevarez 2015). Ein Gegenbegriff zum »Resignationsort« könnten die »Aufstandsdörfer« sein, von denen Maak in seiner Beschreibung der Plä- ne der »ruralen Futuristen« um die französischen Polit-Aktivisten und Theore- tiker von Tarnac zu erzählen weiß (Maak 2016: 21). Über diese schreibt Maak, sie glaubten, »dass das Land ihnen mehr Freiheit gibt, dass dort andere, we- niger dicht an den globalen Kapital- und Informationsströmen entlanggehäkel- te Lebensentwürfe besser erprobt werden können als in der Großstadt, in der das Leben immer teurer, langweiliger und kontrollierter wird. Das Dorf nicht als Rückzugsort, sondern als utopische Keimzelle einer neuen Gesellschaft, die in den musealisierten Städten nicht mehr entstehen kann« (ebd.).

9 Draußen — Zum neuen Naturbezug in der Popkultur der Gegenwart

Deutlich problematischer bewertet Greif mit seiner Idee des grünen bzw. primitiven Hipsters als »rebellischem Konsumenten« das Auftauchen von Naturreferenzen in adoleszenten und post-adoleszenten Popmilieus ab der Mitte der Nullerjahre (vgl. Greif 2011: 12 und ausführlicher Greif 2010). Für ihn ist der Hipster Gentrifizierer, Konsument und Komplize des neoliberalen Projekts, nicht zuletzt indem er sich als distinktiver Ein- käufer auf dem Markt gegenkultureller Motive bedient, ohne diese durch entsprechende Werte untermauern zu können. In seiner Periodisierung des zeitgenössischen Hipsters sieht er den grünen Hipster mitsamt seiner kulturellen Welt an Bands mit Tiernamen, Videoarbeiten mit pastoralem Setting, demonstrativer Fahrradnutzung und ruralen Modestücken zwar als Verbesserung zum »weißen«, auf white trash-Kultur des Mittleren Westens rekurrierenden Hipster der frühen Nullerjahre, für eine pro- gressive Kraft hält er ihn als Sozialfigur jedoch nicht. Greif steht hier stellvertretend für eine Position, wie man sie in vielen Beiträgen zum Thema vertreten sieht. Nicht immer so überzeugend vorgetragen wie bei Modrak (2015), die das Auftauchen von Designer-Äxten in NYC zum Anlass nimmt, Fragen von Männlichkeit, Authentizität und Arbeit im Zusammenhang mit zeitgenössischem Naturkonsum zu hinterfragen. In ihrem interventionistischen Culture Jamming kreiert sie eine Kampagne für einen »artisanal plunger« und macht so kontrastierend auf die spe- zifischen Konnotationen von mit Wildnis und Natur verbundenen Ob- jekten aufmerksam.5 Etwas vage bleibt bei ihm in der Folge jedoch die motivische Erklärung des Auftretens dieser Naturbilder, wenn er erklärt: »In den Texten und Videos ging es um ländliche Rückzugsorte, wilde Strände und tiefe Wälder. Das Leben schien dieser Kunst plötzlich lie- benswert und überschaubar, die Zukunft glänzend und kontrollierbar. Es war nicht unüblich, dass Musiker plötzlich Tiermasken und die dazu passenden Plüsch-Kostüme trugen« (Greif 2011: 12). Die Natur also als reine und kindliche Idylle? Vielleicht verhindert an dieser Stelle Greifs a priori Ablehnung eine Anerkennung der Komplexität des grünen Hips- ters. Schaut man sich dagegen einen der für unser Thema interessantes- ten Filme der Nullerjahre, Matthew Lessners The Woods, an, in dem der

5 Insbesondere Modraks Überlegungen zum Status von Arbeit, Handwerk und Natur in der Gegenwart sind bedenkenswert: »This project considers the slipperiness of brand identity that suggests consumers can move comfort- ably between contradictory selves: between the urban and rural, worker and manager, farmer and craftsman, maker and consumer, luxury object and func- tional tool, and between a work of art and a commodity.« (Modrak 2015: 556)

10 JOHANNES SPRINGER UND THOMAS DÖREN — Einleitung

Abbildung 1: Film Still aus Matthew Lessners: The Woods

Regisseur eine Gruppe junger Westküstenamerikaner zu psychedelischen Drones und elektronischen Experimentalklängen von kalifornischen Ge- genwartsacts wie Sun Araw und Lucky Dragons in die Wälder Oregons ziehen lässt, sehen wir uns all den Träumereien, Hilflosigkeiten und Wie- derholungszwängen zeitgenössischer Pop/Politik-Artikulation gegen- über. Es ist kein Zufall, dass die grünen Hipster von Lessner in den Wald gehen müssen, um nach Alternativen als Kommune zu suchen, die sie dort aber natürlich nicht finden, weil sie sowohl Kinder ihrer Zeit( Social Media-Rebellions-PR, kapitalistischem Realismus und Natursehnsucht als Pop-Oberflächen-Zitat geschuldet) sind wie Kinder der Hippies (de- ren Theorien vom Aussteigen sie in langen und sichtbar öden Theorie- Lectures ihres unbeliebten Anführers erdulden) und sich erst nach einer Art Formatierung dieser beiden Haupteinträge ihrer kulturellen Festplat- te im Zuge eines Zusammenbruchs der Restgesellschaft zu etwas Neuem aufmachen können, wie es der Erzähler am Ende des Films skizziert: »surfing on this masive wave of possibility and destruction, pushing us forward into a beautiful crest of a future untold. … With arms outstret- ched we pushed ahead into a gaze of a purple dawn.« Möglicherweise befindet sich dieser »purple dawn« nicht so weit entfernt vom »rainbow«, von dem Didi Neidhart in diesem Band zu erzählen weiß.6 Analog zu von

6 Lessner führte den Nexus zwischen der Paralyse des grünen Hipsters und ihrer Überwindung in der Untergangssehnsucht folgendermaßen aus: »Ich glaube, die meisten Menschen in diesem Land haben den Kapitalismus so internalisiert, dass es ihnen schwerfällt, etwas anderes zu imaginieren. Von ihrer Geburt an werden sie mit der Idee indoktriniert, dass vernünftige Men-

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Trothas Gegenüberstellung der biedermeierlichen und romantischen Na- turkonzeptionen des frühen 19. Jahrhunderts, könnte man im ausgestell- ten Suchen nach dem Experiment, der Bodenlosigkeit und Unendlichkeit in den Naturphantasien von New Weird America und auch Lessner ein Anknüpfen an romantische Kulturtechniken sehen, die einen Ausweg aus der auch in der Gegenwart sicherlich vorhandenen biedermeierlichen Natursehnsucht anbietet (vgl. von Trotha 2016: 119 ff.). Greift man weiter und über die unmittelbare popkulturelle Sphäre hinaus, lassen sich von Großklaus (1993a) ausgehend, historisch zwei zentrale Diskursstränge in der Betrachtung von kulturellen Naturverar- beitungen identifizieren, die solche Konjunkturen des Naturthemas ent- weder als »regressiv-eskapistisch« oder »kritisch-analytisch« lesen. Im ersten figuriert Natur als u. a. »Flucht-« oder »Entlastungs- und Kompen- sationsraum«, im zweiten als »Widerstands-, Protest oder Gegenraum« (ebd.: S. 8). Auch was die gegenwärtige Konstellation angeht, ist die Kontinuität dieser beiden Diskurse zu konstatieren, insbesondere auch ihr Auftauchen in Diskussionen rund um popkulturelle Inszenierungen und Verwendungen von Natur. Dass man es bei der Naturkonjunktur des jungen 21. Jahrhunderts mit einem strukturell alten und hinlänglich diskutierten Phänomen zu tun hat, sollte nicht überraschen. Ebenso we- nig der Umstand, dass der popimmanente Diskurs viele Anleihen an der kulturellen Formation der 60er / 70er Jahre macht. So kann es nicht ver- wundern, dass sich viele Beiträge des vorliegenden Bandes genau daran abarbeiten, entweder mit neuen theoretischen Perspektiven, z. B. quee- ren7, den Naturdiskurs der 60er für die Nullerjahre neu lesbar zu machen (vgl. Anderson) oder das qualitativ Neue des popkulturellen Naturmo- schen sich als einzigen Lebensstil nur den »American way of life« innerhalb des existierenden unternehmerischen Kapitalismus vorstellen können. Jede andere Art zu leben wird marginalisiert, bemitleidet, dämonisiert oder ange- griffen. Der Kollaps, und was sich danach in The Woods entwickelt, ist in gro- ßen Teilen inspiriert von Thomas Homer-Dixons Buch The Upside of Down. Homer-Dixons zentrale These läuft konträr zur weithin geteilten Meinung, dass gesellschaftliche Zusammenbrüche nur Chaos und Leiden verursachen und darum zu fürchten sind. Stattdessen versucht er den Gedanken zu entwi- ckeln, dass Katastrophen unglaubliche Möglichkeiten für ungekannte Schü- be an Kreativität und Experimente mit sich bringen können. Es ist ein wenig die optimistische Rückseite von Naomi Kleins Disaster Capitalism.« (Springer 2011: 54). 7 Vgl. Sandilands (2002) (2008) und Morton (2010).

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ments der Gegenwart gerade in der Remediatisierung, Pastichisierung oder vor dem Hintergrund nostalgischer Renaissanceen zu sehen (vgl. Bonz, Ebke, Halfacree, Neidhart). So ist es möglicherweise in Zeiten von »Retromania« (Reynolds 2012), »Capitalist Realism« (Fisher 2009) und allgegenwärtig konstatierter kultureller Stasis symptomatisch, dass in einem Versuch das Neue des popkulturellen Naturbezugs der Gegen- wart beschreiben, die popkulturelle Vergangenheit sehr präsent scheint und am ehesten Trendforscher, die an der Beschreibung ökonomischer Verheißung durch »schicke, trendige Natur« interessiert sind und von Zukunfts- und Sehnsuchtsmärkten schreiben, das Neue in »Neo-Nature« akzentuieren (vgl. Kirig; Schick 2008). Blickt man durch Großklaus’ historische Brille auf die aktuel- len Einträge zur Debatte, fällt insbesondere der Korpus die Regression betonender Perspektiven reich aus. So setzt z. B. Schönthaler (2016) Survival- und Naturdiskurse der Gegenwart mit Angst und Krise in Verbindung.8 Phillips (2015) sieht in dem von ihm als »austerity eco- logy« apostrophierten Trend ein hegemoniales Projekt, das die Linke auf einen Holzweg der antimodernen und Entbehrung als Tugend ver- kaufenden Reaktion sende. Von »Eco-Austerity« schreibt auch Bramall (2013). Sie hingehen kann in diesem Diskurs, dessen Geschichtspolitik ihrer Einschätzung nach zwar dominante-hegemoniale Bilder produzie- re, gleichwohl bei der Formierung radikaler, antikonsumistischer, öko- logischer Subjekte instrumentalisierbar zu machen wäre (vgl. Bramall 58–83). Näher bei Phillips befinden sich die Akzelerationisten Srnicek und Williams, wenn sie die Gegenwartssehnsucht nach »the small-scale, the authentic, the traditional and the natural«, Handwerk, Lokalismus und »folk politics« kritisieren (10) und neo-primitivistische Dystopien

8 So führt er seine Thesen zu den verschiedenen Survival- und Naturkon- junkturen zusammen in der Überlegung: »Welches Gewicht man dem Survival als einer Rückkehr zur Natur und zum Erwerb naturnahen Wissens auch ein- räumen mag, in erster Linie sind es ökonomische Krisenszenarien, gekop- pelt mit ökologisch düsteren Zukunftsaussichten, die die Konjunkturen des Überlebenswissens in den Achtzigerjahren antreiben und die gleichfalls hinter der Wiederkehr des Survivals im neuen Jahrtausend vermutet werden dürfen« (Schönthaler 2016: 245). Die Omnipräsenz dieses Wissens gerade auch in Hipster-Heartlands wie Greenpoint, Brooklyn unterstreicht ein Artikel aus der New York Times, der beschreibt, wie eben dort in Kursen am Ufer des East River mit Blick auf Manhattan Wildnis-Survival-Fertigkeiten vermittelt werden (vgl. Kilgannon 2013).

13 Draußen — Zum neuen Naturbezug in der Popkultur der Gegenwart mit ihrer Version einer linken Aneignung von Technologie, Automatisie- rung und Beschleunigung als emanzipatorischem Projekt konstrastieren.9 Bude erfasst beide Seiten dieser Gegenwartsanalyse, wenn er schreibt: »Die universelle Stimmung der Selbstmotivierung, Selbstüberprüfung und Selbstverwirklichung lässt im Grunde nur zwei Auswege zu: die Akzeleration oder die Kontemplation, die Selbstüberbietung oder die Selbstversenkung, die Intensivierung der Tendenz oder den Exodus aus dem System« (Bude 2016: 122). Dass in einem Band zu Prekarität und Arbeit in der Gegenwart eine Exkursion zu einem der lebensreformeri- schen Aussteiger-Parade-Orte des frühen 20. Jahrhunderts, dem Monte Verità beschrieben wird, kann kaum als Zufall behandelt werden (vgl. Hyatt 2009). Ebenso wenig, dass dieser Ausstiegsberg dann auch für Popmagazine interessant wurde (vgl. Schoon 2010) und jüngst Gegen- stand eines Tracks auf dem aktuellen Album des Ambient-Techno Produ- zenten The Field. Kreuzmair weist darauf hin, dass The Field nur ein Act in einer Reihe von Techno und House-Produzenten der Gegenwart (u. a. auch Pantha du Prince und Stimming) ist, die sich in ihren Alben 2016 mit Modellen des Ausstiegs in die Natur beschäftigen: »Sie sind auf der Flucht, ihr Programm ist Eskapismus. Dieser Befund ist zunächst nicht sehr aussagekräftig, wird doch den Hedonisten weltweit immer wieder vorgeworfen, mit dem Lob des Rauschs die politische Debatte zu meiden. Und doch zielen Formen von Eskapismus bei mehreren aktuellen Elek- tronikalben auf Utopien jenseits des Nachtlebens.« (Kreuzmaier 2016:

9 Die auch von Srnicek und Williams mit dem paradigmatischen Ausspruch »Goldman Sachs doesn’t care if you raise chickens« zitierte amerikanische Politologin Jodi Dean, welche u. a. die Parteiform als unabdinglich für die An- näherung an den »communist horizon« betrachtet (vgl. Dean 2012), musste sich wiederum kritisieren lassen, dass sie den präfigurativen Charakter von kommunistische Begehren und Praktiken fördernden Formen kooperativer Imkerei, radikalem Gärtnern und Nahrungsversorgung übersehe und leicht- fertig als depolitisierend und neoliberal disqualifiziere (vgl. Morrow / Brault 2015: 373). Immer noch eine der interessantesten u. a. durch historische Tiefe überzeugenden Kritik der »›regressiven Utopie‹ des arkadischen Lebens« lie- ferten Bentmann und Müller (1970: 129), die von der villegiatura und der vita rustica Italiens des 16. Jahrhunderts bis ins 20. Jahrhundert den »Traum vom Lande« als »zeitlose Ideologie« analysierten, dessen Grundlagen sich zwar in ökonomischen Umwälzungen und Krisen befinde, dabei jedoch stets der »Vermittlung … durch Architekten, Maler, Dichter, Philosophen, Staatsmänner und Ökonomen« bedurfte (ebd. 9).

14 JOHANNES SPRINGER UND THOMAS DÖREN — Einleitung

15) »Almhütten«, der Monte Verità oder »Islands in the Sky« figurieren hier als Sehnsuchtsräume, was Kreuzmaier zu der Folgerung veranlasst: »alle wollen so nicht mehr weitermachen« (ebd.). Und wir wären nicht bei einer neuen Form von Exodus und Pop-Natur, wenn hier nicht auch gleich mit alten Dichotomien, wie z. B., dass es ausgerechnet techno- ide und elektronisch hergestellte Alben sind, die hier Natursehnsüchte artikulieren, gebrochen und kreativ gespielt würde. So stellt Kreuzmair fest, dass all diese Alben »mit Maschinen die Frage nach der Flucht in die Natur stellen«, und einer der Protagonisten dieser Veröffentlichungen, Pantha du Prince, mit der Aneignung des Begriffes »mechanical roman- ticism« auch gleich das alte Antagonismen überwindende Konzept mit- liefert (ebd.). Gerade die Renaissance des Topos des Exodus (vgl. Loick 2014) weist darauf hin, dass es für die Idee von Natur, in Großklaus’ Ter- minologie, als Protest- und Widerstandsraum Potential gibt. Auch wenn die Idee des topischen Exodus, also eines Zurückziehens, Rausziehens ohne auf Thoreaus Wildnis angewiesen zu sein, u. a. Rittberger überzeu- gender scheint und »Inseln des Richtigen im Falschen« zu bestimmen »hier und jetzt handeln, mit all den Zwischenlösungen, Provisorien, Bau- stellen« ohne sich in den Wald verkriechen zu müssen oder auf Essenzen und Natürlichkeiten abheben zu wollen (Rittberger 2016: 64ff ), können popkulturelle Ideen des Umgangs mit Natur als Gegenwelt möglicher- weise als Beispiel lesbar gemacht werden, wie Pop in der Lage ist, Natur­ schwärmer- oder Essentialismusfallen zu umgehen.10 Insbesondere, wenn man hier wieder näher an popkulturelle Sphä- ren heranzoomt und z. B. auf die Idee des Popmusikfestivals fokussiert, gewinnt man eine interessante Perspektive auf die Rolle des ländlichen Raums für Artikulationen, experimentell gemeinsam zu sein. Ob popge- schichtlich, wenn man wie McKay subkulturelle Provokation, karniva- leske Transgression unter dem Stichwort »Go wild in the country« ins Grüne verlegt und keinen Zufall darin sieht, dass es neben urbanen Fes- tivaltraditionen, eine starke progressive Verbindung von Ruralität und Musikfestivals gibt. Konzentriert sich McKay auf die Nachkriegsfesti-

10 Obwohl man an dieser Stelle betonen muss, dass die Geschichte der Popmusik vom Tappen in Fallen wie diese voll ist wie jede andere. Harper skizzierte jüngst (2016), wie sehr die Idee der geographischen Marginalität, von »mountain music«, oder Hinterwäldern insbesondere in Indie-Rock und der Tradition von lo-fi symbolisches Kapital via Authentizität und Antikommer- zialität Gewicht besaß. Von richtiggehend rechten Tropen essentialistischer Land-Thematisierungen im Neo-Folk weiß Wehren zu berichten (vgl. 2011).

15 Draußen — Zum neuen Naturbezug in der Popkultur der Gegenwart vals von Beaulieu und Sidmouth wie die jazz-befeuerten CND-Protest- märsche (vgl. McKay 2015: 22ff; McKay 2004)11, so lässt sich diese Erzählung insbesondere weiterspinnen über die Free Festivals der 70er Jahre in Windsor, Stonehenge, die daraus entstehende Szene der hippies- ken Travellers12 (vgl. Hetherington 1998) bis zur Techno-Szene Berlins (vgl. Schwanhäußer 2010) oder alternative Tanzmusik-Festivals der bri- tischen Gegenwart (vgl. O’Grady 2015).13 Sich wiederholende Motive sind Ideen von Konvivilität, »dynamic ›throwntogetherness‹« (ebd.: 85) und Communitas (Schwanhäußer: 205). Auch wenn O’Grady die posi- tiv aufgeladene, utopische Naturaneignung der Festivals vor dem Hin- tergrund einer linken Version des »pastoralen Mythos« problematisiert, sieht sie im Umstand, dass in Zeiten von Austerität, zunehmender Un- gleichheit und anderen neoliberalen Gegenwartsproblemen eben diese Idee der Natur als Widerstandsraum viele Festivalteilnehmer überzeu- ge und die Ermöglichung von temporären autonomen Zonen im Sinne Beys vereinfache (vgl. O’Grady 2015: 91). Schwanhäußers Analyse der Naturverhältnisse der Underground-Techno Szenen der frühen Nuller- jahre weist allerdings auch auf einige interessante generationelle Brüche in der Naturbetrachtung hin, die zeitgenössischen Popsubkulturen eine Romantisierung, Idealisierung und Purifizierung von Natur hippiesken Zuschnitts verbietet. So schiene nach Punks Geste des »Zurück zum Be- ton« eine Naturaufladung mit Romantik und Gemeinschaft im Stile der 60er / 70er Jahre schnell als esoterisch wie naiv und ideologisch über-

11 Dass die Verbindung von (Free) Jazz, Luddism und Ideen der Befreiung mit Natur auch in zeitgenössischen ökokritischen Texten zu problematischen Folgerungen führen kann, zeigt z. B. die Privilegierung des Physischen, der Aura von Live-Musik, Anti-Technologischen und Reetablierung starker Dualis- men wie exemplarisch bei Ho (2011). 12 Die polizeiliche Repression der Stonehenge / Travellers-Szene 1985 kurz nach Niederschlagung des britischen Bergarbeiterstreiks genau wie der Cri- minal Justice and Public Order Act von 1994 als Antwort auf die freien und Parties der Jahre zuvor können als Antwort auf die Heterotopien und sub- versiv nutzbaren Möglichkeiten des ländlichen Raumes gelesen werden, in denen die Hegemonie des Thatcherismus bedroht wurde (vgl. John 2015, Hill 2002). 13 Ein veritabler Unterzweig des hierzu einschlägigen Schrifttums, den wir hier nur streifen wollen, hat sich etabliert in der Idee, Musikfestivals in erster Linie auf ihre ökologischen Konsequenzen und Nachhaltigkeit zu befragen (vgl. für einen Überblick Zifkos 2014).

16 JOHANNES SPRINGER UND THOMAS DÖREN — Einleitung frachtet (vgl. Schwanhäußer 2010: 218f). Die Art und Weise, wie die von Schwanhäußer beschriebenen Parties mit einer »urbanen Ikonografie« in der Natur deren Überfrachtung relativieren, lässt sie folgern, dass es hier zumindest für den Moment eine Art post-ideologische Versöhnung von Stadt und Natur gäbe (ebd.: 234). Dass all diesen Beispielen alternativen, temporären Zusammenlebens die Idee des Exodus, häufig in einem sehr buchstäblichen Sinne, gemein ist, zeigt einmal mehr die Resonanz dieses Konzeptes, in einer Zeit, in der an eine große gesamtgesellschaftliche Zäsur nicht mehr geglaubt wird (vgl. Loick 2014: 62). An ein, mit den Ideen des »grünen Hipsters« korrespondierendes Konzept machen sich Carlsson und Manning, die ihre »Nowtopias« nach einem strategischen Exodus bewohnt sehen von Menschen, die »engage in a wide variety of labor-intensive projects, from organic gardening, bike repair, or coding software, to making music, writing fiction, producing radio shows, or painting murals« (Carlsson; Manning 2010: 925). Verschiedene Subkul- turen wie »outlaw bicycling«, »urban gardening« mit künstlerischen und technologischen Praktiken der Gegenwart verbindend, zeichnet dieses Konzept ein Bild vom grünen Hipster, das ihn eher als Vorhut einer bes- seren und DIY gezimmerten Welt sieht. Dass viele dieser Ideen heute so ungemein erfolgreich sind und nicht nur DIY, sondern besonders grünes DIY zum Volkssport gemacht haben, kann skeptisch machen hinsicht- lich ihrer gesellschaftlichen Funktion und Stoßrichtung, gleichzeitig aber auch darauf hindeuten, dass viele post-demokratische, neoliberale Ge- sellschaften, die nur durch einen »disaffected consent« (Gilbert 2015) stabil gestellt werden, Unzufriedenheiten und Sehnsüchte geweckt ha- ben, die möglicherweise erst »Draußen« gepflegt werden müssen, um auch »Drinnen« mit Arglosigkeit Möglichkeiten des »Mitseins« und »Neu-Anfangens« denkbar zu machen (vgl. Rittberger 2016: 63–68).

Millay Hyatt eröffnet diesen Sammelband mit einführenden Gedan- ken zur politischen Verortung des Themenkomplexes Natur und Pop in ihrem Text »Von einem Berglöwen gefressen werden. Die Natur als Widerständigkeit in der utopischen Literatur«. Ausgehend von Fredric Jameson und Ernst Bloch entwickelt sie ein Utopiekonzept der Gegen- wart, das der Frage nachgeht, warum Kapitalismuskritik so häufig im Rückgriff auf ästhetische oder soziale Naturbezüge geäußert wird und inwieweit diese kompensatorisch oder produktiv sein können. Mit Keith Halfacrees Beitrag »Den Kopf auf dem Land freibekommen? Eine Rele- ktüre künstlerischer »Zurück zur Natur«-Experimente der 70er Jahre« geht es auf die Reise in und durch das Großbritannien der 1970er Jahre.

17 Draußen — Zum neuen Naturbezug in der Popkultur der Gegenwart

Aus der Perspektive der Humangeographie beschreibt er das Phänomen der Gegenurbanisierung in der Folk-Musik-Szene. Diese Hinwendung zum Ruralen, insbesondere durch ein kontinuierliches Herumreisen ist für viele Folk-Bands bis heute ein zentrales Motiv. So folgt Jochen Bonz dieser Fährte mit einer der Protagonist_innen dieser Gegenkultur, die erst im letzten Jahrzehnt durch die Wiederveröffentlichung ihrer Musik und deren Entdeckung durch Protagonisten des New Weird America zu neuer Bekanntheit kam: die Musikerin Vashti Bunyan. In seinem Aufsatz »Ver- loren in einem diamantenen Tag? Die ontologische Unbestimmtheit der Hippie-Kultur und ihre Remediatisierung im New Weird America. Eine kultur- und medientheoretische Reflexion auf Vashti Bunyans Stimme« zeigt er Parallelen im Folk von damals und heute auf und untersucht zwei zentrale Aspekte an Bunyans Oeuvre, ihre Stimme und ihr Unter- wegssein, aus Lacan’scher Perspektive, um dem sich entziehendem Ver- hältnis der Hippies zum Symbolischen nachzuspüren. »Musikfestivals als ›zyklische Orte‹: Fairport’s Cropredy Convention« ist das Thema von Chris Anderton. Er beschäftigt sich mit den Besonderheiten des Naturerlebnisses von Open-Air-Festivals und analysiert eine von der Folk-Band Fairport Convention organisierte Festivalreihe im ländlichen Oxfordshire mit der Idee des Karnivalesken von Mikhail Bakhtin und dem Konzept des Liminalen und Liminoiden von Victor Turner, um der Frage nachzugehen, inwieweit sich die sozialen Ordnungen eines sol- chen Ereignisses von denen des Alltags unterscheiden. Thomas Ebke blickt in seinem Beitrag »›The newness, the newness of all.‹ Intensitäten und Kartierungen von Naturerfahrung im US-amerikanischen Indie Folk« aus ästhetischer Perspektive auf den inflationären Naturbezug gegenwärtiger amerikanischer Folk-Musik mit dem kulturtheoretischen Konzept des Pastiche. Die dort vorzufindenden Repräsentationen von Natur beruhen in dieser Lesart weniger auf der Nostalgie für eine ide- alisierte vormoderne Gemeinschaftsform und das ontologische Gute, an dem sich das Leben in ihr vermeintlich ausrichtet. Was die verschachtelte Nostalgie des Pastiche prägt, ist nicht der aufrichtige Glaube an eine in sich sinnhafte und unäquivoke Welt, sondern eine Sehnsucht, im Zeital- ter des Spätkapitalismus wenigstens in die Pose eines solchen Glaubens schlüpfen zu können. Jill E. Anderson unternimmt in »Du solltest jetzt ei- gentlich groß genug sein: Homosoziale Bindungen und die Männlichkeit der Wildnis in Ken Keseys Manchmal ein großes Verlangen« eine Rele- ktüre dieses Hippieklassikers aus der Perspektive der Queer Ecology. Sie versteht die Erzählung nicht als machistische Heldengeschichte, sondern als ein erotisiertes Männerbündnis und eröffnet damit die Reflexion über

18 JOHANNES SPRINGER UND THOMAS DÖREN — Einleitung

den Pfad von heterosexueller Penetration zu naturalisierter Natur und dessen normativen Effekten, die es für das Verständnis von Natur und Sexualität zu öffnen gilt. Dieser Vorgang beschäftigt auch Thomas Dören in dem Aufsatz »Zwischen Bären und Hipstern: Vollbärte im Kontext geschlechtlicher und sexueller Identitäten in den westlichen 2000ern«. Er setzt sich mit dem Phänomen des Vollbartes auseinander und untersucht im Zusammenhang mit den Bärten der schwulen Subkultur der Bären ab den späten 1970ern und denen der straighten Hipster der 2000er, we- shalb gerade der wild wachsende Vollbart in den Nullerjahren so populär werden konnte. In »Das ist nicht unser Land: Das Kino von Ben Riv- ers« interpretiert Michael Sicinski die Filme des britischen Regisseurs als poetische Ethnografien der Gegenwart, die sich auf Individuen an den Rändern der Gesellschaft, in der Natur, im Wald, im Abseits fokussieren und in ihren Dokumenten selbstbestimmten Lebens sowohl den robusten Individualismus des Neoliberalismus als auch dessen menschliche Op- fer präsentieren, gleichzeitig eine avantgardistische Form von Popkultur markierend. Auf formaler Ebene äußert sich dies auch in einer veränder- ten Zeitlichkeit, die Rivers’ Arbeiten zu einem »Slow Cinema« machen. Den Ausstieg aus der Gesellschaft in die Natur thematisiert Benjamin Moldenhauer in »Eine natürliche Welt in der künstlichen. Die mythisierte Wildnis in Sean Penns Into the Wild«. Er analysiert dabei den Zusammen- hang von idealisierten Naturfantasien und der grimmigen Wirklichkeit in Penns Film und geht der Frage nach, ob das Scheitern das Ziel einer Wahrheitssuche darstellen kann. Eine ebenso fantasierte Naturaneignung, die aber ganz anders umgesetzt worden ist, nimmt Dan Podjed ins Visier. In seinem Aufsatz »Naturpornografie in Avatar« betrachtet er die spe- ktakulär inszenierten Naturwelten in James Camerons Blockbuster und diskutiert mögliche Folgen in der Wahrnehmung anderer Natur. Er zeigt mit Moris’ Konzept des »Uncanny Valley« zudem, wie schnell sich Imi- tierendes von Imitiertem entfremden kann und statt einem Gefühl des Genießens eines des Unheimlichen entstehen kann. Tobias Lander wirft in »Dual Nature – Pop Art und der Ursprung eines kritischen Naturbe- griffs« einen Blick auf Paratexte der Popmusik und untersucht Alben- cover der Nullerjahre, die Gebirgsmotive aufgreifen. Diese Bilder expo- nieren Natur als idyllisch und erhaben, entwickeln sie aber gleichzeitig als Fiktion, die ideengeschichtlich aus der Pop-Art tradiert wird. Das Motiv des Bergs ist auch für Elke Krasny zentral. Ihr »Aufbruch in die Höhe. Ein naturnaher Erfahrungsbericht« schließt diesen Sammelband mit einer Reise in der Sesselbahn des Schweizer Pavillons auf der Expo 2010 in Shanghai. So wie die dortige Naturinszenierung unweigerlich

19 Draußen — Zum neuen Naturbezug in der Popkultur der Gegenwart urbane Elemente inkorporiert, verknüpft sie die Popularisierung von Na- tur mit etwas, das in der Vorstellung dieser zu schnell aus dem Sichtfeld gerät – die Technik. Im abschließenden Interview hält Didi Neidhart fest: »Pop ist das ›Plastik‹ im Spruch ›Jute statt Plastik‹« und unterzieht die Paradoxien und Neuartigkeiten der popkulturellen Naturbegeisterung im New Weird America, Laptop-Folk oder Vogelstimmenplatten der Nuller- jahre einer deleuzianisch informierten Lektüre.

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