<<

Peter Bär, Gerhard Schneider Im Dialog: Psychoanalyse und Filmtheorie Peter Bär, Gerhard Schneider

Martin Scorsese

Im Dialog: Psychoanalyse und Filmtheorie Band 13

Mit Beiträgen von Peter Bär, Gerhard Bliersbach, Isolde Böhme, Martin Bölle, Helmut Däuker, Jochen Hörisch, Hannes König, Katharina Leube-Sonnleitner, Kai Naumann, Gerhard Schneider, Georg Seeßlen, Dietrich Stern, Marcus Stiglegger und Ralf Zwiebel

Psychosozial-Verlag Herausgeber: Cinema Quadrat e. V., Mannheim Institut für Psychoanalyse und Psychotherapie Heidelberg-Mannheim Psychoanalytisches Institut Heidelberg-Karlsruhe der Deutschen Psychoanalytischen Vereinigung Heidelberger Institut für Tiefenpsychologie

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Originalausgabe © 2017 Psychosozial-Verlag Walltorstr. 10, D-35390 Gießen Fon: 06 41 - 96 99 78 - 18; Fax: 06 41 - 96 99 78 - 19 E-Mail: [email protected] www.psychosozial-verlag.de Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mik- rofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Umschlagabbildung: Martin Scorsese beim Film- dreh ZEIT DER UNSCHULD. © Columbia Tristar, Quelle: Filmbild Fundus Umschlaggestaltung & Innenlayout: nach Entwürfen von Hanspeter Ludwig, Wetzlar Printed in Germany ISSN 2367-2412 ISBN 978-3-8379-2598-2 Inhalt

Einleitung und Überblick 7 Die Farbe des Geldes (1986) 81 Jochen Hörisch Martin Scorsese 13 Beschreibung der Arbeit Ein Gangsterleben im Zeitraffer 91 eines Filmemachers Über die Inszenierung von Rasanz Georg Seeßlen in Martin Scorseses (1990) Von der Gewalt zum Heiligen 29 Kai Naumann René Girards Opfertheorie und das Kino Martin Scorseses Gewalt als Erlösung 103 Marcus Stiglegger Kap der Angst (1991) Hannes König Musik als Inspirationsquelle und 41 Resümee des Films Melancholie und Sehnsucht 115 Zur Bedeutung des »Soundtracks« The Age of Innocence (1993) bei Martin Scorsese Katharina Leube-Sonnleitner Dietrich Stern (2006) 131 Gewalt als Selbstheilungsversuch 53 Isolde Böhme Zu Martin Scorseses (1976) Von inneren und äußeren Orten 147 Helmut Däuker des Grauens Filmpsychoanalytische Anmerkungen The King of Comedy (1982) und 65 zu Martin Scorseses The Color of Money (1986) Shutter Island (2010) »One for me and one for them« Ralf Zwiebel Gerhard Bliersbach

5 Anmerkungen zu 161 Autorinnen und Autoren 189 Shutter Island (2010) Martin Bölle Programm des 193 14. Mannheimer Filmseminars Der verlorene und 167 Martin Scorsese der wiedergewonnene Vater Eine psychoanalytische Perspektive Bisher in der Reihe erschienen 195 auf Hugo (Hugo Cabret, 2011) Im Dialog: Psychoanalyse und Gerhard Schneider Filmtheorie

Bild-Entsprechungen 175 Entdeckungen und Aufdeckungen zu Hugo Cabret (2011) Peter Bär

6 Einleitung und Überblick

Martin Scorsese (*1942), der am 17. Novem- schichte betrachtet und analysiert werden, das ber 2017 75 Jahre alt wird, ist einer der prof- heißt, sie liefern genügend Material für einen liertesten Regisseure der USA. Aufgewachsen in den flmwissenschaftlichen wie flmpsychoana- einem katholisch geprägten italienischen Um- lytischen Diskurs und die entsprechende Dis- feld in Little Italy in New York wurde er früh kussion über die Fachgrenzen hinweg. ein Mitglied des vom europäischen Kino der Aus den bis zum Abschluss der Arbeit an die- 1950er und 60er Jahren geprägten New Hol- sem Buch erschienenen 24 Spielflmen Scorse- lywood, einer Gruppe von Filmemachern, die ses insgesamt sechs Filme für das Programm des nicht im damals zusammenbrechenden Stu- 14. Mannheimer Filmseminars Im Dialog: Psy- diosystem Hollywoods, sondern an den aka- choanalyse und Filmtheorie (2016) auszuwählen demischen Filmhochschulen ihre Ausbildung (siehe Anhang), die dann um drei weitere für erfahren hatten. Mit den Filmen das Buch ergänzt wurden, war kein leichtes Un- (Hexenkessel, 1973) und Taxi Driver (1976) terfangen. Wie in den Jahren zuvor haben die schon früh bekannt geworden, umfasst seine Herausgeber versucht, aus den verschiedenen Filmografe inzwischen alle Genres – vom Schaffensperioden solche Beispiele auszuwäh- Gangsterdrama über Komödie und Melodrama len, die für Scorseses Œuvre repräsentativ sind. bis hin zum Musical – sowie eine ganze Reihe Dabei werden The Color of Money (Die Farbe bemerkenswerter Dokumentarflme. Obwohl des Geldes, 1986) und Shutter Island (2010) je- er den flmischen Stil immer wieder dem Sujet weils von zwei Autoren interpretiert, sodass an anpasst und selbst erklärt, aus jeder Filmarbeit diesen Beispielen ein die jeweiligen Perspekti- zu lernen, was auch immer wieder bedeutet, ven vergleichendes Lesen möglich wird; Hugo etwas Neues auszuprobieren, ist er ein klassi- (Hugo Cabret, 2011) schließlich wird einerseits scher »auteur« in dem Sinne, dass er selbst seine psychoanalytisch interpretiert, andererseits in Filme maßgeblich gestaltet und prägt, sie von einer Bildcollage quasi-flmisch in seiner bildli- der Stoffauswahl bis zum Endschnitt kontrol- chen Intensität, soweit dies das Medium »Buch« liert. Scorseses Filme können sowohl einzeln zulässt, vorgestellt. wie im Kontext miteinander und in Einbettung Den Einzelinterpretationen sind drei Über- in die amerikanische und europäische Filmge- blicksarbeiten über zentrale Dimensionen von

7 Einleitung und Überblick

Scorseses Schaffen, die Bedeutung des Opfers in der Kreuzigung) und des Selbstopfers in diesen seinen Filmen und seine Verwendung von Mu- Filmen, beginnend mit Who’s That Knocking at sik vorangestellt. – Der nachfolgende Überblick My Door? (Wer klopft denn da an meine Tür?, über die einzelnen Beiträge greift auf die ihnen 1967) über (Die Faust des Rebel- beigegebenen Zusammenfassungen zurück. len, 1972) und The Last Temptation of Christ Die Überblicksarbeit von Georg Seeßlen, Do- (Die letzte Versuchung Christi, 1988) bis hin zu yen der deutschen Scorsese-Forschung, hat zum The Wolf of Wall Street (2013). Er zeigt, dass Ziel, zentrale Aspekte der Arbeit des Filmema- Opfermythen ein Schlüssel zum Verständnis chers Martin Scorsese zu beschreiben, eine Ar- des katholisch geprägten Regisseurs sind. Das beit, die Seeßlen als eine Koproduktion mit für Scorsese zentrale Thema der Gewalt wird der der Fangemeinde versteht. Kino ist in un- auch in einen Bezug zum Heiligen gestellt, wie terschiedlicher Weise eine zusammengesetzte ihn Georges Bataille in seiner Philosophie der Kunst, wobei die Auseinandersetzung des Re- Grenzüberschreitung thematisiert hat. gisseurs mit der Produktionsmaschinerie des Wie Dietrich Stern darlegt, hat Scorsese der Films eine zentrale Rolle spielt. Damit ist ein Musik im Film eine bedeutende Rolle zugewie- wesentlicher Punkt berührt: die Auseinander- sen, die weit über die emotionale Begleitung setzung Scorseses mit der Traumfabrik Holly- der Handlung hinausgeht. Er sieht in Musik wood und die Schaffung eines künstlerischen das Dokument einer Zeit oder eines Lebensge- Kosmos aus seinen eigenen sozio-biografschen fühls, ja sogar sozialer Verhältnisse. Besonders Bedingungen heraus. In diesem Kosmos werden Rock- und Popmusik schienen ihm geeignet, die bestimmte Themen wie Gewalt und Sünde in Filmerzählung zu einem größeren Realismus hin immer wieder anderen Blickwinkeln untersucht. zu erweitern. Ihr gezielter Einsatz kann über die Die charakteristischen Elemente der flmischen psychosoziale Disposition der Filmprotagonisten Handschrift des Regisseurs sind der Blick, das aufklären. Der Autor geht dem Weg der Inspira- Bild und die mit ihnen verbundenen Verbote. tion nach, wie Scorsese aus seiner Musikbegeis- Im Team-up mit langjährigen Weggefährten terung, die durchaus auch fanartige Züge hat, wie (Cutterin), Michael die flmische Darstellung erweitert. Dabei wird Ballhaus (Kamera) und den Schauspielern Ro- gezeigt, dass die Vorliebe für die Popmusik nur bert De Niro und Leonardo DiCaprio ist so ein einen Teil des Einsatzes von Musik ausmacht. Werk entstanden, das dem Publikum in viel- Musikalische Möglichkeiten werden von Scor- fältiger Weise im Kino Lebenserfahrungen zu sese sehr umfassend bis hin zum Musical, zur machen erlaubt. Klassik und Avantgarde ausgelotet. Jeder seiner Marcus Stiglegger geht von einem engen Be- Filme bekommt so seine spezifsche musikalische zug zwischen Mythos und narrativen Medien »Ausstattung«, die gleichwertig neben Dreh- aus. Dabei ist im Hinblick auf Scorsese die Op- buch, Kameraführung und Handlung steht. fertheorie René Girards das leitende theoreti- Die Reihe der Einzelanalysen beginnt mit sche Dispositiv. Im Sinne von Girard ist die Taxi Driver (1976), dargestellt von Helmut Theorie des Blutopfers Teil der Mythologie und Däuker. Der von chronischer Schlafosigkeit somit indirekt auch Teil populärer Mediennar- und quälender Einsamkeit verfolgte Vietnam- rative, wie man sie speziell in Scorseses Filmen veteran Travis Bickle durchstreift Nacht für fndet. Auf dem Boden einer Skizze der hier re- Nacht mit seinem Taxi New York. Seine Ver- levanten Theorieelemente untersucht der Au- suche, Kontakt zu Frauen aufzunehmen, stoßen tor mythologische Motive des Blutopfers (etwa auf Abweisung, was ihn kränkt und demütigt.

8 Einleitung und Überblick

Travis gerät zusehends in den Bann der Obses- des Hollywoodkinos. Er erzählt die Wiederge- sion, New York vom »Dreck und Abschaum« burt eines 60-jährigen Mannes, der in die Kul- reinigen zu müssen, und legt sich ein Arse- tur des Billardspiels und des Billardgeschäfts nal von Waffen zu. In einer Schlüsselszene des seiner Jugend zurückzukehren versucht. Das Films – vor einem Spiegel stehend attackiert er Interesse am Billard organisiert den manifesten hoch bewaffnet seinen imaginären Gegner, der Kontext. Die Spannungen der Rivalität und des gleichzeitig er selbst ist, mit dem berühmt ge- wechselnden Begehrens konturieren den Sub- wordenen »You talking to me?« – offenbart sich text des adoleszenten Driftens, der Desorien- das ganze Ausmaß der Ausweglosigkeit, in die tierung und des Wartens auf die Realisierung Travis geraten ist. Unfähig zur Selbstbegegnung der Beziehungswünsche. Das Narrativ verpufft bzw. Selbstrefexion muss er den ganzen de- am Ende in des Protagonisten Ausruf forcier- pressiven Gefühls-»Dreck« auf andere projizie- ter Adoleszenz »I’m back!« Darüber hinaus re- ren. Gewalt wird zum alternativlosen Selbsthei- alisierte Scorsese mit The Color of Money eine lungsversuch, kulminierend in einem Blutbad. vorsichtig-selbstkritische Refexion über sein Es scheint nur, als habe der eruptive Gewaltaus- künstlerisches Überleben in der Kinoindustrie. bruch kathartisch gewirkt, die Schlussszene des Die von Jochen Hörisch vorgelegte Inter- Films lässt aber wenig Zweifel, dass die Gewalt pretation von The Color of Money (1986) ist sich fortsetzen wird. Die Filmbetrachtung fo- zunächst psychoanalytisch orientiert, weil der kussiert u. a. das Phänomen des Blicks. Film für den Autor in geradezu klassisch zu Gerhard Bliersbach sichtet zwei Filme Scor- nennender Weise um Themen wie die Vater- seses: The King of Comedy (1982) und The Color Sohn-Konstellation, Narzissmus bzw. narziss- of Money (1986). Das Material seiner Analyse tische Kränkungen sowie phallokratische Re- sind die sich im Erlebensprozess konturieren- quisiten wie den Billardqueue kreist; ferner den, selbstrefexiv erschlossenen Subtexte als kontrastiert er stoffich vermittelte Suchtpro- Produkte der Begegnung mit den beiden flmi- bleme (Alkoholismus) mit dem Problem einer schen Narrativen. The King of Comedy ist eine nicht stoffich vermittelten Sucht (Spielsucht). tief ironische Farce über die Unterhaltungsin- Darüber hinaus wird in einer medientheoreti- dustrie. Vor allem aber ist der Film eine Skizze schen Perspektive das Geld thematisiert, auf der mit einer wütenden Verzweifung unterfüt- das schon der Filmtitel verweist. »Wer gewinnt, terten Not eines Lebens, das von der süchtigen verliert; wer verliert, gewinnt« ist ein Leitmotiv Suche nach der Realisierung der internalisier- des Films. Scorsese greift damit den Topos vom ten Objektbeziehungen des Protagonisten mit betrogenen Betrüger auf und thematisiert die den Akteuren auf der Leinwand oder Matt- Funktion von subtil vermittelter Intersubjekti- scheibe getrieben ist, wobei die Wirklichkeits- vität, für die das Billardspiel ebenso symbolisch grenzen verschwimmen und ein schwer erträg- einsteht wie das Medium Geld. In diesem Kon- liches Grundgefühl der Exklusion entsteht. Der text wird abschließend die Macht des Geldes zweite Subtext ist der vom Film ermöglichte als (transhumanes) Distanzmedium erkennbar. Blick des Autors in den Abgrund seines eige- Kai Naumann diskutiert in einer flmwis- nen lebenslangen Kinointeresses. Der dritte senschaftlichen Perspektive insbesondere den Subtext betrifft die Refexion des Filmemachers formalen Aspekt der Inszenierung von Scorse- Scorsese über seine abhängige, prekäre Existenz ses Mafaepos GoodFellas (1990). Im Hinblick und Position in der Filmindustrie. – The Color auf seine Rasanz, die flmisch auf unterschied- of Money ist eine Arbeit in der Erzähltradition liche Weisen erzeugt werden kann (z. B. hohe

9 Einleitung und Überblick

Schnittfrequenzen, schnelle Kamerabewegun- Katharina Leube-Sonnleitner geht in ihrer gen) ist das Epos ein Film der Extreme. Inhalt- Analyse von Scorseses The Age of Innocence lich widmet sich das Biopic dreißig Jahren im (Zeit der Unschuld, 1993) von der gleichnami- Leben des Gangsters Henry Hill und beleuchtet gen literarischen Vorlage von Edith Wharton dessen Aufstieg und Fall im kriminellen Milieu (1921) und einer deutend vertieften Inhaltsan- New Yorks ab den 1950er Jahren. Das Leben gabe des Films aus. Sodann werden zwei zen- Hills wird als eine rasante Collage aus Bildern trale Thesen ausgeführt. Zum einen kann der und Ereignissen dargestellt. In seinem Film er- Film gesehen werden als poetische Illustration schafft Scorsese eine Radikalität der Ereignisse einer prolongierten Melancholie mit der wie- mittels Geschwindigkeit. Der Fluss der Situa- derholten Reinszenierung des traumatisch er- tionen speist die episodische Struktur und un- lebten Verlusts des Liebesobjekts, wodurch die terbindet Atempausen und Refexionen sowohl Depression selbst zum gehegten inneren Ob- für die Filmfguren als auch für den Zuschauer. jekt wird, das nicht aufgegeben werden kann. Das rasante Zusammenspiel von Musik, Bewe- Zur Erläuterung werden Thesen von Sigmund gungen und flmsprachlichen Operationen als Freud, Nicolas Abraham und Maria Torok so- Grundlage für eine Erzählung über das Gangs- wie Julia Kristeva herangezogen und mitein- termilieu machen aus GoodFellas in letzter Kon- ander verglichen. Zum anderen illustriert der sequenz eine metamediale Meditation über den Film die Bedeutung von Phantasie, Sehnsucht Gangsterflm per se. und Erinnerung für das menschliche sexuelle Die nachfolgenden Diskussionen sind wie- Begehren. Ausgehend von Jean Laplanches All- der psychoanalytisch orientiert. Hannes König gemeiner Verführungstheorie (1988) hat dies geht von den Veränderungen aus, die Scorsese insbesondere die deutsche Psychoanalytikerin in seinem Remake des Klassikers Cape Fear (Ein Ilka Quindeau im Gegenzug zum biologischen Köder für die Bestie, 1962) von J. Lee Thomp- Triebkonzept formuliert, worauf die Autorin in sons vornimmt. Diese Veränderungen wiegen ihren abschließenden Überlegungen rekurriert. schwer und geben dem zweiten Cape Fear (Kap Isolde Böhme legt der Analyse von The De- der Angst, 1991) eine völlig neue Bedeutung. parted (Departed – Unter Feinden, 2006) ihre Entstanden ist ein Film, dessen Handlung weit Gefühle beim ersten Sehen des Films zugrunde: mehr beinhaltet als bloß die spannend-erre- Sie fühlte sich verwirrt und eingeschüchtert, kör- gende Darstellung sadistischer Racheimpulse ei- perlich unwohl und gleichzeitig emotional ab- nes blutrünstigen Psychopathen. Darüber hinaus geschottet. Im Bemühen um einen roten Faden wirft Scorsese nämlich moralisch höchst prekäre bekam für sie die Eingangssequenz eine wichtige Fragen nach Gerechtigkeit, Freiheit und Erlö- Bedeutung. Sie zeigt im Stil einer Fernsehdoku- sung auf – Fragen, in die das Publikum dank mentation Straßenschlachten von den Rassen- geschickter, stilistischer Gestaltung des Regis- unruhen der 1970er Jahre und öffnet den Blick seurs direkt involviert wird. Aus diesem Grund auf ein gegenwärtiges, postmodernes Amerika, verwundert es kaum, dass der Konsum des Films in dem Identität unsicher und fragmentiert ist. bedrohliche Affekte im Zuschauer mobilisiert. Dieser Gedanke ließ sich an der Entwicklung der Inhaltlich tauchen dabei die Themen »Gewalt« Figuren bestätigen. Die Angriffe auf die Identität und »Gott« an zentraler Stelle auf. Der Autor werden besonders deutlich in der Figur des Billy stellt inhaltliche und formale Besonderheiten als Demütigung, Beschämung und mörderische des Films gegenüber und integriert sie im Ver- Bedrohung gezeigt. Sie fnden eine Entsprechung such einer psychodynamischen Gesamtdeutung. in der strukturellen Gewalt, die den Siegeszügen

10 Einleitung und Überblick der europäische Kultur und ihrer Fortführung in die erste Dekade des 21. Jahrhunderts scheint der amerikanischen Geschichte immanent und ein unausweichliches, unheimliches Gefühl von im neoliberalen Kapitalismus aufgegangen sind. Bedrohung zu sein – Signum einer Zeit, in der Auch Ralf Zwiebel geht in seiner Analyse undurchschaubare Manipulationen mit immen- von Shutter Island (2010) von seiner persönli- sen Konsequenzen an der Tagesordnung sind? chen Erfahrung mit dem Film aus. Auf dieser Gerhard Schneider interpretiert Scorseses Grundlage vertritt der Autor die Auffassung, Hugo (Hugo Cabret, 2013) im Hinblick auf das dass der Regisseur den Filmzuschauer in die Thema des Vaterverlusts, den der Protagonist, innere, psychotische Welt des Protagonisten der Junge Hugo Cabret, verarbeiten muss. Dies versetzt. Es geht dabei aber nicht einfach nur wird verbunden mit einer anderen Verlustthe- um die Erzeugung und Evokation entsprechen- matik, die den Filmpionier Georges Méliès be- der Ängste und Phantasien im Kinozuschauer. trifft, dessen bis dahin hoch geschätzten Filme Vielmehr wird Scorseses Film darüber hinaus mit dem Ersten Weltkrieg kein Interesse mehr als eine Erforschung verschiedener Bewusst- fanden, sodass er sich in eine Nische als Spiel- seinszustände verstanden, die als Reaktion auf zeughändler in einem Pariser Bahnhof zurück- schwere traumatische Erfahrungen auftreten. zog. Scorsese verknüpft ihre Schicksale in einer Innere und äußere Orte des Grauens, verstan- Weise, die den Verlust für beide zu einer inne- den als Metapher für Grausamkeit, Gewalt und ren Entwicklung führen lässt. Hugos Wunsch, unerträglichen seelischen Schmerz, lösen – wie über die Reparatur eines Schreibautomaten mit im Protagonisten – einen Selbstvernichtungs- dem verlorenen Vater wieder in Kontakt zu tre- impuls aus, der in Wahn, Selbstmord oder einer ten, transformiert sich in den Wunsch, über den anderen Form von Selbstzerstörung münden Kontakt mit dem Film-Vater Méliès selbst ein- kann. Verknüpft werden diese Überlegungen mal schöpferisch tätig zu werden. Méliès erlebt mit Fragen nach der prinzipiellen (Un-)Verän- die Wiedergutmachung, öffentlich anerkannt zu derbarkeit bzw. (Un-)Behandelbarkeit solcher werden, und kann hoffen, dass die Essenz sei- seelischer Bildungen. nes Schaffens, die Verbindung von Traum und Martin Bölle verdeutlicht zunächst anhand Rationalität im Film, in der Generation Hugos einiger Internetkommentare, wie rätselhaft weiterleben wird. In beiden Aspekten refektiert Shutter Island (2010) wahrgenommen wird. Vor Scorsese Aspekte seiner eigenen Entwicklung als dem Hintergrund einer genauen Inhaltsangabe Filme-Macher und als Filme-Bewahrer. wird dann erläutert, dass der Protagonist an ei- Der letzte Beitrag ist flmnah, soweit das im ner paranoid-halluzinatorischen Psychose leidet, Medium des Buchs möglich ist: Peter Bär lässt einer Erkrankung, in der extrem traumatische in seiner Bildcollage zu Hugo (Hugo Cabret, Lebensereignisse von ihm wahnhaft verarbeitet 2013) den Film selbst und seinen flm-histo- wurden. Diesen Wahn stellt der Film zumeist rischen Hintergrund visuell lebendig werden. aus der Innenperspektive des Protagonisten dar, Abschließend möchten die Herausgeber den sodass der Zuschauer selbst lange Zeit nicht zwi- Autoren für die Überlassung ihrer Arbeiten schen innen und außen unterscheiden kann. In danken. Peter Bär hat in Abstimmung mit ih- diesem Zusammenhang wird auch auf die darge- nen die Auswahl und Anordnung der Film- stellten Behandlungskonzepte eingegangen und bilder besorgt, Gerhard Schneider die Texte ein zeitgeschichtlicher Vergleich mit One Flew lektoriert. Over the Cuckoo’s Nest (Einer fog über das Ku- ckucksnest, 1975) skizziert. Charakteristisch für Gerhard Schneider

11

Martin Scorsese

Beschreibung der Arbeit eines Filmemachers

Georg Seeßlen

Der Filmautor und sein Publikum mit der ein Filmautor vermeidet, sich zu wie- derholen. Die Cineastin und den Cineasten Wie kann man die Arbeit eines Filmautors be- stellen wir uns im schlimmsten – aber dann schreiben? Und zwar so, dass man nicht nur auch gar nicht so schlimmen – Fall als eine Art ein Insiderwissen anhäuft, sondern Filme und audiovisuelles Bildungsbürgertum, im besten die Autorenschaft an ihnen nutzbar macht für aber als Mitbewohner einer gemeinsamen Kul- das Denken in die Welt hinein? Film ist nicht tur des Audiovisuellen vor, also nicht nur als nur Unterhaltung und nicht nur Kunst, Film pure Konsumenten audiovisueller Waren, son- ist auch Kommunikation. Daher zur Einstim- dern auch, wie das Jean-Luc Godard so schön mung eine Idee von Martin Scorsese: »Now formuliert hat, als Mitproduzenten. Ein Martin more than ever we need to talk to each other, Scorsese-Film ist immer ein Film von Scorsese, to listen to each other and understand how we von einer Reihe mehr oder weniger verschwore- see the world, and cinema is the best medium nen Mitarbeitern und Freunden, und ein Film for doing this.« Aber Cinema, das ist eben nicht von Ihnen und von mir. Also von Zuschauern, der endlose Fluss von Bildern und Worten al- die sich auf etwas einlassen wollen, die etwas lein, ein audiovisueller Ozean, sondern es geht mitbringen, die vielleicht sogar etwas riskieren auch darum, Positionen zu errechnen, Kurse beim Filmesehen. Eine Konsequenz dieser An- zu wählen, Häfen anzusteuern. Man benötigt schauung ist es wohl, dass man, wenn man von Leuchtfeuer, zum Beispiel, und eines dieser den Filmen von Scorsese spricht, immer auch Leuchtfeuer ist der Autor. ein wenig von sich selbst spricht. Natürlich erkennt jeder Cineast mit etwas Das Erkennen eines Filmautors durch seine Neugier, Erfahrung und analytischem Inter- Adressaten, nämlich die Cineasten im weitesten esse recht bald, wenn bei einer Filmemacherin Sinn, geschieht zunächst einmal intuitiv. Steven oder einem Filmemacher etwas Besonderes ge- Spielberg hat einmal davon gesprochen, dass es schieht, und spätestens nach dem dritten, vier- in Analogie zur Musikalität so etwas wie eine ten Film wird man, ob man es will oder nicht, Cinealität gebe, und gewiss gibt es auch eine eine Linie erkennen wollen, eine Entwicklung, Analogie zur literarischen Begabung, die cine- eine Konsequenz, und sei es die Konsequenz, matische Begabung. Solche Begabungen kön-

13 Georg Seeßlen nen gepfegt und durch Wissen erweitert wer- ben, die einem Apparat, einem System, einer den, aber offensichtlich bleibt ein Rest eines Maschinerie etwas abringt, was gleich darauf intuitiven, sehr persönlichen Zugangs. von dieser Maschine auch wieder gefressen wird. Jeder Film entsteht aus der Begegnung eines individuellen Willens mit einer in ständi- Das Kino als eine gem Wandel begriffenen Maschine. Die beiden zusammengesetzte Kunst Seiten sind aufeinander angewiesen, aber sie sind nicht wirklich eine Einheit. Und manch- Darin freilich steckt schon, ohne dass wir es mal befnden sie sich auch im Kampf mitein- bemerkt haben, eine sehr heftige These, näm- ander. Die Rollenmodelle für den Filmema- lich die, dass das Cinematografsche mehr ist cher reichen vom schieren Erfüllungsgehilfen als die Summe seiner Teile, nämlich das Musi- über den Subversiven, den ewigen Kämpfer, kalische, das Literarische, das Theatralische, das den Selbstermächtiger, den Scheiternden, den Bildnerische, das Malerische, das Skulpturale, Dissidenten bis zu jenem Meister, dessen Posi- das Architektonische, das Fotografsche, das tion mehr oder weniger gesichert ist, vielleicht, Choreografsche, das Körperdesign usw. Und weil er in der Lage ist, der Fabrik die kulturelle wenn es schon etliches erfordert, die einzelnen Weihe zu geben, ohne ihr Funktionieren ernst- Elemente, aus denen ein Film zusammenge- haft infrage zu stellen. setzt ist, zu beschreiben, wie schwierig wird es Ein Film enthält seine Produktionsge- erst, wenn wir beim eigentlichen, nämlich beim schichte deutlicher als es etwa ein Gemälde Cinematischen oder Cinematografschen sind. oder eine Komposition oder ein Roman tut. Das Kino ist mithin auf doppelte Weise Und der geübtere Blick erkennt in jeder Einstel- eine zusammengesetzte Kunst. Nämlich eine, lung noch das Wirken des individuellen Filme- die aus verschiedenen anderen Künsten zusam- machers – womit wir keineswegs nur den Re- mengesetzt ist, darin vielleicht am ehesten der gisseur meinen – und das Wirken der Maschine Oper verwandt, und eine, die aus arbeitsteili- und des Maschinellen. Im schlimmsten Fall, gen, teamhaften, in der Regel allerdings hie- und davon gibt es einige, sehen wir nur noch rarchisch organisierten Produktionsschritten die Ruine eines Films, ahnen wir nur noch, was entsteht, darin ist es am ehesten der Baukunst da entstanden sein könnte, wenn nur jemand verwandt. So wie der Architekt ein fertiges Bau- das Wirken der technisch-ökonomischen Ma- werk im Kopf haben muss, bevor er es ausfüh- schine gedrosselt hätte. Auf die Frage: »Wer ist ren lassen kann und bevor er noch während der ein guter Filmemacher, eine gute Filmemache- Entstehung auf neue Informationen reagieren rin?«, kann man antworten: »Jemand, der gute muss, so muss ein Filmemacher oder die, wie Filme im Kopf hat«, oder man kann antwor- man so, sagt Regie führende Person einen Film ten: »Jemand, der für die guten Filme, die er im Kopf haben, bevor er gedreht wird und un- im Kopf hat, den Kampf mit der Kinomaschine ter vielen äußeren und inneren Einfüssen auch aufnimmt.« Dies zum Thema Leidenschaft und noch seine Gestalt variiert. Kampfgeist – und dazu, warum es nicht scha- Das Kino ist aber auch insofern eine zu- den kann, wenn ein Filmemacher wie Scorsese sammengesetzte Kunst als es aus individuellen reden kann wie ein Maschinengewehr. »Es gibt Impulsen und technischen und ökonomischen zwei mächtige Kräfte, mit denen du es aufneh- Mechaniken entsteht. Einen Filmemacher kön- men musst«, sagt er, »das erste ist das Geld, und nen wir immer auch als eine Person beschrei- das ist einfach unser System. Das zweite sind

14 Martin Scorsese die Leute, die um dich herum sind, und wo du mente einer solchen, nun ja, Gemeinde die Kri- lernen musst, wann du ihre Kritik annehmen tik nennen. Vor noch nicht allzu langer Zeit war musst, und wann du Nein sagen musst.« dieses Element nicht unerheblich, heute ist diese Position einigermaßen abgeschwächt oder doch transformiert. Ein Filmemacher wie Scorsese hätte Aspekte der Werkbiografie in seinen Anfangsjahren nicht reüssieren können, wenn nicht die Kritik, und sehr speziell die Kri- Und da haben wir auch schon die erste Leitli- tikerin Pauline Kael, ihn mit Nachdruck unter- nie für die Auseinandersetzung mit der Werk- stützt und das Publikum gefordert hätte. (Abb. 1) geschichte eines Filmemachers: sein Verhältnis zur Maschine, sein Kampf mit der Maschine, seine Triumphe und Niederlagen. Wir könn- ten von Orson Welles, nur zum Beispiel, bei Weitem nicht so viel erzählen, das heißt: bei Weitem nicht so viel verstehen, wenn wir es nicht am Leitfaden seiner Triumphe, seiner Kämpfe und seiner Niederlagen in Bezug auf die Traumfabrik tun könnten. Und etwas ganz ähnliches gilt für Martin Scorsese. Seine ganze Arbeit steht unter dem Stern eines Innerhalb und Außerhalb von Hollywood, und das ist nicht zuletzt auch eine Kette von Missverständ- nissen und Aggressionen. Natürlich wissen die wahren Fans des Kinos von Scorsese um die Leiden bei den Oscarverleihungen: Ihr Künst- ler bekommt die Auszeichnung einfach nicht, und wenn, dann zur falschen Zeit zum fal- schen Werk. Aber das ist sicher nur ein kleiner Schatten einer einfachen aber nicht unbedeu- tenden Tatsache: Jemand wie Scorsese hat in der Traumfabrik nicht nur Freunde. Was uns im Übrigen schon zur zweiten Grundmelodie für eine cineastische Werkbio- grafe bringt: Der Künstler und sein Publikum. Abb. 1: Pauline Kael, Filmkritikerin So prekär das Verhalten eines Filmautors zu sei- (1918–2001) ner Maschine ist, so prekär ist es auch gegenüber etwas, das wir ein Stammpublikum oder eine Nach seinem Beginn bei dem legendären Pro- Fangemeinschaft nennen könnten: Menschen, die duzenten Roger Corman, der in Boxcar Bertha sich darin verbunden fühlen, dass sie gern über (1972) so viele Spuren hinterlassen hat wie der die Filme eines Regisseurs reden (einen Begleit- junge Regisseur Scorsese selbst, entwickelt sich diskurs erzeugen) und den jeweils nächsten Film zwischen Mean Streets (1973) und mit Neugier und Sehnsucht erwarten. Übrigens (1980) dieses spezifsche Scorsese-Publikum. könnten wir als eines der konstituierenden Ele- (Abb. 2)

15 Georg Seeßlen

stringierend sein kann wie die Maschine selbst. Von einem Regisseur wie Scor- sese wird immer wieder ein Scorsese-Film verlangt. Wie also reagiert eine solche Ge- meinde – wie gesagt: ein- schließlich eines entstande- nen kritischen Diskurses, einer »Vertextlichung« und das heißt Kanonisierung des Abb. 2: Dreharbeiten zu Mean Streets (Hexenkessel) (1973) Werkes –, wenn ein Mar- tin Scorsese einen Film wie The Age of Innocence (1993) dreht? (Abb. 3) Entweder man zeiht ihn des Verrates und fordert vehement die Rückkehr zu den alten Tugenden. Oder man folgt dem Meister ins cineastische Neuland. Oder aber, die wahrscheinlichste Lösung, man versucht den Kanon des Verständnisses zu erweitern und neue Fra- gen an das Werk zu stellen. Abb. 3: The Age of Innocence (1993) Im besagten Fall, der Wen- dung Scorseses von den feb- Es hatte die gleichen Hintergründe, die glei- rigen, katholischen und gewalttätigen Stra- chen musikalischen Vorlieben zum Beispiel, ßenflmen zu einem Kostümdrama, mag ein die gleichen Erfahrungen und die gleichen In- einfacher Satz des Autors selbst durchaus die teressen, nämlich, um es pathetisch zu sagen, Richtung für den Diskurs vorgeben. Der Satz eine Neuerfndung des (amerikanischen) Kinos lautet: »The Age of Innocence ist der grausamste wie der Filmemacher. Die Nähe zwischen den Film, den ich bislang gedreht habe.« So also drei Beteiligten, den Filmemachern, der Kritik mögen wir verstehen, was The Age of Innocence und dem Publikum, gehört zu den Glücksfäl- mit, sagen wir, Taxi Driver (1976) oder Raging len der Filmgeschichte, vergleichbar dem ita- Bull gemeinsam hat, nämlich eine Geste ge- lienischen Neorealismus, der Nouvelle Vague gen die von Menschen produzierte Grausam- in Frankreich, für einen kurzen Moment auch keit. Und wir folgen – oder wir tun es nicht – dem neuen deutschen Film. Prekär freilich ist Scorsese darin, auch neue Erzählweisen und diese Beziehung deshalb, weil eine solche vir- Stilelemente zu erproben. Auch hierfür gibt tuelle Gemeinde eine Anspruchs- und Erwar- er selbst einen guten Hinweis: Wenn er von tungshaltung generiert, die nicht minder re- seinen Filmen spricht, dann sagt er nicht, was

16 Martin Scorsese er mit ihnen gewollt hat, sondern er sagt, was mos der Straßengewalt in die Gewalt von kri- er mit ihnen gelernt hat. So legt er seinem minellen Netzwerken wie in GoodFellas (1990) Publikum auf eine für seine Verhältnisse eher oder kriminellen ökonomischen Maschinen, die sanfte Weise nahe, jeden Film auch als Kino- Spielbank in Casino (1995) oder die Blase des experiment und als Kinolektion zu verstehen. Finanzkapitalismus in The Wolf of Wall Street Das, was den Regisseur interessiert, wird von (2013), von direkten intimen familiären Bezie- immer neuen Seiten und mit immer neuen hungen wie in Alice Doesn’t Live Here Anymore Methoden angesehen. (1974) oder Raging Bull (1980) bis in religiöse Mythologien wie The Last Temptation of Christ (1988) bis (1997), von individuellen Motive und Themen Scorseses: Psychologien wie in The King of Comedy (1983) Gewalt und Sünde oder (1999) bis zu Gen- revariationen wie in Cape Fear (1991), Shutter So etwas ist natürlich der perfekte Einstieg in Island (2010) oder The Departed (2006), in de- die dritte Grundkomponente in der kritischen nen es immer um Konstruktion und Dekonst- Erzählung eines cineastischen Werks, nämlich ruktion von Identitäten und Masken geht, von die Entstehung mehr oder weniger konstanter der zersetzen Person, die sich in einen Archetyp Motive, Probleme, Themen, Settings, Charak- verwandeln will, wie in Taxi Driver (1976), bis tere usw. Man kann dies auf eine ziemlich ein- zum Archetyp in Aviator (2004), der sich als fache Frage reduzieren: Was interessiert diesen Person zersetzt. Filmemacher – an der Welt, an den Menschen, Vielleicht kann man, sehr grob gesprochen, an der Zeit, an den Beziehungen? die erste Hälfte der Arbeit Scorseses bezeich- Darauf gibt es immer vergleichbar einfache nen als Versuche über Menschen, die mit einer und eher komplexe Antworten. Die einfachen Anzahl Sünden leben, und die zweite Hälfte, liegen auf der Hand: Scorsese interessiert sich sozusagen von der Schattenseite aus gesehen, für die Gewalt, die Menschen einander an- darüber, wie Menschen mit der Sünde nicht tun, dafür, woher sie kommt und was sie mit mehr leben können. (Abb. 4) ihnen macht. Er fragt – dazu mag man auf den katholischen Hintergrund, einschließlich einer Lebensperiode, in der er mit dem Ge- danken vertraut war, das Priesteramt anzu- streben, verweisen – auf eine sehr spezifsche Weise nach Sünde, nach Schuld, nach Gnade und Erlösung. Scorsese selbst sagt zu seinen Figuren, dass sie herausfnden wollen – oder müssen –, mit wie viel Sünde sie leben können. Diese Frage – wir erinnern uns an die Strate- gie einer Verbreiterung des Kanons – weitet er Abb. 4: Harvey Keitel beim Beten in Mean im Verlauf seiner Arbeit aus, von der direkten Streets (Hexenkessel) Gegenwart, der nahen Vergangenheit – jene 1970er Jahre, die dann auch ein Bezugspunkt Aber natürlich ist das nur eine Frage des Blick- bleiben sollen – bis in die Vergangenheit etwa winkels oder auch eine der Wahl des Haupt- in (2002), vom Mikrokos- darstellers. Denn die Bruchlinie zwischen »mit

17 Georg Seeßlen der Sünde leben können« und »mit der Sünde Scorseses Methode nicht leben können« verläuft nicht an der zwi- schen Leben und Tod und nicht an der zwi- Damit ist schon etwas gesagt über das nächste schen Recht und Unrecht. Die Frage nach der Beschreibungsfeld für das Werk eines Filmema- Sünde ist zweifellos fundamental, das heißt, sie chers. Es geht nicht nur um Motive, Themen überschreitet alle Konventionen von Genres, und Geschehnisse, denen ein besonderes Inter- von Codes, von Diskursen, und wir könnten esse gilt und die in verschiedenen Zusammen- nun darüber, anhand der Filme von Scorsese hängen, Epochen oder Lebensbereichen unter- zum Beispiel, nachzudenken beginnen, warum sucht werden, sondern es geht auch um die Art, sie so kinematografsch ist. wie die Dinge von Interesse angesehen, unter- Man kann sich indes, um es einfacher zu sucht, behandelt werden. Bert Brecht nannte machen, ein paar Dinge vorstellen, die ein- so etwas schlicht »eine Methode«. fach in einem Scorsese-Film nicht vorkommen Martin Scorsese scheint zu jenen unglückli- können: ein Kerl, der entspannt auf seiner Ve- chen Filmemachern zu gehören, die zwischen ei- randa sitzt, eine Liebesbeziehung, die nicht nem ebenso treuen wie kritischen Publikum und vernichtet wird durch den Aufstieg und Fall den Anforderungen der Kinomaschine gefangen eines Mannes, der sich über die Macht def- sind. Wenn er in der Maschine reüssiert, scheitert niert, Menschen, denen Sprache weder Waffe er an seinem Publikum, und umgekehrt. Natür- noch Mysterium ist, ein nachhaltiges Happy lich ist es längst schon wieder ein Klischee von End, ein Problem, das sich durch Howard einem Klischee, dass Scorsese-Fans von ihrem Hawksschen Professionalismus lösen ließe, Filmemacher immer wieder nur einen Film über und schon gar nicht durch eine Hawksian kaputte Männer erwarten, die sich heillos in der Woman, und immer wird Scorseses genauer Gangsterwelt verstricken, von einem inneren Dä- Blick auf die Gesellschaft verhindern, dass es mon der Selbstzerstörung getrieben werden, der die Lösung in Form des »transzendentalen noch mehr als sie selbst die einzigen Menschen Stils« gibt, den direkten Übergang in eine an- betrifft, deren Liebe sie erlösen könnten und de- dere Welt. All dies zusammengefasst könnte nen erst, wenn sie ganz unten sind, der Moment man wohl sagen, dass es bei Scorsese nicht von Selbsterkenntnis und Gnade verheißen wird, den ungebrochenen Blick oder den Moment was sich dann freilich, im Gegensatz zu seinem des ungebrochenen Daseins gibt. Stattdessen zeitweiligen Mitstreiter Paul Schrader, als größtes brechen sich stets Wirklichkeit und Mythos aller Missverständnisse zeigt. Das Ende von Taxi aneinander, und zwar auf eine wechselseitige Driver, The Color of Money oder auch The De- Weise, sodass wir in seinen Filmen weder an parted lässt eine durchaus nihilistische Lesart zu. eine ungebrochene Wirklichkeit noch an ei- Und das gilt vielleicht auch für The Last Temp- nen ungebrochenen Mythos glauben können. tation of Christ: Das wirkliche Subjekt-Drama Dies macht die innere Unruhe seiner Filme und das, was die Gesellschaft, das Narrativ, der aus, auch und gerade dort, wo es eine schein- Mythos daraus machen, sind extrem voneinander bare äußere Ruhe gibt. So wenig Scorsese je- unterschieden. Von ihrem Ende her sind Scor- mals einen Western zustande bringen wird, so seses Filme in aller Regel vollkommen anders zu wenig wird ihm ein Feelgood Movie gelingen. verstehen, als wenn man der linearen Abfolge Seine Filme handeln nicht nur von unglück- seiner Syntagmen glaubt. lichen Menschen, sie handeln vom Unglück Sowohl mit einer cinematografschen Ge- des Menschen. stalt – nennen wir sie den Scorsese-Mann, der

18