NOT MACHT ERFINDERISCH Porträt
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NR. 87 HERBST 2020 WWW.BOOSEY.DE NOT MACHT ERFINDERISCH PortrÄT Open air, Streaming, kleine Formate, Neues, Bearbeitetes, Wiederentdecktes: Kreativ durch die Pandemie OPER MIT Abstand Die Oper in den Zeiten von Corona Ein erster Blick auf die Spiel- thischen Sommers erlebte diese jüngste Büh nenwerke wurden in die deutschen Arbeit von Johannes Kalitzke unter Ein- Spielpläne aufgenommen: das frühe Eight zeit 20/21 zeigt künstlerische haltung der nötigen Vorsichtsmaßnahmen Songs for a Mad King (1969) für nur ei- Wege durch die Krise. und Hygieneregeln ihre Uraufführung am nen Bariton (allerdings mit dem Ambi- 20. August in Villach. tus von über vier Oktaven) und sechs uberkulose in Paris, Cholera in Instrumentalist*innen sowie Mr. Emmet Venedig: Für Operngänger sind Die Neukonzeption einer zeitgenössi- Takes a Walk (1999) für drei von einem T Epidemien kein unbekanntes The- schen Filmmusik zu Stummfilmklassikern farbenreichen zehnköpfigen Ensemble ma. Im heutigen Europa selten, sind diese stellt einen Schwerpunkt in Kalitzkes begleitete Stimmen. Krankheiten weltweit weiterhin eine prä- Schaffen der letzten zehn Jahre dar: Sei- sente Bedrohung. Die Ausbreitung des ne Partituren zu den Filmen Die Weber Als megalomanischen König konnte das Corona-Virus traf in diesem Jahr auch (1927), Orlacs Hände (1924) und Schatten Publikum im vergangenen Juni in der den „Alten Kontinent“ mit voller Wucht. (1923) benutzen eine moderne Klang- Bayerischen Staatsoper Holger Falk in ei- Das kulturelle Leben, darunter die künst- palette und setzen selbstbewusst eigene ner Inszenierung von Andreas Weirich er- lerischen Arbeitsweisen und technischen inhaltliche Schwerpunkte, arbeiten aber leben. Unter der Leitung von Olivier Tardy Abläufe eines Opernhauses, kam im auch das Meisterliche der Filmbilder gingen der Sänger sowie das ihm ‚ausge- Frühjahr 2020 zum Erliegen. Publikum, aus der Frühphase der Cineastik heraus. lieferte‘ Ensemble an manch musikalische Künstler*innen auf und Mitarbeiter*innen So reflektiert der Komponist in der Mu- und schauspielerische Grenze. Die The- hinter der Bühne, Organisator*innen und sik stets die künstlerische Intention der men Wahnsinn und Macht, Isolation und Dramaturg*innen mussten sich in den Filme macher und die angewandten filmi- Selbstdarstellung, von einer polystilisti- vergangenen Monaten blitzschnell an schen Stilmittel, darunter experimentelle schen, unvorhersehbaren Musik getra- neue Realitäten und strenge Vorgaben Schnitttechniken und ungewöhnliche Per- gen, machen das neo-expressionistische anpassen. Trotz der Umstände sind große spektiven. Drama zu einem alles andere als bloß und kleine Opernerfolge zu verzeichnen. historischen Stoff. Am Theater Freiburg Wir stellen einige herausragende Produk- Neben drei Soli, vollem Symphonieor- wird im Oktober 2020 Regisseur Herbert tionen des stürmischen Opernjahres vor. chester und Sängerknaben greift der Kom- Fritsch Maxwell Davies’ Mr. Emmet Takes ponist in Jeanne d’Arc zur Darstellung der a Walk inszenieren, ein philosophisches Jeanne d’Arc inneren Welt der Figuren auch auf elek- wie befremdliches Spiel mit Identitäten von Johannes Kalitzke troakustische Klänge zurück. Diese musi- und Figuren, Rollen und Perspektiven. kalische Fülle erfordert zwei Subdirigen- Die Exzentrik weicht dabei auf der Bühne Die Wortneuschöpfung „Film-Kirchen- ten an der Seite des die Synchronisierung wie in der Partitur einer post-modernen oper“ als Gattungsbestimmung lässt be- zum Film wahrenden Hauptdirigenten. Mehrschichtigkeit. reits den Umfang des Projektes erahnen: Mit einer hinzukommenden Dramaturgie die Ebenen der „stummen“ Filmbilder von – für die zusätzlichen Szenen zeichnet die Carl Theodor Dreyers Filmmeisterwerk Librettistin Kristine Tornquist verantwort- La Passion de Jeanne d’Arc (1928), einer lich – entsteht ein gattungsübergreifendes weiterführenden Dramaturgie sowie einer Werk mit psychologischem Tiefgang. Im neukomponierten und live aufgeführten Sommer 2021 ist eine szenische Auffüh- „Tonspur“ bedurften einer durchdachten rung geplant. Verzahnung. Als Auftragswerk des Carin- Kammeropern von Peter Maxwell Davies Unser Titelbild Ein Projekt von vergleichbarem Format ist Brenden Gunnell (Mademoiselle in Deutschland im Herbst 2020 wohl sel- Bouillabaisse) und Matthew Rose ten zu finden. Dafür sind beim Lesen der (The Police Inspector) in Jacques oft vorläufigen Spielzeithefte der Opern- Offenbachs Mesdames de la Halle und Konzerthäuser neben den „Platzhir- beim diesjährigen Festival von schen“ des Repertoires einige spannende Glyndebourne. Mehr dazu sowie (Wieder-)Entdeckungen zu machen. Dazu zu weiteren aktuellen Offenbach- gehören Produktionen der Musikthea- ilfried Hösl Events lesen Sie ab Seite 10. terwerke von Sir Peter Maxwell Davies. W Eight Songs for a Mad King in München Zwei seiner kammermusikalisch besetzten Foto: Neumüller Ferdinand Foto: 2 | NOTA BENE | HERBST 2020 OPER MIT Abstand Neufassung Eugen Onegin Die neuen Anforderungen an große wie kleine Opernhäuser sind enorm. Eine schlagartig notwendig gewordene Distanz im Zuschauerraum, auf der Bühne und im Orchestergraben stellt viele menschliche Gewohnheiten und architektonische Tra- ditionen in Frage. Eine Reduzierung des Publikums wie der Orchesterbesetzung mit dem Ziel, den nötigen Abstand ein- zuhalten, scheint zunächst die logische Konsequenz, um den gerade in der Krise so notwendigen Kulturbetrieb überhaupt aufrechterhalten zu können. Dass diese Reduktion sich künstlerisch fruchtbar ma- chen lässt, beweist die gerade fertigge- stellte kammermusikalische Fassung von Tschaikowskys Eugen Onegin durch Phi- lipp Vandré, seines Zeichens erfahrener Jeanne d’Arc beim Carinthischen Sommer Musiker wie vielseitiger Musikkenner. Die Bearbeitung will nicht den großen Orches- fe auszulegen, wo nötig zu ergänzen. Ab In seinen Opern, für wenige Rollen und terklang der Originalpartitur mit einem im dem 3. Dezember wird in den Häusern kleine Ensembles, oftmals sogar für Kla- Gegensatz dazu beinahe minimalistisch Düsseldorf und Duisburg mit jeweils ei- vierbegleitung ausgelegt, reicht Rorem anmutenden Ensemble aus fünf Bläsern nem Aufzug pro Abend gespielt. Kloke oftmals eine halbe Stunde, um auf eine und fünf Streichern simulieren. Das drei- sieht bei dem einflussreichen wie klang- ureigene Art Geschichten anzudeuten fache, überschäumende Forte der ex- starken Bühnenwerk über die radikale und Fragen aufzuwerfen. Zuletzt konn- travaganten Tutti-Stellen wäre bei dieser Liebe bewusst von einer Reduzierung ab. te man hierzulande Einakter wie Bertha Fassung fehl am Platz. Dafür eröffnet die Durch eine musikalische Neuaufteilung oder Three Sisters who are not Sisters er- elegante Intimität des Klanges einen tie- bringt er die hygienischen Anforderungen leben. Sein Bühnenwerk Our Town nach feren Einblick in die emotionalen Wand- an die Aufführung mit der inneren Struk- Thornton Wilder, mit kleinem Orchester, lungen der zwischen Hoffnung und Zu- tur der Oper in Einklang. So fasst er die harrt noch der deutschen Erstaufführung. rückweisung pendelnden Figuren. Gerade räumliche Trennung zwischen Musikern Die Kammeropern Rorems könnten nicht bei dieser Oper, die Tschaikowsky selbst nicht als notwendiges Übel, sondern als nur wegen der derzeitigen Einschränkun- mit dem Untertitel „Lyrische Szenen“ ver- eigenständiges Gestaltungsmittel auf: gen eine Bereicherung für die Spielpläne sieht und damit bewusst die Aufmerksam- Während das kleinbesetzte Orchester der nächsten Jahre sein. Mit der ihnen ei- keit auf das zeitlos Aufwühlende der ge- die äußere Handlung vorantreibt, unter- gentümlichen abstrakten Ironie und einer scheiterten Liebe lenkt, eröffnet die neue streicht das kammermusikalische Ensem- zeitgenössischen, doch tonal-zugängli- Fassung durch die kammermusikalische ble die innere Perspektive der Figuren. chen Tonsprache könnten sie eine erfri- Feinheit und Transparenz den Gesangs- Thematisch und akustisch durchdacht, schende Leichtigkeit in die bevorstehen- stimmen neue Gestaltungsfreiräume. Die werden ebenfalls die Bühnenmusiken in den, vom „Neustart“ der Kultur geprägten Uraufführung der Vandré-Fassung am 10. die tiefenscharfe Fassung eingebettet. Spielzeiten bringen. Oktober leitet Oliver Weder am Thüringer Der Raum selbst wird bei dieser für die www.boosey.com/Rorem2023 Landestheater Rudolstadt, Regie: Daniel baulichen Gegebenheiten der Opernhäu- Klajner. Eine weitere Produktion folgt ab ser maßgeschneiderten Bearbeitung zu 4. Dezember am Landestheater Detmold einem eigenständigen Protagonisten, die Beachten Sie auch unseren (Team: Lutz Rademacher & Karen Stone). räumliche Dimension der Musik sinnlich neuen, diesem Heft beiliegenden erfahrbar. Die Düsseldorfer Symphoniker Themen-Katalog Kammeroper: Tristan und Isolde am Rhein werden bei den Aufführungen von Axel Kober geleitet, Regie führt Dorian Dreher. Einen gänzlich anderen Weg geht Eber- hard Kloke bei seiner Bearbeitung von Ausblick: Ned Rorem Wagners Tristan und Isolde für die Deut- sche Oper am Rhein. Selbst ein erfahrener Ned Rorem, einer der profiliertesten US- Dirigent, ehemals als Generalmusikdirek- Komponisten, wird 2023 seinen 100. Ge- tor in Ulm, Freiburg, Bochum und Nürn- burtstag begehen. Ein Jahrhundert voller berg tätig, beschäftigt er sich seit Jahr- ununterbrochener Schaffenskraft brach- zehnten mit der Kunst der Interpretation te einen reichhaltigen Katalog – Rorem durch Bearbeitung. In zahlreichen Tran- schuf über 500 Kunstlieder, Symphonien, ilfried Hösl skriptionen und Orchestrierungen von Chorwerke und veröffentlichte zwölf Bü- W Konzert- und Bühnenwerken