ALLES BUCH Studien Der Erlanger Buchwissenschaft LXI 2017
Total Page:16
File Type:pdf, Size:1020Kb
ALLES BUCH Studien der Erlanger Buchwissenschaft LXI 2017 Axel Kuhn / Sandra Rühr (Hrsg.) Kommunikative Funktionen des Buchs I: Moral, Tabus und Skandale in der Buchkommunikation ALLES BUCH STUDIEN DER ERLANGER BUCHWISSENSCHAFT LXI Herausgegeben von Ursula Rautenberg und Axel Kuhn ISBN 978-3-940338-46-4 2017 Buchwissenschaft / Universität Erlangen-Nürnberg Alles Buch Studien der Erlanger Buchwissenschaft LXI Herausgegeben von Ursula Rautenberg und Axel Kuhn © Buchwissenschaft / Universität Erlangen-Nürnberg ISBN 978-3-940338-46-4 ISSN 1611-4620 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung der Erlanger Buchwissenschaft unzulässig und strafbar. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigungen jeder Art, Übersetzungen und die Einspeicherung in elektronische Systeme. Inhalt Bücher als Skandalmedien: Zur kommunikativen Funktion des Buchs 5 Barbara Blum Dorian Gray und Oscar Wilde: Mediale Übergänge zwischen literari- 9 schem und realem Skandal Anja Groß 37 Die vermeintliche Empörung im (Skandal-)Fall Esra Katharina Piske Underground Comix als visualisierte diskursive Praktik in den USA zwi- 74 schen 1940 und 1980 Britta Schmidtchen Feldpostausgaben im Zweiten Weltkrieg: Zur Manipulation von Moral- 103 vorstellungen durch die Nationalsozialisten Jennifer Schrepfer Der literarische Tabubruch Im Krebsgang von Günter Grass: Auslöser ei- 124 nes kollektiven Identitätswandels? 4 Bücher als Skandalmedien: Zur kommunikativen Funktion des Buchs Legt man die vage Definition des Buchs der UNESCO zugrunde, die das Buch als »non-periodical printed publication of at least 49 pages exclusive of the cover pages, published in the country«1 beschreibt, weist zunächst wenig auf ein Skandalmedium hin. Mit dem Zusatz »made available to the public«2 wird jedoch deutlich, dass sich Bücher nicht nur über materielle Merkmale charakterisieren lassen, sondern auch über ihre spezifischen Formen von Öffentlichkeit, welche sie für Informationen erzeugen können. Die damit verbundenen soziokulturellen Konsequenzen des Publizierens kön- nen dabei nur erfasst werden, wenn man sich Büchern als Medien in wissenschaftlich- funktionaler Perspektive nähert. Die Buchwissenschaft als zuständige wissenschaftliche Disziplin entstand aber aus dem Vorläufer der Buch- und Bibliothekskunde, die hauptsächlich von Bibliothekaren betrieben wurde. Diese konzentrierte sich vorwiegend auf die methodische Beschrei- bung von Handschriften und alten Drucken sowie die quellenbasierte, positivistische Aufarbeitung der Druck-, Verlags- und Buchhandelsgeschichte, zumeist exemplarisch anhand einzelner Personen, Verlage oder Publikationen.3 Die Ansätze buchwissen- schaftlicher Forschung waren und sind bis heute entsprechend weitgehend geisteswis- senschaftlich geprägt. Mit der gleichzeitigen buchwissenschaftlichen Themenerweite- rung auf Buchökonomie, Buchnutzung und Buchsoziologie sowie eine stärkere Fokus- sierung der Gegenwart werden aber gleichzeitig sozialwissenschaftliche Ansätze not- wendig, deren Integration in die Buchwissenschaft auch seit geraumer Zeit gefordert und gefördert wird. Ulrich Saxer schlug in seiner Analyse der Buchwissenschaft deshalb beispielsweise deren funktional eigenständige Positionierung als Medien- und Kom- munikationswissenschaft, die Abkehr von branchen- und bibliophiliegetriebener For- schung und die Entwicklung theoretischer Perspektiven auf ihre Kerngebiete vor.4 Die moderne Buchwissenschaft versteht sich deshalb als funktionale Erweiterung der Medien- und Kommunikationswissenschaft beziehungsweise als kulturelle Publi- zistikwissenschaft,5 steht aber erst am Anfang der Adaption und Transformation ent- sprechender kommunikationswissenschaftlicher, mediensoziologischer und kulturthe- oretischer Ansätze. Buchwissenschaft ist eine [w]issenschaftliche Disziplin, die zentral das Buch und – ungeachtet der einschränkenden Be- zeichnung – (in überwiegend historischer Perspektive) auch Einblattdruck und Flugpublizistik sowie periodische Publikationen wie Zeitung und Zeitschrift oder Almanach und Kalender als Medien schriftbasierter Kommunikation erforscht.6 1 UNESCO 1964. 2 UNESCO 1964. 3 Vgl. Rautenberg 2015, S. 102. 4 Vgl. Saxer 2010. 5 Vgl. Kuhn 2017. 6 Rautenberg 2015, S. 100. 5 Eine Erweiterung der Buchwissenschaft erscheint dabei auch deshalb notwendig, weil die disziplinäre Medien- und Kommunikationswissenschaft das Buch und dessen For- men bisher weitgehend zugunsten periodischer und audiovisueller Medien, politischer Kommunikation und Journalismus ignoriert. Die besonders in der Erlanger Buchwissenschaft verfolgte sozialwissenschaftliche Erweiterung erfolgt dabei unter Nutzung der interdisziplinär nutzbaren Mediendefini- tion von Ulrich Saxer: »Medien sind komplexe institutionalisierte Systeme um organi- sierte Kommunikationskanäle von spezifischem Leistungsvermögen.«7 Buchkommu- nikation definiert sich so als komplexes Mediensystem, welches gesellschaftliche Funk- tionen erfüllt, indem ihr ein spezifisches Leistungsvermögen für konkrete Aufgaben des sozialen Handelns und der sozialen Organisation attestiert werden kann. Das Leis- tungsvermögen der Buchkommunikation variiert dabei gleichzeitig in ihren jeweiligen historischen und soziokulturellen Kontexten und spiegelt sich in der materiellen und symbolischen Gestaltung von Buchobjekten wider.8 Bücher dienen somit der bewuss- ten oder unbewussten Erfüllung der Zielsetzungen und Bedürfnisse von Menschen, Organisationen oder sozialen Strukturen. Konkrete, systematisch spezifizierte soziale Funktionskataloge der Buchkommunikation jenseits von einer diffus bestimmten ›kul- turellen‹ Bedeutung sind bisher aber nicht entwickelt worden. Das Modul Kommunikative Funktionen des Buchs im Master-Studiengang Buchwis- senschaft der FAU Erlangen-Nürnberg thematisiert dieses Desiderat in einer grundle- genden Vorlesung und in einem zugehörigen explorativen Seminar, in dem die Studie- renden eigenständig spezifische Funktionen des Buchs benennen und auswählen, die sie in selbst gewählten und gemeinsam entwickelten Fallstudien erörtern. Hierzu fin- den und erarbeiten die Studierenden praxistaugliche funktionalistische Ansätze aus an- deren Disziplinen wie beispielsweise Soziologie, Politikwissenschaft, Kommunikati- onswissenschaft, Wirtschaftswissenschaft, Psychologie oder Pädagogik zu den jeweili- gen Funktionen und passen diese für die Buchkommunikation im Allgemeinen und ihre jeweiligen Forschungsprojekte im Speziellen an. Aufgrund des umfassenden Desi- derats der Betrachtung der kommunikativen Funktionalität des Buchs sowie ihres ex- plorativen Charakters veröffentlichen wir, durchaus unüblich für Seminararbeiten, die besten Fallstudien dieser Seminare, um erste Zugänge zu diesem neuen buchwissen- schaftlichen Forschungsfeld zu legen. Im Sommersemester 2016 wählten die Studierenden hierbei den Themenkomplex der Funktion des Buchs als Skandal- und gesellschaftliches Debattenmedium. Bücher fungieren dabei als Medium, welches Gegenstand und Mittel sozialer Diskurse sein kann: Bestimmte Formen oder Inhalte der Buchkommunikation werden zum Gegen- stand von Aussagen, die dem jeweiligen Buch oder Buchformat den Bruch institutio- nalisierter Normen und Werte zuschreiben. Die Form dieser Aussagen ist dabei in der Regel die Inszenierung als Skandal, welcher die notwendige Aufmerksamkeit erzeugt und die Normverletzung so öffentlich sichtbar macht. Skandaliert werden dabei, auch rückblickend, vor allem Autoren und Verleger als Personen, welche die Normverlet- zungen begehen, dulden oder bewusst fördern. 7 Saxer 2004, S. 140. 8 Vgl. ähnlich Ziemann 2009, S. 69. 6 Eine besondere Rolle spielen hierbei Medien mit großer Reichweite, die öffentliche Aufmerksamkeit auf Normverletzungen erzeugen, dabei aber gleichzeitig mediale Kampagnen und Gegenkampagnen auslösen, welche den Skandalverlauf maßgeblich darüber prägen, welche Positionen eingenommen werden, wie Normen re- und de- konstruiert werden sowie welche Form der Empörung über die Normverletzung ge- wählt wird.9 In diesem Rahmen kann Buchkommunikation auch selbst die Rolle des Skandalierers übernehmen und auf Normverletzungen aufmerksam machen. Hierbei wirken die medialen Eigenschaften der Buchkommunikation, ihre ökonomische Or- ganisation und spezifische Position im literarischen Feld auf die Inszenierung und den Verlauf des Skandals prägend zurück. Die ersten beiden Fallbeispiele dieses Bandes nehmen zunächst konkrete Skandale um Bücher in den Blick: Barbara Blum skizziert die Interdependenzen des Skandals um Das Bildnis des Dorian Gray und des ausschweifenden Lebenswandels seines Autors Oscar Wilde im viktorianischen England. Sie zeigt, inwiefern der literarische Skandal des Buchs zur Inszenierung des realen Skandals und dessen juristischer Aufarbeitung instrumentalisiert wird und welche Dynamik sich aus den Übergängen zwischen bei- den Skandalformen ergibt. Anhand ihrer Studie lassen sich zudem die beiden Dimen- sionen des Themenkomplexes nachvollziehen. Anja Groß beschäftigt sich anschließend mit dem jüngeren (vermeintlichen) Skan- dal um Esra von Maxim Biller und den dort im Mittelpunkt stehenden Grenzen lite- rarischen Schaffens. Sie setzt die mediale Erzählung des juristischen Streitfalls und des- sen tatsächlichen Ablauf in Beziehung und zeigt dadurch auf, dass der Skandal vor allem im literarischen Feld thematisiert und als Verteidigung künstlerischer Freiheit stilisiert wurde, dabei aber keine größere Öffentlichkeit erreichte und wenig Einfluss auf das richterliche Urteil