ALLES BUCH Studien der Erlanger Buchwissenschaft LXI 2017

Axel Kuhn / Sandra Rühr (Hrsg.)

Kommunikative Funktionen des Buchs I: Moral, Tabus und Skandale in der Buchkommunikation Alles Buch

Studien der Erlanger Buchwissenschaft

LXI

Herausgegeben von Ursula Rautenberg und Axel Kuhn

ISBN 978-3-940338-46-4 2017 Buchwissenschaft / Universität Erlangen-Nürnberg Alles Buch Studien der Erlanger Buchwissenschaft LXI

Herausgegeben von Ursula Rautenberg und Axel Kuhn

© Buchwissenschaft / Universität Erlangen-Nürnberg ISBN 978-3-940338-46-4 ISSN 1611-4620

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung der Erlanger Buchwissenschaft unzulässig und strafbar. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigungen jeder Art, Übersetzungen und die Einspeicherung in elektronische Systeme. Inhalt

Bücher als Skandalmedien: Zur kommunikativen Funktion des Buchs 5

Barbara Blum Dorian Gray und Oscar Wilde: Mediale Übergänge zwischen literari- 9 schem und realem Skandal

Anja Groß 37 Die vermeintliche Empörung im (Skandal-)Fall Esra

Katharina Piske als visualisierte diskursive Praktik in den USA zwi- 74 schen 1940 und 1980

Britta Schmidtchen Feldpostausgaben im Zweiten Weltkrieg: Zur Manipulation von Moral- 103 vorstellungen durch die Nationalsozialisten

Jennifer Schrepfer Der literarische Tabubruch Im Krebsgang von Günter Grass: Auslöser ei- 124 nes kollektiven Identitätswandels?

4

Bücher als Skandalmedien: Zur kommunikativen Funktion des Buchs

Legt man die vage Definition des Buchs der UNESCO zugrunde, die das Buch als »non-periodical printed publication of at least 49 pages exclusive of the cover pages, published in the country«1 beschreibt, weist zunächst wenig auf ein Skandalmedium hin. Mit dem Zusatz »made available to the public«2 wird jedoch deutlich, dass sich Bücher nicht nur über materielle Merkmale charakterisieren lassen, sondern auch über ihre spezifischen Formen von Öffentlichkeit, welche sie für Informationen erzeugen können. Die damit verbundenen soziokulturellen Konsequenzen des Publizierens kön- nen dabei nur erfasst werden, wenn man sich Büchern als Medien in wissenschaftlich- funktionaler Perspektive nähert. Die Buchwissenschaft als zuständige wissenschaftliche Disziplin entstand aber aus dem Vorläufer der Buch- und Bibliothekskunde, die hauptsächlich von Bibliothekaren betrieben wurde. Diese konzentrierte sich vorwiegend auf die methodische Beschrei- bung von Handschriften und alten Drucken sowie die quellenbasierte, positivistische Aufarbeitung der Druck-, Verlags- und Buchhandelsgeschichte, zumeist exemplarisch anhand einzelner Personen, Verlage oder Publikationen.3 Die Ansätze buchwissen- schaftlicher Forschung waren und sind bis heute entsprechend weitgehend geisteswis- senschaftlich geprägt. Mit der gleichzeitigen buchwissenschaftlichen Themenerweite- rung auf Buchökonomie, Buchnutzung und Buchsoziologie sowie eine stärkere Fokus- sierung der Gegenwart werden aber gleichzeitig sozialwissenschaftliche Ansätze not- wendig, deren Integration in die Buchwissenschaft auch seit geraumer Zeit gefordert und gefördert wird. Ulrich Saxer schlug in seiner Analyse der Buchwissenschaft deshalb beispielsweise deren funktional eigenständige Positionierung als Medien- und Kom- munikationswissenschaft, die Abkehr von branchen- und bibliophiliegetriebener For- schung und die Entwicklung theoretischer Perspektiven auf ihre Kerngebiete vor.4 Die moderne Buchwissenschaft versteht sich deshalb als funktionale Erweiterung der Medien- und Kommunikationswissenschaft beziehungsweise als kulturelle Publi- zistikwissenschaft,5 steht aber erst am Anfang der Adaption und Transformation ent- sprechender kommunikationswissenschaftlicher, mediensoziologischer und kulturthe- oretischer Ansätze. Buchwissenschaft ist eine [w]issenschaftliche Disziplin, die zentral das Buch und – ungeachtet der einschränkenden Be- zeichnung – (in überwiegend historischer Perspektive) auch Einblattdruck und Flugpublizistik sowie periodische Publikationen wie Zeitung und Zeitschrift oder Almanach und Kalender als Medien schriftbasierter Kommunikation erforscht.6

1 UNESCO 1964. 2 UNESCO 1964. 3 Vgl. Rautenberg 2015, S. 102. 4 Vgl. Saxer 2010. 5 Vgl. Kuhn 2017. 6 Rautenberg 2015, S. 100. 5

Eine Erweiterung der Buchwissenschaft erscheint dabei auch deshalb notwendig, weil die disziplinäre Medien- und Kommunikationswissenschaft das Buch und dessen For- men bisher weitgehend zugunsten periodischer und audiovisueller Medien, politischer Kommunikation und Journalismus ignoriert. Die besonders in der Erlanger Buchwissenschaft verfolgte sozialwissenschaftliche Erweiterung erfolgt dabei unter Nutzung der interdisziplinär nutzbaren Mediendefini- tion von Ulrich Saxer: »Medien sind komplexe institutionalisierte Systeme um organi- sierte Kommunikationskanäle von spezifischem Leistungsvermögen.«7 Buchkommu- nikation definiert sich so als komplexes Mediensystem, welches gesellschaftliche Funk- tionen erfüllt, indem ihr ein spezifisches Leistungsvermögen für konkrete Aufgaben des sozialen Handelns und der sozialen Organisation attestiert werden kann. Das Leis- tungsvermögen der Buchkommunikation variiert dabei gleichzeitig in ihren jeweiligen historischen und soziokulturellen Kontexten und spiegelt sich in der materiellen und symbolischen Gestaltung von Buchobjekten wider.8 Bücher dienen somit der bewuss- ten oder unbewussten Erfüllung der Zielsetzungen und Bedürfnisse von Menschen, Organisationen oder sozialen Strukturen. Konkrete, systematisch spezifizierte soziale Funktionskataloge der Buchkommunikation jenseits von einer diffus bestimmten ›kul- turellen‹ Bedeutung sind bisher aber nicht entwickelt worden. Das Modul Kommunikative Funktionen des Buchs im Master-Studiengang Buchwis- senschaft der FAU Erlangen-Nürnberg thematisiert dieses Desiderat in einer grundle- genden Vorlesung und in einem zugehörigen explorativen Seminar, in dem die Studie- renden eigenständig spezifische Funktionen des Buchs benennen und auswählen, die sie in selbst gewählten und gemeinsam entwickelten Fallstudien erörtern. Hierzu fin- den und erarbeiten die Studierenden praxistaugliche funktionalistische Ansätze aus an- deren Disziplinen wie beispielsweise Soziologie, Politikwissenschaft, Kommunikati- onswissenschaft, Wirtschaftswissenschaft, Psychologie oder Pädagogik zu den jeweili- gen Funktionen und passen diese für die Buchkommunikation im Allgemeinen und ihre jeweiligen Forschungsprojekte im Speziellen an. Aufgrund des umfassenden Desi- derats der Betrachtung der kommunikativen Funktionalität des Buchs sowie ihres ex- plorativen Charakters veröffentlichen wir, durchaus unüblich für Seminararbeiten, die besten Fallstudien dieser Seminare, um erste Zugänge zu diesem neuen buchwissen- schaftlichen Forschungsfeld zu legen. Im Sommersemester 2016 wählten die Studierenden hierbei den Themenkomplex der Funktion des Buchs als Skandal- und gesellschaftliches Debattenmedium. Bücher fungieren dabei als Medium, welches Gegenstand und Mittel sozialer Diskurse sein kann: Bestimmte Formen oder Inhalte der Buchkommunikation werden zum Gegen- stand von Aussagen, die dem jeweiligen Buch oder Buchformat den Bruch institutio- nalisierter Normen und Werte zuschreiben. Die Form dieser Aussagen ist dabei in der Regel die Inszenierung als Skandal, welcher die notwendige Aufmerksamkeit erzeugt und die Normverletzung so öffentlich sichtbar macht. Skandaliert werden dabei, auch rückblickend, vor allem Autoren und Verleger als Personen, welche die Normverlet- zungen begehen, dulden oder bewusst fördern.

7 Saxer 2004, S. 140. 8 Vgl. ähnlich Ziemann 2009, S. 69. 6

Eine besondere Rolle spielen hierbei Medien mit großer Reichweite, die öffentliche Aufmerksamkeit auf Normverletzungen erzeugen, dabei aber gleichzeitig mediale Kampagnen und Gegenkampagnen auslösen, welche den Skandalverlauf maßgeblich darüber prägen, welche Positionen eingenommen werden, wie Normen re- und de- konstruiert werden sowie welche Form der Empörung über die Normverletzung ge- wählt wird.9 In diesem Rahmen kann Buchkommunikation auch selbst die Rolle des Skandalierers übernehmen und auf Normverletzungen aufmerksam machen. Hierbei wirken die medialen Eigenschaften der Buchkommunikation, ihre ökonomische Or- ganisation und spezifische Position im literarischen Feld auf die Inszenierung und den Verlauf des Skandals prägend zurück. Die ersten beiden Fallbeispiele dieses Bandes nehmen zunächst konkrete Skandale um Bücher in den Blick: Barbara Blum skizziert die Interdependenzen des Skandals um Das Bildnis des Dorian Gray und des ausschweifenden Lebenswandels seines Autors Oscar Wilde im viktorianischen England. Sie zeigt, inwiefern der literarische Skandal des Buchs zur Inszenierung des realen Skandals und dessen juristischer Aufarbeitung instrumentalisiert wird und welche Dynamik sich aus den Übergängen zwischen bei- den Skandalformen ergibt. Anhand ihrer Studie lassen sich zudem die beiden Dimen- sionen des Themenkomplexes nachvollziehen. Anja Groß beschäftigt sich anschließend mit dem jüngeren (vermeintlichen) Skan- dal um Esra von Maxim Biller und den dort im Mittelpunkt stehenden Grenzen lite- rarischen Schaffens. Sie setzt die mediale Erzählung des juristischen Streitfalls und des- sen tatsächlichen Ablauf in Beziehung und zeigt dadurch auf, dass der Skandal vor allem im literarischen Feld thematisiert und als Verteidigung künstlerischer Freiheit stilisiert wurde, dabei aber keine größere Öffentlichkeit erreichte und wenig Einfluss auf das richterliche Urteil hatte. Katharina Piske greift das Thema der Buchkommunikation als skandalösen Gegen- stand und Mittel gesellschaftlicher Debatten in einer etwas weiteren Perspektive auf, indem sie den Diskurs um Comics als Gegenstand und die darauf basierende Gegen- bewegung der Underground Comix in den USA als visualisierte Praxis analysiert. Sie zeigt anschaulich, wie Diskurse um skandalöse Buchkommunikation geführt werden, welche Folgen diese haben und welche neuen diskursiven Aussagen in Form von ver- änderter Buchkommunikation sie erzeugen können. Die letzten beiden Arbeiten beschließen das Feld dann mit Fragen nach übergeord- neten Funktionen der Buchkommunikation als Faktor der Veränderung gesellschaftli- cher Wertvorstellungen. Britta Schmidtchen zeigt dabei auf, welche Rolle Feldpostaus- gaben für den Nationalsozialismus im Zweiten Weltkrieg hatten. Sie stellt dar, inwie- fern Buchkommunikation Einfluss auf moralische Werte nimmt und wie sie dafür in- strumentalisiert werden kann: Die Verschiebungen zwischen christlicher Moral, Kriegsmoral und nationalsozialistischer ›Kampfmoral‹ kommen dabei vor allem auch zustande, weil der Buchhandel seine finanziellen Interessen über die Lesebedürfnisse der Soldaten befriedigen wollte. Jennifer Schrepfer hinterfragt abschließend, ob Bücher Einfluss auf soziokulturelle Thematisierungen und deren Bewertung haben können. Anhand Günter Grassʼ Im

9 Vgl. Bulkow / Petersen 2011, S. 9–11. 7

Krebsgang analysiert sie den dortigen skandalösen Tabubruch und die damit verbun- dene mediale Agenda als Spiegel einer gesellschaftlichen Veränderung des Umgangs mit dem Schicksal der vertriebenen Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg. Die fünf Beiträge sind ein Spiegel eines interessanten und spannenden Seminars, das viele weitere Themen wie die Bildungsdebatte um Der Fänger im Roggen in den USA, die Positionierung des Springer Verlags zu veröffentlichten wissenschaftlichen Fälschungen, den Umgang mit Hitlers Mein Kampf in der Verlagsbranche, Digitalisie- rungskritik in Sachbüchern sowie Utopien und Dystopien im Buchhandel beinhaltete. Als Dozenten und Leser aller Arbeiten bedanken wir uns bei den teilnehmenden Stu- dierenden und hoffen, dass in den weiteren Jahrgängen viele weitere interessante Ar- beiten zum Themenfeld kommunikativer Funktionalität des Buchs hinzukommen. Erlangen, den 01.09.2017 Axel Kuhn und Sandra Rühr

Literaturverzeichnis

BULKOW, KRISTIN / PETERSEN, CHRISTER: Skandalforschung: Eine methodologische Einführung. In: Bulkow, Kristin / Petersen, Christer (Hrsg.): Skandale. Struktu- ren und Strategien öffentlicher Aufmerksamkeitserzeugung. Wiesbaden 2011, S. 9–25. KUHN, AXEL: Zeitschriften und Medienunterhaltung. Zur Evolution von Medien und Gesellschaft in systemfunktionaler Perspektive. Wiesbaden 2017. (im Druck) RAUTENBERG, URSULA: Buchwissenschaft. In: Rautenberg, Ursula (Hrsg.): Reclams Sachlexikon des Buches. Von der Handschrift zum E-Book. 3., vollständig überar- beitete und aktualisierte Auflage. Stuttgart 2015, S. 100–103. SAXER, ULRICH: Buchwissenschaft als Medienwissenschaft. In: Rautenberg, Ursula (Hrsg.): Buchwissenschaft in Deutschland. Ein Handbuch. Band 1: Theorie und Forschung. Berlin / Boston 2010, S. 65–104. SAXER, ULRICH: Mediengesellschaft. Auf dem Wege zu einem Konzept. In: Imhof, Kurt et al. (Hrsg.): Mediengesellschaft. Strukturen, Merkmale, Entwicklungsdyna- miken. Wiesbaden 2004, S. 139–155. UNESCO: Recommendation concerning the International Standardization of Statis- tics Relating to Book Production and Periodicals. URL: http://por- tal.unesco.org/en/ev.php-URL_ID=13068&URL_DO=DO_TOPIC&URL _SECTION=201.html [19.11.1964/01.09.2017]. ZIEMANN, ANDREAS: Von ›evolutionary universals‹ zu ›Leitmedien‹. Theoriehinter- gründe und Begriffsklärung. In: Müller, Daniel / Ligensa, Annemone / Gendolla, Peter (Hrsg.): Leitmedien. Konzepte, Relevanz, Geschichte. Band 2 (Medienum- brüche 32). Bielefeld 2009, S. 69–84.

8

Barbara Blum Dorian Gray und Oscar Wilde: Mediale Übergänge zwischen li- terarischem und realem Skandal

1 Der doppelte Skandal um Dorian Gray und Oscar Wilde

»I love scandals about other people, but scandals about myself don’t interest me. They have not got the charm of novelty.«1 Als der irische Schriftsteller Oscar Wilde dem Protagonisten seines einzigen Romans Das Bildnis des Dorian Gray diese Worte in den Mund legte, war er sich wohl kaum bewusst, dass nicht nur das Buch, sondern auch er selbst bald in einen Skandal verwickelt werden würden, welcher zur Zensur des Werks und zur Inhaftierung des Autors führen sollte. Das viktorianische England empfand den ausschweifenden Lebensstil des Romanprotagonisten Dorian als skandalös und übertrug dieses Empfinden wenige Jahre später auch auf die Lebensführung von Dori- ans Urheber Oscar Wilde. In dem 1890 erstveröffentlichten Roman fühlt sich der junge, attraktive und zu Beginn unschuldige Dorian, angestachelt von fragwürdigen Freunden, immer mehr der Zügellosigkeit zugetan. Als er feststellt, dass sein Porträt an seiner Stelle die Narben und Folgen seines selbstzerstörerischen Lebensstils trägt, sind Dorians Suche nach dem Rausch, der ihn in Londons Unterwelt und die Illegalität führt, keine Grenzen mehr gesetzt. Fünf Jahre nach der Veröffentlichung des Romans wurde dessen Autor Oscar Wilde wegen homosexuellen Handlungen, wie sie auch der Romanfigur unterstellt werden, angeklagt und verurteilt. Während Romanheld und Schriftsteller im 19. Jahrhundert einen Skandal auslösten, ist ihre Popularität heute größer denn je. Zahlreiche Verfilmungen und popkulturelle Beiträge nehmen Bezug auf Dorian, das personifizierte Aufbegehren gegen gesellschaftliche Restriktionen, nach welchem heute Nachtclubs und Cocktails benannt werden. Doch warum genau provozierten Das Bildnis des Dorian Gray und Oscar Wilde im 19. Jahrhundert eine solche Reaktion, welche dem heutigen Empfinden der fiktiven und historischen Person nicht ferner sein könnte? Dieser Frage geht die folgende Arbeit auf den Grund. Obwohl die Forschung und Literatur über Wilde und sein Werk, vor allem Das Bildnis des Dorian Gray, beinahe endlos ist, so scheint ein Aspekt der The- matik bislang weitgehend ignoriert worden zu sein: Der Skandal um Roman und Ver- fasser fließt zwar in die Betrachtungen mit ein, wird aber so gut wie nie zum Fokus der Untersuchungen.2 Während geschichtswissenschaftliche Quellen Oscar Wilde und dessen Leben sowie die viktorianische Gesellschaft in den Fokus rücken, beschäftigt sich die Literaturwissenschaft ausgiebig mit den künstlerischen Aspekten von Wildes Roman, allen voran dessen Ästhetik, den gotischen Motiven und der Rezeption seit Veröffentlichung. Obwohl auch hier die Diskrepanz zwischen den Moralvorstellungen

1 Wilde 1890a, S. 214. 2 Ari Adut bildet hier mit seinem Aufsatz A Theory of Scandal: Victorians, Homosexuality, and the Fall of Oscar Wilde die Ausnahme, doch auch er konzentriert sich auf das Element der Öffentlichkeit und wendet keine Skandalmodelle an.

9

im viktorianischen England und dem Inhalt von Wildes Werken und seinem Leben untersucht wird, werden die Skandale zwar als solche wahrgenommen und benannt, aber kaum je eigenständig untersucht. Mithilfe von Quellen aus dem 19. Jahrhundert wie Zeitungsartikeln, Briefen und einer Mitschrift der Wilde-Prozesse, moderner Skandalforschung, welche sich in den letzten 25 Jahren enorm entwickelte, und den daraus gewonnenen Erkenntnissen und Modellen sollen in dieser Arbeit explizit die Skandale im Zentrum stehen. Dem Buch als Medium wird dabei ein besonderer Stellenwert beigemessen: Es wird in Form des Romans einerseits als wesentliches Element der Skandale erachtet und andererseits im Kontext des viktorianischen Literaturbetriebs verortet. Ziel ist es, sowohl den literari- schen Skandal um die Veröffentlichung von Das Bildnis des Dorian Gray 1890/1891 als auch den Skandal um Oscar Wilde im Jahr 1894/1895 mit Schwerpunkt auf den beteiligten Akteuren zu untersuchen und die Übergänge zwischen literarischem und realem Skandal sowie die Instrumentalisierung des Buchs herauszuarbeiten. Nicht nur lösten die Themen des Romans aufgrund ihres Normbruchs mit der Moral der vikto- rianischen Gesellschaft einen Skandal aus, das Werk und die Reaktionen auf seine Ver- öffentlichung wurden auch im realen Skandal um Wilde, der ähnlicher Ausschweifun- gen wie sein Titelheld bezichtigt wurde, von allen Parteien im Skandal zugunsten ihrer Skandalnarration instrumentalisiert.

2 Theorie und Methodik

2.1 Begriffsannäherung und Definition von Skandal

Wir assoziieren heute den Begriff Skandal mit Wörtern wie ›Anstoß‹ und ›Aufsehen‹, auf die auch der Duden verweist.3 Ursprünglich jedoch kommt das Wort ›scándalon‹ aus dem Altgriechischen und bezeichnete das Stellholz, also den Auslöser, einer Tier- falle.4 Im Mittelalter war das Wort vor allem religiös besetzt, bis es sich schließlich in der frühen Neuzeit zu dem Begriff wandelte, welchen wir noch heute kennen und ge- brauchen und der auch auf den Analysezeitraum des 19. Jahrhunderts zutrifft.5 Neben dem Bereich der Wortbedeutung gibt es weitere Kriterien, die einen Skandal ausmachen, und so zu einem Definitionsversuch beitragen können. Burkhardt defi- niert das Wort Skandal folgendermaßen: »Es wird zu einem leeren Signifikanten, zu einem vereinheitlichenden Zeichen, für alles das, was das System gefährdet.«6 Einfacher ausgedrückt stellt ein Skandal einen Platzhalter für Verstöße gegen die gesellschaftliche Ordnung, also das soziale System dar, für welches es unter Umständen zur Gefahr werden kann. Bulkow und Petersen identifizieren zwei Ebenen eines Skandals: Zu- nächst die inhaltliche Ebene, welche sich in einer »Normüberschreitung gegen die in einer Gesellschaft vorherrschenden Wertesysteme«7 äußert. Erst auf der zweiten Ebene,

3 Bibliographisches Institut GmbH [Duden]: Skandal. 4 Vgl. Neckel 1989, S. 56. 5 Vgl. Burkhardt 2011, S. 137–138. 6 Burkhardt 2011, S. 138. 7 Neckel 1989, S. 57.

10

wo die Kommunikation über diese vermeintliche Normenüberschreitung stattfindet, entscheidet sich, ob es zum Skandal kommt oder nicht.8 Essentiell für die Wahrneh- mung einer Handlung als Skandal ist also nicht nur die eigentliche Tat, sondern auch und vor allem die öffentliche Kommunikation und Empörung darüber.9 Es lassen sich, wie auch Neckels Modell der Skandaltriade zeigt,10 drei notwendige Schritte für einen Skandal festhalten: Eine Verfehlung gegen die gesellschaftliche Norm, die öffentliche Kommunikation hierüber und daraus resultierend eine öffentliche Empörung über den Normverstoß. Burkhardt unterscheidet grundsätzlich zwischen drei Skandaltypen: dem Skandal, dem medialisierten Skandal und dem Medienskandal.11 Alle drei Typen erfüllen die oben aufgeführten Grundvoraussetzungen für einen Skandal: Verstoß, Kommunika- tion und Öffentlichkeit. Während ein Skandal sich auf lokaler Ebene abspielt und nur eine (Teil-)Öffentlichkeit, zum Beispiel eine Dorfgemeinschaft, erreichen kann, wird im medialisierten Skandal von Medien über einen Skandal berichtet und somit eine größere Öffentlichkeit erreicht.12 Im Medienskandal übernehmen die Medien nicht nur die Rolle des Kommunikators, sondern ebenfalls die des Denunzianten der Ver- fehlung, und produzieren den Skandal somit selbst.13 Da es sich in den vorliegenden Fällen beim Skandalgegenstand um ein Medium, den Roman Das Bildnis des Dorian Gray, handelt und die Medien in Form der Presse aktiv an beiden Skandalen beteiligt waren, bleibt für die genauere Betrachtung zu klären, um welchen Skandaltyp es sich jeweils handelt. Ein Faktor, der das mediale Interesse an einem Skandal erhöhen kann, ist die gesellschaftliche und moralische Stellung des Beschuldigten, wovon dessen ›Fall- höhe‹ abhängt.14 Auch dieser Aspekt ist hinsichtlich der Akteure in den konkreten Skandalen, vor allem des Schriftsellers Wilde, aber auch seiner Kontrahenten, wie etwa dem Marquess of Queensberry, in der Analyse zu bedenken. Ein letzter unerlässlicher Schritt für die Analyse von Skandalen ist deren zeitliche und kulturelle Einordnung, denn wie Bösch argumentiert, führt ein Ereignis in einer anderen Zeit oder einem anderen Wertesystem nicht notwendigerweise ebenfalls zu einem Skandal.15 Skandale können also ausschließlich vor dem Hintergrund ihrer ei- genen Zeit und Kultur betrachtet werden. Lösten Dorian Grays Ausschweifungen und Oscar Wildes Homosexualität im 19. Jahrhundert noch Empörung aus, so tragen sie heute allenfalls noch zu deren Popularität bei. Hierbei kann jedoch nicht die Ge- schichtsforschung alleine Skandale erklären, vielmehr erlauben diese auch Rück- schlüsse über ihre eigene Zeit.

8 Vgl. Bulkow / Petersen 2011, S. 12–14. 9 Vgl. Bösch 2011, S. 33 und 45. 10 Vgl. Neckel 1989, S. 58; siehe auch Kapitel 2.2 Das erweiterte Skandalmodell als Symbiose aus Neckels ›Skandal-Triade‹ und Burkhardts ›Skandalpersonal‹. 11 Vgl. Burkhardt 2011, S. 132–133. 12 Vgl. Burkhardt 2011, S. 133. 13 Vgl. Burkhardt 2011, S. 133. 14 Vgl. Bösch 2011, S. 33–34; Bulkow / Petersen 2011, S. 15–16. 15 Vgl. Bösch 2006.

11

Für die beiden hier zu betrachtenden Skandale müssen folgende Schritte identifi- ziert und untersucht werden: Das Auslösen des Skandals im Kontext des sozialen Sys- tems, die Kommunikation darüber und die öffentliche Empörung – soweit diese denn greifbar ist. Da die hier untersuchten Skandale über 100 Jahre zurückliegen, gibt es keine Möglichkeit mehr, die gesellschaftliche Stimmung einzufangen. Allerdings kön- nen vor allem durch Zeitungsartikel und überlieferte Aussagen noch Schlussfolgerun- gen über die gesellschaftliche Stimmungslage gezogen werden. Zusätzlich zu diesen Prinzipen muss der geschichtliche und kulturelle Rahmen einbezogen werden, vor des- sen Hintergrund die Skandale stattfanden und der diese maßgeblich bestimmte. Nur so kann die Moral, also die »Gesamtheit von ethisch-sittlichen Normen, Grundsätzen, Werten, die das zwischenmenschliche Verhalten einer Gesellschaft regulieren, die von ihr als verbindlich akzeptiert werden«,16 bestimmt und Verstöße gegen sie verstanden werden. Luhmann stellt für Moral besonders im Zusammenhang mit Kommunikation fest, dass diese nicht fixiert ist und sie im Diskurs immer von Neuem bestätigt werden muss.17 Auch hierin liegt einer der Gründe für das mediale Interesse an Verstößen ge- gen die Moral, da diese versuchen, sie zu erhalten oder durch neue Normen abzulösen, was auch im Skandal um Das Bildnis des Dorian Gray sichtbar wird. Da die beiden Skandale um Das Bildnis des Dorian Gray und Oscar Wilde sich gegenseitig bedingen, die Presse in beiden Fällen eine entscheidende Rolle spielt und das Skandalpersonal sich teilweise wiederholt, ist die Untersuchung mit Fokus auf die Akteure am vielver- sprechendsten. Um all die hier angestellten Überlegungen sinnvoll und geordnet an- wenden zu können, soll ein Skandalmodell entwickelt und hinzugezogen werden, wel- ches die definitorischen Aspekte eines Skandals und dessen Akteure einbezieht.

2.2 Das erweiterte Skandalmodell als Symbiose aus Neckels ›Skandal- Triade‹ und Burkhardts ›Skandalpersonal‹

Die Skandalforschung bietet verschiedene Modelle, um die Akteure eines Skandals zu untersuchen. Ein etabliertes Schema bietet Neckel mit seiner ›Skandal-Triade‹. In sei- ner Darstellung zeichnet sich ein Skandal durch drei Akteure aus: der Skandalierte (der einer Verfehlung von öffentlichem Interesse öffentlich bezichtigt wird), der Skandalierer (einer, der diese Verfehlung öffentlich denunziert) sowie ein, oder besser: mehrere Dritte, denen über das, was zum Skandal geworden ist, berichtet wird und die daraufhin eine wie auch immer geartete Reaktion zeigen.18 Die Grafik zeigt eine eigene, vereinfachte schematische Darstellung, basierend auf Ne- ckels Beschreibung (Abbildung 1). Neckels Modell erfüllt die meisten Kriterien der Definition eines Skandals. Als Akteure stehen der Skandalierte, welcher den Skandal begeht, und der Skandalierer, welcher den Skandal anzeigt, im Zentrum. Dabei müs- sen diese beiden Akteure nicht notwendigerweise reale Personen sein. Neckel betont

16 Bibliographisches Institut GmbH [Duden]: Moral. 17 Vgl. Luhmann 1996, S. 143. 18 Neckel 1989, S. 58.

12

auch die Unentbehrlichkeit einer (Teil-)Öffentlichkeit für den Skandal, welche im dritten Akteur, den wortwörtlichen Dritten, personalisiert wird.

Dritte (Berichterstattung über und Reak- tion auf Skandal)

Skandalierte Skandalierer (wird öffentlich Verfehlung be- (denunziert Verfehlung öffentlich) denunziert zichtigt)

Abbildung 1: Skandal-Triade. Aus: Neckel 1989, S. 58.

Diese Darstellung vereinfacht das Verständnis über die an einem Skandal beteiligten Akteure sowie deren Beziehung zueinander. Jedoch fehlen zwei wichtige Komponen- ten der Skandaldefinition, welche für die Betrachtung und Analyse der vorliegenden Skandale unerlässlich sind. Zum einen ist das die Rolle der Medien, welche hier höchs- tens in der Wiederholung und Betonung des Öffentlichen mitschwingt und sich im Schema unbenannt zwischen dem Skandalierten und Skandalierer auf der einen und den Dritten auf der anderen Ebene befindet. Zum anderen gibt es in Neckels Modell keine Einordnung des Skandals in seinen zeitlichen und kulturellen Kontext, was sei- ner Konzentration auf gegenwärtige politische Skandale geschuldet sein mag. In Burkhardts Modell des ›Skandalpersonals‹ (Abbildung 2) werden diese beiden Komponenten, die Medien sowie der kulturelle Rahmen, aufgegriffen. Er beschreibt es wie folgt: In der erzählerischen Rekonstruktion von Ereignissen, Handlungen, oder Zuständen, die als Me- dienskandale auf der sozialen Bildfläche der Medienöffentlichkeit von Journalisten als Skandali- sierern positioniert werden, vollzieht sich ein für das Verständnis des Medienskandals zentraler Transformationsprozess, indem die sozialen Akteure zu narrativem Personal umgedeutet werden: die Journalisten bzw. Skandalisierer werden zu Erzählern des Medienskandals; Mitglieder des sozialen Systems werden als Helden, Antihelden oder anderen Figuren der Erzählung positio- niert; und das Publikum in Form von ausgewählten Repräsentanten des Publikums (zumeist prominenten Vertretern des Systems Öffentlichkeit) wird zu Helfern des Helden oder Antihel- den.19

19 Burkhardt 2011, S. 136.

13

Obwohl Burkhardts Festlegung der Journalisten auf die Rolle der Skandalisierer über- eilt scheint,20 ist hier vor allem die Ergänzung um die ›Mediale Erzählung‹ und das ›Soziale System‹ ein notwendiges Analysewerkzeug. Die Mediale Erzählung beschreibt dabei den durch Medien geschaffenen Rahmen, in welchem der öffentliche Diskurs über den Skandal stattfindet und dessen Akteure, also nach Neckel Skandalierter und Skandalisierer, vom Publikum, also den Dritten, zu Helden oder Antihelden stilisiert werden. Sowohl der Skandal als Ganzes als auch diese Stilisierung kann nur vor dem Hintergrund des sozialen Systems stattfinden und untersucht werden, welches die po- litischen, kulturellen und gesellschaftlichen Normen festlegt, gegen die verstoßen wer- den muss, um einen Skandal zu erzeugen. Da sowohl der literarische Skandal um Das Bildnis des Dorian Gray sowie der reale Skandal um dessen Autor Oscar Wilde maß- geblich von den Normen des viktorianischen Englands und der medialen Aufarbeitung der Fälle bestimmt wurde, kann nur eine Symbiose aus Neckels und Burkhardts Mo- dellen eine ganzheitliche Erfassung der Skandale gewährleisten.

Abbildung 2: Skandalpersonal. Aus: Burkhardt 2011, S. 136.

Dies ergibt ein erweitertes, durchaus komplexes Modell. Es kann in drei Ebenen zerlegt werden, was das Verständnis erleichtert (Abbildung 3). Auf der ersten, untersten Ebene steht das soziale System, in diesem Fall das viktorianische England. Es definiert die Normen und Werte, also die Moral der Gesellschaft und bedingt somit direkt den Skandal, welcher einen Verstoß gegen dieses soziale System darstellt. Auf der zweiten, mittleren Ebene findet der eigentliche Skandal statt, wobei der Skandalierte einen Normbruch gegen dieses soziale System begeht und der Skandalierer diesen öffentlich anzeigt. Um zum Skandal zu werden, muss diese Anzeige von Dritten, also einer (Teil-)Öffentlichkeit als Verstoß gegen die Moral wahrgenommen werden. Auf der dritten, höchsten Ebene findet die mediale Erzählung über diesen Skandal statt, welche mit Hilfe der öffentlichen Reaktion die Akteure, den Skandalierer und Skandalierten,

20 Hierbei ist anzumerken, dass seine Definition von Skadalisierern nicht exakt mit Neckels ›Skandalie- rer‹ übereinstimmt, sondern an seine eigene Definition eines Medien-skandals angelehnt ist.

14

zum Held oder Antiheld der Narration stilisieren kann. Ein zusätzlicher, letzter Schritt in diesem Modell ist dabei die Konzentration auf den Untersuchungsgegenstand, Das Bildnis des Dorian Gray. Das Werk ist immer in seinem Entstehungskontext vor dem sozialen System des viktorianischen Englands zu betrachten, während es auf der zwei- ten und dritten Ebene sowohl von den Akteuren wie auch der medialen Erzählung des Skandals instrumentalisiert wird. Dieses Modell, im Folgenden als ›Erweitertes Skan- dalmodell‹ (Abbildung 4) bezeichnet, bezieht mit Fokus auf die Akteure alle Aspekte eines Skandals ein und dient der weiteren Untersuchung als Analysewerkzeug.

Abbildung 3: Ebenen eines erweiterten Skandalmodells.

Soziales System = Das viktorianische England

Dritte Mediale Erzählung (Berichterstattung über und Mediale Erzählung Reaktion auf Skandal)

Oscar Wilde: Das Bildnis des Dorian Gray

Skandalierer Skandalierte (denunziert Verfehlung öf- (wird öffentlich Verfehlung fentlich) denunziert bezichtigt)

Held oder Antiheld Held oder Antiheld

Abbildung 4: Erweitertes Skandalmodell.

15

3 Das soziale System des Untersuchungszeitraums: Homosexua- lität im viktorianischen England

Sowohl der literarische Skandal um Das Bildnis des Dorian Gray 1890 als auch der reale Skandal um dessen Autor Wilde 1895 spielten sich im sozialen System des späten vik- torianischen Englands ab, wo bereits Sex an sich als Tabuthema galt. Das gleiche traf in vielfacher Weise auf Homosexualität zu. Die Dimension dieser Homophobie spie- gelt sich auch in der Terminologie wider. Cocks schreibt: »A homosexual act was the ›unnatural‹ crime, it was a ›nameless‹, ›abominable‹ or ›infamous‹ offence, not even named in the press, but represented instead by a series of asterisks or dashed.«21 Show- alter argumentiert weiterführend, dass dies Homosexuelle zwang, ein Doppelleben zu führen, um ihre Sexualität leben zu können, ohne dabei ihr respektables heterosexuelles Leben zu gefährden22 – wie es auch bei den Charakteren in Das Bildnis des Dorian Gray und Oscar Wilde der Fall war. Homosexualität wurde in der viktorianischen Gesell- schaft weitestgehend ignoriert, nur wenn sie publik wurde, wurde sie gesellschaftlich strikt sanktioniert. Neben diesen sozialen Sanktionen mussten Homosexuelle, welche diesen ›Verbre- chens‹ öffentlich angeklagt und verurteilt wurden, auch mit rechtlichen Sanktionen rechnen. Bereits durch den Offences Against the Person Act von 1861 waren homosexu- elle Handlungen unter Männern strafbar.23 Dieses Gesetz wurde 1885, wenige Jahre vor der Entstehung von Das Bildnis des Dorian Gray, mit dem Labouchère Act (Sek- tion 11 des Criminal Law Amendment Act) von 1885 nochmals verstärkt. In diesem wird erklärt: Any male person who, in public or private, commits, or is in party to the commission of or procures (a) or attempts (b) to procure the commission by any male person of, any act of gross indecency (c), with another male person, shall be guilty of misdemeanor, and being convicted thereof shall be liable at the discretion of court to be imprisoned for any term not exceeding two years, with or without hard labour.24 Nach diesem Gesetz war nun jede Form homosexueller Handlungen, hier als ›gross indecency‹ bezeichnet, egal ob im privaten oder öffentlichen Raum, strafbar mit bis zu zwei Jahren Gefängnis.25 Obwohl auch im Privaten stattgefundene Straftaten verfolgt werden konnten, bedurften diese zunächst einer öffentlichen Anzeige. Aufgrund dieser Gesetzesgrundlage wurde auch Wilde 1895 für ›gross indecency‹ verurteilt.

21 Cocks 2007, S. 107. 22 Vgl. Showalter 2007, S. 372. 23 Vgl. Frankel 2012a, S. 15. Wie Adut ausführt, war der einzige Grund, homosexuelle Handlungen zwischen Frauen nicht strafrechtlich zu verfolgen, dass das weibliche Publikum erst durch öffentliche Gerichtsverhandlungen von der Existenz weiblicher Homosexualität erfahren und diese infolge dessen ausüben hätte können. Vgl. Adut 2005, S. 223. 24 Criminal Law Amendment Act 1885, S. 68. 25 Anders als der Term ›sodomy‹ (welcher sich im englischen Sprachgebrauch auf oralen oder analen Geschlechtsverkehr und nicht auf sexuelle Handlungen mit Tieren bezieht) umfasst ›gross indecency‹ alle Arten sexueller Handlungen zwischen zwei Männern. In den Wilde-Prozessen wird trotz der Ver- urteilung wegen ›gross indecency‹ häufig auch von ›sodomy‹ gesprochen. Vgl. Frankel 2012a, S. 8.

16

Nur fünf Jahre nach Verabschiedung des Labouchère Acts wurden die Gesetze in der sogenannten ›Cleveland Street Affair‹ von 1889/1890 – zu der Zeit, als Wilde Das Bildnis des Dorian Gray schrieb, – auf die Probe gestellt. In diesem Fall, dem wohl größten Skandal um Homosexualität im viktorianischen England neben den Wilde- Prozessen, wurde ein männliches Bordell in der Cleveland Street in Fitzrovia, London entdeckt. Mehrere prominente Figuren und Mitglieder der Aristokratie, unter ande- rem Lord Somerset und der Sohn des Prince of Wales, Prince Albert Victor, wurden mit dem Skandal in Verbindung gebracht.26 Später wurden nur zwei unbedeutende Männer im Zusammenhang mit der Affäre zu relativ geringen Strafen verurteilt, wofür Adut den Grund in der Angst vor der Thematisierung und öffentlichen Diskussion über Homosexualität, vor allem in Bezug auf die Beteiligung von Mitgliedern der so- zialen Elite, sieht.27 Der Skandal zeigt zwei essentielle Komponenten der viktoriani- schen Gesellschaft auf: Zum einen die Homophobie und Angst, mit der die Gesell- schaft und Gesetzgebung dem Thema begegnete; zum anderen wird jedoch deutlich, dass es schon vor Wilde und Das Bildnis des Dorian Gray eine ausgeprägte homosexu- elle Szene gab, welche durch das Doppelleben der beteiligten Akteure sowie die gesell- schaftliche Leugnung von Homosexualität bis auf wenige Momente wie die ›Cleveland Street Affair‹ im Verborgenen blieb. Nicht nur die homophobe Gesetzgebung und die ›Cleveland Street Affair‹ geben Aufschluss über das vorherrschende soziale System. Auch Das Bildnis des Dorian Gray selbst ist ein Zeugnis der Prüderie der viktorianischen Gesellschaft, welche nicht nur reale Personen, sondern auch die Charaktere des Romans zu einem Doppelleben zwang. Während Dorian Grays Doppelleben in seinem Portrait, welches an seiner statt altert und die Spuren seines ausschweifenden Lebens trägt, symbolisiert wird, führen sein Mentor und Freund, Lord Henry Wotton, und der Maler Basil Hallward ebenfalls ein Doppelleben. Obwohl eine homosexuelle Beziehung zwischen Wotton und Dorian Gray in keiner Fassung des Werks explizit wird, gibt es deutliche Zeichen für eine homoerotische Anziehung zwischen beiden Charakteren. Dennoch ist Wotton – genau wie Wilde – scheinbar glücklich verheiratet, worüber er zweideutig schlussfolgert: »the one charm of marriage is that it makes a life of deception necessary for both parties.«28 Hallwards Interesse an Dorian ist hingegen in jeder Fassung des Romans – vor und nach der Zensur – deutlich spürbar, jedoch bleibt er trotz seiner Homosexualität ein geachtetes Mitglied der Londoner Gesellschaft, da er – anders als Dorian Gray – aus seiner Veranlagung einen Hehl macht und sich weigert, sein Gemälde von Dorian aus- zustellen, da es das »secret of [his] own soul«29 verraten könnte. Dies zeigt, dass nicht nur die realen, sondern auch die fiktiven Charaktere in den zu betrachtenden Skanda- len einem suppressiven sozialen System gegenüberstanden, welches versuchte, Homo- sexualität aus dem Diskurs zu streichen und gesellschaftlich wie gesetzlich verurteilte. Um zum Skandal zu werden, mussten sowohl der Inhalt von Das Bildnis des Dorian Gray als auch das Leben von Wilde gegen die Norm, also das Moralsystem der vikto- rianischen Gesellschaft, verstoßen. Nach dieser Betrachtung des sozialen Systems und

26 Vgl. Frankel 2012a, S. 8–9. 27 Vgl. Adut 2005, S. 225. 28 Wilde 1891, S. 10. 29 Wilde 1891, S. 10.

17

der vorherrschenden Homophobie wird deutlich, dass sowohl der Roman in seiner Thematisierung von Dorians sexuellen Ausschweifungen und homoerotischem Ver- langen als auch Wildes reales Leben in Londons homosexueller Subkultur sich für ei- nen Skandal qualifizieren. Wie die beiden Skandale sich abspielten und welche Rollen die Akteure übernahmen, soll im folgenden Teil anhand des erweiterten Skandalmo- dells unter Berücksichtigung der kontextuellen Besonderheiten beider Fälle untersucht werden.

4 Skandal 1: Der literarische Skandal um Oscar Wildes Das Bildnis des Dorian Gray

4.1 Hintergrund und Akteure

Wilde wurde 1889 vom Herausgeber des amerikanischen Lippincott’s Monthly Maga- zine, J. M. Stoddard beauftragt, einen Beitrag für die Publikation zu verfassen. Nach- dem seine erste Geschichte, The Fisherman and His Soul, zunächst abgelehnt wurde, begann Wilde die Arbeit an einem neuen Manuskript, welches später Das Bildnis des Dorian Gray werden sollte.30 Wilde reichte die neue Geschichte – mit einiger Ver- spätung – im Frühjahr des darauffolgenden Jahrs bei Lippincott’s ein, wo sie laut Fran- kel sofort aufgrund ihres skandalösen Inhalts Aufsehen erregte.31 Obwohl Lippincott’s ein liberales Magazin war32, schrieb selbst Stoddard in einem Brief: I read it and consider it a very powerful story, but it has certain faults which will undoubtedly have to be fixed before we can publish it. […] You may rest assured that it will not go into the Magazine unless it is proper that it shall, although in its present condition there are a number of things which an innocent woman would make an exception to. But I will go beyond this and make it acceptable to the most fastidious taste.33 Trotz dieser Liberalität und der räumlichen und kulturellen Distanz zwischen Amerika und England erkannte auch Stoddard das polarisierende Potential von Wildes Ge- schichte. Dies führte dazu, dass bereits vor der Erstveröffentlichung des Romans Än- derungen und Zensuren – von der Anpassung der Rechtschreibung und Kommaset- zung bis zu Streichungen und Änderungen ganzer Wörter und Passagen – vermutlich ohne das Wissen und die Zustimmung des Autors durchgeführt wurden.34 Trotz dieser Änderungen sorgte Das Bildnis des Dorian Gray vor allem in der britischen Presse und Öffentlichkeit für einen Skandal und zog erhebliche Konsequenzen und weitere Zen- sur nach sich.

30 Vgl. Holland / Hart-Davies 2000, S. 413. 31 Vgl. Frankel 2012b, S. 37. 32 Vgl. Frankel 2012b, S. 37. 33 J. M. Stoddard: Letter to Craige Lippincott, 10. April 1890, zitiert aus: Frankel 2012b, S. 43. 34 Vgl. Frankel 2012b, S. 39 und 43–52. Obwohl Frankel davon ausgeht, dass Wilde nicht zu den Än- derungen Stoddards befragt wurde, so führt er dies auf keine besonderen Umstände, sondern lediglich auf den Habitus amerikanischer Magazine zurück.

18

Diese störte sich an den im Roman so bildlich beschriebenen Ausschweifungen des Protagonisten Dorian Gray. Obwohl in keiner Version des Buchs Homosexualität ex- plizit benannt wird, sind bis heute – vermutlich auch aufgrund der Popularität der Thematik durch die Wilde-Prozesse – vor allem die homoerotischen Episoden be- kannt. Diese trugen zwar auch zum Skandal um Das Bildnis des Dorian Gray und umso mehr um dessen Autor bei, aber wie Frankel argumentiert, nahmen Wildes Zeitgenos- sen genauso viel Anstoß an den Beschreibungen homoerotischer Beziehungen wie an Dorians heterosexuellen Ausschweifungen.35 Während bereits zu Beginn der Ge- schichte in Basil Hallwards Atelier, wo das verhängnisvolle Bildnis Dorians entsteht, die Bewunderung und Anziehung Hallwards und auch Lord Henry Wottons zu Do- rian spürbar sind, ziehen sich durch das ganze Buch weitere Episoden hetero- und ho- mosexueller Liebschaften, von denen die wenigsten gut enden. Um das Gefühl der Geschichte in seiner Gänze zu umfassen und die Entrüstung, welche sie in der briti- schen Presse und Gesellschaft auslöste, verstehen zu können, muss der Roman selbst herangezogen werden. Obwohl sowohl für den Skandal 1890 als auch später in den Wilde-Prozessen hauptsächlich die Lippincott’s-Version von 1890 relevant ist, müssen, um die Konsequenzen des Skandals zu begreifen, – aber auch, um Autor und Werk gerecht zu werden, – alle drei Versionen des Romans zumindest exemplarisch hinsicht- lich ihres brisanten Inhalts betrachtet werden.

4.2 Inhalt und Versionen von Das Bildnis des Dorian Gray36

Insgesamt gibt es drei unterschiedliche Fassungen von Das Bildnis des Dorian Gray, die publiziert wurden. Bereits vor der Erstveröffentlichung wurde das Werk durch Stod- dard und seine Mitarbeiter bearbeitet und zensiert. Erst 2012, über 120 Jahre nach der Erstveröffentlichung des Romans, wurde das Originalmanuskript, wie Wilde es inten- dierte, von der Harvard University Press veröffentlicht.37 Wildes ursprünglicher Ro- man, welchen er im Frühjahr 1890 bei Lippincott’s einreichte, umfasste 13 Kapitel und über 3.000 handschriftliche Anmerkungen des Autors.38 In dieser Version werden so- wohl die homoerotischen als auch die ebenso scharf kritisierten heterosexuellen Ele- mente am deutlichsten. Die chronologisch gesehen zweite Fassung des Romans, geht man nach der Veröffentlichung die erste, ist die am 20. Juni 1890 in Lippincott’s Ma- gazine publizierte, von Stoddard überarbeitete Version. Genau wie das Ursprungswerk enthält sie 13 Kapitel und stimmt inhaltlich weitgehend mit der ersten Version über- ein, auch wenn anstößige Passagen homo- und heterosexuellen Ursprungs hier von

35 Vgl. Frankel 2012b, S. 46–47. 36 Die Änderungen zwischen den Versionen von Das Bildnis des Dorian Gray sollen in dieser Arbeit nicht vollständig, sondern nur exemplarisch hinsichtlich ihrer Relevanz für die Skandaluntersuchung analysiert werden. Für eine vollständigere Auflistung der Versionsgeschichte und die Änderungen des Romans vgl. Frankel 2012a und Frankel 2012b. In den folgenden Anmerkungen sowie dem Literatur- verzeichnis werden die Versionen wie folgt aufgeführt: Wildes Original-Manuskript von 1890: Wilde 1890a; die Lippincott’s-Version von 1890: Wilde 1890b und die überarbeitete Buchversion von 1891: Wilde 1891. 37 Vgl. Wilde 1890a. 38 Vgl. Frankel 2012a, S. 20.

19

Stoddard und seinen Mitarbeitern gestrichen oder abgeändert wurden. Die dritte Fas- sung, jedoch die erste in Buchform, vom Verlag Ward, Lock & Company, der bereits die Juli-Ausgabe von Lippincott’s Magazine inklusive der Geschichte in Großbritannien mitherausgab, wurde 1891 veröffentlicht. Hier wurden, von Wilde selbst, gravierende Änderungen vorgenommen und das Buch von 13 auf 20 Kapitel ausgedehnt, außer- dem wurde ihm ein von Wilde verfasstes Vorwort vorangestellt. Diese Änderungen können eindeutig als Reaktion auf die Kritik der Öffentlichkeit und Presse verstanden werden. Vor allem die homoerotischen Passagen wurden geändert, der Fokus des Ro- mans verschob sich noch mehr auf die Kunstform des Ästhetizismus, aufgrund derer Wilde versucht, das Verhalten seiner Charaktere zu rechtfertigen. Einer der auffälligsten Abschnitte hinsichtlich Homosexualität ist die Offenbarung des Malers Basil Hallward an Dorian Gray in Kapitel sieben des Originalmanuskripts: I see you did. Don’t speak. Wait till you hear what I have to say. It is quite true that I have worshipped you with far more romance of feeling than a man should ever give to a friend. Some- how, I had never loved a woman. I suppose I never had time. Perhaps, as Harry says, a really ›grande passion‹ is the privilege of those who have nothing to do, and that is the use of the idle classes in a country. Well, from the moment I met you, your personality had the most extraor- dinary influence over me. I quite admit that I adored you madly, extravagantly, absurdly. I was jealous of every one to whom you spoke. I wanted to have you all to myself. I was only happy when I was with you. When I was away from you, you were still present in my art. It was all wrong and foolish. It is all wrong and foolish still. Of course I never let you know anything about this. It would have been impossible. You would not have understood it; I did not understand it myself. One day I determined to paint a wonderful portrait of you. It was to have been my masterpiece. It is my masterpiece. But, as I worked at it, every flake and film of colour seemed to me to reveal my secret. There was love in every line, and in every touch there was passion. I grew afraid that the world would know of my idolatry. I felt, Dorian, that I had told too much.39 Deutlich kommen in dieser Passage Basil Hallwards Gefühle für Dorian zum Ausdruck. Vor allem im Vergleich mit heterosexuellen Beziehungen (»Somehow, I had never loved a woman«) scheinen die Gefühle des Malers eindeutig zweideutig zu sein und sich nicht nur auf seine Faszination Dorians als Objekt seiner Kunst zu beschrän- ken. Auch Basils Angst vor Entdeckung dieser Gefühle ist hier erneut spürbar (»I grew afraid that the world would know of my idolatry«). Wären die Gefühle Hallwards tat- sächlich nur künstlerischer Natur, so ist anzunehmen, dass er ihre Entdeckung durch die Gesellschaft nicht fürchten müsste. In Lippincott’s Fassung von 1890 steht Basils Geständnis an der gleichen Stelle, ebenfalls in Kapitel sieben. Auch der Inhalt und Ton sind nahezu identisch. Stoddard änderte lediglich »I have worshipped you with far more romance of feeling than a man should ever give to a friend« in »I have worshipped you with far more romance of feeling than a man usually gives to a friend«.40 Die zweite Änderung der Textstelle ist signifikanter. Der Satz »There was love in every line, and in every touch there was passion« wurde komplett gestrichen und nicht ersetzt.41 Obwohl die Aussagen über Hallwards fehlende Beziehungen mit Frauen und seine Verehrung für Dorian erhalten

39 Wilde 1890a, S. 144. 40 Wilde 1890b, S. 232. 41 Vgl. Wilde 1890b, S. 233.

20

bleiben, ist deutlich zu sehen, dass das Ziel der Zensur war, den homoerotischen Sub- text des Romans abzuschwächen – was, wie der Skandal zeigt, nur mäßig gelungen ist. Noch deutlicher werden diese Versuche in der Buchversion von 1891, welche in Folge der harschen Kritik an Lippincott’s Ausgabe von Wilde selbst überarbeitet wurde. Hier findet sich der oben genannte Paragraph aufgrund der Erweiterungen der Ge- schichte erst im neunten Kapitel und zeigt gegenüber den vorherigen Versionen eine deutliche Abkehr von den homosexuellen Konnotationen hin zu einer künstlerischen Verehrung Dorians. Hallwards Monolog wurde um Sätze wie »You became to me the visible incarnation of that unseen ideal whose memory haunts us artists like an exquisite dream«42 und »And it had all been what art should be, unconscious, ideal and remote«43 ergänzt. Durch sie wird Dorian losgelöst von seinem menschlichen – männlichen – Selbst und scheint sich komplett in die Projektion von Hallwards künstlerischem Ide- albild zu verwandeln. Diese Aussage, des Ideals der Kunst jenseits der Moral, spiegelt sich auch im Vorwort zu dieser Ausgabe wider, in welchem Wilde schreibt: »The moral life of man forms part of the subject-matter of the artist, but the morality of art consists in the perfect use of an imperfect medium.«44 Auf die gleiche Weise wie Wilde damit Hallwards Bewunderung für Dorian rechtfertigt, tut er dies auch als Künstler. In seiner eigenen Darstellung des Unmoralischen in Das Bildnis des Dorian Gray schafft er ein Kunststück, welches in seiner Distanziertheit zum realen Leben weit über dieses erha- ben ist. Dass dies nicht der Fall war, zeigte sich für Wilde nicht nur im Skandal um sein Kunstwerk, sondern auch um ihn selbst, wo dieses gegen ihn verwendet wurde. Auch in Kapitel zehn der beiden Fassungen von 1890 werden Dorian von Hallward nahezu eindeutig homosexuelle Beziehungen vorgeworfen: Why is it that every young man that you take up seems to come to grief, to go to the bad at once?45 There was that wretched boy in the Guards who committed suicide. You were his great friend. There was Sir Henry Ashton, who had to leave England, with a tarnished name. You and he were inseparable. What about Adrian Singleton, and his dreadful end? What about Lord Kent’s son and his career? I met his father yesterday in St. James Street. He seemed broken with shame and sorrow. What about the young Duke of Perth? What sort of life has he got now? What gentlemen would associate with him? Dorian, Dorian, your reputation is infamous.46 Die gesellschaftliche Ausgrenzung von Lord Kents Sohn und dem Duke of Perth, ge- nau wie das erzwungene Exil Sir Henry Ashtons, der Suizid des unbekannten Jungen und Singletons Ende (wobei das Adjektiv ›dreadful‹ auf einen Tod durch Krankheit oder ebenfalls auf Selbstmord hinweisen könnte) spiegeln die im vorherigen Kapitel etablierten gesellschaftlichen Sanktionen für Homosexualität wider. Dass diese Episode durchaus auf Dorians homosexuelles Doppelleben anspielen könnte, unterstützt auch die Tatsache, dass Oscar Wilde selbst diese Passage in der Buchfassung von 1891 über- arbeitete und eine Rechtfertigung Dorians einschob, in welcher dieser die homosexu- ellen Konnotationen entkräftet und durch andere Verfehlungen ersetzt: »If Kent’s silly

42 Wilde 1891, S. 89–90. 43 Wilde 1891, S. 89–90. 44 Wilde 1891, S. 3. 45 Die einleitende Frage wurde in der Lippincott’s-Version geändert in: ›Why is your friendship so fate- ful to young men?‹ Vgl. Wilde 1890b, S. 258. 46 Wilde 1890b, S. 258.

21

son takes his wife from the street, what is that to me? If Adrian Singleton writes his friend’s name across a bill, am I his keeper?«47 Doch genau wie Frankel argumentiert, sind es nicht nur die homoerotischen Passa- gen, welche den Unwillen der britischen Leserschaft und Presse erregten, sondern ebenso die heterosexuellen. Stoddard war hier sogar noch sorgfältiger als bei seiner Überarbeitung der homoerotischen Absätze. Wie Frankel feststellt, strich er nicht nur das Wort ›mistress‹, also Geliebte, aus dem gesamten Text, sondern entfernte auch folgende Stelle, in welcher Lord Henry Wotton über Dorians Beziehung zu Hetty Marton spekuliert:48 Upon the other hand, had she become your mistress, she would have lived in the society of charming and cultured men. You would have educated her, taught her how to dress, how to talk, how to move. You would have made her perfect, and she would have been extremely happy. After a time, no doubt, you would have grown tired of her. She would have made a scene. You would have made a settlement. Then a new career would have begun for her.49 Nicht nur homosexuelle, sondern auch außereheliche heterosexuelle Beziehungen, wie sie hier dargestellt sind, verstießen gegen die viktorianische Moral. Diese zogen, sofern sie öffentlich wurden, ähnliche gesellschaftliche – wenn auch nicht unbedingt rechtli- che – Konsequenzen und Sanktionen nach sich wie Homosexualität. Die Betrachtung des Inhalts von Das Bildnis des Dorian Gray zeigt deutlich inwie- fern die Geschichte gegen das soziale System ihrer Zeit in der Darstellung sexueller Ausschweifungen aller Art verstößt. Während heute oftmals die homoerotischen Passa- gen, welche auch im Prozess gegen Wilde verwendet wurden, im Fokus stehen, polari- sierten zugleich die offen ausgelebten heterosexuellen Affären der Romanfiguren. Wie die Tatsache des Skandals aufzeigt, reichte die Zensur durch Stoddard nicht aus, den Normbruch gegen das soziale System zu verhindern. Obwohl Wildes eigene, spätere Änderungen zwar die ästhetischen und künstlerischen Elemente des Romans in den Vordergrund stellen, ließ er sich bis zuletzt nicht von der grundsätzlichen Thematik und den damit verbundenen Normverletzungen abbringen.

4.3 Skandalverlauf und Reaktionen der Akteure

Für das Entstehen eines Skandals sind nicht nur die Normüberschreitung an sich, son- dern genauso deren öffentliche Denunziation und die daraus resultierende öffentliche Empörung notwendig. Die Normüberschreitung findet sich in der expliziten Darstel- lung von Sexualität homo- und heteroerotischer Natur. Zwei mögliche Anfangspunkte können für den Skandal identifiziert werden. Zum einen das Publikmachen der Norm- überschreitung durch die Veröffentlichung des Romans am 20. Juni 1890, zum ande- ren die ersten Reaktionen der Presse, welche die Geschichte erst durch ihr Urteil als Normüberschreitung deklariert. Obwohl es auch positive und neutrale Pressereaktion auf Das Bildnis des Dorian Gray gab, war der Großteil der Berichterstattung negativ.50 Adut argumentiert: »Reactions in scandals are then governed by the way that publicity

47 Wilde 1891, S. 118. 48 Vgl. Frankel 2012b, S. 46. 49 Wilde 1890a, S. 208 50 Vgl. Frankel 2012a, S. 4–5.

22

transforms the meaning and import of apparent transgressions.«51 Basierend auf dieser These lässt sich auch für diesen Skandal feststellen, dass erst die negative Pressereaktion und nicht der Roman an sich alle beteiligten Akteure sowie die Öffentlichkeit in ihrem Verhalten und den Reaktionen erheblich beeinflusste. Exemplarisch soll hierfür die Berichterstattung der St. James’s Gazette, des Daily Chronicle sowie des Scots Observer betrachtet werden. Da alle drei Rezensionen ähnli- che Themen ansprechen und um die Gesamtheit der negativen Kritik – welche deut- lich größer als die hier gezeigten Bespiele war – zu erfassen, werden zunächst die Kri- tiken wiedergegeben, bevor diese analysiert werden. Die St. James’s Gazette widmete Das Bildnis des Dorian Gray bereits am 24. Juni, nur vier Tage nach Veröffentlichung, eine ausführliche negative Kritik: […] Not being curious in ordure, and not wishing to offend the nostrils of decent persons, we do not propose to analyse ›The Picture of Dorian Gray‹: that would be to advertise the develop- ment of an esoteric prurience. Whether the Treasury or the Vigilance Society will think it worth while to prosecute Mr Oscar Wilde or Messrs Ward, Lock & Co. we do not know; but on the whole we hope they will not. The puzzle is that a young man of decent parts, who enjoyed (when he was at Oxford) the opportunity of associating with gentlemen, should put his name (such as it is) to so stupid and vulgar a piece of work. […] […] Still they are both chips from the same block – ›The Maiden Tribute of Modern Babylon‹ and ›The Picture of Dorian Gray‹ – and both of them ought to be chucked into the fire. Not so much because they are dangerous and corrupt (they are corrupt but not dangerous) as they are incurably silly, written by simpleton poseurs (whether they call themselves Puritan or Pagan) who know nothing about the life which they affect to have explored, and because they are mere catchpenny relevations [sic] of the non-existent, which, if they reveal anything at all, are revela- tions only of the singularly unpleasant minds from which they emerge.52 Der Daily Chronicle reagierte ähnlich negativ auf Das Bildnis des Dorian Gray und schreibt am 30. Juni 1890: Dullness and dirt are the chief features of Lippincott’s this month. The element that is unclean, though undeniably amusing, is furnished by Mr Oscar Wilde’s story of ›The Picture of Dorian Gray.‹ It is a tale spawned from the leprous literature of the French Décadents – a poisonous book, the atmosphere of which is heavy with the mephitic odours of moral and spiritual putre- faction – a gloating study of the mental and physical corruption of fresh, fair and golden youth, which might be horrible and fascinating for its effeminate frivolity, its stupid insincerity, its the- atrical cynicism, its tawdry mysticism, its flippant philosophisings, and the contaminating trail of garish vulgarity which is over all Mr Wilde’s elaborate Wardour Street aestheticism and ob- strusively cheap scholarship.53 Auch der Scots Observer – dessen Artikel sogar im Prozess gegen Wilde fünf Jahre später zitiert wurde – greift ähnliche Punkte auf und nimmt in seiner Rezension vom 5. Juli 1890 Anstoß an der Moral des Buchs und zweifelt die Legalität des Dargestellten an: Mr. Oscar Wilde has again been writing stuff that were better unwritten; and while ›The Picture of Dorian Gray‹, which he contributes to Lippincott’s is ingenious, interesting, full of cleverness, and plainly the work of a man of letters, it is false art – for its interest is medico-legal; it is false to human nature – for its hero is a devil; it is false to morality – for it is not made sufficiently

51 Adut 2005, S. 232. 52 St. James’s Gazette: ›A Study in Puppydom‹, 24. Juni 1890; zitiert aus Lawler 1988, S. 333–335. 53 Daily Chronicle, 30. Juni 1890; zitiert aus Lawler 1988, S. 342–343.

23

clear that the writer does not prefer a course of unnatural iniquity to a life of cleanliness, health and sanity. The story – which deals with matters only fitted for the Criminal Investigation De- partment or a hearing in camera – is discreditable alike to author and editor.54 In allen drei Artikeln wird das Buch übereinstimmend aufgrund seiner Moralität ver- urteilt, ohne dass genauer auf die Verstöße eingegangen worden wäre – was das Tabu der viktorianischen Gesellschaft, öffentlich über Sex zu sprechen, widerspiegelt und am deutlichsten in der Aussage des Daily Chronicle »mere catchpenny relevations [sic] of the non-existent« zum Ausdruck kommt. Auch Frankel sieht in der Ausdrucksweise der Quellen, vor allem in ihrem Bezug auf ›unhealthiness‹, ›insanity‹ und ›unclean- liness‹ sowie den Anspielungen auf Illegalität, kodierte Anspielungen auf Homosexua- lität.55 Besonders hervorzuheben ist der Bezug auf strafrechtliche Verfolgung in der St. James’s Gazette sowie dem Scots Observer. Er verdeutlicht, wie gefährlich die Veröf- fentlichung des Buchs für die Beteiligten war. Diese negativen Äußerungen der Presse zogen Reaktionen aller Beteiligten nach sich. Wilde reagierte auf alle oben aufgeführten Artikel mit Leserbriefen, welche in den jeweiligen Zeitungen abgedruckt wurden. In seiner Antwort an die St. James’s Gazette vom 25. Juni 1890 schreibt er: »The English public, as a mass, takes no interest in a work of art until it is told that the work in question is immoral, and your réclame will, I have no doubt, largely increase the sale of the magazine.«56 Hier wird nicht nur die Bedeutung der medialen Erzählung für die Entwicklung eines Skandales deutlich, son- dern auch die selbstdienlichen Intentionen der Akteure. Erst durch das Urteil der Presse als ›unmoralisch‹ wurde das Interesse der Massen geweckt – wie es auch häufig bei gegenwärtigen Skandalen der Fall ist. Wilde unterstellt der Zeitung dabei, durch den Skandal, oder dessen Aufbauschen, ihren Absatz steigern zu wollen. Obwohl dies generell für Zeitungen angenommen werden kann, zeigt der Skandal um Wilde selbst, welche Auswirkungen persönliche Intentionen auf den Skandalverlauf und dessen Aus- maße haben können. Nicht nur Wilde, auch die Buchbranche reagierte auf den Skandal, von welchem sie aufgrund der Art des Mediums direkt betroffen war. Verleger und Händler hatten – worauf die St. James’s Gazette anspielt – ebenfalls mit rechtlichen Konsequenzen und gesellschaftlichen Sanktionen zu rechnen, wenn sie ein unsittliches Buch unterstützen. In diesem Fall führte dies beispielweise dazu, dass der größte Buchhändler W. H. Smith & Son den Verkauf der Juli-Ausgabe des Lippincott’s Magazines einstellte57. Für die Buchversion, welche 1891 von Ward, Lock & Co. veröffentlicht wurde, bedeutete das weitere Zensurmaßen, was die ursprüngliche Geschichte hinsichtlich Ton und Fo- kus veränderte. Das Entstehen dieses Skandals zeigt deutlich, welche enorme Bedeutung das soziale System hat. Während Das Bildnis des Dorian Gray in England für Aufsehen sorgte und Reaktionen von Autor, Presse, Buchbranche und der Öffentlichkeit nach sich zog, po- larisierte das Buch in anderen Systemen – nicht nur dem heutigen – kaum bis gar nicht.

54 Scots Observer, 5. Juli, 1890; zitiert aus Lawler 1988, S. 346. 55 Vgl. Frankel 2012a, S. 5–6. 56 Oscar Wilde: Brief an den Herausgeber der St. James’s Gazette, 25. Juni 1890; zitiert aus Lawler 1988, S. 336. 57 Vgl. Frankel 2012a, S. 7.

24

Wilde selbst schrieb im Jahr 1891 in einem Brief an Arthur Conan Doyle, dass er die Aufregung um sein Werk immer noch nicht verstehe.58 Die liberale amerikanische Zeit- schrift The New York Times verortet die Empörung über das Buch in England im Kon- text der Cleveland Street Affäre und schlussfolgert: »Englishmen have been abnormally sensitive to the faintest suggestion of pruriency in the direction of friendships.«59 Genau wie die Wilde-Prozesse ist der Skandal um Das Bildnis des Dorian Gray ein Produkt seiner Zeit und der äußeren Umstände.

4.4 Einordnung in das erweiterte Skandalmodell

Obwohl der Skandal um Das Bildnis des Dorian Gray in vielerlei Hinsicht einfach zu definieren und begreifen ist, bleiben zwei große Unsicherheitsfaktoren: Zum einen die Rolle der Medien, hier der Presse, und zum anderen die Frage nach der Beziehung von Kunst und Skandal. Holzer stellt fest: »Aufmerksamkeit erreicht man im Kulturbetrieb am ehesten, indem man Konflikte oder Skandale anzettelt; beides wird nicht selten in eins gesetzt.«60 Die Aufmerksamkeit war Das Bildnis des Dorian Gray zwar gewiss, in- wieweit das Wildes Intention war, lässt sich aus heutiger Sicht kaum beurteilen. Wildes vehemente Verteidigung seines Werks, sein Plädoyer für »Art for Art’s Sake«61 und Wildes Aussage, er habe das Buch aus persönlichem Gefallen und nicht aus finanziellen Gründen geschrieben,62 lassen das Gegenteil vermuten. Darüber, ob und inwieweit Wilde aus idealistischen und persönlichen Gründen beim Verfassen und Veröffentli- chen der Geschichte handelte, kann nur spekuliert werden. Festgehalten werden kann jedoch, dass die viktorianische Gesellschaft und Presse die Kunstfreiheit für nicht so relevant befand, als dass der Normverstoß zugunsten des künstlerischen Schaffens to- leriert wurde. Die Frage nach der Rolle der Presse ist nicht ganz eindeutig zu beantworten, den- noch spricht vieles dafür, dass hier nach Burkhard nicht lediglich ein medialisierter, sondern ein Medienskandal vorliegt. Diesen definiert Burkhardt als einen »von den Medien produzierten Skandal«63 und führt weiter aus: Massenmedien berichten nicht einfach von Skandalen, die unabhängig von ihnen existieren. Sie produzieren sie, indem sie sozialen Zuständen, Ereignissen oder Entwicklungen ein narratives Framing geben, das als Skandal etikettiert wird.64 Erst durch die negative Berichterstattung wurde die Entrüstung, welche sich sonst nur privat ereignen hätte können, ausgelöst. Hätten die Zeitungen damals, wie einige es taten, Das Bildnis des Dorian Gray als Ausdruck von Kunst und nicht als Normverlet- zung identifiziert, wäre der Skandal ausgeblieben oder hätte sich anders gestaltet. Hier

58 Holland / Hart-Davies 2000, S. 478. 59 The New York Times, 29. Juni 1890; zitiert aus Lawler 1988, S. 329. 60 Holzer 2011, S. 250. 61 Hierbei handelt es sich nicht um ein Zitat Wildes, sondern eine literarische Philosophie, welche häufig dem Ästhetizismus Wildes und Walter Paters zugeschrieben wird. Vgl. Frankel 2012a, S. 26. 62 Vgl. Oscar Wilde: Brief an den Herausgeber der St. James’s Gazette, 25. Juni 1890; zitiert aus: Law- ler 1988, S. 336. 63 Burkhardt 2011, S. 133. 64 Burkhardt 2011, S. 132.

25

zeigt sich deutlich, dass in diesem Fall die Medien in Form der Zeitungen nicht nur die Berichterstattung, sondern auch die Produktion des Skandals und die öffentliche Denunziation des Buchs ausführten. Somit erfüllt die Presse in diesem Fall eine vielfa- che Funktion, die vom Kommunikator bis hin zum Skandalierer reicht. Versucht man das erweiterte Skandalmodell auf die Veröffentlichung von Das Bild- nis des Dorian Gray anzuwenden, könnte dies in etwa so aussehen:

Soziales System = Das viktorianische England

Dritte Mediale Erzählung Mediale Erzählung = Öffentlichkeit

Oscar Wilde: Das Bildnis des Dorian Gray

Skandalierer = Skandalierte = Presse Oscar Wilde denunziert

Held oder Antiheld

Abbildung 5: Der Skandal um Das Bildnis des Dorian Gray im erweiterten Skandalmodell.

Auf der zweiten Skandalebene wird Wilde als Stellvertreter und Urheber seiner Ge- schichte Das Bildnis des Dorian Gray von der Presse öffentlich einer Normverletzung, der Thematisierung von (Homo-)Sexualität und deren Veröffentlichung angezeigt. Die Rolle der Dritten umfasst dabei sowohl das Publikum als auch alle anderen Enti- täten, welche auf den Skandal reagieren, wie beispielsweise die Buchbranche. Auf der dritten Ebene der medialen Erzählung wird Wilde von der Presse zum Antihelden sti- lisiert. Da die Presse sowohl die Rolle des Skandalierers ausübt als auch die mediale Erzählung schreibt, bleibt eine Stilisierung der eigenen Funktion in der Skandalnarra- tion auf Metaebene aus. (Die mediale Selbstreflexion sei von dieser Betrachtung einmal ausgenommen.) Das Bildnis des Dorian Gray kann seine zentrale Rolle rechtfertigen, da sich jeder der Akteure über das Buch und eine je individuelle Positionierung dazu definiert: Der Skandalierte, Oscar Wilde, verfasste es und bekennt sich dazu, der Skan- dalierer, die Presse, rezensierte es und distanzierte sich davon und die Dritten reagier- ten auf das Buch durch Rezeption, Verkauf oder den Ausschluss vom Verkauf. Als im Sommer 1891 der Skandal um das Buch bereits abgeflaut war, nahm es noch auf eine ganz andere Weise Einfluss auf das Leben Oscar Wildes und die Ereignisse im Jahr 1895. Lord Alfred Douglas, welcher von Oscar Wilde infolge eines Treffens eine signierte Ausgabe mit der Inschrift »Alfred Douglas from his friend who wrote this book. Oscar. July, 1891«65 erhielt, war ein Bewunderer des Buchs. Die beiden Männer

65 Zitiert aus Holland 2003, S. xvi.

26

begannen eine Beziehung – zur Missbilligung von Douglasʼ Vater, dem Marquess of Queensberry. Infolgedessen bezichtigte dieser Oscar Wilde öffentlich der Homosexu- alität, was den Stein für dessen Prozesse und Fall ins Rollen brachte.

5 Skandal 2: Der reale Skandal um Oscar Wilde

5.1 Hintergrund und Akteure

Obwohl Oscar Wilde bereits durch Das Bildnis des Dorian Gray mit Homosexualität assoziiert wurde, kam es nicht 1890, in direkter Folge auf die Publikation des Buchs, zum Skandal, sondern erst fünf Jahre später im Jahr 1895, als gegen Wilde gerichtlich vorgegangen wurde. Adut stellt im Kontext der Skandalforschung die These auf, dass Wildes Homosexualität bereits lange vor den Prozessen bekannt gewesen und toleriert worden war, da sie nie öffentlich denunziert wurde.66 Adut folgt in seiner Argumenta- tion damit der etablierten Ansicht in der Skandalogie, dass erst die öffentliche Anklage und Kommunikation über einen Normverstoß einen Skandal auslösen können.67 Ähn- lich wie bei Dorian Gray führt also nicht der Normverstoß selbst, sondern erst dessen Identifizierung als solchen durch den Skandalierer den Skandal herbei. In Wildes Fall war der Marquess of Queensberry derjenige, welcher das scándalon auslöste – obwohl ihm dies nur mit dem Zutun von Wilde selbst gelingen konnte. Queensberry missbilligte die Beziehung zwischen seinem Sohn, Lord Alfred Douglas, und Wilde und bat ersteren in mehreren Briefen, den Kontakt zu Wilde abzubrechen. Als dies nicht passierte, drohte Queensberry seinem Sohn in einem Brief: »If I catch you again with this man, I will make a public scandal in a way you little dream of.«68 Zunächst versuchte er, Wilde bei der Premiere dessen Theaterstücks The Importance of Being Earnest zu kompromittieren, was dieser jedoch dank eines Tipps mit Hilfe der Polizei, die Queensberry den Zutritt verweigerte, abwenden konnte.69 Schließlich hin- terließ der Marquess am 18. Februar 1895 eine Karte mit der Aufschrift »For Oscar Wilde – posing sodomite [sic]« in Wildes Club.70 Wie Foldy ausführt, bedeutet das Wort ›posing‹ zwar noch nicht, dass Wilde sich tatsächlich der Sodomie schuldig ge- macht hatte, die Anschuldigung alleine reichte jedoch, um den Schriftsteller öffentlich zu denunzieren.71 Allerdings fehlte bei Abgabe der Karte noch das Element der Öffent- lichkeit. Erst Wildes eigene Entscheidung, den Marquess aufgrund dieser Karte wegen Ver- leumdung anzuklagen, exponierte die Episode und ermöglichte Wildes eigene Anklage infolge der Enthüllungen im Prozess gegen Queensberry. Die Frage, warum Wilde entgegen dem Rat vieler Freunde klagte und sich so selbst angreifbar machte, ist bis heute ungeklärt. Der Journalist und Enkelsohn Wildes, Merlin Holland, schreibt in

66 Vgl. Adut 2005, S. 214 und 216. 67 Vgl. Bösch 2011, S. 33 und 45; Neckel 1989, S. 58; siehe auch Kapitel 2 Theorie und Methodik. 68 Wilde 1928, S. 95. 69 Vgl. Adut 2005, S. 230. 70 Vgl. Holland 2003, S. xix. 71 Vgl. Foldy 1997, S. 2.

27

seinem Buch über die Prozesse: »If I could ask my grandfather a single question, it would have to be ›Why on earth did you do it?‹«72 Eine in der heutigen Forschung weit verbreitete These ist der Einfluss von Douglas auf Wilde, der persönlich Rache an sei- nem Vater nehmen wollte.73 Obwohl Wildes tatsächliche Beweggründe aus heutiger Sicht nicht mehr zu rekonstruieren sind, kann mit Sicherheit nur gesagt werden, dass erst Wildes Klage es Queensberry und seinen Anwälten möglich machte, ihn im Pro- zess zu skandalieren.

5.2 Skandalverlauf und Reaktionen der Akteure74

Am 2. März 1885 begann schließlich der Verleumdungsprozess gegen Queensberry. Wie Foldy ausführt, liegt es in der Natur eines solchen Prozesses, dass der Ankläger, in diesem Fall Wilde, im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit steht, da dieser der Lüge über- führt werden muss, um einen Freispruch für den Angeklagten, also Queensberry, zu erwirken.75 Wilde und dessen Privatleben standen im Fokus des gerichtlichen und me- dialen Interesses. Während der Anwalt Edward Carson Queensberry vertrat, wurde auf Wildes Seite der hochrenommierte Edward Clarke engagiert. Carsons Beweisführung gegen Wilde, also der Versuch, seine Homosexualität zu beweisen, setzte sich aus zwei Komponenten zusammen: literarischen Beweisen, wobei Das Bildnis des Dorian Gray im Mittelpunkt des Interesses stand, und einer Anzahl an Zeugen, zu denen Wilde ›unsittliche‹ Kontakte gepflegt haben soll. Die öffentliche Stimmung richtete sich bereits im Prozess gegen Queensberry zunehmend gegen Wilde. Als Grund dafür wird in der modernen Forschung oft Wildes überlegene Flapsigkeit angeführt, welche sich auch in der Episode um seine Beziehung zu dem Diener Walter Graigner wider- spiegelt.76 Auf Carsons Frage, ob Wilde den jungen Mann jemals geküsst hätte, ant- wortete dieser: »Oh, no, never in my life; he was a peculiarly plain boy.«77 Diese und ähnliche Äußerungen des Schriftstellers riefen den Unmut der Presse und Öffentlich- keit hervor und bewiesen in den Augen Vieler Wildes Homosexualität. Als am 5. April 1895 das Urteil verkündet wurde, welches Queensberry freisprach und nicht nur er- klärte, dass die Verleumdung der Wahrheit entsprach, sondern darüber hinaus für das öffentliche Wohl getätigt wurde, wurde dies mit lautem Applaus begrüßt.78 Wildes Versuch, Queensberry zu verklagen, hatte sich gegen ihn selbst gerichtet, sein Privatle- ben der Öffentlichkeit preisgegeben und ihn in den Augen Vieler als homosexuell ge- outet. Noch am Tag des Urteilsspruchs wurde ein Haftbefehl gegen Wilde erlassen, der nun selbst wegen seines Verstoßes gegen den Labouchère Act angeklagt wurde. Wilde

72 Holland 2003, S. xxvi. 73 Vgl. Holland 2003, S. xxvi–xxvii; Frankel 2012a, S. 16. 74 Die Prozesse können in dieser Arbeit nur exemplarisch hinsichtlich ihrer Bedeutung für die Skandal- untersuchung und die Instrumentalisierung von Das Bildnis des Dorian Gray betrachtet werden. Für eine vollständigere Darstellung inklusive des Gerichtsprotokolls vgl. Foldy 1997 und Holland 2003. 75 Vgl. Foldy 1997, S. 3. 76 Vgl. Adut 2005, S. 241. 77 Holland 2003, S. 207; vgl. auch Holland 2003, S. xli; Adut 2005, S. 233. 78 Vgl. Holland 2003, S. xxix–xxx.

28

ließ die Chance, England zu verlassen, um dadurch der Verhaftung zu entgehen, ver- streichen. Am 26. April 1885 begann der Prozess gegen Wilde, der wiederum von Clarke vertreten wurde. Die Anklage (im Namen der Königin) führte Charles Gill. Nachdem die Geschworenen im ersten Verfahren keine Mehrheit erreichen konnten, wurde ein zweites Verfahren anberaumt. In diesem wurde Wilde gemeinsam mit Alf- red Taylor, der Wilde Kontakte zu männlichen Prostituierten verschafft haben soll, der ›gross indecency‹ für schuldig befunden. Wilde wurde zu zwei Jahren Haft mit harter Arbeit verurteilt.79 Nicht nur aus heutiger Sicht, auch für damalige Verhältnisse waren sowohl die Strafverfolgung Wildes als auch der Urteilsspruch ungewöhnlich hart. Dass Wilde so rigoros verfolgt und bestraft wurde, hat zwei Gründe. Zum einen Wildes Stellung und Berühmtheit in der Gesellschaft, also seine ›Fallhöhe‹, was das mediale Interesse an den Prozessen enorm beeinflusste.80 Auch sein Skandalierer, Queensberry, war eine Person des öffentlichen Interesses. Adut führt die Strenge der Strafverfolgung außerdem auf den Handlungszwang der Autoritäten aufgrund der politischen Implikationen des Wilde-Prozesses zurück.81 Während des Verleumdungsprozesses wurden von der Ver- teidigung die sogenannten ›Queensberry-Briefe‹ ins Spiel gebracht. Diese enthielten angeblich Beweise dafür, dass der amtierende Premierminister, Archibald Primrose, 5. Earl of Rosebery, selbst homosexuell war und eine Affäre mit Queensberrys ältestem Sohn, Viscount Drumlanring, gehabt haben soll, der sich infolgedessen (aufgrund ei- nes drohenden Skandals) das Leben genommen haben soll.82 Der Effekt der Briefe war so groß, dass der im zweiten Verfahren eingesetzte Solicitor-General, Sir Frank Lock- wood, in einer privaten Unterredung auf Clarkes Bitte, Wilde nach dessen öffentlicher Demütigung gehen zu lassen, geantwortet haben soll: »I would but we cannot: we dare not: it would at once be said both in England and abroad, that owing to the names mentioned in Queensberry’s letters we were forced to abandon it.«83 Das Auftauchen der Briefe im Prozess beeinflusste diesen maßgeblich zu Wildes Ungunsten. Noch mehr als bei Dorian Gray war der Skandal um dessen Autor von politischen Interessen getrieben. Anders als im Skandal um das Buch erfüllt die Presse im Skandal um Wilde lediglich eine narrative Funktion, welche die Wahrnehmung des Skandals und dessen Akteuren in der Öffentlichkeit jedoch entscheidend beeinflusste. Die britische Presse bezog un- abhängig von ihrer Reputation und Leserschaft überwiegend Stellung für Queensberry und gegen Wilde.84 So prangerte der Daily Telegraph beispielsweise Wildes »spurious brilliancy, inflated egotism, diseased vanity, cultivated, affectation, and shameless dis- avowal of all morality«85 an. Die St. James’s Gazette verweigerte sich im Stile derselben Ignoranz wie in ihrer Dokumentation von Das Bildnis des Dorian Gray aufgrund des

79 Vgl. Foldy 1997, S. 31–32. 80 Vgl. Adut 2005, S. 219. 81 Vgl. Adut 2005, S. 221–223. 82 Vgl. Holland 2003, S. xviii–xix; Adut 2005, S. 233. 83 Zitiert aus Holland 2003, S. xxxiii–xxxiv; ebenso zitiert in Foldy 1997, S. 21. 84 Vgl. Foldy 1997, S. 52–53. 85 Zitiert aus Foldy 1997, S. 53.

29

unmoralischen Inhalts der Berichterstattung bis zum Urteilsspruch völlig.86 Die Skan- dalnarration stilisierte Wilde damit eindeutig zum Antihelden, während Queensberry als Held und Beschützer seines Sohnes aus dem Gerichtsaal zog.87 Eine der wenigen neutralen Pressestimmen, der eher unbedeutende London Figaro, kritisiert die Haltung der größeren Zeitungen und beleuchtet eines der größten Probleme dieser Art der sub- jektiven Berichterstattung: The hideous accusations against Mr Oscar Wilde – perhaps the wittiest man in England, cer- tainly the most brilliant playwright – take one’s breath away. It is hardly possible to do more than hold up one’s hands in horror and amazement. It is possible, however, to protest most vehemently against the action of the Telegraph and other papers in condemning Mr Wilde before he has been tried. No one denies that the evidence against him is appallingly strong, but until he has been convicted he is innocent in law, and it is a dastardly and indecent thing for that section of the press which has never lost a chance of reviling Mr Wilde, to take present opportunity of venting their spite upon him … it will be almost impossible for Mr Wilde to receive a fair trial.88 Zu Recht erkennt der Figaro die Konsequenzen der negativen Medienberichterstattung an, welche nicht nur die öffentliche Meinung, sondern auch Gericht und Politik gegen den Angeklagten einnehmen kann. Die Angst der Regierung vor Veröffentlichung der ›Queensberry-Briefe‹ ist ein Zeugnis davon, wie sich auch politische Akteure von me- dialer Skandalnarration und der drohenden Berichterstattung beeinflussen und ein- schüchtern ließen. Egal, ob der Inhalt der Briefe der Wahrheit entsprach oder nicht, alleine die Veröffentlichung des Namens des Premierministers im Zusammenhang mit Homosexualität hatte einen weiteren Skandal ausgelöst und erhebliche Konsequenzen für die Regierung nach sich gezogen.

5.3 Instrumentalisierung von Das Bildnis des Dorian Gray

Der Skandal um Oscar Wilde und der Skandal um seinen Roman Das Bildnis des Do- rian Gray sind zwei getrennte Ereignisse. Dennoch sind die beiden eng miteinander verbunden. Obwohl Rückschlüsse von der Autobiographie des Autors auf sein Schaf- fen immer kritisch zu betrachten sind, gibt es einige Parallelen zwischen Autor und Werk. So soll sogar Wilde selbst hinsichtlicher der Protagonisten gesagt haben: »Basil Hallward is what I think I am: Lord Henry what the world thinks me: Dorian what I would like to be – in other ages, perhaps.«89 Doch nicht Wilde allein bestimmte den Inhalt seiner Geschichte, diese beeinflusste auch das Leben ihres Autors ganz anders, als dieser es intendierte. Nicht nur in der Presse und der Gesellschaft war während der Wilde-Prozesse der Skandal um Das Bildnis des Dorian Gray noch präsent, auch im Gericht selbst wurden Buch und Inhalt gegen Wilde verwendet. Im ersten Prozess wegen Verleumdung ver- suchte Queensberrys Anwalt, Edward Carson, Das Bildnis des Dorian Gray als Beweis für Wildes Homosexualität heranzuziehen. Carson begann sein Verhör mit der Frage:

86 Vgl. Holland 2003, S. xxxii. 87 Vgl. Foldy 1997, S. 52. 88 London Figaro, 11. April 1895, zitiert aus Holland 2003, S. xxxii. 89 Zitiert in Frankel, 2012a, S. 14.

30

»I will suggest to you Dorian Gray. Is that open to the interpretation of being a sodo- mitical book?«90 Im Anschluss ging er dazu über, lange Passagen aus der Lippincott’s Version von 1890 zu zitieren, welche die homosexuellen Tendenzen des Buchs aufzei- gen sollten. Dabei bezog er sich unter anderem auf die in Kapitel 3 besprochenen Text- stellen von Basil Hallwards Offenbarung und der Auflistung junger Männer, welche Dorian korrumpiert haben soll. Wilde verteidigte sein Buch vehement und bestand auf ähnlichen Argumenten wie er sie im Skandal um Dorian Gray vorgebracht hatte: dass Kunst keinen moralischen Anspruch erfüllen könne, sondern nur zu ihrem Selbstzweck existiere.91 Seine schlussfolgernde Mahnung »you must remember that novels and lifes are different things«92 blieb dabei ebenso ungehört wie Justice Wills Aufruf an die Jury im Prozess gegen Wilde, literarische Beweise nicht als Zeugnis gegen dessen Urheber zu werten.93 Zusammen mit den Zeugenaussagen von Wildes angeblichen Liebhabern wurde Das Bildnis des Dorian Gray von Gericht, Presse und Öffentlichkeit, wenn nicht als alleiniger Beweis, so zumindest als starker Indikator für Wildes Homosexualität ge- wertet, und trug zu seiner Verurteilung bei. Ein anderes Argument in Bezug auf Kunstskandale als Holzers These der bewussten Provokation bringt Holland vor: die Fragen nach Kunstfreiheit und freier Meinungs- äußerung. Er argumentiert: »There is little Wilde would have relished more than to stand in the witness box and defend his art.«94 Obwohl fragwürdig bleibt, ob Oscar Wilde seine Kunst wirklich mehr schätzte als seine Reputation und seine Stellung in der Gesellschaft, so bleibt es bemerkenswert, dass Wilde Das Bildnis des Dorian Gray vor dem Hintergrund der strengen Moralvorstellung der Viktorianer publizierte und selbst, als es im Prozess um seine eigene Person ging, zu seinem Werk und seinen Aus- sagen stand. Obwohl sein Anwalt Clarke versuchte, das Kreuzverhör um die Lippin- cott’s Version von 1890 zugunsten der zensierten Version von 1891 zu verhindern, erklärte Wilde sich bereit, auch zu der weit weniger zensierten Version vor Gericht Stellung zu beziehen.95 Das Bildnis des Dorian Gray erfüllte im Prozess gegen Oscar Wilde eine ganze Reihe an kommunikativen Funktionen, deren Wahrnehmung bedingt wird durch die Nar- ration der einzelnen Parteien. Während Wilde in seinem Buch die Möglichkeit sah, Kunst unabhängig vom moralischen Urteil der Gesellschaft auszudrücken, spielte es für seine Kontrahenten eine ganz andere Rolle. Queensberry und Carson versuchten dem Werk eine enthüllende Funktion im autobiographischen Sinn zuzuschreiben, wel- che Wilde als homosexuell und somit als schuldig offenbaren würde. Genau wie die Presse und Öffentlichkeit machte auch die Anklage Gebrauch von der skandalierenden Funktion des Buchs. Die Thematisierung von Tabuthemen war – genauso wie Wildes Beharren auf der Thematik – ein Normbruch, welcher gesetzlich und gesellschaftlich sanktioniert werden konnte, ja sogar musste, um das soziale System zu erhalten.

90 Holland 2003, S. 81. 91 Vgl. Holland 2003, S. 80–103. 92 Holland 2003, S. 103. 93 Vgl. Foldy 1997, S. 37. 94 Holland 2003, S. xxxvi. 95 Vgl. Holland 2003, S. 83.

31

5.4 Einordnung in das erweiterte Skandalmodell

Mehr noch als der literarische Skandal um Das Bildnis des Dorian Gray hat der reale Skandal um Oscar Wilde seinen Ursprung im sozialen System. Dieses etabliert nicht nur den Rahmen für Wildes Normbruch, sondern ist zudem geprägt von politischen Dimensionen wie der drohenden Verwicklung des Premierministers in den Skandal, welche die strafrechtliche Verfolgung weit über den eigentlichen Tatgegenstand und die vorherrschende Norm hinaus diktierte. Anders als bei Das Bildnis des Dorian Gray spielt sich dieser Skandal nicht alleine auf einer gesellschaftlich-moralischen Ebene ab. In Wildes Fall ist der Normverstoß nicht lediglich ein Affront gegen die Normen und Werte der Gesellschaft, sondern ebenso ein Gesetzesverstoß. Hierdurch wird der Skan- dal auf eine weitaus politischere Ebene gehoben. Man kann nicht länger von einem Medienskandal sprechen, da nicht die Medien Urheber oder Skandalierer des Ereig- nisses sind, sondern lediglich Berichterstatter in einem Fall, der ihre eigenen Kompe- tenzen überschreitet. Die teilnehmenden Akteure am Skandal können am besten mit Hilfe des erweiter- ten Skandalmodells nachgezeichnet werden, welches sich komplexer als bei Das Bildnis des Dorian Gray darstellt. Einerseits sind alle am Skandal beteiligten Akteure ›natürli- che Personen‹, also individuelle Handlungsträger. Bei der gerichtlichen Verhandlung werden diese durch gesetzliche Entitäten vertreten. Diese handeln im Auftrag und er- füllen zwar durch ihre Funktion die Rollen von Skandalierer, Skandaliertem und den Dritten, als individuelle Privatpersonen haben sie jedoch nicht (oder nur indirekt) mit dem Skandal zu tun. Soziales System = Das viktorianische England

Dritte = Mediale Erzählung Öffentlichkeit Mediale Erzählung (Gericht)

Oscar Wilde: Das Bildnis des Dorian Gray

Skandalierer = Skandalierte = Marquess of Queensberry Oscar Wilde (Edward Carson) denunziert (Edward Clarke)

Held oder Antiheld Held oder Antiheld

Abbildung 6: Der Skandal um Oscar Wilde im erweiterten Skandalmodell.

Das soziale System ist das gleiche wie bei Das Bildnis des Dorian Gray. Da es sich hier jedoch um reale, nicht fiktive Personen handelt, ist die Gefahr einer strafrechtlichen Verfolgung noch präsenter als beim literarischen Skandal. Auf der zweiten Ebene spielt sich der Skandal ab. Dieser besteht zunächst in der öffentlichen Denunziation durch Queensberry, der die skandalierende Karte in Wildes Club abgibt und somit zum Skandalier wird (jedoch erst, nachdem Wilde ihn anklagte und den Erhalt und Inhalt

32

der Karte somit veröffentlichte). Oscar Wilde, welcher in dieser Karte der Sodomie, einem Verstoß gegen das soziale System, bezichtigt wird, ist somit der Skandalierte. Als Dritte fungiert hier die Öffentlichkeit, welche nach Wildes Klage von der Anschuldi- gung erfährt und auf diese reagiert. Sobald der Skandal vor Gericht ging, erscheinen neue Akteure auf der Bildfläche. Die Rolle des Skandalierers übernimmt nun Queens- berrys Anwalt, Edward Carson, der in dessen Namen die Anschuldigungen gegen Wilde öffentlich vorträgt. Der Skandalierte ist nach wie vor Wilde, der zwar von sei- nem Anwalt Clarke unterstützt wird, sich jedoch selbst verteidigt und so sein eigenes Sprachrohr bleibt und auch persönlich die Konsequenzen des Urteils zu tragen hat. Die Dritten sind in diesem Fall die Richter und Geschworenen, aber auch die anwe- senden Zuschauer und Journalisten. Ihnen wird von der Anklage und der Verteidigung vom Skandal berichtet und sie reagieren durch einen Urteilsspruch – egal, ob gericht- lich oder in ihrer Zeitung – woraus dann die mediale Erzählung entsteht. Diese stili- siert, wie die Presseberichte zeigen, Queensberry zum Helden, während sie Wilde zum Antihelden macht und so nicht nur die öffentliche Meinung gegen den Schriftsteller einnimmt, sondern auch indirekt durch den öffentlichen Druck auf die Autoritäten den Urteilsspruch beeinflusst. Das Bildnis des Dorian Gray muss bei einer Betrachtung des Wilde-Skandals nicht zwangsläufig im Fokus stehen. Betrachtet man jedoch das Zusammenwirken beider Ereignisse, so ist die zentrale Position des Buchs durchaus gerechtfertigt, denn alle drei Akteure beziehen das Buch maßgeblich in ihre Version der Ereignisse ein. Wäh- rend die Skandalierer sich bemühen, ihre Denunziation, bis dato nur eine Behauptung, mit literarischen Belegen in eine Tatsache zu verwandeln, versucht die Seite der Skan- dalierten zwar nicht durch das Buch das Gegenteil zu behaupten, es jedoch als Beweis- mittel ungültig zu machen. Den Dritten schließlich wurde das Buch, inklusive beider Interpretationen, als Medium zur Meinungsbildung präsentiert, wobei dieses dabei nicht von dem Buchskandal von 1890 getrennt werden konnte.

6 Medien im Zentrum der Skandalforschung

Ein Skandal besteht immer aus mehr Komponenten als man zunächst sieht. Ereignet sich heute ein Skandal, sind wir selbst so verankert in unserem eigenen sozialen System, dass wir dieses und seine Auswirkungen auf einen Skandal und dessen Narration kaum noch hinterfragen. Die Analyse der Skandale um Das Bildnis des Dorian Gray und Os- car Wilde zeigt jedoch genau das: Ein Skandal ist immer mehr als eine normwidrige Handlung und deren öffentliche Denunziation – er ist stets auch ein Produkt von Zeit, Kultur und Politik. Aufgrund der ablehnenden Haltung gegenüber Homosexualität im viktorianischen England wurde dessen Thematisierung in Das Bildnis des Dorian Gray zum Skandal. Diesen Normbruch nutzte die mediale Berichterstattung, um Buch und Autor zum Antihelden zu stilisieren und die vorherrschenden Normen und Werte ihrer Gesellschaft zu bestätigen. Als Oscar Wilde fünf Jahre später mit einem ähnlichen Skandal konfrontiert wurde, war es nicht alleine seine Normverletzung, sondern auch die politische Dimension des Falls und die negative Berichterstattung, welche zur Härte seines Urteils beitrugen.

33

Mit Blick auf die Skandalmodelle offenbarten sich in dieser Arbeit die Probleme der gängigen Skandalforschung. Im Mittelpunkt der Überlegungen stehen stets die Akteure eines Skandals. Obwohl diese natürlich nicht zu vernachlässigen sind, wurden die beitragenden Medien – mit Ausnahme der Presse – konsequent vernachlässigt. Da- bei zeigte sich gerade für Das Bildnis des Dorian Gray und Oscar Wilde, welchen Ein- fluss das Medium Buch auf nicht nur einen, sondern zwei Skandale hatte. Die kom- munikativen Funktionen des Buchs wurden in beiden Skandalen diskutiert. Im Skan- dal um den Roman wurde deutlich, dass das Medium Buch zentral für dessen Ent- wicklung war, denn alle Akteure definierten sich und ihre Position nicht zueinander, sondern in Abhängigkeit vom Skandalmedium Buch. Auch der Skandal um Oscar Wilde rechtfertigt, das Buch als zentrales Medium der Ereignisse zu betrachten. Hier offenbarte sich besonders die Diskrepanz zwischen dem Buch als Kunstwerk und dem Buch als Beweismittel für nicht-fiktive Handlungen. Diese Tatsache bestätigt nicht nur, dass es für den Skandal um Oscar Wilde nötig ist, das Buch inklusive seiner kom- munikativen Funktionen und Möglichkeiten zu betrachten. Vielmehr wird in diesem Fall auch deutlich, wie Medien eine Eigendynamik und eine eigene Rolle in Skandalen einnehmen können. Da dieses Phänomen nicht nur in den vorliegenden Fällen zu be- obachten ist, zeigt sich hier ein Defizit der bisherigen Skandalforschung und ihrer Mo- delle. Obwohl Medien und gerade die Presse, wie das Beispiel von Das Bildnis des Do- rian Gray gezeigt hat, die Skandalnarration beeinflussen und in dieser Funktion auch wahrgenommen werden, werden zu selten die medienspezifischen Eigenschaften be- trachtet, welche Skandale und Kommunikation genauso beeinflussen können wie menschliche Akteure.

Quellenverzeichnis

HOLLAND, MERLIN / HART-DAVIES, RUPERT (Hrsg.): The Complete Letters of Os- car Wilde. New York 2000. HOLLAND, MERLIN: Irish Peacock & Scarlet Marquess. The Real Trial of Oscar Wilde. London / New York 2003. LAWLER, DONAL L. (Hrsg.): The Picture of Dorian Gray. Authoritative Texts, Back- grounds, Reviews and Reactions. Criticism. (A Norton Critical Edition) New York / London 1988. WILDE, OSCAR: The Picture of Dorian Gray. [1890a] In: Frankel, Nicholas (Hrsg.): The Uncensored Picture of Dorian Gray. A Reader’s Edition. New York 2012, S. 55–218. URL: https://www.degruyter.com/viewbooktoc/product/184439 [10.10.2016]. WILDE, OSCAR: The Picture of Dorian Gray. [1890b] In: Lawler, Donald L. (Hrsg.): The Picture of Dorian Gray. Authoritative Texts, Backgrounds, Reviews and Re- actions. Criticism. (A Norton Critical Edition) New York / London 1988, S. 173–282. WILDE, OSCAR: The Picture of Dorian Gray. [1891 b] In: Lawler, Donald L. (Hrsg.): The Picture of Dorian Gray. Authoritative Texts, Backgrounds, Reviews

34

and Reactions. Criticism. (A Norton Critical Edition) New York / London 1988, S. 7–172.

Literaturverzeichnis

ADUT, ARI: A Theory of Scandal: Victorians, Homosexuality, and the Fall of Oscar Wilde. In: American Journal of Sociology 111 (2005), S. 213–248. BÖSCH, FRANK: Politische Skandale in Deutschland und Großbritannien. In: Aus Politik und Zeitgeschichte 7 (2006) vom 13.02.2006, S. 25–32. URL: http://www.bpb.de/apuz/29923/politische-skandale-in-deutschland-und-grossbri- tannien?p=all [09.02.2006 / 10.10.2016]. BÖSCH, FRANK: Kampf um Normen: Skandale in historischer Perspektive. In: Bulkow, Kristin / Petersen, Christer (Hrsg.): Skandale. Strukturen und Strategien öffentlicher Aufmerksamkeitserzeugung. Wiesbaden 2011, S. 29–48. BULKOW, KRISTIN / PETERSEN, CHRISTER: Skandalforschung. Eine methodologische Einführung. In: Bulkow, Kristin / Petersen, Christer (Hrsg.): Skandale. Struktu- ren und Strategien öffentlicher Aufmerksamkeitserzeugung. Wiesbaden 2011, S. 9–28. BURKHARDT, STEFFEN: Skandal, medialisierter Skandal, Medienskandal: Eine Typo- logie öffentlicher Empörung. In: Bulkow, Kristin / Petersen, Christer (Hrsg.): Skandale. Strukturen und Strategien öffentlicher Aufmerksamkeitserzeugung. Wiesbaden 2011, S. 131–156. COCKS, H. G.: Chapter 3: Secrety, Crimes, and Diseases: 1800–1914. In: Cook, Matt (Hrsg.): A Gay History of Britain. Love and Sex between Men since the Middle Ages. Oxford et al. 2007, S. 107–144. FRANKEL, NICHOLAS: General Introduction. In: Frankel, Nicholas (Hrsg.): The Un- censored Picture of Dorian Gray. A Reader’s Edition. New York 2012a, S. 1–34. URL: https://www.degruyter.com/viewbooktoc/product/184439 [10.10.2016]. FRANKEL, NICHOLAS: Textual Introduction. In: Frankel, Nicholas (Hrsg.): The Un- censored Picture of Dorian Gray. A Reader’s Edition. New York 2012b, S. 35–54. URL: https://www.degruyter.com/viewbooktoc/product/184439 [10.10.2016]. FOLDY, MICHAEL S.: The Trials of Oscar Wilde: Deviance, Morality, and Late-Vic- torian Society. New Haven / London 1997. HOLZER, JOHANN: Kunst und Spektakel: Skandale im Beziehungsraum zwischen Li- teratur und Macht. In: Bulkow, Kristin / Petersen, Christer (Hrsg.): Skandale. Strukturen und Strategien öffentlicher Aufmerksamkeitserzeugung. Wiesbaden 2011, S. 249–262. [GROSSBRITANNIEN] / MEAD, FREDERICK / BODKIN, HENRY: The Criminal Law Amendment Act 1885, with Introduction, Notes and Index. London 1885. LUHMANN, NIKLAS: Die Realität der Massenmedien. 2., erweiterte Auflage. Opladen 1996.

35

NECKEL, SIGHARD: Das Stellhölzchen der Macht. Zur Soziologie des politischen Skandals. In: Ebbinghausen, Rolf / Neckel, Sighard (Hrsg.): Anatomie des politi- schen Skandals. Frankfurt am Main 1989, S. 55–82. SHOWALTER, ELAINE: Homosexuality and the Late Victorian Anxiety. In: Boyd, Kelly / McWilliam, Rohan: The Victorian Studies Reader. London et al. 2007, S. 370–379.

36

Anja Groß Die vermeintliche Empörung im (Skandal-)Fall Esra

1 Kunstfreiheit oder Persönlichkeitsrecht?

Der Philosoph Aristoteles beschrieb das Schaffen von Kunst einst als die bewusste Nachahmung einer Handlung.1 Demnach schöpfen Künstler, Literaten und Poeten ihre Inspiration aus dem realen Leben. Das künstlerisch Geschaffene adressiert seit dem 18. Jahrhundert ein anonymes Publikum, bei dem es seine Wirkung entfalten und die Lebenswirklichkeit beeinflussen möchte. Was geschieht jedoch, wenn sich eine Person aus dem vermeintlich anonymen Publikum in dem Kunstwerk wiedererkennt oder so- gar unschön porträtiert sieht? Eben dieser Situation sah sich der Schriftsteller Maxim Biller mit seinem Roman Esra gegenüber: Zwei Frauen klagten 2003 gegen sein Werk und wollten es per Gericht verbieten lassen. Biller rechtfertigte sich in einem offenen Brief – seine Erklärung erinnert an das Kunstverständnis Aristotelesʼ: Was ist die Arbeit eines Schriftstellers? Inspiriert und beseelt von der Wirklichkeit, in der er lebt und die er lebt, erschafft er die Fiktion, die wir Erzählung, Roman, Novelle oder Gedicht nen- nen. […] Der Schriftsteller erzählt Geschichten vom Leben – nicht gegen das Leben –, und darum ist Literatur immer nur eins: die Hymne auf die große menschliche Tragikomödie und nicht ein Kommentar zu ihr.2 Was Kunst ist und vor allem, was Kunst darf, lag jedoch für den Roman Esra nicht mehr in den Händen des Schriftstellers. Über die Grenzen von (Billers) Literatur ent- schieden nun die Richter – aus dem ›Roman Esra‹ wurde der ›Fall Esra‹. Vor Gericht wurden zwei Grundrechte gegeneinander abgewogen: das Recht auf Kunstfreiheit ge- gen das Recht auf Persönlichkeitsschutz. Hierzu schreibt der Literaturwissenschaftler Remigius Bunia: Der Konflikt im Falle des Verbots von Esra besteht zwischen dem Recht auf öffentliche künst- lerische Lebensäußerung und auf dem Recht auf eine – vor der Öffentlichkeit – geschützte In- timsphäre.3 Die gerichtlichen Prozesse und Entscheidungen wurden in der Folgezeit stark skanda- lisiert und über mehrere Jahre hinweg von einer umfangreichen Medienberichterstat- tung begleitet. Hierbei ergab sich eine Wechselwirkung: Das öffentliche Interesse war nicht lediglich eine Folge der Skandalisierung, sondern stellte zugleich eine der Ursa- chen dar. In der vorliegenden Arbeit soll die (vermeintliche) mediale Empörung im (Skan- dal-)Fall Esra nachgezeichnet werden. Das methodische Vorgehen orientiert sich hier- bei an einem Modell der Skandalforschung: Demnach findet innerhalb eines sozialen Systems eine mediale Erzählung statt, diese wirkt auf den Skandal ebenso begleitend wie auch konstituierend. Im Fokus steht der journalistische Diskurs des Literatur- und

1 Vgl. Aristoteles 2008, S. 4. 2 Biller 2003. 3 Bunia 2008, S. 105.

37

Buchbetriebs – als soziale Systeme – im chronologischen Verlauf der Prozessverhand- lungen. Als Untersuchungsgegenstände für die mediale Erzählung dienen drei überre- gionale Tageszeitungen sowie das Börsenblatt als buchhändlerisches Branchenmagazin. Zum einen wird die Positionierung für und gegen die Kunstfreiheit bzw. den Per- sönlichkeitsschutz in Abhängigkeit der jeweiligen Akteure überprüft. Zum anderen sol- len die Wechselwirkungen der Berichterstattung mit den Entscheidungen vor Gericht aufgezeigt werden. Nahmen die Akteure des Literaturbetriebs womöglich sogar Ein- fluss auf den juristischen Ausgang? Und argumentierten sie in ihren Artikeln aus einer literatur- oder rechtswissenschaftlichen Perspektive?

2 Der Fall Esra

2.1 Der Roman Esra vor Gericht

Spricht man vom Fall Esra, so ist der Rechtsstreit um das Verbot der Veröffentlichung von Maxim Billers gleichnamigem Roman gemeint. Die gerichtlichen Streitigkeiten umfassten alle rechtlichen Instanzen im Zeitraum von 2003 bis 2009. Veröffentlicht wurde der Roman erstmals im Jahr 2003 im Kiepenheuer & Witsch-Verlag in Köln. Zunächst ist die Frage nach Autor und Inhalt des Romans zu klären, da sich hieraus die gerichtlichen Streitpunkte ableiten lassen. Der Urheber Maxim Biller wurde im Jahr 1960 in einem jüdischen Elternhaus in Prag geboren. Heute lebt der Schriftsteller in Berlin und trat als Autor zahlreicher bekannter Romane und Zeitungskolumnen hervor. Breite Medienwirkung erzielte Biller als Mitglied des neu aufgelegten Literari- schen Quartetts. In seinem streitgegenständlichen Roman erzählt er die Liebesge- schichte zwischen dem jüdisch-stämmigen Adam und der Türkin Esra. Die Beziehung des jungen Paars verläuft unglücklich und ist von Eifersucht und Missgunst geprägt. Auch die Beziehung zu den jeweiligen Elternhäusern gestaltet sich als schwierig, Adams Verhältnis zu Esras Mutter Lale etwa gleicht einer regelrechten Hassliebe. Die Ro- manbesprechung wurde in der Literaturkritik von unterschiedlichen Stimmen, von wohlwollend bis ablehnend, begleitet.4 Am 20. Februar 2003 erfolgte die Erstauslieferung von rund 4.000 Exemplaren an den Buchhandel. Kaum eine Woche später, am 28. Februar, wurde am Münchner Landgericht I (LG I) eine einstweilige Verfügung gegen den Roman eingereicht. Als Klägerinnen traten die Schauspielerin Ayşe Romey sowie deren Mutter Birsel Lemke auf. Die beiden Frauen erkannten sich in dem Roman als die beschriebenen Figuren Esra und Lale wieder. Der Forderung einer einstweiligen Verfügung wurde vom Münchner LG I am 3. März stattgegeben. Am 18. Juni folgte die Klageschrift, in der die beiden Klägerinnen ihre Intimsphäre durch »ehrverletzende und beleidigende Schilderungen«5 beschädigt sahen. Die Erkennbarkeit sei insbesondere durch die Nen- nung der jeweiligen Preisträgerschaften – des Bundesfilmpreises sowie des alternativen Nobelpreises – gegeben. In Folge dessen schlug Sven Krüger, Anwalt des Kiepenheuer

4 Vgl. Kiepenheuer & Witsch 2016; Biller 2003; Bünnigmann 2013, S. 6–20. 5 Nostitz 2003, S. 18.

38

& Witsch-Verlags, die Veröffentlichung einer überarbeiteten Fassung vor. Die kriti- schen Textstellen sollten in der neuen Version ausgestrichen werden. Nach Ablehnung durch das LG I stimmte das Oberlandesgericht München dem Vorschlag der Verfrem- dung am 23. Juli in zweiter Instanz zu. Im Zuge dessen konnte der Kölner Verlag wei- tere 2.000 Exemplare von Esra in der sogenannten Münchner Fassung ausliefern. Der Verkauf des geweißten Romans kam jedoch nur dank der einstweiligen Verfügung zum Tragen und wurde mit der Urteilssprechung des Münchner LG I bereits am 15. Ok- tober wieder revidiert. Von da an war es dem Verlagshaus verboten, den Roman in jeglicher Form zu »veröffentlichen, auszuliefern, zu vertreiben oder zu bewerben«6. Die Richter stimmten der Erkennbarkeit der Klägerinnen somit zu und bestätigten die schwerwiegende Verletzung der Persönlichkeitsrechte durch die Romanbeschreibun- gen. Noch im selben Jahr, am 12. November, legte der Kiepenheuer & Witsch-Verlag beim OLG München unter Weiterführung durch den Bundesgerichtshof Berufung gegen das Urteil ein. Die Begründung zielte auf die Herabwürdigung der künstleri- schen Freiheit durch die »Einebnung von Dokumentation und Belletristik«7 ab. Dieses Argument hielt auch vor der nächsthöheren Instanz nicht stand und am 6. April 2004 erfolgte die Bestätigung der bisherigen Urteilssprechung durch das OLG München: Das Buch Esra blieb in der ›streitgegenständlichen Fassung‹ verboten, kann aber bei genügender Verfremdung und/oder Vermeidung von Eingriffen in das Persönlichkeitsrecht […] veröffent- licht werden.8 Ein Jahr später, am 21. Juni 2005, bekräftigte der BGH die bisherige Rechtsprechung im Fall Esra erneut.9 Autor und Verlag wollten sich mit diesem Urteil nicht zufriedengeben. Sie sahen damit eine übermäßige Einschränkung der Kunstfreiheit, die auch für nachfolgende gerichtliche Entscheidungen gelten und somit Allgemeingültigkeit entfalten könnte, verbunden. Am 19. August 2005 legte der Kiepenheuer & Witsch-Verlag daher Verfas- sungsbeschwerde beim Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe ein. Im Zuge dessen for- derte der Bundesverfassungsrichter Brun-Otto Bryde den Börsenverein des Deutschen Buchhandels, den Verband Deutscher Schriftsteller sowie das deutsche PEN-Zentrum als drei Verbände des Literaturbetriebs zur Stellungnahme auf, um auch buchhändlerische Interessen ausreichend zu berücksichtigen. Die drei Verbände sprachen sich einstim- mig für eine Stärkung der künstlerischen Freiheitsrechte aus. Der Beschluss der obers- ten Richter erfolgte schließlich zwei Jahre später, am 13. Juni 2007. Die öffentliche Bekanntgabe der Urteilssprechung fand am 12. Oktober desselben Jahres statt. Zu- sammenfassend wurde folgendes Urteil gefällt: Die Kunstfreiheit ist nicht mit einem ausdrücklichen Gesetzesvorbehalt versehen. Sie ist aber nicht schrankenlos gewährleistet, sondern findet ihre Grenzen unmittelbar in anderen Bestim- mungen der Verfassung, die ein in der Verfassungsordnung des Grundgesetzes ebenfalls wesent- liches Rechtsgut schützen.10

6 Wittstock 2012, S. 51. 7 Krüger 2003, S. 23. 8 OLG München 2004, S. 28–29. 9 Vgl. Wittstock 2012, S. 32–75. 10 BVerfG 2007, II 68.

39

Mit diesem ›wesentlichen Rechtsgut‹ waren im vorliegenden Fall insbesondere die Grundgesetze zum Schutz der Persönlichkeitsrechte gemeint. Obwohl beide Roman- figuren, Esra und Lale, durch den Roman Esra als die Klägerinnen entschlüsselt werden können, liegt nur im Falle von Esra (Ayşe Romey) eine Persönlichkeitsrechtsverletzung vor. Dies ist eine Änderung im Vergleich zu den vorangegangenen Rechtsprechungen. Der BGH musste daraufhin seinen Rechtsspruch von 2005 für die zweite Klägerin Birsel Lemke nochmals überarbeiten. Am 10. Juni 2008 folgte das Urteil, in welchem ihr die Verletzung der Persönlichkeitsrechte abgesprochen wurde.11 Im Anschluss an die beschriebene Unterlassungsklage wurde das Recht auf Scha- densersatz für die Klägerin Ayşe Romey verhandelt. Am 18. Mai 2006 ging hierzu erst- mals eine Forderung von über 100.000 Euro beim Münchner LG I ein. Nachdem das LG einem geldlichen Anspruch zunächst zustimmte, lehnten das OLG sowie der BGH die Bezahlung von Schmerzensgeld in zweiter und dritter Instanz ab.12

2.2 Der Roman Esra als Skandal

2.2.1 Definition Skandal In der Wissenschaft existiert eine Vielzahl von Definitionen, die versuchen, das Phä- nomen eines Skandals erklären. Eine Übereinstimmung stellt die wenig spezifische Be- schreibung als »Abweichung von der Norm«13 dar. Etwas umfangreicher liest sich der soziologische Definitionsversuch von Steffen Burkhardt: Skandalisierung lässt sich seit jeher als Kommunikationsprozess beschreiben, der durch einen postulierten Verstoß gegen den Leitcode des sozialen Referenzsystems öffentliche Empörung aus- löst.14 Neben der Überschreitung von gesellschaftlich konstituierten Grenzen menschlichen Verhaltens kommt hier ein weiterer Aspekt zum Ausdruck, der essentiell für die Ent- stehung eines Skandals ist: die (empörte) Reaktion von Dritten. Ein Skandal lebt von einer, in der Regel medialen, Öffentlichkeit. Die Entscheidung für oder wider die Skandalberichterstattung hängt dann wiederum von verschiedenen Faktoren, beispiels- weise der Prominenz des Skandalierers oder dem Schaden des Skandalierten, ab. Eine anschließende Bewertung des Skandalverlaufs ermöglicht die Feststellung und eventu- elle Neuaushandlung gesellschaftlicher Werte und Normen.15 Literaturskandale zeichnen sich neben den genannten Merkmalen durch spezifische Charakteristika aus. Volker Ladenthin stellt sogar die These auf, dass moderne Litera- tur per se immer ein Aufbegehren gegen künstlerische Konventionen und somit ein Skandalon sei.16 Zwar wird Schriftstellern häufig vorgeworfen, Skandale künstlich zu produzieren und provozieren, dennoch sei dem entgegenzusetzen, dass nicht jede lite-

11 Vgl. Wittstock 2012, S. 76–110; Bünnigmann 2012, S. 20–33. 12 Vgl. Wittstock 2012, S. 107–121. 13 Bulkow / Petersen 2001, S. 9. 14 Burkhardt 2011, S. 131. 15 Vgl. Oelrichs 2016, S. 165; Bulkow / Petersen 2011, S. 9–17. 16 Vgl. Ladenthin 2007, S. 20.

40

rarische Veröffentlichung mit der oben genannten Bedingung einer öffentlichen Em- pörung einhergeht. Den Ansprüchen eines öffentlichen Skandals können somit nicht alle literarischen Werke genügen. Für Literaturskandale kann zudem gelten, dass sie sich durch eine beschränkte Reichweite auszeichnen. Anders als einige polarisierende Sachbücher spielt sich der Skandal zu fiktiven Romaninhalten meist in den engen Krei- sen des Literaturbetriebs ab und nimmt lediglich Einfluss auf die Normen des literari- schen Wertesystems.17

2.2.2 Anwendung auf Esra Zunächst soll die Frage geklärt werden, ob der Roman Esra die Bedingungen eines (Literatur-)Skandals erfüllt. Der Skandal zu Billers Werk spielte sich vermutlich auf mehreren Ebenen ab. Zunächst ist der Inhalt des Romans als skandalös zu bewerten. Biller ließ die Grenzen zwischen Realität und Fiktion in seinem Werk soweit ver- schwimmen, dass von einer Art Seiltanz mit den Persönlichkeitsrechten der realen Vor- bilder gesprochen werden kann. Insbesondere die Beschreibung intimer Details stellte einen Eingriff in die Privatsphäre dar. In diesem Zusammenhang war von Esra als ei- nem Schlüsselroman zu lesen, der es einer größeren Öffentlichkeit erlaubte, die ge- nannten Personen zu identifizieren. Im Zuge der gerichtlichen Prozessverhandlungen lag es nicht mehr in den Händen des einzelnen Künstlers bzw. des Autors über das angemessene Maß von Kunstfreiheit und Persönlichkeitsrechten zu entscheiden. Vor der Justiz wurde das »Verhältnis von Literatur und Diskretion«18 über alle Instanzen hinweg neu ausgehandelt. Insbesondere die Akteure des Literaturbetriebs sahen durch den »staatliche[n] Eingriff in die Kunst- freiheit«19 eine Gefahr für den Kulturbetrieb. Man befürchtete, dass der Fall Esra ein Exempel statuieren und das Recht auf künstlerische Freiheit zukünftig beschneiden würde. Die Literaturwissenschaftlerin Bettina von Jagow fasste diesen Gedanken wie folgt zusammen: Skandalös grundsätzlich aber ist, dass es im Jahre 2003 in Deutschland zu einem Druck- und Verbreitungsverbot eines Buches kommen kann, das keine politischen anstößigen oder ideolo- gisch prekären Inhalte verbreitet.20 Um ihren Missmut Ausdruck zu verleihen, wendeten sich viele Journalisten an die Öffentlichkeit, indem sie zu den Streitpunkten Stellung bezogen. Somit wurde im Fall Esra die für die Skandalisierung notwendige Öffentlichkeit konstituiert, indem man sich an ein größeres Publikum wendete. Ein Blick in die Skandaltheorie zeigt, dass viele Faktoren für mediales Interesse gegeben waren: Notwendige Bedingungen sind etwa die »Gerichtsbarkeit der Normüberschreitung, [die] Thematisierung einer gesellschaft- lichen Funktion über den Fall hinaus [sowie das] dargestellte Bewusstsein des Norm- überschreiters für das Auftreten möglichen Folgen«.21 Aufgrund der vielen Übereinst- immungen begründet sich der hohe Nachrichtenwert des Romanverbots.

17 Vgl. Ladenthin 2007, S. 70–71. 18 Franzen 2014, S. 85. 19 Bunia 2008, S. 104. 20 Jagow 2007, S. 684. 21 Oelrichs 2016, S. 171.

41

In der Forschungsliteratur herrscht allerdings Uneinigkeit über den Grad der Em- pörung, den Esra auslöste. Martin Hielscher beispielsweise erkennt die mediale Be- richterstattung zwar an, spricht ihr jedoch eine wirkliche Empörung ab, da kein ›Trans- fer in eine breitere Öffentlichkeit‹ stattgefunden habe.22 Zumindest der zweiten Aus- sage sei entgegengehalten, dass sich ein Literaturskandal eher innerhalb der Grenzen des Literaturbetriebs abspielt. Die Aussage von Hielscher, welche auch die Akteure der Skandalberichterstattung involviert, soll im Hauptteil genauer überprüft werden.

2.2.3 Forschungsstand zum Fall Esra Der Fall Esra wurde auch von Seiten des Wissenschaftsbetriebs umfassend analysiert. Ein Blick in die Forschungsliteratur zeigt, dass den Untersuchungen ganz unterschied- liche wissenschaftliche Motivationen zugrunde liegen. Den Rechtswissenschaften die- nen die gerichtlichen Streitigkeiten beispielsweise als ein aktuelles Musterbeispiel für die gesetzliche Abwägung zwischen den beiden Positionen Kunstfreiheit und Persön- lichkeitsschutz. Aus eben jener juristischen Perspektive erläutert etwa Jochen Neumeyer in seiner 2010 erschienen Publikation die hochrichterlichen Entscheidun- gen. Einen interdisziplinären und damit umfassenderen Ansatz verfolgen die beiden Werke von Mareike Riedel (2011) und Kathrin Bünnigmann (2013). Die beiden Ju- ristinnen nehmen auf der einen Seite eine rechtswissenschaftliche Analyse vor, berück- sichtigen auf der anderen Seite jedoch zugleich die literaturwissenschaftlichen Anfor- derungen an Fiktionalität. Eine populärwissenschaftliche Abhandlung zum Ablauf des gesamten Rechtsstreits stammt von Uwe Wittstock (2012). Sein Werk diente als Auf- arbeitung des Falls aus Sicht des in die gerichtlichen Streitigkeiten involvierten Ver- lagshauses Kiepenheuer & Witsch. Nicht überraschend wird hierbei eine klare Positio- nierung für die künstlerische Freiheit eingenommen. Neben diesen Werken mit rechts- wissenschaftlicher Perspektive haben sich auch geisteswissenschaftliche Disziplinen am Diskurs um Esra beteiligt. Sabine Buck (2011) vertritt mit ihrer Veröffentlichung die Literaturwissenschaften. Aus medien- und buchwissenschaftlicher Perspektive steht die mediale Breitenwirkung von Billers Roman im Vordergrund. Etliche Autoren – bei- spielsweise Martin Hielscher (2007), Volker Ladenthin (2007) oder Johannes Franzen (2014) – beschäftigten sich mit der Skandalisierung und deren Folgewirkungen für den Kulturbetrieb. Die zahlreichen Beiträge aus den genannten Disziplinen verdeutlichen, dass der Fall Esra auch aus theoretischer Perspektive eine Wirkung als Präzedenzfall entfalten konnte.

3 Methodisches Vorgehen

3.1 Die mediale Erzählung

In der vorliegenden Arbeit wird die mediale Reaktion im Fall Esra untersucht. Die im Zuge der Gerichtsverhandlungen entstandene öffentliche Diskussion kann als ein Kommunikationsprozess verstanden werden, der wesentlichen Einfluss auf die Skan- dalisierung von Billers Roman nahm. Die medialen Stimmen trugen die gerichtlichen

22 Vgl. Hielscher 2007, S. 693.

42

Streitigkeiten um Esra in den öffentlichen Raum und generierten somit Aufmerksam- keit. Die theoretische Einordnung der Medienberichterstattung soll anhand eines Kom- munikationsmodells aus der Skandalforschung durchgeführt werden. Das von Steffen Burkhardt erarbeitete Schema bildet gleichsam die Grundlage für das methodische Vorgehen. Burkhardt verortet die mediale Erzählung innerhalb eines sozialen Systems. Wie in Niklas Luhmanns Systemtheorie ist die Grundvoraussetzung für das Bestehen des sozialen Systems Kommunikation, hier die mediale Erzählung. Das mediale System involviert drei Personengruppen: Journalisten, Aktanten und das Publikum. Eine wichtige Rolle nehmen die Journalisten ein, da sie laut Burkhardt in der Rolle des Erzählers als ›narratives Personal‹ fungieren. Aufgrund dieser Machtposition können sie die Aktanten, also die von dem Skandal betroffenen Personen, innerhalb der Erzäh- lung als Helden oder Antihelden stilisieren. Den Aktanten wird hierdurch die ›öffent- liche Inszenierungshoheit‹ abgesprochen.23 Das Publikum agiert in dem Modell als Helfer, indem es die Erzählungen der Journalisten rezipiert und die mediale Positio- nierung der Aktanten festigt. In der nachfolgenden Abbildung wird Burkhardts Skan- dalmodell zusammengefasst.

Abbildung 1: Skandalmodell – die mediale Erzählung. Aus: Burkhardt 2011, S. 138.

Die mediale Erzählung rund um die gerichtlichen Streitigkeiten war vorwiegend für den literarischen Betrieb als soziales Teilsystem von Interesse. Die extern verhandelten Freiheiten und Grenzen von Literatur haben wiederum Auswirkungen auf dieses Teil- system. Darüber hinaus ist der Fall Esra eng mit einem juristischen Teilsystem ver- flochten: Dieses zweite Teilsystem nimmt durch die Verhandlung der Grenzen von Romaninhalten Einfluss auf den Literaturbetrieb und zugleich auch auf die eigene Sys- temstruktur. In der vorliegenden Arbeit soll jene mediale Erzählung betrachtet werden, welche sowohl das literarische als auch das buchökonomische System fokussiert. Die

23 Vgl. Burkhardt 2011, S. 136 f.

43

in Burkhardts Modell als Journalisten bezeichneten Erzähler können dabei sowohl ei- nen literarischen als auch einen juristischen Bildungshintergrund haben. Für beide Gruppen gilt, dass eine Beteiligung an dem Diskurs über die Belange des literarischen Systems stattfindet. Innerhalb der medialen Erzählung können die Akteure verschie- dene Positionen einnehmen. Möglich ist eine Positionierung für oder wider die Kunst- freiheit bzw. die Persönlichkeitsrechte. Die beiden Pole bilden das Pendant zu Burk- hardts Formulierungen ›Held‹ und ›Antiheld‹. In der nachfolgenden Fallstudie soll die Berichterstattung der medialen Erzähler im zeitlichen Verlauf nachvollzogen werden. Zudem möchte die Untersuchung die Wechselwirkungen der Berichterstattung mit den laufenden Verhandlungen, also dem juristischen Teilsystem, aufzeigen. Die weite- ren Personengruppen – Aktanten und Publikum – nehmen für die Auswertung eine untergeordnete Rolle ein.24

3.2 Der Untersuchungsgegenstand

Zum einen wird die mediale Erzählung im Fall Esra anhand der Darstellungen über- regionaler Tageszeitungen nachgezeichnet. Hierfür wurden die Süddeutsche Zeitung (SZ), die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) sowie die tageszeitung (taz) als Untersu- chungsobjekte ausgewählt. Alle drei verfügen über eine auflagenstarke Reichweite so- wie ein renommiertes Zeitungsprofil und eignen sich daher als Quellen.25 Im Zuge einer quantitativen Auswertung der Zeitungsartikel soll die Häufigkeit der Berichter- stattung im zeitlichen Verlauf der Gerichtsverhandlungen dargestellt werden. Zudem erfolgt eine Einteilung in verschiedene Kategorien, die zugleich die Grundlage für die qualitative Auswertung bilden. In der darauf folgenden Inhaltsanalyse wird ein genau- erer Blick auf die Autoren als journalistische Erzähler geworfen: Positionieren sich die Akteure innerhalb der Grenzen des Literaturbetriebs oder können sie als fachfremd – beispielsweise durch die Zugehörigkeit zum juristischen Teilsystem – identifiziert wer- den? Anschließend werden die Argumente beider Positionen, den Vertretern der Kunstfreiheit bzw. der Persönlichkeitsrechte, untersucht. Als Ziel gilt es, die Mei- nungsbilder und – falls gegeben – deren Auswirkungen auf die vor Gericht getroffenen Entscheidungen zu analysieren. Zum anderen sollen neben der Zeitungsberichterstattung die Beiträge im Börsen- blatt untersucht werden. Die Herausgeberschaft liegt beim Börsenverein des Deutschen Buchhandels als buchhändlerische Verbandsorganisation. Das Vorgehen ist analog zu den Tageszeitungen: der quantitativen folgt eine qualitative Untersuchung. Die Auswertung der Berichterstattung soll sich auf den Zeitraum von 2003 bis 2007 (01.01.2003–31.12.2007) stützen. Damit sind die medialen Reaktionen auf die ge- richtlichen Entscheidungen aller Instanzen, von dem Münchner LG I bis zur offiziellen Stellungnahme des Bundesverfassungsgerichts, berücksichtigt.

24 Vgl. Burkhardt 2011, S. 136–138. 25 Vgl. Statista 2016.

44

4 Die mediale Erzählung im Fall Esra

4.1 Die mediale Reaktion der Tageszeitungen

4.1.1 Quantitative Auswertung Die Onlinearchive der drei Tageszeitungen wurden für die Auswertung der Berichte auf die Begriffskombinationen ›Maxim Biller‹ und ›Esra‹ hin untersucht. Über alle drei Zeitungen hinweg erschienen in den knapp fünf Jahren 104 Artikel, welche die gesuchten Begrifflichkeiten enthielten. Die in München ansässige SZ nimmt mit rund 43 Berichten den größten Anteil am Gesamtkorpus ein. In der taz wurden im Unter- suchungszeitraum 38 und in der FAZ 23 Beiträge publiziert. Von den 104 Artikeln wurden allein 46 und somit knapp die Hälfte aller Beiträge im Jahr 2003 zum Auftakt der langwierigen Prozessverhandlungen veröffentlicht. In den darauffolgenden Jahren, von 2004 bis 2006, waren in den drei Nachrichtenblät- tern zusammen jährlich etwa zehn Artikel über die gerichtlichen Streitigkeiten zu lesen. Mit Verkündung des Urteils durch das Bundesverfassungsgericht zum Ende des Jah- res 2007 stieg das Interesse der Journalisten mit rund 28 Berichten wieder deutlich an. Die Kennzahlen legen nahe, dass die Aufmerksamkeit überwiegend zu Beginn und zum Ende, dem lange erwarteten Urteil des Bundesverfassungsgerichts, besonders hoch war. Im Verlauf der gerichtlichen Verhandlungen flaute das mediale Interesse in den Jahren 2004 bis 2006 deutlich ab. Da die richterlichen Verhandlungen vor dem OLG (2004) sowie dem BGH (2005) wiederkehrend die gleichen Rechtsfragen verhandel- ten, hatte sich die erste Welle der Überraschung vermutlich bereits gelegt. Diese Be- obachtung trifft für alle drei Tagezeitungen zu. Trotzdem bleibt zu vermerken, dass der Fall Esra über mehrere Jahre hinweg medial begleitet wurde und nie ganz aus dem Blickfeld der Journalisten rückte. Die nachfolgende Tabelle schlüsselt die Anzahl der Beiträge für die drei Untersuchungsobjekte auf.

2003 2004 2005 2006 2007 Gesamt FAZ 18 4 3 2 16 43 SZ 17 5 6 3 7 38 taz 11 2 2 3 5 23 Gesamt 46 11 11 8 28 104

Abbildung 2: Jährliche Berichterstattung der jeweiligen Tageszeitungen.

Die regelmäßigen gerichtlichen Entscheidungen können als Triebfeder der medialen Aufmerksamkeit im Fall Esra erachtetet werden. Daher stellt sich die Frage, welche richterlichen Urteile besonderen Einfluss auf die Anzahl der erschienenen Zeitungsar- tikel nahm. Für die Auswertung waren lediglich jene Berichte von Interesse, die im unmittelbaren Anschluss an das Gerichtsurteil, also innerhalb von zwei Wochen, in den Zeitungen abgedruckt wurden. Die meisten Artikel zog die höchstrichterliche of- fizielle Stellungnahme des Bundesverfassungsgerichts vom 12. Oktober 2007 nach sich: In den drei Nachrichtenblättern wurden nachfolgend rund 15 Beiträge veröffent- licht. An zweiter Stelle steht die früheste Entscheidung über das Verkaufsverbot des

45

Romans, welche am 15. Oktober 2003 vom Münchner LG I gefällt und durch zehn Beiträge medial begleitet wurde. Die nachfolgende Urteilsbestätigung durch das OLG München vom 6. April 2004 sorgte bereits für wesentlich weniger Aufregung in den Tagezeitungen; hiervon berichteten lediglich vier Artikel. Scheinbar stellte die Ur- teilsbestätigung keine Überraschung für die Journalisten dar. Diese Vermutung bestä- tigt auch Uwe Wittstock, wenn er von dem Urteil des OLG als »mäßig interessante Durchgangsstation auf dem Weg zum vermutlichen Finale vor dem BGH«26 spricht. Und tatsächlich zog das Urteil des Karlsruher BGH als obsterstes Gericht in Deutsch- land rund acht Zeitungsartikel nach sich. Eine mögliche Erklärung für die gesteigerte Berichterstattung im Zuge der Gerichtsurteile durch höhere Instanzen war die Be- fürchtung, dass das Romanverbot von Esra ein Präzedenzfall für nachfolgende Ent- scheidungen darstellen könnte. Man vermutete, dass die Rechtsprechung ein Exempel statuieren und Buchverbote ähnlicher Art zukünftig erleichtern würde. Die Tabelle fasst die Anzahl der Artikel als Reaktion auf die Gerichtsentscheidun- gen zusammen.

Urteilsspruch Zeitraum Berichte Einstweilige Verfügung durch Münchner LG I 03.03.–17.03.2003 8 Endurteil durch Münchner LG I (Verkaufsverbot) 15.10.–29.10.2003 10 Urteilsbestätigung durch OLG München 06.04.–20.04.2004 4 Urteilsbestätigung durch BGH 21.06.–05.07.2005 8 Offizielle Urteilsverkündung durch BVG 12.10.–26.10.2007 15

Abbildung 3: Berichte in den untersuchten Tageszeitungen nach den Urteilsverkündungen.

Die insgesamt 104 Artikel sollen nun nach inhaltlichen Gesichtspunkten differenziert werden. Um eine genauere Auswertung vorzunehmen, wird eine Einteilung in zwei Kategorien vorgenommen: wertende und wertungsfreie Beiträge. Die bewerten- den Stellungnahmen können entweder für die Kunstfreiheit oder den Persönlichkeits- schutz plädieren. Diese Artikel werden in der nachfolgenden qualitativen Auswertung noch eingehender untersucht. Die wertungsfreien Beiträge können ebenfalls nochmals in zwei Kategorien eingeteilt werden. Zum einen sind damit sachliche Berichte ge- meint, die lediglich den aktuellen Stand der Gerichtsverfahren thematisieren. Zum an- deren werden hierunter weitere neutrale Beiträge, beispielsweise Rezensionen oder län- gere sachliche Darstellungen, zusammengefasst, die kein Plädoyer für oder wider Kunstfreiheit bzw. Persönlichkeitsschutz darstellen. Von den insgesamt 104 Beiträgen beziehen 38 Artikel und somit rund 36 Prozent des Gesamtkorpus Stellung zu dem Spannungsverhältnis zwischen Kunstfreiheit und Persönlichkeitsschutz. Hierbei wird der künstlerischen Freiheit des Autors ein deutli- cher Vorrang eingeräumt: Über 70 Prozent der Artikel stellen sich auf die Seite der Kunstfreiheit. Zehn der insgesamt 38 Beiträge argumentieren für eine Stärkung der Persönlichkeitsrechte. Die wertenden Stellungnahmen sollen nochmals nach ihrer Häufigkeit in den drei Tageszeitungen unterschieden werden. Ein relativ ausgegliche-

26 Wittstock 2011, S. 67.

46

nes Verhältnis präsentiert die SZ: Zehn Beiträge argumentieren pro und sieben Bei- träge kontra Kunstfreiheit. Im Gegensatz dazu sind in der FAZ lediglich elf Artikel für die Rechte der Kunst und keine Gegenmeinungen vertreten. In der taz plädieren die Journalisten in sieben Artikeln für und in drei gegen die Kunstfreiheit. Die wertfreien Artikel setzen sich aus 38 sachlichen Berichten über den Ablauf der Gerichtsverhandlungen sowie weiteren 28 neutralen Artikeln, die den Skandal um Esra ohne Wertung behandeln, zusammen. Für die letzte Kategorie soll ergänzt werden, dass der Fall Esra häufig im Zuge von Rezensionen über Billers literarische Nachfolge- werke oder ähnliche Gerichtsverhandlungen, zum Beispiel der Roman Meere von Alba Nikolai Herbst, Erwähnung fand. Dies zeigt, wie stark sich die Verhandlungen um Billers Roman in den Köpfen der Journalisten festgesetzt hatten sowie bei ähnlichen Streitigkeiten vor Gericht häufig der Bezug zu dem vermeintlichen Präzedenzfall Esra gesucht wurde.

4.1.2 Qualitative Auswertung Im Zuge der qualitativen Auswertung sollen die bewertenden Zeitungsberichte auf ihre Aussagen hin untersucht werden. Vor der eigentlichen Inhaltsanalyse wird ein Blick auf die Autoren als mediale Erzähler geworfen. Insgesamt wurden die 38 Artikel von rund 25 Beiträgern verfasst. Auffällig ist zu- nächst, dass ein Gros der Autoren als Akteure dem literarischen System zugerechnet werden kann: Für 15 Personen und somit 60 Prozent ist diese Zuordnung möglich. Es sind also in erster Linie Literaturkritiker und -redakteure, Schriftsteller sowie Journa- listen, welche in den drei Tageszeitungen meinungsführend an der öffentlichen De- batte um Esra beteiligt waren. Bei fünf Autoren kommt es zu Überschneidungen zwi- schen dem literarischen und juristischen Teilsystem. In diesem Personenkreis gibt es zum einen eine enge Verbindung zum Literaturbetrieb, beispielsweise als Verlagsleiter oder Buchautor, zum anderen verfügen die Autoren über einen rechtswissenschaftli- chen Bildungshintergrund. Für die verbleibenden fünf Beiträger kann keine eindeutige Zuordnung zu einem der Teilsysteme vorgenommen werden, da es sich überwiegend um Leserbriefe handelt. Die Lesermeinungen werden in der Auswertung ebenfalls be- rücksichtigt, da sie eine Reaktion auf die journalistischen Berichte darstellen. Aufschlussreich ist eine Beobachtung zum Verhältnis der beiden Personenkreise – mit oder ohne juristische Vorbildung – in Bezug auf die Einstellung zu den Grund- rechten Kunstfreiheit bzw. Persönlichkeitsschutz. Von den 15 Autoren des literari- schen Teilsystems argumentieren 14 für die Stärkung der künstlerischen Rechte. Le- diglich ein Anhänger des Literaturbetriebs hält den Persönlichkeitsschutz der Klägerin- nen als das schützenswerte Rechtsgut. Interessanterweise kann diese Person als eine Art Überläufer identifiziert werden: Während sich der Schriftsteller Thomas Steinfeld im Jahr 2003 zunächst auf die Seite der Kunstfreiheit stellt, begrüßt er das Romanverbot im Jahr 2006. Die Ansichten der Autoren mit juristischer Vorbildung präsentieren sich in umge- kehrtem Verhältnis. Drei Beiträger argumentieren pro Persönlichkeitsrechte und zwei dagegen. Zusammenfassend ergeben die Ergebnisse folgendes Bild: Die Befürworter der Kunstfreiheit (16) stammen zu fast 90 Prozent aus dem literarischen Teilsystem und stellen somit in der Masse juristische Laien dar. Umgekehrt besitzen 75 Prozent

47

aller Vertreter von stärkeren Persönlichkeitsrechten einen rechtswissenschaftlichen Bil- dungsabschluss. Zumindest für die drei untersuchten Tageszeiten kann gelten, dass sich die Anhänger des Literaturbetriebs (fast) geschlossen in eine Reihe mit ihrem Schriftstellerkollegen Biller stellen. In einem nächsten Schritt werden die Argumente und Forderungen der medialen Erzählung qualitativ dargestellt. Hierbei wird versucht, die chronologische Reihenfolge der Gerichtsurteile einzuhalten. Eine Einteilung von Stellungnahmen für und wider die Kunstfreiheit wird nicht vorgenommen, da die Artikel zum Teil Bezug aufeinander nehmen und demnach die Debatte verfälscht würde.

03.03.2003 – Die einstweilige Verfügung durch das Münchner LG I Nur knapp zwei Wochen nach der Auslieferung von Billers Roman Esra wurde die weitere Verbreitung durch eine einstweilige Verfügung des Münchner LG I untersagt. Der Rechtsschutz trat am 3. März 2003 in Kraft. Der Ausgang der gerichtlichen Strei- tigkeiten war zu diesem Zeitpunkt noch nicht absehbar und auch die spätere juristische Argumentationslinie unklar. Für die frühen Stellungnahmen bedeutet dies, dass die Akteure aus einer rein literaturwissenschaftlichen Perspektive argumentierten und ihre Rechte zu erklären und verteidigen versuchten. Die einstweilige Verfügung des Münchner LG I wurde in den Feuilletons der Tageszeitungen stark kritisiert und für das Recht auf Kunstfreiheit plädiert. Alle medialen Erzähler dieser Zeit können dem literarischen Teilsystem zugeordnet werden. Im Wesentlichen ähneln sich die Beiträge in ihrer Grundaussage: Die Literatur zieht ihre Inspiration aus den Geschehnissen des realen Lebens, das Abschreiben aus dem alltäglichen Umfeld sei daher ein legitimes Mittel der Kunst. Somit findet eine Verklärung der Literatur als eine Art schöngeistiges Produkt statt, welches vor allem systemeigenen Regeln genügen müsse. In einem der frühen Beiträge erklärt die Schriftstellerin Marica Bodrozic etwa, dass »die Freiheit des Schreibenden [als] die Freiheit seines Erlebte[m]« und das »Erdachte« schließlich als »das Wahrhafte«27 bezeichnet werden kann. Der ehemalige Feuilletonist Fritz J. Raddatz zitiert in einem Kommentar der FAZ ganz ähnliche Worte Thomas Manns: »Autobiographie istʼs immer.« Obwohl diese Vertreter des literarischen Sys- tems die Erkennbarkeit der beiden Klägerinnen bejahen, kann Maxim Biller ihrer Mei- nung nach keine Schuld treffen. Vielmehr mangele es den Klägerinnen an Kunstver- ständnis – Raddatz spricht hier von »fahrlässiger Unbildung […] der beiden streitbaren Damen«.28 Der Literaturkritiker Richard Kämmerlings kehrt die Vorwürfe der Klägerinnen in seinem Artikel in der FAZ sogar völlig um: Sie würden durch die Forderung des Ro- manverbots zu ihren eigenen Gegnerinnen, indem sie sich der öffentlichen Denunzie- rung preisgeben würden. Je verzerrter die dargestellten Personen und ihre Handlungen, desto weniger stimmen Fiktion und Wirklichkeit überein, desto unbegründeter ist die Klage. Umgekehrt: Je realitätsnäher die Romanfiguren gezeichnet sind, desto weniger kann von absichtlicher Schmähung die Rede sein.

27 Marica 2003, S. 18. 28 Raddatz 2003.

48

Im Fall ›Esra‹ geben die Kläger dem Autor eben durch ihren Einspruch Recht, bestätigen so wider Willen, daß seine Erfindungen mehr als ein Körnchen Wahrheit enthalten.29 Kämmerlings stützt seine These auf den Vergleich mit einem ähnlichen Fall, von dem in späteren Artikeln noch häufiger zu lesen sein wird: das Romanverbot von Klaus Manns Mephisto. Das Werk wurde in den 1960er-Jahren aufgrund der Nähe seiner Hauptfigur zu dem bereits verstorbenen Gustaf Gründgens gerichtlich verhandelt. Sei- ner »entstellende[n] postmortale[n] Persönlichkeitsrechtsverletzung«30 wegen wurde der Roman schließlich vor dem BGH verboten. Dass Esra der gleiche Weg durch die verschiedenen Instanzen beschieden war, konnte Kämmerlings zum Zeitpunkt seiner Stellungnahme freilich nicht wissen. Er verwendet den Fall Mephisto vielmehr, um auf die Unterschiede – beispielsweise die geringere Prominenz der Esra-Klägerinnen – hin- zuweisen. In den frühen Berichten wird die literarische Leistung Billers häufig in die oberen Ränge der Literatur gehoben. Fritz J. Raddatz spricht von Maxim Biller als einem »an- erkannten Schriftsteller«31 und Joachim Lottmann bezeichnet den Roman als »große, wahre, weil echte Literatur«.32 Die medialen Erzähler stellen Vergleiche mit einigen berühmten Werken der Weltliteratur an, die es ohne das Abschreiben aus der realen Welt nicht gegeben hätte. Die Journalisten Raddatz und Lottmann sehen Biller in bes- ter Gesellschaft mit Schriftstellergrößen wie Johann Wolfgang von Goethe oder Max Frisch, die ebenfalls ganz unverblümt aus dem eigenen Leben abzuschreiben wussten.33

23.07.2003 – Zustimmung der Verfremdung durch das Oberlandesgericht München Das OLG München billigte am 23. Juli 2003 der weiteren Veröffentlichung von Esra zu. Voraussetzung hierfür waren »erhebliche Streichungen«34 im Text, sodass die Er- kennbarkeit der beiden Klägerinnen nicht mehr gegeben sei. Dieses Urteil wurde von den Akteuren des literarischen Teilsystems kritisch beäugt, bejahende Stimmen gab es keine. Der Literaturkritiker Richard Kämmerlings bezeichnet die Änderungen etwa als eine ›Entstellung‹, da künftig ›häßliche Lücken‹ in dem Werk klaffen würden. Zudem sieht er für beide Parteien Nachteile in Verbindung mit der hohen Medienpräsenz. Für die beiden Klägerinnen wären die Prozesse sogar von einer gegenteiligen Wirkung, da sie mittlerweile einen wesentlich höheren Bekanntheitsgrad erlangt hätten. Das Ziel der Frauen, den Roman unbemerkt aus dem Verkehr ziehen zu lassen und den persön- lichen Schaden möglichst gering zu halten, sieht er als verfehlt. Und der Verlag kann trotz der vielen ›Publicity‹ finanziell nicht von dem Roman profitieren.35 Auch der taz- Journalist Daniel Bax bekräftigt diese Aussage:

29 Kämmerlings 2003. 30 Bünnigmann 2013, S. 53. 31 Raddatz 2003. 32 Lottmann 2003, S. 13. 33 Vgl. Raddatz 2003; Lottmann 2003, S. 13. 34 Bünnigmann 2011, S. 24. 35 Vgl. Kämmerlings 2003a.

49

Wenn die ›Short Version‹ des Romans dann im Buchhandel steht, erleichtert um allzu explizite Passagen, während unter Liebhabern und Fans unter der Hand der ungekürzte ›Directorʼs Cut‹ zirkuliert, in dem man die fehlenden Stellen nachlesen kann.36 Neben dem Urteil zur Verfremdung wurde die mediale Debatte im August 2003 durch eine externe Begebenheit angeheizt. Zu einem Zeitpunkt, zu dem das Urteil über Bil- lers Roman noch nicht absehbar war, wurde vom Münchner LG I, demselben Gericht, welches auch über das weitere Schicksal Esras bestimmen sollte, eine richtungsweisende Entscheidung bezüglich eines fachverwandten Verfahrens gefällt. Demnach sollten Au- tobiographien zukünftig nicht weiter zu den fiktiven Werken der Belletristik, sondern zu der Gruppe der Sachbücher gezählt werden. Dies bedeutet, dass man Autoren von Autobiographien – als Nacherzähler wahrer Geschehnisse – ab sofort der Lüge bezich- tigen könnte. Im Gegensatz dazu bewegen sich Schriftsteller belletristischer Werke im Bereich der Fiktion, ihre Bücher erheben somit keinen Wahrheitsanspruch.37 Auch wenn das Urteil in keinem direkten Zusammenhang mit den gerichtlichen Streitigkeiten im Fall Esra stand, nahmen die journalistischen Erzähler die Entschei- dung als Anlass zur kritischen Berichterstattung. So schreibt etwa der Schriftsteller Thomas Steinfeld, dass das »Urteil, […] die Literatur und ihre Wissenschaft bis in ihren Kern erschüttern«38 würde. Die medialen Erzähler stützten sich in erster Linie auf die Erklärung des Münchner LG I, wonach die Belletristik eben nicht »tatsächlich Geschehenes«39 wiedergebe und dem Genre in gewissem Grad sogar künstlerische Nar- renfreiheit einräume. Für Steinfeld offenbart sich hier eine Art juristischer Systemfeh- ler: »Warum muss sich dieser Schriftsteller (Biller) weiter vor Gericht streiten, da doch sein Buch kraft seiner Zugehörigkeit zum Genre des Romans die Lizenz zur Lüge be- sitzen soll?«40 Weniger polemisch argumentiert die Literaturkritikerin Felicitas von Lo- venberg, indem sie den Fall Esra als Beweis dafür sieht, dass »das Wort ›Roman‹ noch nicht vor Konflikten zwischen Kunstfreiheit und Persönlichkeitsrechten schützt«41. Auch wenn im Zuge des gerichtlichen Urteils über Autobiographien keine neuen As- pekte für die Esra-Diskussion einhergingen, zeigen die Stellungnahmen doch, dass Bil- lers Roman zu diesem Zeitpunkt stark in den Köpfen der Feuilletonisten verankert war. In diesem Zusammenhang wurde auch erstmals der mit dem Urteil angesprochene notwendige Grad an Fiktionalität belletristischer Texte diskutiert. Die Frage, inwieweit Biller mit seinem Roman eine ›fiktive Welt‹ erschuf, stellt laut der Rechtswissenschaft- lerin Kathrin Bünnigmann letztlich den ›gordischen Knoten‹ der gerichtlichen Strei- tigkeiten dar.42 Den Juristen oblag hierbei die interdisziplinäre Aufgabe zu bestimmen, welcher Fiktionalitätsgrad, also welches Maß der Verfremdung, für Literatur gelten muss. Grundsätzlich ist diese Fragestellung der Literaturwissenschaft entlehnt. Es scheint also kaum zu überraschen, dass die vorwiegend dem literarischen Teilsystem

36 Bax 2003, S. 17. 37 Vgl. Institut für Urheber- und Medienrecht 2003. 38 Steinfeld 2003, S. 14. 39 Institut für Urheber- und Medienrecht 2003. 40 Steinfeld 2003, S. 14. 41 Lovenberg 2003. 42 Vgl. Bünnigmann 2012, S. 127.

50

entstammende Medienberichterstattung Stellung zu diesem Themenbereich bezog. Für Georg M. Oswald, zugleich Jurist und Verlagsleiter, hängen die Anforderungen an einen Text ganz wesentlich von der Textgattung ab. Er unterscheidet hier zwischen ›fiktionalen‹ und ›nichtfiktionalen‹ Werken, für die vor Gericht unterschiedliche Be- wertungsmaßstäbe gelten müssen. Das pauschalisierende Urteil des Münchner LG I zur Einstufung von autobiographischen Texten lehnt er ab: »Wer einen Roman in Ge- staltung und Intention nicht von einer Reportage, eine Autobiographie nicht von ei- nem Sachbuch zu unterscheiden weiß, wird wenig Mühe haben zu urteilen, seiner Sa- che allerdings kaum gerecht werden.«43 Der Literaturwissenschaftler Hubert Spiegel greift auf eine bereits bekannte Argumentation zurück, wonach Esra als Roman per se fiktional sei und somit dem Schutz der künstlerischen Freiheit unterliege. Dass diese Gesetzmäßigkeiten aufgrund der hohen medialen Aufmerksamkeit nun außer Kraft gesetzt seien, bezeichnet Spiegel in seinem Artikel als ›fatales Muster‹.44 Tatsächlich spricht der Literaturwissenschaftler hier eine Argumentationslinie an, die in den späte- ren Verbotsurteilen ebenfalls von Bedeutung sein werden: Die mediale Berichterstat- tung nahm Einfluss auf die Erkennbarkeit der beiden Klägerinnen und somit auch auf die Urteilssprechung vor Gericht.

15.10.2003 – Verkaufsverbot durch das Münchner LG I Mit dem Urteil des Münchner LG I war die Verbreitung von Esra durch den Kiepen- heuer & Witsch-Verlag untersagt. Auch die geschwärzte Version durfte nicht weiter aus- geliefert werden. Der Schutz der Persönlichkeitsrechte wurde über den »grundrechtli- chen Schutz der Publikation«45 gestellt. Als maßgeblichen Grund gaben die Richter die »biographische Übereinstimmung«46 der Urbilder mit den beschriebenen Abbildern an. Aufgrund des starken medialen Interesses sei der Kreis jener Personen, welche die beiden Klägerinnen identifizieren können, sogar noch zusätzlich ausgeweitet worden. Hierzu schreibt das Münchner LG I in dem Urteil: Die Kammer geht davon aus, daß zwischenzeitlich ein Großteil der Leser des Buches Esra, auch wenn sie nicht der türkischen Gemeinde in Deutschland angehören bzw. zum näheren Umfeld der Klägerinnen zählen, aufgrund der vielfältigen Berichterstattung in der Presse bekannt ist, daß es sich bei der Figur der Esra und ihrer Mutter um die beiden Klägerinnen handelt.47 Tatsächlich erschienen alleine in den drei betrachteten Tageszeitungen bis zur Urteils- verkündung über 30 Berichte zum Fall Esra. In rund zehn Artikeln sprechen sich die medialen Erzähler für das Recht auf künstlerische Freiheit aus. Stimmen für den stär- keren Schutz des Einzelnen durch das Persönlichkeitsrecht sucht man (noch) vergeb- lich. Obwohl die Feuilletons der Tageszeitungen also auf der Seite von Schriftsteller und Verlag standen, blieben die Plädoyers ungehört und lösten sogar eine gegenteilige Wirkung aus.

43 Oswald 2003, S. 13. 44 Vgl. Spiegel 2003. 45 Neumeyer 2009, S. 7. 46 Bünnigmann 2012, S. 27. 47 LG München I 2003, S. 15–16.

51

Demnach scheint es kaum zu überraschen, dass die Journalisten der Tageszeitungen das richterliche Urteil der ersten Instanz mehrheitlich ablehnten. Hierbei betonen die Verfechter der künstlerischen Freiheit die Generalwirkung, welche das Romanverbot von Esra als Präzedenzfall entwickeln könne. Der Literaturkritiker Kämmerlings schreibt in der FAZ, dass er die Freiheit der Literatur als ernstlich bedroht sieht.48 Für Daniel Bax, Journalist der taz, hat »Esra über den besonderen Einzelfall hinaus Bedeu- tung erlangt, da sich aufgrund verletzter Persönlichkeitsrechte inzwischen die Bücher- verbote häufen.«49 In der SZ ließ man Helge Malchow, Verlagsleiter des Kiepenheuer & Witsch-Verlags, in einem Interview zu Wort kommen. Er bezeichnet es als »gefähr- lich«, wenn man die künstlerischen Freiheitsrechte so weit einschränke, dass ein Ver- leger die »literarische[n] Manuskripte [künftig] gewissermaßen röntgen müsste.«50 Anders als in den vorangegangenen Monaten gibt es nun Stimmen in den Tages- zeitungen, die das Romanverbot begrüßen. Zwischen den unterschiedlichen Stellung- nahmen können inhaltliche Bezüge hergestellt werden. Während Kämmerlings, als Vertreter der Kunstfreiheit, beispielsweise das »literarische Verfahren seit Proust«51 ver- kannt sieht, greift Andreas Zielcke diese Argumente in der SZ erneut auf. So schreibt er: Es stimmt schon, Marcel Proust hätte unter dem heutigen Rechtssystem wohl Probleme mit seinem Opus […]. Der literarische Verlust: nicht auszudenken. Doch der Paradigmenwechsel der Ästhetik, der Öffentlichkeit und der Privatheit trat erst danach ein. Und der ist es, nicht eine Indolenz der Justiz, der zu einer neuen Gewichtung des Persönlichkeitsschutzes führt.52 Für den Anwalt und Journalist Zielcke hat Biller die beiden Frauen bewusst der öffent- lichen Denunzierung preisgegeben. Der Vorwurf, die Klägerinnen würden sich hinter den Persönlichkeitsschutzrechten verstecken und somit Kunstferne unter Beweis stel- len, hält der Autor für unzutreffend. Umgekehrt berufen sich Verlag und Schriftsteller hinter Esra ebenfalls »auf ein juristisches Recht, eben jenes der Kunstfreiheit«53. Das mediale Interesse an der Urteilsbestätigung durch das OLG München am 6. April 2004 war äußerst gering und wurde nicht durch Stellungnahmen für oder wi- der die Kunstfreiheit begleitet.

21.06.2005 – Urteilsbestätigung durch den Bundesgerichtshof Mitte des Jahres 2005 stimmte der BGH dem Romanverbot von Esra ebenfalls zu und räumte den Persönlichkeitsrechten im vorliegenden Fall Vorrang ein. Der Literaturre- dakteur Dirk Knipphals veröffentlicht nachfolgend die einzige journalistische Stellung- nahme, in der lediglich die bereits bekannten Argumente nochmals erwähnt werden.54 Größeres mediales Aufsehen erregt die Schadenersatzklage im Mai 2006. Die bei- den Klägerinnen forderten für die öffentliche Bloßstellung eine Geldentschädigung

48 Vgl. Kämmerlings 2003b. 49 Bax 2003a, S. 17. 50 Malchow 2003, S. 2. 51 Kämmerlings 2003b. 52 Zielcke 2003, S. 15. 53 Zielcke 2003, S. 15. 54 Vgl. Knipphals 2005, S. 11.

52

von 100.000 Euro. Vor allem unter Schriftstellern sorgte die Geldforderung für große Empörung. In einem öffentlichen Appell bezeugten über 100 Autorenkollegen ihre Solidarität und forderten eine Stärkung der künstlerischen Freiheitsrechte.55 An dieser Aktion beteiligte sich auch der bekannte Schriftsteller Daniel Kehlmann, der seinen Unmut in dem Feuilleton der FAZ zum Ausdruck brachte. Würde der Forderung statt- gegeben, sei das laut Kehlmann ein »Skandal und ein Schlag sondergleichen, von dem sich Deutschland als literarischer Standort nicht erholen würde«. Dieses Maß an Zen- sur und somit künstlersicher Einschränkung gleicht für den Autor sogar diktatorischen Zuständen, für die es »Spott und Hohn«56 gebührt. Der Literaturwissenschaftler Hu- bert Spiegel bekundet in der FAZ ebenfalls sein Unbehagen: Die geforderte Summe bezeichnet er als ruinös, nicht nur für Biller, sondern vielmehr den gesamten Litera- turbetrieb. Für ihn wird eine neue Grundsatzdiskussion notwendig: Kann Kunst scha- densersatzpflichtig sein?57 Eine konträre Meinung vertritt der Schriftsteller Thomas Steinfeld in der SZ. Für ihn richtet sich das Verbot nicht gegen die Kunst per se – wie viele seiner Kollegen verlauten lassen – sondern lediglich gegen die Verwendung von Kunst als eine Art »Waffe […] im persönlichen Umgang von Menschen miteinan- der«.58 Wenn also Biller seinen Roman als bewusste Abrechnung konzipierte, sei die gerichtliche Gegenüberstellung von Kunstfreiheit und Persönlichkeitsschutz vertret- bar. Hier widerspricht Steinfeld seinem Artikel vom August 2003, in dem er der künst- lerischen Freiheit noch Vorrang einräumt.59 Anfang des Jahres 2007 wurde die Debatte um Esra erneut angeheizt. Das langer- sehnte Urteil des Bundesverfassungsgerichts stand unmittelbar bevor. Die medialen Erzähler ließen es sich nicht nehmen, in den Feuilletons auf die Auswirkungen für den gesamten Literaturbetrieb hinzuweisen. Der Jurist und Verlagsleiter Oswald appellierte an die Verfassungsrichter ›literatur- wissenschaftliche Gutachten‹ einzuholen, um dem ›kunstspezifischen Gehalt des Kunstwerks‹ gerecht zu werden.60 Hier schließt sich Oswald dem Vorschlag des Bör- senvereins des Deutschen Buchhandels in seiner offiziellen Stellungnahme aus dem Jahr 2005 an.61 Der Schriftsteller Andrian Kreye hebt in einem Beitrag in der SZ die »große Verantwortung der Richter«62 bezüglich der Aufrechterhaltung der Kunstfrei- heit hervor.

12.10.2007 – Offizielle Urteilsverkündung des Bundesverfassungsgerichts Im Anschluss an die offizielle Urteilsverkündung durch das Bundesverfassungsgericht im Oktober 2007 nahm die Berichterstattung nochmals deutlich an Fahrt auf. Auffäl- lig ist zunächst, dass Billers Roman von einigen Verfechtern der Kunstfreiheit nun bei- nahe fanatisch gefeiert wurde. Diese Beobachtung wurde auch von Uwe Wittstock in

55 Vgl. Neumeyer 2009, S. 37. 56 Kehlmann 2006. 57 Vgl. Spiegel 2006. 58 Steinfeld 2005, S. 13. 59 Vgl. Steinfeld 2003, S. 14. 60 Vgl. Oswald 2007, S. 11. 61 Vgl. Börsenverein des Deutschen Buchhandels 2005. 62 Kreye 2007, S. 11.

53

seiner Monographie zum Fall Esra bestätigt.63 In der SZ schreibt der Literaturkritiker Ijoma Mangold von Esra beispielsweise als einem »delikate[n] Buch«64, der Publizist Nils Minkmar preist die Lektüre in der FAZ als »unvergessliches Leseerlebnis«65 und Daniel Bax spricht in der taz von Biller als einem »der besten Autoren, die es in Deutschland gibt«66. Trotz all der vorangegangenen Plädoyers – so viel Lobpreisung hatte es zuvor nicht gegeben. Vermutlich möchten die medialen Erzähler noch einmal betonen, welch herben Verlust der Literaturbetrieb hier habe hinnehmen müssen. Das angestrebte Ziel, die Aufhebung des Publikationsverbots, sehen die Verfechter der Kunstfreiheit verfehlt und verleihen ihrem Unmut in den Feuilletons Ausdruck. Der Verlagsleiter des Kiepenheuer & Witsch-Verlags beklagt einen »Schaden […] der kultu- rellen und literarischen Sphäre«67 und der Journalist Bax sieht in dem Urteil eine »Nie- derlage für die Literatur«68. Neben diesen Klagen setzen sich einige Berichte eingehender mit den Entschei- dungsgründen des Bundesverfassungsgerichts auseinander. Die Verfassungsrichter wendeten in ihrem Urteil die Je-Desto-Formel als ein Maß für die Schwere der Per- sönlichkeitsrechtsverletzung an. Die Regel lautet demnach: Je stärker reale Personen und Kunstfigur übereinstimmen, desto schwerwiegender sei die Beein- trächtigung des Persönlichkeitsrechts. Zweitens, je schwerer letztere wiege, desto stärker müsse die Verfremdung sein, um eine Persönlichkeitsrechtsverletzung zu vermeiden.69 Der Jurist Heribert Prantl greift die Je-Desto-Formel in seinem Beitrag zur Urteilsver- kündung auf. Er sieht das Ziel der juristischen Entscheidungshilfe verfehlt, denn die »angemahnte kunstspezifische Betrachtungsweise«70 käme in der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts nicht ausreichend zum Tragen. Prantl bewertet das Urteil als noch weniger zufriedenstellend als im Fall von Klaus Manns Mephisto. Neben der Je-Desto-Formel stellten die Verfassungsrichter die kunstspezifische Be- trachtung mithilfe einer ›Vermutung für die Fiktionalität‹ sicher.71 Bei Romanen wird also grundsätzlich die Annahme getroffen, dass die Geschehnisse und Figuren nicht der Realität entnommen wurden. Von Seiten des Literaturbetriebs gab es für dieses literarische Messverfahren Kritik. So genügt die Idee der Fiktionalisierung etwa nicht den Ansprüchen des Literaturkritikers Mangold, welcher diese Kategorien für »ausge- sprochen naiv und unterkomplex«72 hält. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts stieß jedoch keineswegs nur auf Ableh- nung, sondern fand, vor allem durch Akteure des juristischen Teilsystems, auch Zu- stimmung. So findet etwa Andreas Zielcke, Anwalt und SZ-Journalist, klare Worte für

63 Vgl. Wittstock 2011, S. 102. 64 Mangold 2007, S. 13. 65 Minkmar 2007. 66 Bax 2007. 67 Malchow 2007. 68 Bax 2007. 69 Bünnigmann 2012, S. 38. 70 Prantl 2007, S. 1. 71 Vgl. Bünnigmann 2012, S. 37. 72 Mangold 2007, S. 13.

54

das Urteil: Nur in einer »unzivilisierten Dschungelgesellschaft« hätte man diesen »sym- bolischen sexuellen Missbrauch«73, den Biller in Esra begeht, akzeptieren können. Der Rechtswissenschaftler Rainer Wahl trifft eine Unterscheidung zwischen zwei Machver- hältnissen: Werden staatliche Rechte gegen künstlerische Rechte abgewogen, der »klas- sische[n] Konfliktzone«74, befindet sich der Künstler in einer schwächeren Position. Hier hält er die Empörung von Zeitungsjournalisten für gerechtfertigt und sogar not- wendig. Wird eine Klage – wie im Fall Esra – allerdings seitens Privatpersonen vorge- bracht, so sind diese und eben nicht der Künstler in einer unterlegenen Position und bedürfen dem Schutz durch das Rechtssystem. Hierzu schreibt er: Trotzdem wehren sich häufig Künstler und Kommentatoren in den Feuilletons gegen dieses Zwischenergebnis. Teilweise hissen sie die bekannte Fahne, dass Kunst alles dürfe. Aber diese Formel ist hier gerade nicht einschlägig.75 Der Verlagsjustiziar Rainer Dresen begrüßt die Entscheidung des Bundesverfassungs- gerichts ebenfalls. Vor allem die Urteilsbegründung hält er für gelungen: Die Vermu- tung der Fiktionalität für belletristische Texte stellt, anders als von einigen Feuilleto- nisten beschreiben, sogar eine »Liberalisierung der [bisherigen] Rechtslage«76 dar. Die künstlerischen Freiheitsrechte seien nunmehr ausgeweitet, da lediglich der Eingriff in die Intimsphäre einen Verstoß gegen das Persönlichkeitsrecht darstelle.

4.2 Die mediale Reaktion im Börsenblatt

Dem Börsenverein des Deutschen Buchhandels wurde im Verlauf der gerichtlichen Strei- tigkeiten um Esra häufig vorgeworfen, sich zu lange in Schweigen gehüllt zu haben. Erst zu spät und nach Aufforderung des Bundesverfassungsgerichts im Jahr 2005 habe man sich gegen die Einschränkung der Kunstfreiheit ausgesprochen.77 Die öffentliche Stellungnahme vom 31. Dezember 2005 soll vorliegend nicht genauer betrachtet wer- den. Vielmehr wird die Berichterstattung des wöchentlich erscheinenden Börsenblatts, deren Herausgeberschaft die MVB Marketing- und Verlagsservice des Buchhandels GmbH, ein Serviceunternehmen des Börsenvereins, innehat, eingehender untersucht. Im Mittelpunkt steht die Frage, welchen Anteil das Börsenblatt an der medialen Erzäh- lung im Fall Esra nahm. Wichtig ist hierbei, dass das Branchenmagazin aus einer öko- nomisch motivierten Perspektive argumentiert und damit weniger dem literarischen Feld und seinen systemeigenen Anforderungen untersteht.

4.2.1 Quantitative Auswertung In den Jahren 2003 bis 2007 wurde der Fall Esra im Börsenblatt in insgesamt 23 Be- richten aufgegriffen. Zu Beginn der gerichtlichen Streitigkeiten schien die mediale Auf- merksamkeit besonders groß: acht Beiträge erschienen 2003. Von Interesse waren die einstweilige Verfügung durch das Münchner LG I sowie die Zustimmung zum Aspekt

73 Zielcke 2007, S. 15. 74 Wahl 2007, S. 43. 75 Wahl 2007, S. 43. 76 Dresen 2007. 77 Vgl. Wittstock 2011, S. 76.

55

der Verfremdung durch das OLG München im März bzw. Juli des Jahres 2003. Wäh- rend im darauffolgenden Jahr lediglich zwei Artikel erschienen, stieg die Anzahl im Jahr 2005 erneut auf acht Mitteilungen. Auffällig ist, dass im Anschluss an das Urteil des BGH im Juni 2005 zahlreiche Berichte veröffentlicht wurden. In den Tageszeitun- gen fand diese Entscheidung hingegen kaum Erwähnung. In den Jahren 2006 und 2007 war der Fall Esra mit drei bzw. zwei Artikeln vertreten. Besonders für das letzte Jahr unterscheidet sich die Berichterstattung im Börsenblatt deutlich von jener der un- tersuchten Tageszeitungen. In den Feuilletons wurde die offizielle Verkündung durch das Bundesverfassungsgericht ausführlich besprochen und kommentiert, wohingegen sich die Beiträger des Branchenmagazins deutlich zurückhielten. Lediglich zwei Artikel berichten von dem Urteilsspruch des Bundesverfassungsgerichts. Die nachfolgende Grafik verdeutlicht einen prozentualen Vergleich beider Publikationsformen im Jah- resverlauf. 2003 2004 2005 2006 2007 Gesamt 8 2 8 3 2 23 Börsenblatt (34,8 %) (8,7 %) (34,8 %) (13,0 %) (8,7 %) (100,0 %) 46 11 11 8 28 104 FAZ, SZ, taz (44,2 %) (10,6 %) (10,6 %) (7,7 %) 26,9 %) (100,0 %)

Abbildung 4: Prozentualer Vergleich der Berichterstattung im Börsenblatt zu den untersuchten Tages- zeitungen.

Eine Einteilung in wertfreie und wertende Stellungnahmen gelingt durch einen Blick in die unterschiedlichen Rubriken. 13 Beiträge, und somit mehr als die Hälfte der Be- richterstattung, können der Rubrik Wochenschau zugeordnet werden. Hier werden die relevanten Themen des Buchhandels als kurzer Bericht in sachlicher Form darge- stellt; bezüglich der Abwägung von Kunstfreiheit und Persönlichkeitsschutz wird keine Position bezogen. Die Leser werden in diesen Artikeln zumeist über den aktuellen Stand der Gerichtsverhandlungen informiert. Inwieweit beziehen die medialen Erzäh- ler des Börsenblatts Stellung bezüglich der beiden Grundrechte? Sechs der genannten 23 Berichte beschäftigen sich ausführlicher mit den Hintergründen zum Fall Esra. Während zwei Artikel den Streitfall lediglich sachlich wiedergeben, sprechen sich die Autoren in den weiteren vier Beiträgen klar für die Stärkung der künstlerischen Frei- heit aus. Gegenstimmen auf der Seite der Persönlichkeitsrechte gibt es keine. Die Po- sitionierung pro Kunstfreiheit erscheint wenig zufällig, wenn man bedenkt, dass das Börsenblatt als offizielles Branchenmagazin der Buchbranche fungiert. Interessant ist aber, dass der Börsenverein in seinem Magazin überwiegend Akteure des juristischen Teilsystems zu Wort kommen lässt.

4.2.2 Qualitative Auswertung Für die Auswertung der Akteure als mediale Erzähler werden lediglich die sechs um- fassenderen Berichte herangezogen. Während in den untersuchten Nachrichtenblät- tern ein Gros der Autoren dem literarischen Teilsystem zuordenbar war, zeigt sich hier ein umgekehrtes Verhältnis. Vier der insgesamt sechs medialen Erzähler verfügen über einen juristischen Bildungshintergrund, davon zwei Autoren, die sowohl dem juristi- schen als auch dem literarischen Teilsystem entstammen. Die beiden wertfreien Artikel

56

kommen von den rein juristisch gebildeten Erzählern. Umgekehrt kann für die Stel- lungnahmen pro Kunstfreiheit somit für alle vier Autoren eine zumindest teilweise Verbindung zu dem literarischen Teilsystem festgestellt werden. Die Betrachtung der Berichte soll in chronologischer Reihenfolge geschehen. So- weit möglich, wird ein Bezug zu den Gerichtsverhandlungen hergestellt. Häufig fanden die Leser des Börsenblatts die mediale Erzählung in die Berichterstattung über ähnliche juristische Streitigkeiten eingebettet. Die Bezugnahme auf richterliche Entscheidungen verläuft daher weniger stringent als bei den Tageszeitungen. Im Anschluss an das Urteil des Münchner LG I im Oktober 2003 ist im Börsenblatt ein Interview mit dem Juristen und Verlagsleiter Georg M. Oswald zu lesen. Das Ge- spräch dient vorwiegend dazu, die juristischen Hintergründe zu erklären – Oswald gibt jedoch auch seine persönliche Meinung wieder. Der Jurist spricht sich gegen den Ro- man als kalkulierten Skandal des Kiepenheuer & Witsch-Verlags aus: »Jedermann in der Buchbranche weiß, dass es keinen einfachen Zusammenhang zwischen medialer Auf- merksamkeit und dem Verkauf von Büchern gibt.« Zudem misst er dem Romanverbot eine »grundsätzliche Bedeutung«78 bei. Obwohl der Jurist zu jenen medialen Erzählern gezählt werden kann, welche der Kunstfreiheit Vorrang einräumen, können auch ab- weichende Aussagen festgestellt werden. Oswald kam in der SZ vor der Entscheidung des Münchner LG I bereits mehrfach zu Wort. Während er in einem Bericht im Zeitungsfeuilleton noch unentschlossen zwischen den beiden Grundrechten abwägt (»Es kommt auf den Einzelfall an, welches Gut schutzwürdiger ist«79), trifft er im Börsenblatt eine eindeutigere Aussage: Ich glaube nicht, dass man zwingend jemanden aus seinem persönlichen Umfeld in die Pfanne hauen muss, um einen guten Roman zu schreiben. Aber erlaubt sein sollte es.80 Unter dem Titel Bücher vor Gericht erschien im März 2004 ein umfangreicher Sonder- beitrag als Thema der Woche. Der verantwortliche Journalist, Nils Kahlefendt, führt viele Vergleichsfälle der Vergangenheit auf, die bereits aus den Beiträgen der Tageszei- tungen bekannt sind. Neben dem populären Vergleich mit Thomas Mann werden bei- spielsweise erneut Parallelen zu Klaus Manns Mephisto gezogen. Kahlefendt schreibt von dem gegenwärtigen Buchmarkt als einer »Skandalbühne«, welche sich seit einigen Monaten durch ein hohes Medieninteresse auszeichne (»[...] nicht im ›Vermischten‹, sondern mehrspaltig in den Feuilletons«81). Gleichzeitig kritisiert er die Berichterstat- tung in den Zeitungen jedoch, da er die eigene rechtliche Schaffensgrundlage – die Kunstfreiheit – nicht ausreichend genug verteidigt sieht. Hierzu zitiert er Helge Mal- chow, Verleger von Esra, der die Zurückhaltung der Feuilletonschreiber in der polari- sierenden Persönlichkeit von Biller begründet sieht: »Wenn Esra von einem ›rein lite- rarischen‹ Autor geschrieben worden wäre, hätten wir sofort das gesamte Feuilleton auf unserer Seite gehabt.«82

78 Oswald 2003a, S. 16 f. 79 Oswald 2003, S. 11. 80 Oswald 2003a, S. 17. 81 Kahlefendt 2004, S. 13. 82 Kahlefendt 2004, S. 16.

57

Die Entscheidung des BGH im Juni 2005 quittiert das Börsenblatt als Aufreger der Woche, da die »literarische Phantasie […] an einer immer kürzeren Leine«83 laufen müsse. Nachfolgend erfüllt das Börsenblatt allerdings weniger die Rolle des Meinungs- machers, sondern scheint vielmehr um Beschwichtigung der Verlagshäuser bemüht zu sein. So spricht etwa Christian Sprang, Justiziar des Börsenvereins, von »spezifischen Umständen«84, die keine Allgemeingültigkeit besäßen. Der Medienrechtsanwalt Peter Schuck erklärt ausführlich, welche Kriterien zukünftige Buchveröffentlichungen erfül- len müssen, um Klagen zu vermeiden, und der Rechtsanwalt Konstantin Wegner er- klärt das Verfahren bei einstweiligen Verfügungen.85 Anfang des Jahrs 2006 erscheinen im Börsenblatt nochmals zwei Beiträge, in denen nachdrücklich für die Stärkung der Kunstfreiheit geworben wird. Vermutlich wollten die beiden Autoren erneut die unmittelbar vorausgegangene offizielle Stellungnahme des Börsenvereins, vor allem im Hinblick auf eine baldige Entscheidung des Bundes- verfassungsgerichts, stärken. So beschreibt der Literaturkritiker Wittstock die Leser von Billers »modernen Romanen« als »erfahrene Leser«, die sehr wohl zwischen »Fakten und Fiktionen«86 unterscheiden können. Da das Lesepublikum das Werk als Fiktion identifiziert hätte, sei laut Wittstock die Veröffentlichung von Esra gerechtfertigt. Noch in der gleichen Ausgabe ist Anne-Katrin Leenen, Rechtsanwältin des Börsenver- eins, um eine juristische Perspektive auf die laufenden Verhandlungen bemüht. Die Verfassungsbeschwerde sei notwendig, um das Urteil des BGH noch einmal nach kunstspezifischen Kriterien zu prüfen. Darüber hinaus sei der »Maßstab für die Er- kennbarkeit«87 auf einen zu geringen Personenkreis ausgeweitet worden. Der vom BGH angewendete Wortlaut der Erkennbarkeit durch einen ›mehr oder minder gro- ßen Bekanntenkreis‹ wurde in der späteren Entscheidung des Bundesverfassungsge- richts allerdings bestätigt.88

5 Kunstfreiheit als Grundrecht des Literaturbetriebs

In der vorliegenden Arbeit wurde die mediale Erzählung im Fall Esra untersucht. Der Schriftsteller Maxim Biller und der publizierende Verlag Kiepenheuer & Witsch muss- ten sich für den vermeintlichen Schlüsselroman über mehrere Jahre hinweg vor Gericht verantworten. Im Mittelpunkt der juristischen Streitigkeiten stand die Frage nach dem angemessenen Verhältnis der beiden Grundrechte Kunstfreiheit und Persönlichkeits- schutz. Damit einher ging eine starke Skandalisierung, die durch eine mediale Diskus- sion in die Öffentlichkeit getragen wurde: Zum einen zielte die Debatte auf den Inhalt des Buchs und die Grenzen der künstlerischen Freiheitsrechte ab, zum anderen wurden die juristischen Entscheidungen inhaltlich begleitet.

83 O. V. 2005, S. 5. 84 Roesler-Graichen, 2005, S. 9. 85 Vgl. Schuck 2005, S. 23; Wegner 2005, S. 18–21. 86 Wittstock 2006, S. 11. 87 Leenen 2006, S. 20. 88 Vgl. Bünnigmann 2012, S. 36–37.

58

Die konkrete Untersuchung der medialen Berichterstattung sollte anhand des von Steffen Burkhardt erarbeiteten Skandalmodells geschehen. Laut Burkhardt finden me- diale Erzählungen in sozialen Systemen statt und werden durch die Kommunikation verschiedener Akteure getragen.89 In welchem System ist die Berichterstattung um Esra verortet? Befragt man hierzu die Skandaltheorie, so stößt man auf folgende Aussage: »Die Skandalisierung eines literarischen Normbruchs führt in fast allen Fällen zu einem Normkonflikt zwischen dem literarischen Feld und seiner Umwelt.«90 Demgemäß war der Fall Esra vorwiegend für das literarische System von Interesse. Die unterschiedli- chen Erzähler der Tageszeitungen treten als Akteure dieses Systems auf. Darüber hin- aus berichtete die buchhändlerische Branchenpresse aus einer ökonomisch orientierten Perspektive über die Geschehnisse. Als Untersuchungsobjekte wurden drei überregionale Tageszeitungen (FAZ, SZ, taz) sowie das Börsenblatt, als branchenspezifische Fachzeitschrift, herangezogen. Für beide Publikationsarten kann gelten, dass ein Gros der untersuchten Akteure dem Li- teraturbetrieb zugerechnet werden kann. Ein detaillierter Blick auf die beiden Publika- tionsformen offenbart jedoch Unterschiede. In den Feuilletons der Tageszeitungen kommen nur vereinzelt Autoren mit rechtswissenschaftlichem Bildungshintergrund zu Wort, während sich im Börsenblatt ein umgekehrtes Verhältnis präsentiert: Hier ver- fügen die meisten medialen Erzähler über juristisches Fachwissen. Diese Abweichung lässt sich erklären, wenn man die Funktion der Artikel hinterfragt. Die Autoren der Tagezeitungen heben die Konsequenzen für die Freiheiten des einzelnen Künstlers her- vor; die Artikel dienen also mehrheitlich einem Selbstzweck. Das Börsenblatt über- nimmt eine Beratungsfunktion und zeigt Handlungsalternativen für Verlage und Au- toren auf. Im Zuge einer quantitativen Analyse ging es anschließend darum, die Häufigkeit der Berichterstattung im zeitlichen Verlauf nachzuzeichnen. Insgesamt lässt sich fest- stellen, dass die mediale Aufmerksamkeit primär zu Beginn der Prozessverhandlungen hoch war. Über 40 Prozent der gesamten Berichterstattung fällt auf das Jahr 2003. In den nachfolgenden Jahren flaute das öffentliche Interesse stark ab. Diese mediale Ent- wicklung kann als eine Folge der nur geringfügig abweichenden Argumentationslinien des OLG und BGH mit dem Urteil der ersten Instanz, dem Münchner LG I, gesehen werden. Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts im Jahr 2007 sorgte wiede- rum für deutlich mehr Aufregung in der medialen Debatte; rund ein Viertel der Artikel können diesem Jahr zugerechnet werden. Vermutlich entfaltete Billers Esra mit jeder höheren Instanz den stärkeren Eindruck eines Präzedenzfalls mit Auswirkungen auf den gesamten Literaturbetrieb. Vorwiegendes Ziel der qualitativen Auswertung war es, die Argumente für und wi- der die Kunstfreiheit bzw. den Persönlichkeitsschutz herauszuarbeiten. Glaubt man der Skandalforschung, so werden »literarische Normbrüche zumindest in Teilen des lite- rarischen Feldes vehement verteidigt oder sogar glorifiziert«, um sich von der Umwelt

89 Vgl. Burkhardt 2011, S. 136–138. 90 Franzen 2014, S. 71.

59

und dessen »unangemessene[r] Moralvorstellungen an ein Kunstwerk ab[zugren- zen].«91 Für die Berichterstattung im Fall Esra kann diese These in großen Teilen veri- fiziert werden: Über 70 Prozent aller Artikel fordern eine Stärkung der künstlerischen Freiheitsrechte und sprechen sich gegen das Romanverbot aus. Die Gegenstimmen stammen zudem fast ausschließlich von Autoren mit juristischem Bildungshinter- grund. Die von Johannes Franzen angesprochene Glorifizierung kann auch für die Bericht- erstattung im Fall Esra gelten. Die Kunstfreiheit dient, so die Argumentation der me- dialen Erzähler, als Grundvoraussetzung zum Schaffen von Literatur als einem Kultur- gut. Hierzu werden bedeutende Werke der Literaturgeschichte zitiert, die es ohne das Recht auf künstlerische Freiheit nicht gegeben hätte. Johann Wolfgang von Goethe und Thomas Mann werden mehrfach als Paradebeispiele genannt. Auch dem Roman Esra gebührte, besonders zum Ende der Gerichtsverfahren, großes Lob. Auf der ande- ren Seite wird allerdings Billers Motivation hinter Esra hinterfragt. So wird betont, dass er sich bis an den Rand der Kunstfreiheit heranwagte, um die Grenzen bewusst auszu- testen. Ein wichtiges Anliegen scheint es den Verteidigern des Romans zu sein, die mögliche Wirkung von Esra als Präzedenzfall zu betonen: »Was wird das erst für ein fröhliches Klagen und Verbieten werden, wenn sich noch weiter herumspricht, dass Schriftsteller ihre Geschichten nicht vom Heiligen Geist empfangen?«92 – diese Aussage von Dirk Knipphals fasst die Sorgen des Literaturbetriebs gut zusammen. Zwar ver- mochten die vielen Stimmen für die Kunstfreiheit die zuständigen Richter nicht über- zeugen, dennoch wurden sie nicht überhört. Das erste Urteil des Münchner LG I be- gründete das Romanverbot im Jahr 2003 mit der Erkennbarkeit der Klägerinnen ge- rade aufgrund der umfassenden Berichterstattung. Umgekehrt nahmen auch die me- dialen Erzähler in ihren Artikeln Stellung zu den Entscheidungen vor Gericht. In erster Linie war es das Urteil des Bundesverfassungsgerichts, das in seiner Begründung wahl- weise Anlass zur Klage oder zum Lob gab. Plädoyers für das Grundrecht auf Persön- lichkeitsschutz nehmen erst zum Ende der juristischen Streitigkeiten einen größeren Anteil an der medialen Erzählung um Esra ein. Sie stammen vorwiegend von Autoren mit juristischem Bildungsabschluss. Hierbei wird betont, dass Biller eine bewusste Bloßstellung der beiden Klägerinnen beging und das Romanverbot daher gerechtfertigt sei. Zusammenfassend zeigt sich, dass der Literaturbetrieb im Fall Esra fest an ›seinem‹ Grundrecht der Kunstfreiheit festhielt und es in dem öffentlichen Diskurs vehement zu verteidigen versuchte. Zumindest für die Anhänger des literarischen Teilsystems kann daher von einer medialen Empörung gesprochen werden.

91 Franzen 2014, S. 71. 92 Knipphals 2003, S. 1.

60

Abkürzungsverzeichnis

BGH Bundesgerichtshof FAZ Frankfurter Allgemeine Zeitung KF Kunstfreiheit LG Landgericht OLG Oberlandesgericht PR Persönlichkeitsrechte SZ Süddeutsche Zeitung taz die tageszeitung

Abbildungsverzeichnis

Abbildung 1: Skandalmodell – die mediale Erzählung. Aus: Burkhardt 2011, S. 138...... 34 Abbildung 2: Jährliche Berichterstattung der jeweiligen Tageszeitungen...... 45 Abbildung 3: Berichte in den untersuchten Tageszeitungen nach den Urteilsverkündungen...... 46 Abbildung 4: Prozentualer Vergleich der Berichterstattung im Börsenblatt zu den untersuchten Tageszeitungen...... 56

Quellenverzeichnis

BAX, DANIEL: Das Esra-Urteil. In: Die Tageszeitung (2003) vom 24.07.2003, S. 17. URL: https://www.taz.de/Archiv-Suche/!736888&s=Biller+Maxim&SuchRah- men=Print/ [12.09.2016]. BAX, DANIEL: Die Heimtücke im Detail. In: Die Tageszeitung (2003a) vom 16.10.2003, S. 17. URL: https://www.taz.de/Archiv- Suche/!696059&s=Biller+Maxim&SuchRahmen=Print/ [12.09.2016]. BAX, DANIEL: Eine Niederlage der Literatur. In: Die Tageszeitung (2007) vom 12.10.2007. URL: https://www.taz.de/Archiv-Suche/!5193508&s=Biller+Maxim/ [12.09.2016]. BILLER, MAXIM: Esra. Köln 2003. BILLER, MAXIM: Stellungnahme zu dem Prozess um »Esra« vom 21.3.2003. Berlin 2003. BÖRSENVEREIN DES DEUTSCHEN BUCHHANDELS: Stellungnahme. 31.12.2005. BODROZIC, MARICA: Die Freiheit macht den Leser. In: Süddeutsche Zeitung (2003) vom 12.04.2003, S. 18.

61

BUNDESVERFASSUNGSGERICHT: Beschluss des Ersten Senats vom 13. Juni 2007. URL: https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidung- gen/DE/2007/06/rs20070613_1bvr178305.html [21.09.2016]. DRESEN, RAINER: Zu eindeutig zu provokativ (Interview). In: Die Tageszeitung (2007) vom 16.10.2007. URL: https://www.taz.de/Archiv-Su- che/!5193291&s=Biller+Maxim/ [12.09.2016]. FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG: Fall »Esra«. Solidarität mit Maxim Biller. 29 (2006), S. 21. KÄMMERLINGS, RICHARD: Kunstperson – Was den Fall Maxim Biller so kompliziert macht. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung (2003) vom 22.04.2003. URL: http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/biller-streit-kunstperson-was-den- fall-maxim-biller-so-kompliziert-macht-198212.html [14.09.2016]. KÄMMERLINGS, RICHARD: Angeschwärzt. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung (2003a) vom 23.07.2003. URL: http://www.faz.net/aktuell/feuille- ton/buecher/streit-um-esra-angeschwaerzt-1119504.html [14.09.2016]. KÄMMERLINGS, RICHARD: In Sachen Unterleib. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung (2003b) vom 15.10.2003. URL: http://www.faz.net/aktuell/feuille- ton/buecher/belletristik-in-sachen-unterleib-1114545.html [10.05.2017]. KAHLEFENDT, NILS: Neugier und Erregung. In: Börsenblatt 12 (2004) vom 18.03.2004, S. 12–17. KEHLMANN, DANIEL: Ein Autor wird vernichtet. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung (2006) vom 24.06.2006. URL: http://www.faz.net/aktuell/feuille- ton/buecher/maxim-biller-ein-autor-wird-vernichtet-1355409.html [16.09.2016]. KIEPENHEUER & WITSCH: Maxim Biller. 2016. URL: http://www.kiwi-verlag.de/au- tor/maxim-biller/229/ [21.09.2016]. KNIPPHALS, DIRK: Literatur ohne Liebe. In: Die Tageszeitung (2003) vom 16.10.2003, S. 1. URL: http://www.taz.de/!695321/ [0.1.09.2017]. KNIPPHALS, DIRK: Juristische Literaturkritik. In: Die Tageszeitung (2005) vom 22.06.2005, S. 11. URL: https://www.taz.de/Archiv- Suche/!589055&s=Biller+Maxim&SuchRahmen=Print/ [12.09.2016]. KREYE, ANDRIAN: Hoffnung für die Freiheit der Kunst. In: Süddeutsche Zeitung (2007) vom 04.09.2007, S. 11. KRÜGER, SVEN: Schriftsatz an das Oberlandesgericht München (Az 21 U 4890/03). 12.11.2003. LANDGERICHT MÜNCHEN I: Urteil der 9. Zivilkammer vom 15. Oktober 2003 (Az 9 O11360/03), S. 15–16. LEENEN, ANNE-KATRIN: Ein Roman ist ein Kunstwerk. In: Börsenblatt 4 (2006) vom 26.01.2006, S. 20.

62

LOTTMANN, JOACHIM: Nichts als die Wahrheit. In: Die Tageszeitung (2003) vom 05.07.2003, S. 13. URL: https://www.taz.de/Archiv- Suche/!804163&s=Biller+Maxim&SuchRahmen=Print/ [12.09.2016]. LOVENBERG, FELICITAS VON: Sind Autobiographien Literatur? In: Frankfurter Allge- meine Zeitung (2003) vom 21.08.2003. URL: http://www.faz.net/aktuell/feuille- ton/buecher/dichtung-und-wahrheit-sind-autobiographien-literatur- 1113464.html [14.09.2016]. MALCHOW, HELGE: Ich sehe Gefahren für die Autoren, für das Schreiben. In: Frank- furter Allgemeine Zeitung (2007) vom 12.10.2007. URL: http://www.faz.net/ak- tuell/feuilleton/esra-verleger-helge-malchow-ich-sehe-gefahren-fuer-die-autoren- fuer-das-schreiben-1489365.html [14.09.2016]. MALCHOW, HELGE: Romane erzählen erfundene Geschichten (Interview). In: Süd- deutsche Zeitung (2003) vom 16.10.2003, S. 2. MANGOLD, IJOMA: Liebesroman. In: Süddeutsche Zeitung (2007) vom 15.10.2007, S. 13. MINKMAR, NILS: So leben wir. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung (2007) vom 14.10.2007. URL: http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/der-fall-esra-so- leben-wir-1491230.html [14.09.2016]. NOSTITZ, WOLFANG VON: Schriftsatz an das Landgericht München I, 9. Zivilkam- mer (Az 9 O 3969/03). 2003. O. V.: Aufreger der Woche: Kurze Leine. In: Börsenblatt 25 (2005) vom 23.07.2005, S. 5. OBERLANDESGERICHT MÜNCHEN: Urteil vom 6. April 2004 (Az 18 U 4890/03). OSWALD, GEORG M.: Das Ende des Schlüsselromans. In: Süddeutsche Zeitung (2003) vom 22.08.2003, S. 13. OSWALD, GEORG M.: Es gibt auch eine Frage des Taktes. In: Börsenblatt 44 (2003a) vom 30.10.2003, S. 16–17. OSWALD, GEORG M.: Kunstfreiheit als Phrase. In: Süddeutsche Zeitung (2007) vom 05.02.2007, S. 11. PRANTL, HERIBERT: Karlsruhe setzt Kunstfreiheit Grenzen. In: Süddeutsche Zeitung (2007) vom 13.10.2007, S. 1. RADDATZ, FRITZ J.: Dichtung ist Wahrheit. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung (2003) vom 30.03.2003. URL: http://www.faz.net/aktuell/feuille- ton/buecher/rezensionen/belletristik/dichtung-ist-wahrheit-193730.html [14.09.2016]. ROESLER-GRAICHEN, MICHAEL: Rotes Licht für »Esra«. In: Börsenblatt 25 (2005) vom 23.06.2005, S. 9. SCHUCK, PETER: Hat der Fall Esra weitreichende Folgen für die Kunstfreiheit? In: Börsenblatt 45 (2005), S. 23.

63

SPIEGEL, HUBERT: Esras Kammerspiele. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung (2003) vom 23.08.2003. URL: http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/kommentar-esras- kammerspiele-1111702.html [10.05.2017]. SPIEGEL, HUBERT: Gebt uns Freiheit. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung (2006) vom 23.07.2006. URL: http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/glosse-feuilleton- gebt-uns-freiheit-1352998.html [10.05.2017]. STATISTA: Überregionale Tageszeitungen in Deutschland nach verkaufter Auflage im 2. Quartal 2016. URL: https://de.statista.com/statistik/daten/studie/73448/um- frage/auflage-der-ueberregionalen-tageszeitungen/ [20.09.2016]. STEINFELD, THOMAS: Auch Klio richtet. In: Süddeutsche Zeitung (2003) vom 20.08.2003, S. 14. STEINFELD, THOMAS: Das böse Buch und seine Feinde. In: Süddeutsche Zeitung (2005) vom 22.06.2005, S. 13. WAHL, RAINER: Abwägen zwischen zwei Grundrechten (Leserbrief). In: Süddeutsche Zeitung (2007) vom 06.11.2007, S. 43. WEGNER, KONSTANTIN: Die Grenzen der Kunstfreiheit? In: Börsenblatt 46 (2005) vom 17.11.2005, S. 18–21. WITTSTOCK, UWE: Leser können denken! In: Börsenblatt 4 (2006) vom 26.01.2006, S. 11. ZIELCKE, ANDREAS: Der öffentliche Akt. In: Süddeutsche Zeitung (2003) vom 16.10.2003, S. 15. ZIELCKE, ANDREAS: Weil sie es ist. In: Süddeutsche Zeitung (2007) vom 20.10.2007, S. 15.

Literaturverzeichnis

ARISTOTELES: Poetik. Übersetzt und herausgegeben von Manfred Fuhrmann. Stutt- gart 2008. BUCK, SABINE: Literatur als moralfreier Raum? Zur zeitgenössischen Wertungspraxis deutschsprachiger Literaturkritik. Paderborn 2011. BÜNNIGMANN, KATHRIN: Die »Esra«-Entscheidung als Ausgleich zwischen Persön- lichkeitsschutz und Kunstfreiheit. Rechtsprechung im Labyrinth der Literatur (Studien und Beiträge zum Öffentlichen Recht 14). Tübingen 2013. BULKOW, KRISTIN / PETERSEN, CHRISTER: Skandalforschung. Eine methodologische Einführung. In: Bulkow, Kristin / Petersen, Christer (Hrsg.): Skandale – Struktu- ren und Strategien öffentlicher Aufmerksamkeitserzeugung. Wiesbaden 2011, S. 9–25. BUNIA, REMIGIUS: Minderheitenschutz, nicht Zensur. In: Merkur. Deutsche Zeit- schrift für europäisches Denken 62 (2008), S. 103–111.

64

BURKHARDT, STEFFEN: Skandal, medialisierter Skandal, Medienskandal. Eine Typo- logie öffentlicher Empörung. In: Bulkow, Kristin / Petersen, Christer (Hrsg.): Skandale – Strukturen und Strategien öffentlicher Aufmerksamkeitserzeugung. Wiesbaden 2011, S. 132–155. FECHNER, FRANK: Medienrecht: Lehrbuch des gesamten Medienrechts unter beson- derer Berücksichtigung von Presse, Rundfunk und Multimedia. 15., überarbeitete und ergänzte Auflage. Tübingen 2014. FRANZEN, JOHANNES: Indiskrete Funktionen. Schlüsselroman-Skandale und die Rolle des Autors. In: Bartl, Andrea / Kraus, Martin (Hrsg.): Skandalautoren. Zu repräsentativen Mustern literarischer Provokation und Aufsehen erregender Auto- rinszenierung. Band 1. Würzburg 2014, S. 67–91. HIELSCHER, MARTIN: Bilse, Biller und das Ich. Der radikale Roman und das Persön- lichkeitsrecht. In: Neuhaus, Stefan / Holzner, Johann (Hrsg.): Literatur als Skan- dal. Fälle – Funktionen – Folgen. Göttingen 2007, S. 686–694. INSTITUT FÜR URHEBER- UND MEDIENRECHT: Landgericht München I: Autobiogra- phien sind Sachbücher (Urteil vom 20.08.2003). URL: http://www.urheber- recht.org/news/1420/ [04.10.2016]. JAGOW, BETTINA VON: Maxim Billers »Esra« (2003). Warum ein Skandal? In: Neu- haus, Stefan / Holzner, Johann (Hrsg.): Literatur als Skandal. Fälle – Funktionen – Folgen. Göttingen 2007, S. 678–685. KARAKUS, MAHMUT: Interkulturelle Konstellationen: deutsch-türkische Begegnun- gen in deutschsprachigen Romanen der Gegenwart. Würzburg 2006. LADENTHIN, VOLKER: Literatur als Skandal. In: Neuhaus, Stefan / Holzner, Johann (Hrsg.): Literatur als Skandal. Fälle – Funktionen – Folgen. Göttingen 2007, S. 19–28. NEUMEYER, JOCHEN: Person – Fiktion – Recht. Verletzungen des Persönlichkeits- rechts durch Werke der fiktionalen Kunst (Schriften zum geistigen Eigentum und zum Wettbewerbsrecht 31). Dresden 2009. OELRICHS, INGA: Strukturmerkmale der Skandalberichterstattung. In: Ludwig, Mark et al. (Hrsg.): Mediated Scandals. Gründe, Genese und Folgeeffekte von medialer Skandalberichterstattung. Köln 2016, S. 164–190. RIEDEL, MAREIKE: Vermutung des Künstlerischen: der Esra-Beschluss des Bundes- verfassungsgerichts – eine rechts- und literaturwissenschaftliche Untersuchung. Tübingen 2011. SIEGLE, MIRIAM: Das Spannungsverhältnis von Kunstfreiheit und Persönlichkeits- recht: zur Problematik der Darstellung realer Personen in Kunstwerken. Baden- Baden 2012. WITTSTOCK, UWE: Der Fall Esra. Ein Roman vor Gericht – über die neuen Grenzen der Literaturfreiheit. Köln 2012.

65

Anhang

A Artikel zum Fall Esra in den untersuchten Tageszeitungen ( FAZ, SZ, taz) Datum Autor Titel Zeitschrift Pro KF Pro PR Bericht Neutral

05.03.2003 Ljuba Naminova Geläufig wie etwas sein sollte taz x

06.03.2003 Volker Weidermann Er liest nicht - er liest doch FAZ x

07.03.2003 – Wenn ich verboten bin SZ x

07.03.2003 – portrait. Maxim Biller taz x

07.03.2003 Manuel Gogos Das Ende der Blutsbande taz x

Daniel Bax, Koija Men- 07.03.2003 sing Ein Schriftsteller wird privat taz x

10.03.2003 dpa Der Fall Biller weiter vor Gericht SZ x

13.03.2003 Christoph Bartmann Partisan des Unglücks SZ x

30.03.2003 Firtz J. Raddatz Dichtung ist Wahrheit FAZ x

12.04.2003 Marica Bodrozic Die Freiheit macht den Leser SZ x

25.04.2003 Tost Nach dem Gesetz SZ x

22.04.2003 Richard Kämmerlings Kunstperson - Was den Fall Maxim Biller so kompliziert macht FAZ x

05.07.2003 Joachim Lottmann Nichts als die Wahrheit taz x

09.07.2003 Georg M. Oswald Wie man Romane verbietet SZ x

66

09.07.2003 dpa Entscheidung zu Biller-Buch vertagt FAZ x

10.07.2003 dap Keine Einigung SZ x

10.07.2003 taz Unterm Strich taz x

23.07.2003 AP (Associated Press) Billers-Roman darf verstümmelt erscheinen FAZ x

24.07.2003 Richard Kämmerlings Angeschwärzt FAZ x

23.07.2003 Daniel Bax Die verhängnisvolle Affäre taz x

24.07.2003 Daniel Bax Das Esra-Urteil taz x

20.08.2003 Thomas Steinfeld Auch Klio richtet SZ x

21.08.2003 Felicitas von Lovenberg Sind Autobiographien Literatur? FAZ x

22.08.2003 Georg M. Oswald Das Ende des Schlüsselromans SZ x

23.08.2003 Hubert Spiegel Esras Kammerspiel FAZ x

23.08.2003 SZ Angriff und Rache SZ x

23.08.2003 taz Unterm Strich taz x

26.08.2003 Gerrit Bartels Beiseite. Was der Herbst bringt taz x

30.08.2003 Volker Ladenthin Literatur schafft (fiktive) Wirklichkeit SZ x

26.09.2003 Gerrit Bartels Der Dichter und das Leben taz x

27.09.2003 Julia Encke Das justiziabelste Buch der Welt SZ x

03.10.2003 Richard Kämmerlings In Sachen Unterleib FAZ x

10.10.2003 Hannes Hintermeier Stoppt die Buchstopper FAZ x

67

15.10.2003 Richard Kämmerlings Fiktionen vor Gericht: Billers Esra bleibt verboten FAZ x

16.10.2003 SZ Billers Roman Esra bleibt verboten SZ x

16.10.2003 Dirk Knipphals Maxim Biller verboten. Literatur ohne Liebe taz x

16.10.2003 Helge Malchow Romane erzählen erfundene Geschichten SZ x

16.10.2003 Andreas Zielcke Der öffentliche Akt SZ x

16.10.2003 Daniel Bax Die Heimtücke im Detail taz x

18.10.2003 Martin Markowitz Trotziger, trauriger Mann taz x

22.10.2003 taz Bücherverbot: Was bisher geschah taz x

22.10.2003 Georg M. Oswald Untersteh Dich, sagt meine Frau taz x

27.10.2003 Julia Encke Der Raum der Schuld ist leer SZ x

31.10.2003 dpa In Sachen Esra SZ x

21.11.2003 – Unterm Strich taz x

24.11.2003 Ralf Eberhorst Ratlos im Roten Salon SZ x

13.02.2004 dpa In Sachen Esra SZ x

13.02.2004 taz Unterm Strich taz x

24.03.2004 Friedmar Apel Mit etwas Glück kann die Seele den Leib ertragen FAZ x

06.04.2004 dpa Maxim Billers Roman Esra bleibt verboten FAZ x

07.04.2004 tost? Der Bong der kleinen Freiheit SZ x

07.04.2004 dpa Maxim Billers Esra bleibt verboten taz x

68

08.04.2004 GBA (Autor…) Biller etc. taz x

30.04.2004 dpa Höchste Instanz SZ x

30.04.2004 dpa »Esra« vor dem BGH taz x

07.05.2004 Kristina Maidt-Zinke Und auf der Kleinseite klingelt die Straßenbahn SZ x

26.07.2004 – Unterm Strich taz x

21.06.2005 Gerd Roellecke Esras Sieg: Biller-Roman bleibt verboten FAZ x

22.06.2005 Dirk Knipphals Juristische Literaturkritik taz x

22.06.2005 AP Billers Roman Esra bleibt verboten SZ x

22.06.2005 – BGH bestätigt Verbot von Billers Roman Esra taz x

22.06.2005 Christian Rath Esras Geschichte bleibt privat taz x

22.06.2005 Helmut Kerscher Nicht unzureichend verfremdet SZ x

27.06.2005 Brigitte Hentschel Missbrauch des Kunstbegriffs taz x

02.07.2005 Daniel Völzke Rache ist teuer taz x

01.09.2005 taz Unterm Strich taz x

01.09.2005 SZ Gegen Esra-Verbot SZ x

01.09.2005 dpa Verlag zieht gegen Verbot von Biller-Roman nach Karlsruhe FAZ x

06.03.2006 Andreas Resch Kannibalen, Rechte etc. Nicht ausreichend für ein Verbot taz x

23.06.2006 Thomas Steinfeld Das böse Buch und seine Feinde SZ x

24.06.2006 Daniel Kehlmann Ein Autor wird vernichtet FAZ x

69

22.07.2006 – ein Autor wird vernichtet FAZ x

23.07.2006 Hubert Spiegel Gebt uns Freiheit FAZ x

24.07.2006 SZ Freiheit der Kunst SZ x

24.07.2006 Gerrit Bartels Gegen den Ruin der Literatur taz x

28.10.2006 Wiebke Porombka Die narrative Kraft des Faktischen taz x

04.01.2007 Richard Kämmerlings Kann Dichtung dem Leben schaden? FAZ x

08.01.2007 SZ Verfassungsfrage SZ x

05.02.2007 Georg M. Oswald Kunstfreiheit als Phase SZ x

07.02.2007 Nicola Seipp Die Richter und die Denker SZ x

09.02.2007 Benjamin Best Wittler will kein Bärtchen tragen taz x

12.02.2007 Marcus Jauer Wahrheit und Erfindung SZ x

04.09.2007 Andrian Kreye Hoffnung für die Freiheit der Kunst SZ x

04.09.2007 taz Unterm Strich taz x

06.09.2007 Heribert Prantl Wahrheit und Dichtung SZ x

11.10.2007 taz Unterm Strich taz x

12.10.2007 Alex Rühle Maxim Biller Umstrittener Erzähler und Fall fürs Verfassungsgericht SZ x

12.10.2007 ddp Billers Roman Esra bleibt verboten FAZ x

12.10.2007 Helge Malchow Ich sehe Gefahren für die Autoren, … FAZ x

13.10.2007 Heribert Prantl Der Kunstrichter von Karlsruhe SZ x

70

13.10.2007 Helmut Kerscher Karlsruhe setzt Kunstfreiheit Grenzen SZ x

13.10.2007 FAZ Kunst gegen Leben FAZ x

13.10.2007 Christian Rath Verfremdungsverbot taz x

13.10.2007 Daniel Bax Eine Niederlage der Literatur taz x

14.10.2007 Nils Minkmar So leben wir FAZ x

15.10.2007 Ijoma Mangold Liebesroman SZ x

16.10.2007 Rainer Dresen Zu eindeutig zu provokativ taz x

18.10.2007 Hamburg Heute Maxim Biller und die Liebe taz x

20.10.2007 Andreas Zielcke Weil sie es ist SZ x

23.10.2007 Rudolf Wedekind Kalkulierte Taktosigkeit SZ x

Rolf Westermann, 23.10.2007 Wolfgang Deinhart, Ro- Mehr Gerichtsreporter als Schriftsteller SZ x bert Peters-Gehrke

06.11.2007 Rainer Wahl Abwägen zwischen den Grundrechten SZ x

04.12.2007 dpa Neuer Esra Prozess SZ x

07.12.2007 SZ Nachrichten SZ x

71

B Artikel zum Fall Esra im Börsenblatt Jahr Nr. Datum Artikel/Rubrik Autor/Kürzel Titel

2003 15 10.04. Wochenschau hh Neue Runde im Streit »Esra«

18 30.04. Wochenschau sf »Esra« bleibt verboten

29 17.07. Wochenschau hh Streit um »Esra« in dritter Runde

31 31.07. Wochenschau hh »Esra« jetzt mit Schwärzungen

33 14.08. Wochenschau sas Billers »Esra« mit Leerstellen

35 28.08. Wochenschau hh »Esra« erneut verboten

40 02.10. Aufreger der Woche – »Esra«2?

44 30.10. Interview Georg. M. Oswald Es gibt auch die Frage des Taktes

2004 11 11.03. Wochenschau sf Noch keine Einigung

12 18.03. Thema der Woche Nils Kahlefendt Neugier und Erregung

2005 16 21.04. Recht Kerstin Bäcker Auch für Prominente gilt das Persönlichkeitsrecht

25 23.06. Aufreger der Woche – Kurze Leine

25 23.06. Wochenschau Michael Roesler-Graichen Rotes Licht für »Esra«

26 30.06. Wochenschau hh Bis zur letzten Instanz?

36 08.09. Wochenschau hh Verfassungsbeschwerde

45 10.11. Wochenschau hh Stellungnahme zu »Esra« Verbot

45 10.11. Recht Peter Schuck Hat der Fall »Esra« weitreichende Folgen für die Kunstfreiheit?

46 17.11. Verlage Konstantin Wegner Die Grenzen der Kunstfreiheit

72

2006 4 26.01. Meinung Uwe Wittstock Leser können denken!

4 26.01. Interview Anne-Katrin Leenen Ein Roman ist kein Kunstwerk

22 01.06. Aufreger der Woche – Zahlemann

2007 25 21.06. Wochenschau hh Gutachten gegen »Esra«-Verbot

42 18.10. Wochenschau hh »Esra« bleibt verboten

73

Katharina Piske Underground Comix als visualisierte diskursive Praktik in den USA zwischen 1940 und 1980

1 Comics als diskursiver Gegenstand

Heutzutage hat man als Comic-Leser in (Comic-)Buchhandlungen die Auswahl zwi- schen Superhelden-, Abenteuer- und Kriegsgeschichten, Fantasy, dokumentarischen Sachcomics, Literaturadaptionen, Romance, Funnies und vielen weiteren Genres.1 Es ist deshalb kaum vorstellbar, dass es einst eine Zeit gab, in der Leser und Produzenten thematisch und stilistisch eingeschränkt waren: Vor mehr als sechzig Jahren jedoch erfuhr die Comic-Szene einen massiven Einschnitt, als in den USA herbe Kritik an den neuen Genres Crime, Horror und Romance geübt wurde. Bei Psychologen, Politikern, Eltern und Pädagogen keimte die Befürchtung auf, dass Comics durch ihre visuellen Darstellungen einen verderblichen Einfluss auf Kinder und Jugendliche ausüben und sie zu Gewalt- und Schandtaten animieren könnten. Die zunächst medial ausgetragene Debatte resultierte in der Gründung einer ›sittlichen Aufsichtsbehörde‹ (der ) und diversen Gesetzen, die zur Restriktion der künstlerischen Freiheit führten. Aus dem wachsenden Unmut heraus formierte sich ein Widerstand innerhalb der Comic-Szene, der Ausdruck in den ›Underground Comix‹2 fand. Ziel dieser Arbeit ist es, das Feld des Comic-Diskurses in den 1940er- und 1950er- Jahren im US-amerikanischen Raum abzustecken und anschließend den Zusammen- hang zwischen der Debatte und der neuformierten Untergrund-Szene herauszuarbei- ten. Dabei soll aufgezeigt werden, dass die Debatte die alternative Szene hervorgebracht und diese wiederum Anschlussoperationen ausgelöst hat, die den Comic-Diskurs be- einflusst haben. Underground Comix sind daher sowohl eine visualisierte diskursive Praktik beziehungsweise Aussage als auch ein Redegegenstand im Comic-Diskurs. Unter Berücksichtigung der leitenden Fragestellung gliedert sich die Arbeit in drei Teile: Erstens wird der verwendete Diskursbegriff von Reiner Keller erläutert. Zweitens wird der konkrete Kontext, das heißt die oben erwähnte öffentliche Debatte in den wesentlichen Zügen umrissen, wobei deutlich gemacht werden soll, inwieweit Comics Gegenstand des Diskurses gewesen sind. Im Anschluss werden drittens die Under- ground Comix als visualisierte diskursive Praktik analysiert, wobei sich zeigen wird, dass ihnen sowohl die Funktion von Aussagen als auch von Gegenständen im Diskurs zugeschrieben werden kann.

1 Vgl. Grünewald 1991, S. 20; Schikowski 2014, S. 213. 2 Im Folgenden sind mit ›Comics‹ ausschließlich die kommerziellen Comics für das Massenpublikum gemeint, die von großen Verlagen wie Marvel oder DC publiziert werden, während ›Comix‹ speziell die Produkte der neuen Sub- beziehungsweise Gegenkultur sind. Die Unterschiede beider Bezeich- nungen werden speziell in Kapitel 5 Visualisierung als Aussage und Gegenstand: Underground Comix als visualisierte diskursive Praktik ausgeführt.

74

2 Forschungsstand

Die Literatur zu den einzelnen Teilbereichen der vorliegenden Fragestellung ist äußert ergiebig: Sowohl zum Diskursbegriff als auch zum Comic-Medium gibt es vielzählige einschlägige Abhandlungen, die für das Thema von Nutzen sind. Ein wiederholt in diskursanalytischen Arbeiten auftauchender Name ist der von Michel Foucault, welcher grundlegend für diese Methodik steht. Stark abstrahiert meint er mit ›Diskursen‹ die Summe aller Aussagen, die den Rahmen dafür schaffen, wie Individuen und Gruppen über ein bestimmtes Thema zu einem bestimmten his- torischen Zeitpunkt sprechen können.3 Allerdings hat er über die Jahre seinen Diskurs- begriff beziehungsweise seine Theorie zur diskursiven Praxis modifiziert und erweitert, zum Beispiel 1970 in Die Ordnung des Diskurses. Bis heute berufen sich Wissenschaftler auf Foucaults Ausführungen und machen sie sich für verschiedene Forschungsschwer- punkte zunutze. Beispielsweise finden sie Anwendung in den Sozialwissenschaften, Li- teraturwissenschaften, Gender Studies oder in der Linguistik.4 Die wichtigsten theoretischen Grundlagenwerke zum Medium Comic stammen aus der Feder von (deutsche Übersetzung Mit Bildern erzählen: Comics and Sequential Art, 1995) und Scott McCloud (deutsche Übersetzung Comics richtig lesen, 1994) beziehungsweise im deutschsprachigen Raum von Andreas Knigge (Comics: Vom Massenblatt ins multimediale Abenteuer, 1996), Dietrich Grünewald (Vom Umgang mit Comics, 1991) und Klaus Schikowski (Der Comic: Geschichte, Stile, Künstler, 2014). Neben einer Annäherung an eine Definition des Comicbegriffs über dessen spezifi- schen Merkmale beinhalten sie einen Überblick über die historische Entwicklung des Mediums. Da ihr Hauptanliegen allerdings darin besteht, sämtliche Entwicklungspha- sen (etwa das Golden und das Silver Age des Comics) zu erfassen, nehmen die Jahre vor, während und unmittelbar nach der Underground-Bewegung nur wenig Raum in ihren Werken ein. Aufschlussreicher sind diesbezüglich Publikationen, die den Fokus ausschließlich auf die Jahre 1940 bis 1980 setzen. Vor allem jene Veröffentlichungen, die von Künstlern aus der Comix-Szene beziehungsweise Zeitzeugen der Ära verfasst worden sind, geben einen tieferen Einblick in die Underground-Bewegung, deren Aus- löser, Verlauf und die Gründe ihres Endes. Als Akteure der Bewegung liefern beispiels- weise (auch bekannt als Dez Skinn) und Patrick Rosenkranz wertvolle Informationen. Die Publikationen Underground Classics: The Transformation of Comics into Comix (2009) von James Danky und Denis Kitchen, Rebel Visions: The Under- ground Comix Revolution 1963-1975 (2002) von Patrick Rosenkranz sowie Dez Skinns The Underground Revolution (2004) und The Power of Comics: History, Form, and Cul- ture (2015) von Randy Duncan, Matthew J. Smith und Paul Levitz bilden damit eine wichtige Grundlage für die Darstellung der Ereignisse im relevanten Zeitraum. Wei- terhin ist besonders das von Dr. Fredric Wertham verfasste Buch Seduction of the In- nocent von 1954/55 eine wichtige Quelle für eine Betrachtung der Comix-Szene: Wenngleich das wissenschaftliche Fundament der Publikation mehrfach angezweifelt

3 In Kapitel 3 Diskursanalyse und Visualisierungen wird Foucaults Diskursbegriff näher erläutert. 4 Für einen Überblick über Diskursanalysen in verschiedenen Forschungsdisziplinen siehe zum Bei- spiel Angermuller et al. 2014.

75

wurde, sind die darin getroffenen Aussagen hilfreich für das Verständnis, welche kon- kreten Argumente im Vorfeld der Untergrund-Bewegung gegen Comics angeführt wurden. Weiterhin sind sie im Hinblick auf Inhalte und Stile der Comix von Relevanz, da eine Vielzahl von Werthams Kritikpunkten von Comix-Künstlern in ihren Werken künstlerisch verarbeitet wurden. Eine diskursanalytische Betrachtung der Comix-Bewegung hat bisher noch nicht stattgefunden, weshalb es an entsprechender Literatur dazu mangelt. Derzeit liegen ausschließlich Arbeiten mit dem Schwerpunkt auf historischer Entwicklung, Stoffen und Stilen der Comix-Szene vor. Der Diskursbegriff kommt in diesem Zusammen- hang nicht zur Anwendung, weshalb diese Arbeit einen neuartigen Zugang zur Comix- Szene eröffnet. Angesichts der gegebenen Fragestellung bedarf es einer passenden Dis- kurstheorie für die Analyse. Wie zuvor bereits erwähnt, existieren vielzählige Ansätze aus verschiedenen Wissenschaftsbereichen. Die Wahl stellt insofern eine Herausforde- rung dar, dass Comics durch die unauflösliche Synthese von Bild- und Textelementen ein heterogenes Medium sind. Beide Komponenten müssen bei der Diskursanalyse gleichermaßen berücksichtigt werden, sodass ein reines literatur- oder reines kunstwis- senschaftliches Diskursmodell als ungeeignet erscheinen. In den Sozialwissenschaften gibt es jedoch inzwischen Ansätze, die dieses Problem lösen: Reiner Keller hat 2016 in seinem Beitrag Die komplexe Diskursivität der Visuali- sierungen ein Konzept erläutert, das für eine Diskursanalyse von Einheiten aus Text- zeichen und grafischen Elementen, welche er als ›Visualisierungen‹ bezeichnet, geeig- net scheint. Als die drei wesentlichen Dimensionen einer Diskursanalyse von Visuali- sierungen sieht er ›Visualisierungen als Aussage‹, ›Visualisierungen als Gegenstand‹ und ›Visualisierungen als Strukturmerkmale‹.5 Auch Karin Knorr-Cetina (›Viskurse‹ der Physik: Konsensbildung und visuelle Darstellung, 2001) und Boris Traue beschäftigen sich mit Diskursen von Grafik- und Textverknüpfungen, die jedoch andere Schwer- punkte als Keller setzen. Traue beispielsweise schlägt in Visuelle Diskursanalyse: Ein programmatischer Vorschlag zur Untersuchung von Sicht- und Sagbarkeiten im Medien- wandel (2013) vor, das ›Was‹ (die möglichen Beschreibungsarten von visuellen Phäno- menen), ›Womit‹ (die technischen Strukturen, die diese Phänomene hervorbringen) und ›Wie‹ (die soziotechnischen Prozesse, innerhalb derer die Aktualisierung, Repro- duktion und Zugänglichkeit für Interventionen der Phänomene und deren Bedingun- gen) zu untersuchen.6 Diese sind nicht mit den Kategorien ›Visualisierung als Aussage‹, ›Visualisierung als Gegenstand‹ und ›Visualisierung als Strukturelement‹, die Keller aufstellt, gleichzusetzen. Da Traue in seinem Aufsatz vor allem den Einfluss der (digi- talen) Technisierung und Mediatisierung betont, welche für den Entstehungszeitraum der Comix-Szene nicht von Bedeutung sind, werden im Nachfolgenden die Dimensi- onen von Kellers Diskursansatz angewandt.

5 Detaillierte Ausführungen zu diesen drei Dimensionen erfolgen in Kapitel 3 Diskursanalyse von Visu- alisierungen. 6 Vgl. Traue 2013, S. 123.

76

3 Diskursanalyse von Visualisierungen

3.1 Reiner Kellers Diskurstheorie und Comics

Im Hinblick auf den thematischen Schwerpunkt hat diese Arbeit den Diskursbegriff von Reiner Keller zur Grundlage, welcher zunächst expliziert werden soll. Keller be- zieht sich mit seiner Diskurstheorie primär auf Michel Foucault. Er versteht unter ›Dis- kurs‹ die Gesamtheit von Aussagen, die eine Basis dafür schaffen, wie man über ein bestimmtes Thema zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt sprechen kann.7 Sie bilden den gemeinsamen Nenner für Individuen und Gruppen, worüber sie kommu- nizieren – das Thema sozusagen – und in welcher Art und Weise. Letzteres impliziert, dass es einerseits akzeptable und nachvollziehbare Kommunikationsformen8 im Dis- kurs gibt. Andererseits werden manche Arten der Kommunikation nicht akzeptiert, wodurch die Kommunizierenden in ihrer Ausdrucksform eingeschränkt sind.9 Dem- nach repräsentieren Diskurse den aktuellen Wissenshorizont der Sprechenden, der sich im konkret Gesagten manifestiert, und rahmen das zukünftige Denk- und Sagbare be- ziehungsweise künftige Handlungen10 ein. Diskurs ist dabei kein dauerhafter Zustand. Vielmehr vollziehen sich in ihm Prak- tiken, die wiederum zum Gegenstand werden, über den innerhalb des Diskurses ge- sprochen werden kann. Die diskursiven Praktiken reproduzieren sich daher rekursiv oder verändern sich. Wie veränderbar Diskurse und diskursive Praktiken sind, wird im Hauptteil ersichtlich werden. Im Gegensatz zu Foucault konzentriert sich Keller nicht nur auf die kommunikativen Prozesse im Diskurs, also auf die Abläufe einer Äußerung, sondern auch auf den kommunikativ Handelnden selbst, der auch als ›Subjekt‹ be- zeichnet wird. Für Keller ist die Intention, die hinter dem Gesagten steht, eines der Kernelemente seiner Diskursanalyse.11 An dieser Stelle verknüpft er Foucaults Diskurs- theorie mit der Strukturtheorie von Anthony Giddens. Ihm zufolge handelt der Mensch intentional, das heißt, er verfolgt mit seinen Aktionen einen bestimmten Zweck, der abhängig von seinem Wissensstand und seinem Glauben ist.12 Die Hand- lungen, die das Individuum oder eine Gemeinschaft in der Praxis vollziehen, sind wie- derum Eingriffe in deren Umwelt, die sie selbst und andere beobachten. Diese Refle- xionen über das Handeln bilden dann den Anknüpfungspunkt für weitere Handlun- gen,13 da andere unser Handeln interpretieren und darauf reagieren können. Damit werden die Handlungen zum Auslöser von Anschlusskommunikation, die eine Kette

7 Vgl. Hall 2005, S. 72. 8 Kommunikation schließt hier verbale und nonverbale Formen ein, das heißt das konkret Gesagte so- wie Gestik und Handlungen beziehungsweise Verhaltensweisen. 9 Vgl. Hall 2005, S. 72. 10 Foucaults Diskursbegriff ist nicht rein linguistisch, sondern verknüpft Aspekte von Sprache und In- teraktion miteinander. Bei Stuart Hall heißt es, dass Diskurs eine Kombination dessen ist, »what one says (language) and what one does (practice)«. Hall 2005, S. 73. 11 Vgl. Knoblauch 2016, S. 14–15. 12 Glauben meint hier nicht eine religiöse Einstellung, sondern die Vorstellung von Wahrheit und Re- alität, also gewissermaßen das Weltbild des Individuums. 13 Vgl. Knoblauch 2016, S. 16.

77

weiterer Reaktionen hervorrufen kann. Sobald sich das Handeln wiederholt, also re- kursiv wird,14 bilden sich Institutionen (oder Strukturen). Sie ermöglichen einerseits diskursive Praktiken, andererseits organisieren sie die Aktivitäten zeitlich und räumlich und begrenzen sie damit. Keller drückt das folgendermaßen aus: Soziale Akteure schaffen die entsprechenden materiellen, kognitiven, und normativen Infrastruk- turen eines Diskurses und orientieren sich in ihren (diskursiven) Praktiken an den Regeln der jeweiligen Diskursfelder […]. Sie agieren im Diskurs und aus dem Diskurs heraus.15 Das bedeutet, dass die Mitglieder einer Gesellschaft selbst die Regeln des Diskurses aufstellen und damit einen Rahmen schaffen, innerhalb dessen kommunikative Hand- lungen als akzeptabel oder inakzeptabel gelten. Demnach stehen sie in einer Wechsel- beziehung mit dem Diskurs, da sie ihn einerseits selbst generieren, die Regeln des Dis- kurses sie jedoch in ihrem Verhalten beeinflussen. Der Diskursbegriff ist im Prinzip auf alle möglichen Felder und Bereiche des Welt- geschehens und Alltagslebens anwendbar, insofern das Ereignis Bedeutung trägt.16 In der vorliegenden Arbeit wird es speziell um das Medium Comic beziehungsweise Co- mix als spezielle Form gehen. Keller hat für die Betrachtung eines Mediums, das weder rein schriftbasiert noch rein grafisch ist, einen Ansatz gefunden, der zwar noch nicht ausführlich erläutert und besprochen wurde,17 aber dennoch geeignet für das hier the- matisierte Problem ist. In seinem Aufsatz Die komplexe Diskursivität der Visualisierungen beschäftigt er sich mit der Diskursanalyse von Visualisierungen, die er von der Bilddiskursanalyse oder dem Bilddiskurs abgrenzt.18 Visualisierungen definiert er als eine Einheit aus Textzei- chen und grafischen Elementen, die das Resultat »eines Tuns, einer Handlung des Sichtbarmachens oder Zeigens […], der ein bestimmter Stellenwert in einem Aussage- kontext zu kommt«,19 sind. Beide Elemente – Text und Grafik – sind entscheidend für die Gesamtbotschaft des Werkes, denn diese lässt sich nur erschließen, wenn man Text und Bild zusammenhängend betrachtet und interpretiert. Visualisierungen sind folg- lich nicht identisch mit dem bloßen Bild. Aus diesem Grund ist die Bezeichnung ›Visualisierung‹ auch für Comics bezie- hungsweise für Comix zutreffend. Comics vereinen Elemente der Literatur mit Ele- menten der bildenden Kunst. Durch die Kombination von Text und Bild erzählen sie in Panels (das Einzelbild einer Bildfolge), die sequenziell aufeinanderfolgen, eine Ge- schichte.20 Im Gegensatz zu beispielsweise Bilderbüchern sind die Zeichnungen nicht

14 Giddens bezeichnet routinierte Handlungen als Praktiken. Vgl. Knoblauch 2016, S. 16. 15 Keller, Reiner: Wissenssoziologische Diskursanalyse. Grundlegung eines Forschungsprogramms. Wiesbaden 2005, S. 248, zitiert nach Traue 2013, S. 127. 16 Sobald ein Ereignis oder eine Sache Individuen oder Gruppen zum Denken und Sprechen darüber veranlasst, ist es bedeutungsvoll. Daher kommt Foucault auch zu dem Schluss, dass alles Bedeutungs- volle Teil eines Diskurses ist (»nothing has any meaning outside of discourse« Foucault 1972, zitiert nach Hall 2005, S. 73). 17 Boris Traue greift beispielsweise Kellers Konzept in seinem Aufsatz Visuelle Diskursanalyse. Ein pro- grammatischer Vorschlag zur Untersuchung von Sicht- und Sagbarkeiten im Medienwandel auf. 18 Vgl. Keller 2016, S. 77. 19 Keller 2016, S. 76. 20 Vgl. Eisner 1995, S. 5; Grünewald 1991, S. 28.

78

begleitend zum Text angelegt. Vielmehr ergänzen sie sich gegenseitig: Das Bild zeigt, was der Text nicht sagt, während umgekehrt der Text Informationen liefert, die im Bild nicht eindeutig erschließbar enthalten sind. Comics zeichnen sich demnach durch die Synergie von Bild und Text zu einer narrativen Einheit aus.21 Man kann sie somit als Äußerungen22 in Form von primär visualisierten diskursiven Praktiken auffassen. Eine Reihe von zusammenhängenden Äußerungen wiederum formen den Diskurs, der in Bezug auf seine »Aussagegehalte, -regeln und -ressourcen analysiert werden«23 kann. Bei der Diskursanalyse von Visualisierungen spielt nicht nur die Visualisierung selbst eine Rolle, sondern auch ihr Stellenwert beziehungsweise ihre Funktion im Dis- kurs. Folglich fließt auch der historische und soziokulturelle Kontext, in dem die Vi- sualisierung entstanden ist, mit in die Analyse ein.24 Darüber hinaus ist auch relevant, von wem die Visualisierung geschaffen wurde, da die Schöpfer »in und durch ihr arte- fakterzeugendes Handeln möglicherweise Position, vielleicht sogar gegen andere, be- reits bestehende Bildproduktionen«25 beziehen. Keller geht demnach in Anlehnung an Giddens davon aus, dass der Urheber sein Werk mit einer bestimmten Intention ge- schaffen hat. Die Visualisierung als Produkt eines kreativen Schaffensprozesses ist also eine in der Praxis vollzogene kommunikative Handlung, die interpretierbar ist und auf die Individuen oder Gruppen reagieren können. Visualisierungen sind somit sehr komplex, weshalb die Analyse ihres Diskurses ent- sprechend umfangreich ist. Keller schlägt daher vor, Schwerpunkte bei der Analyse zu setzen. Er differenziert zwischen drei Dimensionen: 1. Visualisierung als Aussage: Welchen Stellenwert nimmt eine einzelne Visualisierung in Dis- kursen ein, wie kann sie analysiert werden, und wie verhält sie sich zur angenommenen Serialität von Aussagen? 2. Visualisierung als Gegenstand: Wie, warum, mit welchen Effekten werden Visualisierungen zum Gegenstand von Diskursen, bspw. in Konflikten um Auslegungen? 3. Visualisierung als Strukturmerkmal: Inwiefern lassen sich diskursive Verschiebungen feststel- len, in denen Visualisierungen über Vertextungen dominieren?26 Damit ist das Problem jedoch nur zum Teil gelöst, da, wie sich zeigen wird, die drei Analysedimensionen miteinander verwoben sind. Das liegt in der oben genannten Re- kursivität von Diskursen begründet: Diskursive Praktiken lösen Anschlussoperationen aus, die wiederum in den Diskurs inkorporiert werden. Sie sind sowohl Resultat des Diskurses als auch Referent, gleichermaßen Aussage und Gegenstand des Diskurses.

21 Zumeist ist der Text in Form von Sprech- und Gedankenblasen, Onomatopoetika, Textboxen oder Beschriftungen auf einzelnen Gegenständen in die Zeichnungen integriert. An dieser Stelle ist anzu- merken, dass auch Panels ohne Text vorliegen können. Vgl. Grünewald 1991, S. 96–97; Eisner 1995, S. 129–130. 22 Keller beschreibt Äußerungen genauer als »konkrete Verknüpfungen eines Tuns mit einer Form, ei- nem Inhalt und einem Referenten«. Keller 2016, S. 82. In diesem Fall ist die Form das Medium selbst, also der Comic beziehungsweise Comix in Heft- oder Albumformat, der Inhalt ergibt sich aus der Kombination der grafischen und schriftlichen Zeichen in den einzelnen Panels und der Seite als Gesamtkomposition und der Referent ist der Gegenstand, auf den inhaltlich Bezug genommen wird. 23 Keller 2016, S. 82. 24 Vgl. Keller 2016, S. 77. 25 Keller 2016, S. 77. 26 Keller 2016, S. 80.

79

Im ersten Teil dieser Arbeit kommt primär die zweite Dimension zur Anwendung, bei der nicht das Visualisierungsereignis selbst im Vordergrund steht, sondern dessen diskursive Effekte.27 Genauer: Welche Comic-Genres lösten in den 1940er-Jahren in Amerika eine öffentliche Debatte aus und warum? Wie reagierten die Beteiligten da- rauf? Die Debatte bildet das Vorfeld der Underground Comix, da sie Teil des sozio- kulturellen Kontextes ist, aus der die Untergrund-Bewegung resultierte. Im zweiten Teil steht dann eine konkrete Reaktion im Zentrum: die Bewegung der Underground Comix, die in den 1960er-Jahren begann. Dabei werden besonders die Comix selbst als intentionale diskursive Praktiken ihrer Urheber eingehender betrach- tet. Damit ist die Schwelle zu Kellers erster Dimension, Visualisierung als Aussage, überschritten: Welche Botschaften, welche Intentionen stecken hinter den Comix? Auf welche Diskurselemente und externe Diskurse nehmen sie Bezug und wie setzen die Künstler dies in ihren Werken um? Welche Regeln für das Sagbare oder Sichtbare28 gelten für sie? Daran anknüpfend soll beurteilt werden, ob und in welchem Maße die Untergrund-Bewegung mit dem Comic-Diskurs verwoben war und ihn ›von innen heraus‹ verändert hat.

3.2 Comic-Diskurs als Interdiskurs

Seit ihren Anfängen sind Comics ein kontrovers diskutiertes Medium. Während viele, vor allem junge Leute fasziniert von der sequentiellen Kunst sind, wird sie von anderen als unästhetisch29 und schädlich für die Entwicklung der kindlichen Lesekompetenz aufgefasst. In den 1940er-Jahren kam in den USA30 ein neuer Kritikpunkt hinzu, der unter anderem psychologische und kriminologische Diskurse mit einbezieht. Beson- ders im Zeitraum zwischen 1940 und 1980 wurde debattiert, ob Comics die Ursache der drastisch ansteigenden Kinder- und Jugendkriminalität in den USA sind. Dies ist ein gutes Beispiel dafür, dass Diskurse nicht isoliert voneinander existieren, sondern Berührungspunkte oder Überschneidungen mit anderen Diskursen aufweisen. Als Kunstform sind sie vordergründig Teil der Kultur. Da sie jedoch von Mitgliedern einer Gesellschaft hervorgebracht und rezipiert werden, thematisch Bezug auf andere Wis- sensbereiche nehmen und verschiedene Institutionen und Organisationen an ihrer Pro- duktion und Verbreitung beteiligt sind, sind sie unter anderem Teil von soziokulturel- len, kulturpolitischen oder kulturökonomischen Diskursen. Jürgen Link schlägt für solche feldübergreifenden Diskurse den Begriff ›Interdiskurs‹ vor. Sie generieren kein spezifisches Wissen, sondern kombinieren mehrere Wissensbereiche. Sie werden damit zum Bindeglied zwischen Spezialdiskursen,31 also Diskursen, in denen Objekte und Subjekte sehr spezifisches Wissen generieren.

27 Vgl. Keller 2016, S. 86. 28 Traue benutzt in seinen Ausführungen den Begriff ›Sichtbares‹, da es sich bei Visualisierungen nicht um akustisch, sondern visuell wahrnehmbare Aussagen handelt. Vgl. Traue 2013, S. 119. 29 Vgl. Knigge 1996, S. 327–328. 30 Die Debatte wurde nicht nur in US-Amerika, sondern auch in Kanada und Europa geführt und baute zum Großteil auf den Argumenten und Maßnahmen der US-Amerikaner auf. 31 Vgl. Link 2012, S. 58–59.

80

Aus der öffentlichen, zum Großteil medial vermittelten Debatte darüber, ob Co- mics die Ursache für Jugendkriminalität in Amerika sind oder nicht, resultiert ein Dis- kursuniversum. Dabei handelt es sich um »komplexe, inkonsistente, heterogene und konfliktreiche, immer aber emergente Prozessierungen von symbolischen Ordnungen […], die aus den unzähligen Beiträgen einzelner individueller und kollektiver Akteure in Situationsdefinitionen und symbolischen Kämpfen entstehen.«32 Die symbolischen Kämpfe wurden in diesem Fall in der Anfangsphase zwischen den Verteidigern und den Anklägern der Comics ausgetragen, wobei es auch zu direkten Gegenüberstellun- gen beider Parteien kam. Im Nachfolgenden soll ein Überblick darüber gegeben werden, wer diese Debatte initiiert hat (die Subjekte des Diskurses), welche Argumente und Gegenargumente ins Feld geführt wurden und schließlich, welche Konsequenzen sich aus dem öffentlichen Meinungsstreit ergeben haben. Die Ära der Underground Comix wiederum ist eine unmittelbare Folge dieser medialen und juristischen Attacken auf das Medium. Damit stellt die Bewegung nicht nur selbst eine diskursive Praktik dar, sondern formiert durch ihre Sonderstellung innerhalb des Comic-Diskurses einen Subdiskurs.33

4 Visualisierungen als Gegenstand: Die Comic-Debatte in den USA im Vorfeld der Underground Comix

Schon 1940 veröffentlichte Sterling North in der Chicago Daily News einen Artikel mit dem Titel A National Disgrace. In diesem behauptete er, dass Comics, die mit Sex, Mord und Totschlag durchzogen sind, die kindliche Erwartungshaltung an ihre Lek- türe negativ beeinflussen würden. Seiner Meinung nach nähmen Kinder diese Sorte Comics als Maßstab, sodass sie harmlosere Comics, die besser für den kindlichen Er- fahrungshorizont geeignet sind, langweilen würden.34 Er bezog sich damit offensicht- lich nicht auf Comics, in denen Geschichten von unschuldigen, liebenswürdigen Men- schen und Tieren erzählt werden. Vielmehr meinte er die Abenteuer- oder Superhel- den-Comics, in denen die Protagonisten unter dem Einsatz von Fäusten und Waffen für Gerechtigkeit eintreten. Teile der US-amerikanischen Bevölkerung waren damit bereits in Alarmbereitschaft versetzt, sodass das neue Genre, das im Juni 1942 auf den Markt kam, vielerorts Empörung hervorrief. Silver Streak Comics (später umbenannt in Crime Does Not Pay) wurde der erste Crime-Titel in den USA, mit dem man Ab- wechslung in die eintönige Comic-Industrie bringen wollte. Die Geschichten waren nach Aussage ihrer Schöpfer an reale Verbrechen angelehnt oder zeichneten Biografien berühmter Gangster wie John Dillinger oder Lucky Luciano nach. Weitere Neuveröf- fentlichungen wie True Detective oder Front Page Detective erregten das öffentliche In- teresse aufgrund der unzensiert gewalttätigen und blutigen Szenarien.35 Darauf folgten Horror-Hefte à la Tales from the Crypt, The Vault of Horror oder The Haunt of Fear, in

32 Keller 2012, S. 14. 33 Siehe Kapitel 5 Visualisierung als Aussage und Gegenstand: Underground Comix als diskursive Praktik. 34 Vgl. Comic Books Legal Defense Fund: History of the Censorship Part I. 35 Vgl. Knigge 2004, S. 215.

81

welchen übernatürliche beziehungsweise Sagen- und Fantasiegestalten (Werwölfe, Un- tote, Hexen usw.) ihr Unwesen trieben. Sie übertrafen Crime- und Science-Fiction- Comics meist noch an Grausamkeit und Blutrunst. Heft-Serien wie Young Romance von und wiederum wurden aufgrund ihres erotischen Inhalts und ihrer Freizügigkeit unter anderem Pornographie vorgeworfen. Wenngleich im Un- tertitel explizit darauf hingewiesen wurde, dass sich die Geschichten an ein erwachsenes Publikum richteten,36 war man in Sorge um die Auswirkungen auf Kinder und Ju- gendliche. Der Schock über Comics mit »subkutane[r] Injektion von Sex und Mord«37 löste schließlich eine Debatte darüber aus, inwieweit Comics ihre Leser negativ beein- flussen würden.38 Die entsprechenden Comics wurden demnach zum Gegenstand im Diskurs. Zum bekanntesten und meistzitierten Gegner der Romance-, Horror- und Crime- Comics wurde Fredric Wertham (Psychiater am New York City Department for Hos- pitals, Direktor der psychiatrischen Abteilung des Bellevue Hospitals, später des Queens General Hospital, Direktor der Lafuarge Clinic in Harlem).39 Spätestens 1954 gewann er mit seiner Publikation Seduction of the Innocent die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit. Das erste Mal hatte er im Ladies Home Journal Stellung gegen Comic- Hefte bezogen. Ziel seines Artikels What Parents Don’t Know about Comic Books war, wie der Titel bereits suggeriert, Eltern über den Schaden, den Comics verursachen auf- zuklären und sie in Alarmbereitschaft zu versetzen. Ihm zufolge bestünde eines der Hauptprobleme der Comic-Lektüre darin, dass Pädagogen und Eltern die Comics, die ihre Kinder in ihrer Freizeit konsumierten, als harmlos einschätzen. Dies wäre aller- dings eine Fehleinschätzung ihrerseits,40 stattdessen wären die meisten gewaltverherrli- chend und übermäßig erotisch, weshalb sie Heranwachsende moralisch verderben wür- den. Seinem Beispiel folgend nahmen die medial vermittelten Stellungnahmen gegen Comics stetig zu. Im März 1948 strahlte der Sender ABC eine Diskussion mit dem Titel What’s Wrong with the Comics? aus, bei dem unter anderem Wertham zu den Wortführern zählte. Später war er auch einer der Fachkundigen, die beim Symposium The Psychopathology of Comic Books um ihren Kommentar gebeten wurden. Neuen Zündstoff bezogen die Comic-Gegner in erster Linie aus den Berichterstattungen di- verser Zeitungen, etwa der Time, die am 4. Oktober 1948 von einem 14-Jährigen be- richtete, der in Los Angeles eine 50-Jährige vergiftet hatte. Die Rezeptur hatte er nach eigener Aussage einem Comic-Heft entnommen. Solche und ähnliche reale Fälle nahm die Anti-Comic-Fraktion als Beweis dafür, welch schädlichen Einfluss die Comic- Hefte auf ihre Leser haben.41

36 Wörtlich stand dort: »Designed for the more adult readers of comics.« Vgl. Knigge 2004, S. 254. 37 Knigge 2004, S. 216. Mit diesen Worten wurden die betreffenden Comic-Genres im Mai 1940 von der Chicago Daily News beschrieben. 38 Vgl. Knigge 2004, S. 215. 39 Vgl. Thomas 2006, S. 22. 40 Vgl. Comic Books Legal Defense Fund: History of the Comic Book Censorship Part I. 41 Vgl. Knigge 2004, S. 256–257. Für ein vollständiges Bild seiner Theorien siehe Wertham 1955.

82

Die Öffentlichkeit, allen voran Eltern und Kirchenverbände sowie Lehrer und Buchhändler, war inzwischen so in Aufruhr, dass es zu öffentlichen Comic-Heft-Ver- brennungen kam oder die Händler sich weigerten, Hefte aus den fraglichen Genres zum Verkauf anzubieten.42 1948 unternahm die Comic-Verlagsszene daher einen ers- ten Versuch, die Gemüter zu beschwichtigen, indem sie die Association of Comics Ma- gazine Publishers (ACMP) gründete. Sie blieb jedoch nicht lange bestehen, da sich die Mehrzahl der Comic-Verleger nicht anschloss.43 Eine erste Abhandlung in Buchformat gegen die moralische Verderbtheit in Comics wurde 1949 mit Love and Death von Gershorn Legman auf den Markt gebracht. In dieser bezeichnete er Comics nicht nur als vulgär, sondern unterstellte ihnen auch, dass sie »Kinder wie Tiere konditionieren und ihren Willen brechen«44 würden. Fredric Wertham betont in Seduction of the Innocent45 ähnliche Aspekte, welche im Prinzip Wiederholungen seiner – altbekannten – Argumente aus früheren Artikeln sind. Seine Tirade gegen Horror-, Crime-, Abenteuer- und Superhelden-Comics beinhaltet unter anderem den Vorwurf der Korruption, der moralischen Verderbtheit und der sadisti- schen Perversion.46 Er betont jedoch, dass er sich nicht an der Thematisierung von Sex an sich stößt, sondern an der Art und Weise der Darstellung. Denn durch die Ver- knüpfung von Sex mit Gewalttaten und Folter bekämen die Heranwachsenden ein falsches Bild vom Geschlechtsakt und würden deswegen Scham oder Angst empfin- den.47 Seines Erachtens dienen die Visualisierungen von Vergewaltigungen, Diebstahl, körperlichen Verletzungen, Fremdgehen und Betrügen sowie Werbung für Waffen als Vorlage für entsprechende Taten. Seine Theorie stützt er auf die Ergebnisse einer siebenjährigen empirischen Studie, die er selbst in Zusammenarbeit mit anderen Psychologen durchgeführt hat. Aufgrund seines Berufs hatte er Kontakt mit einer Vielzahl an Kriminellen im Kindes- und Ju- gendalter. In seinen Sitzungen ging er der Ursache ihres kriminellen Verhaltens auf den Grund, wobei sich zeigte, dass fast alle Patienten in ihrer Freizeit Comics, insbe- sondere die genannten Genres, rezipierten.48 Zur Illustration seiner These schildert er diverse Einzelfälle, in denen die jungen Kriminellen besonders scheußliche und grau- same Taten verübt hatten, die Parallelen zu Szenen in Comic-Heften aufweisen. Dar- aus schloss er, dass diese Art von Comics zwar nicht der einzige und ausschlaggebende,

42 Vgl. Knigge 2004, S. 254 und 257. 43 Vgl. Duncan / Smith / Levitz 2015, S. 24. 44 Thomas 2004, S. 22. 45 Vgl. Knigge 2004, S. 258. 46 Vgl. Wertham 1955, S. 32. Seine Ausführungen gingen sogar so weit, dass er aus der Freundschaft zwischen Batman und seinem Sidekick Robin eine geheime homosexuelle Beziehung herauslas und er Superman als einen antiamerikanischen Faschisten bezeichnete. Vgl. Wertham 1955, S. 190. 47 Vgl. Wertham 1955, S. 174 und 185. 48 Eines der Hauptprobleme besteht für ihn darin, dass Comics dieses Typs zwar an Erwachsene adres- siert sind, aber Kindern und Jugendlichen frei zugänglich sind, sei es im Kiosk oder in der Bibliothek. Selbst Heranwachsende, die die Comics nicht lesen, könnten sich ihrer Wirkung nicht entziehen, da bei der visuellen Darstellung von Erotik oder Gewalt ein kurzer Blick genüge, um sich ins Gedächtnis einzuprägen. Vgl. Wertham 1955, S. 15–18.

83

aber einer der wesentlichen und am wenigsten entschuldbaren Faktoren wäre, der zu Kriminalität führe.49 Kurz nach der Veröffentlichung von Werthams Studie wurde im Senate Judiciary Committee ein Unterkomitee gegründet, das den Zusammenhang von jugendlichen Kriminalfällen und der Comic-Lektüre überprüfen sollte. Aus diesem Grund befragte das Komitee im April desselben Jahres Kinderpsychologen, Comic-Verleger und -Zeichner. Bei diesen sogenannten Kefauver-Hearings kam es zur direkten Gegenüber- stellung der beiden Fraktionen, die Comics zum Gegenstand ihrer Auslegungen mach- ten. Zum einen legte Wertham auch hier seine oben genannten Argumente dar. Zum anderen hatten Verleger und Künstler die Möglichkeit, sich und das Medium zu ver- teidigen. William Gaines argumentierte beispielsweise, dass bisher kein schriftstelleri- sches Werk, weder ein Comic noch ein anderes, nachweislich zu Hyperaggressivität oder Kriminalität bei Kindern geführt hätte. Die Ursachen für ein solches Verhalten wären weitaus komplexer und könnten nicht ausschließlich im Inhalt und den Dar- stellungen der Comics liegen. Vielmehr entspränge es der unmittelbaren, realen Um- welt, etwa dem Elternhaus, Schule und Nachrichten, die einen weitaus größeren Ein- fluss auf Heranwachsende ausübt. Weiterhin führte er an, dass Wertham und andere Psychologen scheinbar die Intelligenz und das Wesen der Kinder falsch einschätzen würden. Sie wären keineswegs so einfach gestrickt, dass sie unweigerlich nach dem Le- sen über einen Diebstahl diesen beispielsweise auch tatsächlich nachahmen würden.50 Darüber hinaus versuchte man die Theorien zu widerlegen, indem man auf die Vor- teile der Comic-Lektüre einging. Laut Dr. David Abrahamsen wären Comics ein hilf- reiches Ventil für die jungen Leser, ihre angestauten Aggressionen und ihre sexuellen und gewalttätigen Fantasien abzubauen.51 Einen ähnlichen Standpunkt vertritt auch Stan Lee. Er sieht in Comics aufklärerisches Potenzial, da man Kinder beispielsweise vor der Einnahme von Drogen beziehungsweise den negativen Auswirkungen von Drogen warnen kann.52 Zudem ginge es in Crime-Comics nicht um die Glorifizierung von Verbrechen, sondern um die Botschaft, dass Verbrecher immer bestraft werden.53 Die Leser wiederum protestierten gegen die Anschuldigungen auf schriftlichem Weg: Die Rezipienten von Crime Does Not Pay schrieben Briefe an den Verlag, in denen sie davon berichteten, dass die Comics sie davor bewahrt hätten, eine kriminelle Laufbahn einzuschlagen.54 Dies sind nur einige Beispiele öffentlicher Meinungsäußerungen, um zu verdeutli- chen, wie verhärtet die Fronten zum damaligen Zeitpunkt waren. Mit bloßen Worten ließ sich der Konflikt scheinbar nicht lösen. Nachdem die Debatte nunmehr über zehn Jahre geführt wurde, entschloss man sich zu einem erneuten Eingriff in die Comic- Industrie. Im September 1954 wurde die Comic Magazine Association of America

49 Vgl. Wertham 1955, S. 155 sowie S. 166; Comic Books Legal Defense Fund: History of the Comic Book Censorship Part I. 50 Vgl. Knigge 2004, S. 259. 51 Vgl. Comic Books Legal Defense Fund: History of the Comic Book Censorship Part I. 52 Vgl. Hoffmann / Rauch 1975, S. 29. 53 Vgl. Wertham 1955, S. 19. 54 Vgl. Knigge 2004, S. 216.

84

(CMAA) gegründet, welche auf denselben Prinzipien wie zuvor die ACMP basierte55 und noch heute besteht. Die Mitglieder entwarfen gemeinsam den sogenannten Co- mics Code, in dem festgelegt wurde, welche Kriterien Comics zu erfüllen haben, um für die junge Leserschaft angemessen zu sein. Der Code beinhaltete zum Beispiel, dass in Comics die Kriminellen nicht auf eine Art und Weise dargestellt werden dürften, die beim Leser Sympathie wecken könnte. Auch Scheidungen durften weder im hu- morvollen noch im positiven Licht thematisiert werden. Weiterhin waren sadistische Szenen und Folterungen sowie vulgäre Ausdrücke verboten und auch Religions- oder Rassengruppen durften nicht parodiert oder attackiert werden.56 Im Wesentlichen stri- chen sie damit freiwillig all jene Punkte aus den Comic-Publikationen, die von der Öffentlichkeit und dem Staat kritisiert wurden. Überprüft wurden die Vorgaben von der eigens zu diesem Zweck gegründeten Co- mics Code Authority unter dem Vorsitz von John Goldwater (seines Zeichens der Ver- leger der Archie-Comic-Serie). Sie sichteten die Hefte vor ihrem Erscheinen und ver- sahen jene, in denen sie keine Verstöße gegen den Code zu beanstanden hatten, mit dem Siegel ›Approved by the Comics Code Authority‹.57 Es handelt sich dabei um eine Form der Vorzensur, durch die man potenziell gefährdendes Material in Comics zu eliminieren versuchte. Insofern etwas an den Ausgaben zu beanstanden war, bekamen die Verleger die Möglichkeit, die problematischen Darstellungen zu bearbeiten und dem Code anzupassen.58 Mit diesem Regelwerk schließen sie ausdrücklich bestimmte Themen aus, womit sie das Feld des Sag- beziehungsweise Sichtbaren im Comic-Dis- kurs eingrenzen. Wenngleich die Comics Code Authority keine vollständige Kontrolle über die In- halte sämtlicher Publikationen hatte, so verfehlten die Maßnahmen ihre Wirkung nicht. Viele Händler weigerten sich zum Beispiel, Comics ohne das entsprechende Sie- gel zu verkaufen. Zudem wurden in einzelnen Bundesstaaten und Gemeinden der USA, etwa in New York oder in Maryland, Connecticut, individuell Gesetze erlassen, die den Comic-Handel zu unterbinden oder zumindest einzudämmen versuchten. Verstöße gegen diese Gesetze wurden mit Freiheits- oder Geldstrafen geahndet. Damit erreichte die Debatte eine völlig neue Dimension. Während man sich zuvor allenfalls vor zensorischen Eingriffen fürchten musste, drohten nun tatsächliche juristische Kon- sequenzen.59 Dies zeigt sehr anschaulich die Prozesshaftigkeit von Diskursen, da die zunächst medial vermittelte Debatte (im Sinne einer verbalen Praktik) Anschlussreak- tionen beziehungsweise -handlungen auf (bundes-)staatlicher Ebene ausgelöst hat, die in den späteren Jahren wiederum Anlass für weitere Praktiken wurden. Auf lange Sicht führten diese Umstände zu einem drastischen Rückgang der Ab- satzzahlen und der Zahl der Neuveröffentlichungen, weshalb mehrere Comic-Verlage

55 Vgl. Thomas 2006, S. 24. 56 Vgl. Knigge 2004, S. 258. In Ermangelung eines Kriterienkatalogs zur Überprüfung der einzelnen Regelungen blieb zum Beispiel unklar, ab wann ein Krimineller dem Rezipienten als ›sympathisch‹ er- scheinen würde. Aus dieser Perspektive betrachtet war die Verbotsliste mehr Schall und Rauch, denn eine effektive Lösung des Konflikts. 57 Vgl. Knigge 1996, S. 141. 58 Vgl. Knigge 2004, S. 259. 59 Vgl. Knigge 2004, S. 259.

85

ihre Mitarbeiter entlassen oder Insolvenz anmelden mussten60 sowie als Präventivmaß- nahme ihr Verlagsprogramm Comics-Code-konform gestalteten.61 Verlage wie Harvey Comics oder Archie Comics Publications publizierten fortan betont konservative Co- mics,62 sodass sich Autoren und Zeichner einer mehr oder minder freiwilligen Selbst- zensur unterwarfen. Gleichzeitig machte sich jedoch zunehmend Empörung unter Pro- duzenten und Rezipienten von Comics breit, die den Beginn einer neuen Ära einläu- tete.

5 Visualisierungen als Aussage und Gegenstand: Underground Comix als visualisierte diskursive Praktik

Aus der Unzufriedenheit heraus formierte sich eine neue Gruppe von Comic-Zeich- nern und -Autoren, die zu einer ganzen Bewegung wurde: die Underground Comix.63 Die Initiatoren der neuen Subkultur haben die Auswirkungen des Comics Codes di- rekt zu spüren bekommen, da sie zu dieser Zeit selbst noch im Kindesalter waren. Sie gehörten demnach zu jener Alters- und Gesellschaftsgruppe, die vor dem negativen Einfluss der Comics geschützt werden sollte.64 Anstatt sich jedoch behütet zu fühlen, erwuchs in ihnen Unmut über die mangelnde Diversität an Comic-Genres. Sie teilten die Sichtweise der Comic-Befürworter und wehrten sich gegen die Anfeindungen von Seiten der Eltern, Pädagogen, religiösen Gemeinden und staatlichen Institutionen so- wie gegen die Vorgaben der Comics Code Authority. Sie verarbeiteten in ihren Comix all jene Themen, die durch den Comics Code zum Tabu erklärt wurden oder von aktueller Relevanz waren. Damit knüpften sie inhaltlich unmittelbar an die Comics der 1940er- und 1950er-Jahre an.65 In den nächsten Abschnitten wird zunächst darauf eingegangen, wann und wo die neue Ära anbrach. Im Anschluss werden die Unter- schiede zur kommerziellen Comic-Industrie in Bezug auf Themenauswahl und Stil der visuellen Darstellungen genauer betrachtet. Diese Ausführungen sind notwendig, um einerseits zu verstehen, in welchem Zusammenhang die Untergrund-Szene mit der an- dauernden Debatte stand (Comix sind in dieser Phase Aussagen im Diskurs), und an- dererseits welche Aspekte schließlich zum Ende der Bewegung geführt haben.

60 Vgl. Knigge 2004. Nach der Einführung des Codes lösten sich 24 von ursprünglich 29 Crime-Co- mic-Verlagen auf. Vgl. Thomas 2006, S. 25. 61 Vgl. Comic Books Legal Defense Fund: History of the Comic Book Censorship Part I. Zu den be- wusst harmlosen, das heißt unerotischen und gewaltfreien Comics, die kindertauglich waren, gehörten unter anderem Archie von Bob Montana (1941) oder Picture Stories from the Bible (1942). Vgl. Knigge 2004, S. 216. 62 Vgl. Merlock Jackson / Arnold 2007. 63 Das ›x‹ im Namen ist von ›x-rated‹ abgeleitet und suggeriert einen literarischen Stoff, der für ein er- wachsenes Publikum ausgelegt ist. Vgl. Skinn 2004, S. 12. 64 Vgl. Duncan / Smith / Levitz 2015, S. 41. 65 Vgl. Comic Book Legal Defense Fund: History of the Comic Book Censorship Part II.

86

5.1 Zeitliche und räumliche Einordnung der Bewegung

Der Beginn der Underground Comix lässt sich grob auf die 1960er-Jahre datieren. Somit entstanden sie im Kontext von sozialen und politischen Unruhen und kulturel- len und sozialethischen Normumbrüchen in den USA.66 Zudem war in diesen Jahren die Hippie-Bewegung auf dem Vormarsch, wodurch der Verkauf und der Konsum von bewusstseinserweiternden Drogen florierte. Patrick Rosenkranz sieht in ebendieser Kombination aus politischer Unterdrückung, Protestbewegungen, Neuerungen in der Drucktechnologie und bewusstseinserweiternden Drogen67 den Motor der Bewe- gung.68 Eine exakte Jahresangabe des Beginns der Bewegung ist jedoch nicht möglich, da sich Künstler und Comic-Historiker uneins über die erste Comix-Publikation sind.69 Für viele Comix-Zeichner und -Leser gilt Zap Comix #1 von als erste Comix-Publikation,70 andere wiederum plädieren für die Beiträge in alternativen Zeitschriften wie The , Los Angeles Free Press und dem San Francisco Oracle.71 Sie sind zwar keine selbstständigen Comix-Hefte, sondern primär kultur- und gesellschaftskritische Zeitschriften, aber dort wurden zumindest die ersten Comicstrips im Stile der späteren Comix veröffentlicht.72 Eine ähnlich große Rolle spielten die Col- lege-Magazine der jeweiligen Universitäten.73 Zu diesen gehören etwa The Harvard Lampoon (Cambridge, MA), Voo Doo (Cambridge, MA), Satyr (Los Angeles, CA) und The Pelican (Australien), die – auch heute noch – humorvolle Strips mit radikalen po- litischen und sozialen Inhalten abdrucken.74 Die beitragenden Studenten waren aller- dings insofern durch die Fakultätsräte eingeschränkt, dass Kraftausdrücke, nackte Haut und Werbung für das Legalisieren von Marihuana in diesen Zeitschriften nicht erschei- nen durften. Da sich einige Studenten jedoch diesen Regeln widersetzten, kam es öfter

66 Vgl. Danky / Kitchen 2009, S. 17. 67 In den Sechzigern war es einfacher, bewusstseinserweiternde Drogen zu bekommen, nicht nur auf illegale Weise, sondern auch legal über ein ärztliches Attest. Vgl. Rosenkranz 2002, hier S. 39. 68 Vgl. Rosenkranz 2002, S. 4. 69 Vgl. Skinn 2004, S. 6. 70 Vgl. beispielsweise Knigge 1996, S. 161. Wenngleich Zap kaum als erste Comix-Veröffentlichung bezeichnet werden kann, so ist sie doch eine der einflussreichsten und erfolgreichsten Heft-Serien der Ära gewesen. Bei Lesern und Mitwirkenden wurde sie vor allem aufgrund ihres artistischen und inhalt- lichen Qualitätsanspruchs geschätzt. Vgl. Rosenkranz 2002, S. 140. Durch die Zusammenarbeit von Robert Crumb mit , S. Clay Wilson, Rick Griffith, und weiteren Künstlern zeichnete sich das Heft durch eine stilistische und inhaltliche Vielfalt aus. Der Leser hatte die Auswahl zwischen Bereichen wie Wirtschaft, Politik und soziale Klassen sowie Drogenkonsum, Se- xualität oder Rassendifferenzen, -vorurteilen und -stereotypen. Damit deckten sie das gesamte The- menspektrum ab, das prototypisch für die Bewegung war. Vgl. Comic Books Legal Defense Fund: History of the Comic Book Censorship Part II. 71 The San Francisco Oracle bezeichnete sich selbst als ›Stimme der Rebellion und ekstatischer Vision‹. Vgl. Rosenkranz 2002, S. 51. 72 Vgl. Danky / Kitchen 2009, S. 17. 73 Wörtlich heißt es dort: »College humor magazines became precursors to the underground press, and were often the center of academic and social agitiation on American campuses.« Rosenkranz 2002, S. 20. 74 Vgl. Skinn 2004, S. 18; Rosenkranz 2002, S. 20; Duncan / Smith / Levitz 2015, S. 43. Die dort er- schienenen Werke wurden in den Folgejahren oftmals als Sammlungen neu veröffentlicht.

87

zu Auseinandersetzungen und Campusunruhen. In Extremfällen wurden die Verant- wortlichen sogar verhaftet.75 Diese provokative, aufrührerische Haltung war kenn- zeichnend für die gesamte Underground-Bewegung. Weiterhin kann man das Magazin Help! (19601965) als treibende Kraft der Szene in den Anfangsjahren sehen. Für viele spätere Underground-Comix-Größen war es ihr Karrieresprungbrett, denn dort wurden erstmals Werke von Künstlern wie R. Crumb, , Gilbert Shelton und veröffentlicht.76 Die widersprüchlichen Angaben hinsichtlich des ersten veröffentlichten Comix sind teilweise darauf zurückzuführen, dass die Underground-Akteure nicht nur an einem Ort aktiv waren. Die meisten Underground Comix stammen aus Großstädten und Collegestädten,77 denn vor allem Studenten beziehungsweise junge Erwachsene in ih- ren Zwanzigern waren die treibende Kraft hinter der Bewegung. Als Zentrum der al- ternativen Szene gilt jedoch San Francisco, besonders der Stadtteil Haight-Ashbury.78 Dort siedelten sich vor allem Hippies an, die diverse Poster- und Head-Shops, Stra- ßencafés und Boutiquen betrieben, die von enormer Bedeutung für das Bestehen der Underground-Szene waren. Weitere Hochburgen der Szene waren Milwaukee, Austin und Boston.79

5.2 Differenzierung zwischen Underground Comix und kommerziellen Comics

Die Bezeichnung der Underground Comix als ›alternative Szene‹ legt bereits nahe, dass man sie von den kommerziell vermarkteten Comics abgrenzen muss. An dieser Stelle sollen kurz die Unterschiede zwischen beiden Formen erläutert werden. Erstens sind die meisten Comix dem Kopf und der Hand einer einzigen Person entsprungen.80 Während heute das Aufteilen der Arbeitsschritte von der Ideenentwicklung, dem Zeichnen bis hin zum Lettering zwischen mehreren Personen zur gängigen Praxis ge- worden ist,81 war der Weg von der Idee zur fertig gezeichneten Panelfolge damals in den meisten Fällen ein Ein-Mann-Projekt. Innerhalb eines Heftes konnte es jedoch mehrere Beiträge von unterschiedlichen Künstlern geben. Da die Künstler keine festen Angestellten in einem Verlag waren, wurden sie auch nicht entsprechend behandelt und bezahlt.82 Sie besaßen nahezu vollständige Autonomie in ihrem Schaffen, sodass

75 Vgl. Rosenkranz 2002, S. 20, 22 und 28. 76 Vgl. Skinn 2004, S. 6; Duncan / Smith / Levitz 2015, S. 41. 77 Vgl. Skinn 2004, S. 6. 78 Das Gebiet war und ist vor allem berühmt für die Musikszene der Sechziger, da es Musiklegenden wie Janis Joplin und Grateful Dead maßgeblich beeinflusst hat. Vgl. Skinn 2004, S. 11. 79 Vgl. Skinn 2004, S. 11; Danky / Kitchen 2009, S. 17. Austin in hat die Szene vor allem durch die humoristische Studenten-Zeitschrift The Texas Ranger geprägt, an der Größen wie , Gilbert Shelton, Jack Jackson und Fred Todd mitgewirkt haben. Vgl. Rosenkranz 2002, S. 16. 80 Vgl. Ault 2004. 81 1938 wurde der erste Comic Shop gegründet. Dort arbeiten mehrere Zeichner und Autoren an ei- nem gemeinsamen Comic-Projekt. Vgl. Knigge 1996, S. 108. 82 Vgl. Danky / Kitchen 2009, S. 18. Aus der Literatur ist keine genaue Angabe zu entnehmen, in wel- cher Höhe sich die Verdienste im Durchschnitt bewegen. berichtet davon, dass er für

88

sie selbst über Inhalt und Stil entscheiden konnten und außerdem bei einem Vertrags- abschluss mit einem Comix- oder Underground-Press-Verlag ihre Urheberrechte be- hielten.83 Viele jedoch publizierten ohnehin in Eigeninitiative, das heißt sie zeichneten und schrieben ihre Bildsequenzen84 und vervielfältigten sie in Copyshops oder mit einer eigenen Druckpresse. Die gängigsten Vertriebsmethoden waren der Verkauf über eine Art Versandhandel, direkt auf der Straße, auf Flohmärkten sowie über Plattenläden und Poster- oder Head-Shops.85 Sie griffen nicht auf das herkömmliche Distributions- system zurück, was ein zweiter wichtiger Unterschied zum Mainstream ist. Gemeinsam ist beiden Publishingmethoden jedoch, dass sie auf einem Netzwerk persönlicher Kon- takte aufbauen – sei es zu Verlegern, zu anderen Zeichnern, zu Händlern oder zu den Rezipienten selbst.86 Dieses Netzwerk war auch die Grundvoraussetzung für die oft spontane Gründung der Comix-Verlage wie , , und .87 Neben Selfpublishing waren sie die einzige Möglichkeit, um Co- mix zu veröffentlichen, da die Comix-Schöpfer aufgrund der pornografischen und anarchistischen Inhalte nicht auf die Unterstützung von namenhaften Verlagen der Mainstream-Szene hoffen konnten. Aufgrund der Unerfahrenheit der Newcomer-Co- mix-Künstler lag der Verlagsgründung und -organisation zunächst selten ein planmä- ßiges Konzept zugrunde. Zwar waren sie allesamt begeisterte Leser und hatten zum Großteil auch eine künstlerische Ausbildung, aber es mangelte ihnen an Einblick in das Business selbst und an Wissen über gängige Druckverfahren sowie an finanziellen Mitteln.88 Diese Defizite wussten sie jedoch durch ihren Eifer auszugleichen, sodass sie sich die Kenntnisse in der Praxis aneigneten. Drittens hatten die Spontanität und Ungewissheit darüber, ob und wann ein Werk veröffentlicht wurde89 zur Folge, dass sie sich dem kritischen Blick der Comics Code seine Mitarbeit bei The East Village Other 40 US-Dollar in der Woche verdient hat, Herold Hedd er- hielt von den Herausgebern von Georgia Straight sogar 50 US-Dollar in der Woche. Wenngleich sie zugeben, dass ihnen das kein Leben in Reichtum einbrachte, so war es doch ausreichend, um ihre Aus- gaben zu decken. Vgl. Rosenkranz 2002, S. 109 und 204. Die Urheber von Comix wie Zap Comix, die auch heute noch nachgedruckt werden, sind nach wie vor an den finanziellen Gewinnen beteiligt. Vgl. Rosenkranz 2002, S. 264. 83 Vgl. Skinn 2004, S. 8; Rosenkranz 2002, S. 264. 84 Vgl. Rifas 2004. 85 Vgl. Rosenkranz 2002, S. 71; Skinn 2004, S. 138; Danky / Kitchen 2009, S. 18. 86 Wie essentiell die engen Beziehungen untereinander für das Bestehen der Szene waren, geht beson- ders deutlich aus Rosenkranz 2002, S. 938 hervor. 87 Vgl. Danky / Kitchen 2009, S. 38. Eine fixe Idee legte zum Beispiel den Grundstein für das Unter- nehmen von Gilbert Shelton, Jack Jackson, Dave Moriarty und Fred Todd. Ausgestattet mit einer Druckerpresse, aber ohne ökonomisches Know-how, gründeten sie 1969 Rip Off Press, welche auch heute noch existiert. Vgl. Skinn 2004, S. 132. Die vier Verlage werden zusammen als die ›Big Four‹ der Underground-Verlage bezeichnet, da sie die erfolgreichsten und größten der damaligen Zeit wa- ren. Vgl. Danky / Kitchen 2009, S. 18. Neben diesen existierten in den Siebzigern noch etwa sechzig Kleinverlage, die jedoch qualitativ minderwertigere Hefte produzierten. Vgl. Knigge 1996, S. 165. 88 Vgl. Danky / Kitchen 2009, S. 42; Rosenkranz 2002, S. 70. 89 Künstler und Herausgeber waren an keine festen Termine gebunden, sondern produzierten die Titel nach Gefühl beziehungsweise sobald sie inspiriert waren und der Druck abgeschlossen war. Vgl. Ro- senkranz 2002, S. 123.

89

Authority entziehen konnten. Da sie kein periodisch erscheinendes Medium waren, wie die regelmäßig monatlich veröffentlichten Comics der Comic-Industrie (etwa Ar- chie Comics Publications oder Marvel), und sie anfangs in einem anderen Format pu- bliziert90 wurden, entsprachen sie streng genommen nicht den damals gängigen Krite- rien eines Comics (periodisches, serielles Erscheinen sowie Publikation im Heft-For- mat in Farbe). Dadurch konnten sie einerseits wie Bücher auf nahezu unbegrenzte Zeit im Kiosk oder in Buchhandlungen ausliegen und auch für einen höheren Preis verkauft werden.91 Andererseits bewahrten sich die Künstler selbst vor ›der Schere im Kopf‹, das heißt vor Selbstzensur, da sie weder den Vorgaben seitens der Comics Code Authority oder der Verleger Folge leisten mussten, noch danach strebten, den Geschmack eines Massenpublikums zu treffen. Davon abgesehen wäre es im Falle einer Beanstandung zum Teil schwer gewesen, den Urheber des Heftes ermitteln. Viele Underground-Car- toonisten publizierten anonym oder unter einem Pseudonym.92 Jack Jackson war zum Beispiel als bekannt und The Adventures of J (1964) entstammten der Feder von F.S. (aka Foolbert Sturgeon), dem Pseudonym von Frank Stack.93 Sie hatten damit einen Weg gefunden, die Regeln des Diskurses zu umgehen und eigene Regeln des Sag- beziehungsweise Sichtbaren aufzustellen. In ihrem Falle mani- festierten sich diese in der Freiheit im künstlerischen Ausdruck und in der Themen- wahl, die zu einer entsprechenden Diversität innerhalb der Underground-Szene führte. Da diese am besten die Bezugnahme auf die Entwicklungen in der Comiclandschaft seit den Vierzigern und damit den Übergang von Visualisierungen als Gegenstand zu Visualisierungen als Aussage widerspiegelt, soll jener Aspekt an dieser Stelle ausführli- cher behandelt werden.

5.3 Thematische und stilistische Vielfalt

Oberflächlich betrachtet beinhalteten die Underground Comix lediglich Gewaltdar- stellungen, Obszönitäten sowie Frauenfeindlichkeit und verarbeiteten psychotrope Er- fahrungen.94 Auffällig hieran ist, dass die Vorurteile exakt den Kritikpunkten der Anti- Comic-Fraktion beziehungsweise den Elementen entsprechen, die mit dem Comics Code aus den Comics eliminiert werden sollten. Hier vollzieht sich der Wechsel zwi- schen den ersten beiden von Keller genannten Kategorien: Während vor der Formie- rung der Underground-Comix-Szene die Comics aus dem Crime-, Horror-, Romance-

90 Viele Comix wurden im Format eines Magazins und in Schwarz-Weiß veröffentlicht, wie es bei Mad von Harvey Kurtzman der Fall gewesen ist. Vgl. Skinn 2004, S. 15; Duncan / Smith / Levitz 2015, S. 45. 91 Vgl. Danky / Kitchen 2009, S. 18; Skinn 2004, S. 15. 92 Diese Methode haben sie von den Schöpfern der Tijuana Bibles übernommen, in denen reale Film- stars, Politiker und berühmte Kriminelle zu den Protagonisten pornografischer Geschichten und da- mit der Lächerlichkeit preisgegeben wurden. Aufgrund ihres provokativen Tons und der vulgären Zeichnungen hielten sich die Urheber bedeckt und veröffentlichten die Eight-Pagers nur anonym, um sich vor juristischen Konsequenzen zu schützen. Vgl. Skinn 2004, S. 12; Duncan / Smith /Levitz 2015, S. 41. 93 Vgl. Skinn 2004, S. 19. Für Jackson war die Situation besonders heikel, da er in den 1960er-Jahren- selbst für die amerikanische Regierung arbeitete. Hätte man ihn als den Urheber seiner Werke (zum Beispiel God Nose (Shot Reel)) identifiziert, hätte man ihm gekündigt. 94 Vgl. Skinn 2004, S. 8.

90

und Fantasy-Genre Gegenstand des zentralen Konflikts im Comic-Diskurs waren, sind die Comix der Kategorie Visualisierung als Aussage zuzuordnen. Durch das Aufgreifen der verbotenen Motive und Stoffe sowie den bewussten Verstoß dagegen thematisieren sie die Entwicklungen, die die zum Teil noch andauernde Debatte hervorgebracht hat. Wenngleich Denis Kitchen kritisiert, dass der Inhalt der Comix damit verallgemeinert wird, sie würden ausschließlich Elemente des Comics Codes beinhalten, sind diese Vorwürfe zum Großteil gerechtfertigt. Sex, Gewalt und Drogen verströmten den Reiz des Verbotenen,95 weshalb bei Comix-Künstlern das dringende Bedürfnis aufkeimte, diese Tabus zu brechen. Darin bestand ihre Form der Rebellion. Spain Rodriguez be- kennt sich unumwunden dazu, dass sein Wunsch nach Rache an der Comics Code Authority, die Schuld am Einstellen seiner favorisierten E.C.-Comic-Serien96 war, der ausschlaggebende Faktor war, warum er an der Gegenkultur partizipierte.97 William Calley und Charles Manson übernahmen zum Teil das Konzept der Crime-Comics, indem sie in The Legion of Charlies Auszüge aus dem Leben zweier Mörder darstellten. Im Unterschied zu den ursprünglichen Crime-Titeln waren die Protagonisten jedoch bloße Fantasiegestalten und nicht an reale Verbrecher angelehnt. Auch Thrilling Mur- der und Legion, Up From the Deep gehören in die Reihe der Comix, die ein Revival der ursprünglich kontrovers diskutierten Comics für Erwachsene herbeiführten. Thrilling Murder wird sogar nachgesagt, die grausamsten Enthauptungsszenen zu beinhalten, die jemals in gedruckter Form veröffentlicht wurden. Diese Wirkung erzielte es unter anderem durch den Einsatz von roter Tinte (›Bloodarama‹), die den Anschein von Blut verstärken sollte.98 Funnies und weitere Titel wurden damit zu einem »fo- rum of their fascinations with horror, cosmic retribution, sexual power, and the lure of evil, as well as an examination of the real life horrors of overpopulation and ecological catas-trophes.«99 Gary Arlington verschrieb sich ebenfalls dem Versuch, die Horror- Comics im Stile der E.C.-Comics zu neuem Leben zu erwecken. Er schuf mit Skull Comics eine Serie, in denen die Helden mit Schwertern und Zauberei ihre Abenteuer bestritten.100 Diese fantastische Abenteuer-Grusel-Mischung ist eindeutig als Hom- mage an die Zeit vor der Gründung der Comics-Zensurbehörde zu verstehen. Dem feindlich gesinnten Fredric Wertham widmete man 1977 sogar eine eigene vollständige Comix-Serie mit dem Titel Doctor Wirtham’s Comix & Stories. Die Refe- renz auf besagten Psychologen wird durch die Selbstaussage der Beitragenden (unter anderem und Doug Potter) noch eindeutiger: »We publish good art and underground stories in the E.C. vein, the kind of stuff you know the good doctor would love to hate.«101 Die Mitglieder der Szene lehnten sich jedoch mit ihren Comix nicht nur gegen den Comics Code und die Authority auf, sondern auch gegen die Geschäftsphilosophie

95 Vgl. Danky / Kitchen 2009, S. 40. 96 E.C. ist die Abkürzung für ›Entertaining Comics‹, dem Verlag von William Gaines. 97 Vgl. Rosenkranz 2002, S. 265. 98 Vgl. Rosenkranz 2002, S. 176–177. 99 Rosenkranz 2002, S. 182–183. 100 Vgl. Rosenkranz 2002, S. 131–132. 101 Schuddeboom: Comics History.

91

und -praktiken der Mainstream-Verlage, gegen das Festhalten an bewährten inhaltli- chen und grafischen Traditionen in den Massentiteln sowie gegen soziale Normen und Werte und politische Zustände. Somit waren Comix nicht ausschließlich anstößig und grausam, sondern durchaus genauso politik- und gesellschaftskritisch wie die Co- micstrips in den College- und alternativen Zeitschriften. In dieser Hinsicht wird erneut die Überschneidung eines Diskurses mit anderen Diskursen ersichtlich. Comix-Künst- ler setzten sich nicht nur mit der eigenen Comic-Geschichte und ökonomischen Pro- zessen auseinander, sondern auch mit dem Weltgeschehen an sich und damit zum Bei- spiel mit politischen und sozialen Diskursen verschiedenster Art auseinander. Zu wie- derkehrenden Themen wurden unter anderem der Vietnamkrieg, die Einberufung der Soldaten, Rassismus, die Ausbeutung der Natur und der Kapitalismus.102 Ebenso poli- tisch aufgeladen waren Radical America Komiks (1969) und Corporate Crime Comics, in denen vorrangig Politiker attackiert wurden. brachte 1968 seine per- sönliche Abneigung gegen Nixon in einem Strip in zum Ausdruck. Darin sieht man erst diverse Großaufnahmen von Nixons Kopf und schließlich eine Distanzaufnahme, die offenbart, dass Nixons Kopf sich tatsächlich aus den Ge- schlechtsteilen eines Mannes zusammensetzt.103 Zudem griffen die Cartoonisten aktuelle Ereignisse aus dem realen Leben auf und verarbeiteten sie in ihren Geschichten, wie etwa den Mord an Karen Silkwood oder die Enthüllungen über die Kernkraftindustrie sowie die Liberalisierungsbewegungen der Frauen und Homosexuellen. Da viele Künstler aus der damaligen Hippie-Szene stammten, wurde zwangsläufig auch der Lifestyle dieser Gruppierung zu einem wie- derkehrenden Thema. Die Flower-Power-Ära wurde unter anderem in Form von Ma- rihuana-Konsum und daraus resultierenden spirituellen Erfahrungen der Künstler bis hin zum Konzept der Freien Liebe in die Comix eingearbeitet.104 Ebenso beliebt waren Parodien auf die Bestseller des Mainstreams, zum Beispiel zog Gilbert Shelton mit Wonder Wart-Hog Superman ins Lächerliche,105 die Funnies mokierten sich über Walt Disney-Figuren106 und in Zap Comix #3 hatten Do- nald und Daisy Duck Oralsex. Auch Zeitungscomicstrips wie Love is…, zu dem Vaughn Bode den Gegenentwurf Hate is… lieferte, oder das Romance-Genre fielen den Comix-Künstlern zum Opfer. Letztgenanntes wurde vor allem aufgrund seiner stereotypischen Geschlechterdarstellung verspottet. Mit Young Lust wollten Bill Grif- fith und ein Comic-Heft kreieren, das auch Frauen ansprach, indem sie die Lücke zwischen dem neuen Sexualverhalten in den Sechzigern und dem gesellschaftlich

102 Vgl. Danky / Kitchen 2009, S. 40. Der Vietnamkrieg war zum Beispiel das zentrale Thema von The Spirit and the Sword von Spain und Ed Wolkenstein und Jesus Meets the Armed Forces von Fool- bert Sturgeon. Vgl. Rosenkranz 2002, S. 34 103 Bei Rosenkranz heißt es dort Im Original: »[…] to reveal him [Nixon] as a real dick.« Vgl. Rosen- kranz 2002, S. 115. 104 Vgl. Skinn 2004, S. 126. 105 Wonder Wart-Hog wurde erstmals 1961 in The Texas Ranger abgedruckt Vgl. Skinn 2004, S. 34. 106 Aufgrund der offensichtlichen Ähnlichkeit der Air Pirates mit den Walt-Disney-Charakteren wur- den Dan O’Neill und sein Team von den Anwälten von Walt Disney verklagt und aufgefordert, die Produktion und Verbreitung einzustellen. Aufgrund der Urheberrechtsverletzung hatten sie eine Strafe von 500.000 US-Dollar zu zahlen. Vgl. Rosenkranz 2002, S. 201.

92

anerkannten Bild der verheirateten Hausfrau, das in Romance-Comics dominierte, schlossen.107 Nicht zuletzt resultierte das hohe Maß an Individualität der einzelnen Comix-Titel aus den persönlichen Erlebnissen, die die Künstler in ihre Werke einflochten. Spain Rodriguez verarbeitete zum Beispiel seine Mitgliedschaft im Road Vultures Motorcycle Club durch die Darstellung der Biker-Unruhen in Chicago 1968.108 Eine gänzlich an- dere Richtung schlug Brian Green mit Binky Brown Meets the Holy Virgin Mary ein, in dem er sich mit seiner stark religiös geprägten Kindheit, aber auch mit pubertären Problemen und geheimen persönlichen Ritualen auseinandersetzte. Auf diese Weise konnte er einen Schlussstrich unter seine Vergangenheit ziehen. Solche Comix waren ein Novum innerhalb der gesamten Comic-Szene und können durchaus als die Vor- läufer der heutigen autobiografischen Comics gewertet werden. Bevor Green einen gra- fisch umgesetzten Seelenstrip hinlegte, haben sich Cartoonisten eher bedeckt gehalten, was ihr persönliches Leben betraf.109 Gleichzeitig ist Binky Brown auch eine Attacke auf religiöse Glaubensrichtungen, ebenso The New Adventures of J von Frank Stack. Ähnlich glaubenskritisch setzt sich Jaxon in God Nose mit Geburtenkontrolle, Liebe und Rassismus auseinander.110 Dementsprechend existierte zu fast jedem Bereich des alltäglichen Lebens mindes- tens ein Comix-Titel, da die Künstler aus ihrer eigenen Erfahrung heraus zeichneten und schrieben. All jene Themen, mit denen sie selbst in Berührung kamen, flossen in ihre Arbeiten ein. Comix waren für sie das Medium, mit dem sie ihre Gedanken zu Themen innerhalb und außerhalb ihres eigenen Diskurses äußern konnten, wodurch das Medium als Aussage in diversen Diskursen verstanden und analysiert werden kann. Sie scheuten sich nicht davor, klar Position zu beziehen, sodass Meinungsfreiheit zum Fundament der Szene wurde. Das bedeutete auch zwangsläufig, dass man niemanden aufgrund seiner Meinung und seinen Ansichten diskriminierte111 und jeder eine reelle Chance auf eine Veröffentlichung hatte, der einen Stift, Papier und Zugang zu Ver- vielfältigungstechnologien hatte. Insofern waren Einschränkungen des Sagbaren im Sinne von Foucault nahezu nicht existent, solange sie in Form einer sequentiellen Text- Bild-Verknüpfung vorlagen. Neben diesen kritischen beziehungsweise rebellischen, kommentierenden und ver- gangenheitsbewältigenden Tendenzen gab es außerdem eine überschaubare Anzahl an Comix, die einen vermeintlichen Bildungsanspruch hatten. Einige Künstler lieferten Einführungen in politische und gesellschaftliche Theorien und Theoretiker. Zu nen- nen wären hier Kafka for Beginners von R. Crumb, Freud for Beginners von Oscar Za- rate oder Rius’ Introducing Marx. Ebenso versuchte Chris Welch in Introduction to Chile eine Übersicht über die historische Entwicklung des Landes zu geben und Spain widmete sich den Ereignissen des Ersten Weltkriegs.112

107 Vgl. Skinn 2004, S. 142 und 46; Rosenkranz 2002, S. 157–158. Young Lust von Kinney und Grif- fith ist zum Beispiel eine Satire auf dieses Genre. Vgl. Danky / Kitchen 2009, S. 42. 108 Vgl. Skinn 2004, S. 50. 109 Vgl. Rosenkranz 2002, S. 188; Skinn 2004, S. 126. 110 Vgl. Danky / Kitchen 2009, S. 42; Rosenkranz 2002, S. 25. 111 Vgl. Rosenkranz 2009, S. 25. 112 Vgl. Skinn 2004, S. 126–127.

93

Wenn man sich diese Bandbreite an Underground Comix vor Augen führt, ist Denis Kitchens Forderung, man solle die Werke der Szene keineswegs nur auf Sex, Gewalt und Drogen reduzieren, durchaus nachvollziehbar. Diese drei Themen sprin- gen zwar ins Auge, können jedoch nicht die inhaltliche Mannigfaltigkeit abbilden. Wie die genannten Beispiele gezeigt haben, verknüpften Comix (im Sinne der Visualisie- rung als Aussage) Kunst mit politischer Rebellion und der kritischen Reflektion über die amerikanische Kultur und Gesellschaft.113 Sie setzten sich damit bewusst über die Grenzen des Sag- beziehungsweise Sichtbaren im Comic-Diskurs hinweg und unter- warfen sich nicht den diskurseigenen Regeln. Darüber hinaus sieht man an der thematischen Vielfalt sehr deutlich die Interdis- ziplinarität des Mediums, die Jürgen Link als Merkmal von Interdiskursen angeführt hat. Da in dieser Arbeit primär der Zusammenhang zwischen dem Comic-Diskurs der Vierziger und Fünfziger und der Untergrund-Szene im Vordergrund steht, soll speziell dieser noch einmal expliziert werden. Gewissermaßen diente der Comics Code den Künstlern der alternativen Szene als Vorlagekatalog für ihre eigenen Werke. Alles, was dort als verboten gelistet war, fand früher oder später Eingang in ihre Arbeiten. Gegen Teil A der Allgemeinen Richtlinien verstießen eine Vielzahl von Comix, weil sie diverse Verbrechen (A(1) / A(2) / A(5)) künstlerisch darstellten und »Szenen mit brutaler Folterung, übertriebener und unnö- tiger Handhabung von Messern oder Schusswaffen, körperlichem Schmerz, blutigen und grausigen Verbrechen«114 (A(7)) ständig wiederkehrende Elemente in den Bildfol- gen waren. Gleiches gilt für »Verderbtheit, Wollust, Sadismus [und] Masochismus«, die gemäß Teil B(2) verboten waren, ganz zu schweigen von »unheimlichen, ekligen [und] grausigen Illustrationen« (B(3)). Mehr als einmal wurden die Comix aufgrund ihrer vermeintlich mangelnden Ästhetik kritisiert und galten damit als geschmacklos.115 Das Parodieren von Mitarbeitern der Regierung beziehungsweise ›ehrbarer Institutio- nen‹ wiederum war ein eindeutiger Verstoß gegen Teil A(3). Der Aufforderung, religi- öse und ethnisch-rassische Gruppen nicht zu verhöhnen oder zu attackieren (Teil C(1) – Religion), kamen sie ebenfalls nicht nach, wie God Nose und ähnliche Titel unter Beweis stellen. Auch die weiteren Richtlinien in Teil C hielten sie nicht ein. Zwar waren Slang und Umgangssprache in geringem Maße zulässig, aber Vulgarismen oder Flüche und ähnliche sprachlichen Formulierungen waren es nicht. In Comix gehörten sie jedoch ›zum guten Ton‹. Ebenso wurden die vom Comics Code vorgesehene Klei- derordnung und dessen Staturvorgaben von den Künstlern zum Teil bewusst ignoriert. Frauen hatten unverhältnismäßig große Brüste, waren nur spärlich oder überhaupt nicht bekleidet (ebenso die Männer) und das Darstellen des Geschlechtsakts scheint eine Faszination auf die Cartoonisten ausgeübt zu haben. Letzteres überschritt häufig die Grenze zur Perversion und auch Vergewaltigungen gab es in Comix zu sehen. Die Liste ließe sich durchaus noch fortführen. Selbst Comix, die keine explizit im Code verbotenen Elemente beinhalten, hätten einer Überprüfung durch die Authority nicht standhalten können. Da den Mitgliedern bewusst war, dass sie niemals die Gesamtheit

113 Vgl. Danky / Kitchen 2009, S. 41. 114 Der Comics Code ist zitiert nach Knigge 1996, S. 27–29. 115 Hier deutet sich bereits an, dass Comix nicht nur Aussage, sondern auch Gegenstand im Diskurs sind.

94

aller unschicklichen, gewaltverherrlichenden oder amoralischen Aspekte in Comics ab- decken konnten, fügten sie folgende Klausel in den Richtlinienkatalog ein: Alle Punkte oder Techniken, die hierin nicht ausdrücklich angeführt sind, die aber im Gegensatz zu Geist und Intention des Codes stehen und die als Verletzung des guten Geschmacks oder des Anstands angesehen werden, sind untersagt.116 Unter diesem Gesichtspunkt ist es unwahrscheinlich, dass auch nur ein einziger der scharfzüngigen und provokativen117 Comix-Titel das Prüfsiegel der Authority erhalten hätte. Die uneingeschränkte künstlerische Autonomie und Meinungsfreiheit manifestierte sich auch im zeichnerischen Stil, wie aus den oben genannten Beispielen bereits er- sichtlich ist. Da die Comix-Zeichner das, was sie bewegte, in der Art und Weise wie sie es wollten kreativ umsetzen konnten und von einem Verlag unabhängig waren, waren sie von grafischen und inhaltlichen Vorgaben befreit. Sie wichen von den typi- schen Panel- und Layoutvorgaben ab oder experimentierten mit den Möglichkeiten des Mediums an sich. Kim Deitch gestaltete beispielsweise interaktive Comicstrips für The East Village Other, in denen die Leser einzelne Elemente heraustrennen und neu zusammenfügen konnten, oder er forderte sie dazu auf, an Umfragen teilzunehmen oder Gutscheine einzusenden. Wilson wiederum hat ganzseitige Panels (›Splash Pa- nels‹) gezeichnet, die aus der Entfernung wie ein einziges Kunstwerk aussehen, aber bei genauerer Betrachtung Menschen in Aktion zeigen. Innerhalb des Rahmens entfaltet sich so eine komplexe Geschichte, die nur entschlüsselt werden kann, wenn man sich intensiv mit jedem Detail auseinandersetzt.118 Im Vordergrund stand nicht, dass das Werk ins Gesamtkonzept des Verlags passte oder dass die Cartoonisten ein möglichst großes Publikum ansprachen, sondern lediglich die Umsetzung der eigenen Ideen. Sie liebten, was sie taten. Der finanzielle Aspekt spielte dabei nur eine untergeordnete Rolle.119 Den größten Einfluss übten die Strömungen des Surrealismus, Expressionismus, Pointillismus und der abtstrakten Kunst auf die Künstler aus.120 Robert Crumb schuf vor allem bizarre Charaktere121 wie Mr. Natural, Flakey Foont, the Snoid, oder Eggs Ackley, die er in unzensierten und häufig erotischen Szenen darstellte.122 Im Vergleich zu dessen zynischen Schöpfungen und anderer obskurer, sadistischer ›Schundliteratur‹

116 Knigge 1996, S. 28. 117 Vgl. Danky / Kitchen 2009, S. 17. 118 Vgl. Skinn 2004, S. 8; Danky / Kitchen 2009, S. 38; Rosenkranz 2002, S. 77, 111 und 143. 119 Vgl. Rosenkranz 2009, S. 24. Tatsächlich war es so, dass der Großteil der Cartoonisten (auch dieje- nigen, die später in der Szene populär wurden), in relativ ärmlichen Verhältnissen lebten. Vgl. Rosen- kranz 2002, S. 26. 120 Vgl. Danky / Kitchen 2009, S. 20. Viele Comix-Cartoonisten (unter anderem Robert Williams) waren durch ihre künstlerische Ausbildung mit den entsprechenden Kunstrichtungen vertraut und lie- ßen sie in ihre Arbeiten einfließen. Jedoch gab es auch einige, die sich von den an den Hochschulen und Colleges gelehrten Strömungen abkehrten. Vgl. Rosenkranz 2002, S. 12. 121 Vgl. Skinn 2004, S. 34. 122 Das beinhaltet unter anderem die unzensierte Darstellung von Geschlechtsverkehr in unterschiedli- chen Stellungen und entblößte Brüste und Geschlechtsteile.

95

wirkte Denis Kitchens Mom’s Homemade Comics (Straigth from the Kitchen to You) na- hezu süß, unschuldig und humorvoll. Die stilistische Bandbreite reichte von klarer und einfacher Linienführung über hässliche, schrille und groteske Zeichnungen bis hin zu geschmackvollen und realistisch anmutenden Werken.123 Auch die Kolorierung trug zu dieser Wirkung bei. Zum Einsatz kamen sehr schrille Farben, die im Panel unmit- telbar nebeneinander platziert wurden, sodass sie sich im scharfen Kontrast voneinan- der abhoben und damit ins Auge stachen. Einer ähnlichen Methode bedienten sich auch die deutschen Expressionisten, die damit vor allem das Hässliche betonen woll- ten. Den Underground-Künstlern hingegen ging es eher um die Intensivierung der Farben,124 die ein Spiegel ihrer halluzinogenen Erfahrungen im Drogenrausch wa- ren.125 Weiterhin experimentierten die Künstler mit dem Lettering126 und sprachli- chem Ausdruck.127 Comix unterschieden sich insgesamt in Bezug auf ihre Themenauswahl und ihren Zeichen- und Schreibstil voneinander und auch von den kommerziellen Comics. Ge- wissermaßen füllten sie die Lücken, die der Comics Code durch seine Verbote auf dem Massenmarkt hinterlassen hatte. Die Experimentierfreudigkeit und die artistische Au- tonomie der Untergrund-Künstler resultierte in einer Heterogenität, die Danky und Kitchen treffend als ›Fusion von populärer Kunst und Avant-Garde‹ bezeichnen.128

5.4 Ende der Underground Comix

Gewissermaßen wiederholte sich in dieser Phase der Verlauf der öffentlichen Attacken auf Crime-, Horror- und Romance-Comics dreißig Jahre zuvor. Erneut wurden Visu- alisierungen zum Gegenstand im Comic-Diskurs, diesmal gerieten jedoch die Under- ground Comix ins Visier der vermeintlichen Ordnungswächter. Allerdings war dieser neue Konflikt weniger durch verbale oder medial vermittelte Diskussionen, sondern durch Handlungen im Sinne diskursiver Praktiken geprägt. Durch die stetig wachsende Szene erregten Comix mehr Aufmerksamkeit bei den Gruppen, die sich zwanzig Jahre zuvor gegen Sex, Drogen und Gewalt in Comics aus- gesprochen hatten. Zum einen wurde die Polizei allmählich auf die Comix-Szene auf- merksam und ergriff Maßnahmen, um der Bewegung Einhalt zu gebieten. Beispiels- weise wurde der Besitzer von Moe’s Bookstore in Berkeley angezeigt, da er in seinem Laden unter anderem Snatch Comics und Zap Comix an seine Kunden verkaufte, wel- che unverzüglich von der Polizei konfisziert wurden. Ebenso wurde eine Kunst-Show

123 Vgl. Rosenkranz 2002, S. 55–56.; Duncan / Smith / Levitz 2015, S. 45; Skinn 2004, S. 32 und 42–44; Danky / Kitchen 2009, S. 20. 124 Vgl. Skinn 2004, S. 17–18. 125 Kennzeichen des ›acid-inspired style‹ waren primär »organic designs and vibrating colors«. Rosen- kranz 2002, S. 39. S. Clay Wilsons grafischer Beitrag in Zap Comix wurde beispielsweise mit den Worten »ästhetisch an Pissoir-Graffiti erinnernde Angstvisionen« beschrieben. Vgl. Knigge 1996, S. 164. 126 Vgl. Rosenkranz 2002, S. 84. Zum Teil wurden einzelne Schrifttypen in einem Strip miteinander gemischt. Vgl. Rosenkranz 2002, S. 111. 127 Die meisten Comix verwendeten Slang anstelle des Standardenglisch. 128 Vgl. Danky / Kitchen 2009, S. 37.

96

in der Phoenix Gallery in Berkeley aufgelöst, da die dort ausgestellten Comic-Zeich- nungen als ›obszön‹ eingestuft wurden. Bereits Ende der Siebziger sahen sich Comix- Künstler mit polizeilicher Überwachung konfrontiert. Denis Kitchen wurde beispiels- weise eine Verhaftung angedroht, wenn er sein Comix Mom’s Homemade Comics an Minderjährige verkaufte.129 Im Jahr 1973 überschlugen sich schließlich die Ereignisse, die das Ende der Bewe- gung einleiteten. Der Hauptauslöser war der vom U.S. Supreme Court eingeführte Obszönitäten-Test (›Miller-Test‹).130 Dieser Test klassifizierte Comix als eindeutig an- stößig und als eine Verletzung der gesellschaftlichen Wertvorstellungen, wodurch die Comix, ihre Produzenten und ihre Distributoren, allen voran die Head-Shops, ins Vi- sier der Regierung gerieten. Inhaber von Buchhandlungen wurden zum Beispiel inhaf- tiert, sofern sie Comix wie Tits and Clits oder Zap Comix zum Verkauf anboten.131 Bei diesem Vorgehen handelt es sich – im Gegensatz zum Comics Code von 1954 – um eine Form der Nachzensur, da man versuchte, die Verbreitung der Comix nach ihrer Veröffentlichung zu unterbinden. Indirekt schränkte man damit die Ausdrucksmög- lichkeiten des Sag- beziehungsweise Sichtbaren ein. Zwar gab man den Künstlern nicht direkt vor, was sie veröffentlichen durften, man beschränkte jedoch ihren Einflussbe- reich: Comix, die man nicht verbreiten konnte, waren dem Leser nicht zugänglich. Mehrfach kam es zu Prozessen gegen Verkäufer von Comix, zum Beispiel 1969 gegen Peter Dargis und Charles Kirkpatrick, welche Zap Comix #4 in ihrem Geschäft zum Verkauf angeboten hatten. Die Ankläger folgten in diesem Prozess derselben Ar- gumentationsstruktur, die zu Beginn der Debatte über jugendgefährdende Comics in den 1940er Jahren von der Anti-Comic-Fraktion ins Feld geführt wurde. Dem Heft – und Comix im Allgemeinen – wurden unter anderem Hardcore-Pornografie und Gewaltverherrlichung vorgeworfen, welche den Leser moralisch verderben würden. Man behauptete zwar nicht, dass das Lesen der Hefte zu jugendlichen Straftaten führen würde, doch fasste man deren Inhalt als Angriff auf die sittlichen und moralischen Werte auf,132 was Dr. Fredric Werthams einst als ›Verführung der Unschuldigen‹ an- geprangert hatte. Obwohl die Zeugen in jener Gerichtsverhandlung unter Richter Tyler durchaus den sozialen und künstlerischen Wert des fraglichen Heftes priesen, wurde es am 28. Oktober 1970 schließlich zum ersten Comix Book, das amtlich als obszön galt (›legally obscene‹). Viele Richter beriefen sich in Verhandlungen, die später gegen Underground Comix und ihre Distributoren geführt wurden, auf ebendieses Urteil. Aufgrund dieser und ähnlicher Fälle wurden die Ladenbesitzer vorsichtiger und waren nicht gewillt, ihren Lebensunterhalt durch den Verkauf der Comix zu gefähr- den. Sie weigerten sich, Undergroud Comix in ihr Sortiment aufzunehmen,133 ähnlich wie sich Händler früher weigerten, Comics ohne das Prüfsiegel der Authority zu ver- kaufen. Der politische Führungswechsel 1981 läutete schließlich den Niedergang der alter- nativen Szene ein. Nach seiner Wahl zum Präsidenten startete der Republikaner

129 Vgl. Rosenkranz 2002, S. 130 und 163. 130 Vgl. Rosenkranz 2009, S. 25. 131 Vgl. Skinn 2004, S. 45 und 142; Rosenkranz 2002, S. 141. 132 Vgl. Comic Books Legal Defense Fund: History of the Comic Book Censorship Part II. 133 Vgl. Skinn 2004, S. 145.

97

Ronald Reagan seine landesweite Say No To Drugs-Kampagne. Diese verstärkte die Ängste der Head-Shop-Besitzer, denn nun standen sie nicht nur wegen des Verkaufs von Comix unter Beobachtung, sondern zusätzlich wegen der von ihnen verkauften Psychopharmaka. Nach und nach schlossen die Inhaber ihre Geschäfte. Für die Co- mix-Szene bedeutete das den endgültigen Verlust ihrer wichtigsten Distributoren und somit auch einen drastischen Rückgang ihrer Verkaufszahlen. Abgesehen von den do- minierenden Unternehmen (unter anderem Rip Off Press, Last Gasp) konnten es sich die meisten nicht mehr leisten, Comix zu produzieren. Ihnen fehlten die entsprechen- den finanziellen Rücklagen, wodurch es sich angesichts der zeitgleich ansteigenden Produktions- und Papierkosten entsprechend schwierig gestaltete, einen Comix-Verlag vor dem Bankrott zu bewahren. Man versuchte dem durch die Erhöhung der Heft- preise von 50 Cent auf 75 Cent entgegenzuwirken. Auch die demokratische Einstel- lung, potenziell jedem Individuum die Chance auf eine Veröffentlichung zu geben, wirkte sich nachteilig auf die Szene aus. Nicht jeder Comix-Beitrag war inhaltlich oder artistisch von hoher Qualität, sodass neben intellektuell anspruchsvollen oder bewusst provokativen Werken auch viele laienhaft ausgeführte Strips käuflich zu erwerben wa- ren.134 Das Zusammenfallen dieser Faktoren führte letztlich zum Ende der Bewegung, wenngleich sie in den 1980er-Jahren noch eine Zeitlang überdauern konnte.135 Etwa zur gleichen Zeit vollzog sich ein Wandel in der Mainstream-Comic-Szene. Innerhalb der Comics Code Authority zeichnete sich allmählich ein Umdenken ab. Die erste Änderung des Comics Code erfolgte im Januar 1971 durch das Aufheben diverser Einschränkungen. Ab sofort durften kriminelle Machenschaften unter be- stimmten gesellschaftlichen Umständen wieder aus einer positiven Perspektive darge- stellt werden. Ebenso waren Beamtenkorruption und der Tod von Polizisten im Dienst zulässig, insofern die Schuldigen bestraft wurden.136 Im Mai 1971 erschien dann mit Amazing Spider-Man #96 der erste Comic ohne das Prüfsiegel der Comics Code Authority. Die Unbedenklichkeit wurde dem Heft abgesprochen, weil darin ein junger Afroamerikaner zu sehen ist, der im Drogenrausch von einem Hochhaus springt. In den Augen der Authority war dies ein Verstoß gegen den Code.137 Dem Erfolg der Serie tat das fehlende Siegel jedoch keinen Abbruch, sodass in den Folgeausgaben auch Drogenmissbrauch thematisiert wurde.138 Dem An- schein nach verfehlte die Einstufung als ›bedenklich‹ die abschreckende Wirkung. Am 15. April 1971 wurde die Drogen-Richtlinie schließlich insofern abgeändert, dass das Einnehmen von Rauschgift zumindest dann Bestandteil der Geschichte sein darf, wenn explizit dessen Gefahren hervorgehoben werden.139 Diese Abänderungen verdeutlichen die Veränderlichkeit der Diskurselemente und damit die Prozesshaf- tigkeit des Diskurses. Das Feld des Denk- und Sagbaren kann jederzeit eingeschränkt oder erweitert werden, sodass der Diskurs neue Formen annimmt. Wenngleich der

134 Vgl. Skinn 2004, S. 136 und 145–146; Rosenkranz 2002, S. 196 und 221. 135 Vgl. Danky / Kitchen 2009, S. 20. 136 Vgl. Hoffmann / Rauch 1975, S. 30. 137 Vgl. Hoffmann / Rauch 1975, S. 30. 138 In diesem Band wird Peter Parkers Freund Harry Osborne drogenabhängig. 139 Vgl. Hoffmann / Rauch 1975, S. 30.

98

Code heute noch existiert, hat er inzwischen nicht mehr denselben Einfluss wie noch im 20. Jahrhundert.

5.5 Auswirkungen der Underground Comix

Zu klären bliebe abschließend noch, in welchem Ausmaß die Szene den US-amerika- nischen Comic-Diskurs seit ihrem Beginn beeinflusst hat. Es ist nicht stichhaltig nachweisbar, dass die Underground Comix und ihre Akteure die amerikanische Gesellschaft nachhaltig beeinflusst hätten. Auch dass sie zur Locke- rung des Comics Codes geführt hätten, ist relativ unwahrscheinlich. Zwar stellten sie sich den Tabus der Authority mit ihrer Themenwahl und der Demonstration ihres artistischen Könnens offensichtlich entgegen, aber damit bewirkten sie nicht zwangs- läufig ein Umdenken innerhalb der Comic-Industrie. Wahrscheinlicher ist, dass das amerikanische Volk inzwischen offener und liberaler in seiner Einstellung und seinem Umgang mit Sex-, Drogen- und Gewaltdarstellungen in der Kunst geworden ist, sodass es nicht mehr empört darauf reagierte. Auch hier gibt es Gegenstimmen, die daran festhalten, die Szene habe zu einer Umstrukturierung des Denkens, zu einer Befreiung der Geister von starren Werten und Normen geführt. Ihnen sei es zu verdanken, dass Newcomer heute so viele Freiheiten im künstlerischen Ausdruck haben.140 Wenngleich sie im Zeitraum ihrer Existenz keine einschneidenden Veränderungen in der Comic-Szene herbeiführen konnten, sind die Underground Comix rückbli- ckend für das Medium in der heutigen Form bedeutend gewesen. Comix ebneten den Weg für Punkgrafiken, die heutigen alternativen Comics, Graphic Novels und andere Indie-Comics.141 Zudem inspirierten sie heutige Indie-Comic-Verleger erst dazu, selbst in der Szene mitzuwirken. Insbesondere die ›Big Four‹ der Comix-Verleger gingen mit gutem Beispiel voran und zeigten, dass es lohnenswert sein kann, wenn man Comics publiziert, die dem persönlichen Geschmack entsprechen, aber nicht zwangsläufig dem der breiten Masse. Verlage wie Dark Horse oder haben ihr Programm auf eine bestimmte Zielgruppe zugeschnitten und können sich so im entsprechenden Seg- ment gegen Konkurrenten behaupten.142 Der Bewegung ist es außerdem zu verdanken, dass auch Künstlerinnen in der Szene allmählich akzeptiert wurden und sich etablieren konnten. Im Zuge der feministischen Bewegung in den 1970er-Jahren verschafften sich Frauen Zutritt zu einem Medium, das bis dato von Männern dominiert wurde.143 In Eigeninitiative produzierten und vertrieben sie Titel wie Pandora’s Box, Wimmen’s Comix, Abortion Eve, Come Out Comix oder Tits and Clits. Aus dieser Perspektive ha- ben sie also durchaus das Feld des Sag- beziehungsweise Machbaren erweitert.

140 Vgl. Rosenkranz 2002, S. 264. 141 Vgl. Rosenkranz 2002, S. 4; Danky / Kitchen 2009, S. 20. 142 Vgl. Rosenkranz 2002, S. 262. 143 Vgl. Danky / Kitchen 2009, S. 43 und 20.

99

6 Fazit

Besonders in den Anfangsjahren hatte es den Anschein, als würden die Akteure der Underground Comix eine gewaltfreie, wenn auch provokative Randgruppierung sein. Sie standen nur bedingt im öffentlichen Fokus, da sie zu einer sehr spezifischen Ge- meinschaft gehörten und zum Großteil nur dieses Publikum ansprachen. Dennoch konnten sich den soziopolitischen Veränderungen innerhalb und außerhalb des Co- mic-Diskurses nicht entziehen. Der rebellische Charakter, der sich inhaltlich und grafisch unter anderem in der Auflehnung gegen Politik, soziale Werte und Normen, den Krieg oder die populäre Kultur äußerte, war der Motor der Bewegung, durch den die Akteure zu Ruhm ge- langten. Gleichzeitig waren die wachsende Aufmerksamkeit und Anerkennung, die ihnen zukam, die entscheidenden Faktoren, der das Ende der Szene herbeiführte. Letztlich erlagen sie den Regeln, die die selbsternannten Sittenwächter aufgestellt hat- ten und denen sich die Comix-Künstler zu widersetzen versuchten. Damit ist die eingangs aufgestellte These, dass die Ära der Underground Comix eine unmittelbare Folge der US-amerikanischen Comic-Debatte in den 1940er- und 1950er-Jahren ist und damit selbst eine diskursive Praktik darstellt, bewiesen. Die Ver- bote der Comics Code Authority haben zu Unzufriedenheit und Protesten der jungen Leserschaft geführt und sie zu eigenen künstlerischen Werken inspiriert. Der Comic- Diskurs wurde in den Comix zum Hauptgegenstand. Unter Berücksichtigung der Ka- tegorien von Reiner Keller vollzog sich folglich eine Verschiebung von Visualisierun- gen als Gegenstand während der Vierziger und Fünfziger, als Comics debattiert wur- den, zu Visualisierungen als Aussage, indem Comix-Künstler die angeführten Argu- mente, die Wortführer sowie die erwirkten Veränderungen ins Zentrum ihrer Werke stellten. Gleichzeitig boten Comix aufgrund ihrer Inhalte und ihrer Darstellungsfor- men genügend Angriffsfläche für die Gegner der Comics, die neue Maßnahmen ergrif- fen, um das amerikanische Volk vor dem schädlichen Einfluss der Underground Co- mix zu bewahren. In dieser Phase wurden Comix zum Gegenstand des Comic-Diskur- ses. Zudem waren sie damit selbst Thema des Comic-Diskurses sowie Anknüpfungs- punkt für diskursive Praktiken. Wenngleich die neuen Einschränkungen des Sag- und Sichtbaren in Kombination mit weiteren Faktoren zum Ende der Ära führten, hatte die Bewegung das Medium Comic nachhaltig beeinflusst. Ihre Experimentierfreude in Bezug auf Inhalt und visueller Darstellung und ihre Risikobereitschaft bei der Grün- dung eigener Verlage haben heutigen Cartoonisten und Independent-Verlagen den Weg geebnet, sodass sich Produzenten und Rezipienten gegenwärtig einer reichhalti- gen, heterogenen Comiclandschaft erfreuen können.

Literaturverzeichnis

AULT, DONALD: Preludium: Crumb, Barks, and Noomin. Reconsidering the Aes- thetics of Underground Comics. In: ImageTexT: Interdisciplinary Comics Studies 1 (2004), H. 2. URL: http://www.english.ufl.edu/imagetext/archives/v1_2/in- tro.shtml [03.08.2016].

100

ANGERMULLER, JOHANNES et al. (Hrsg.): Diskursforschung. Ein interdisziplinäres Handbuch. 2 Bde. Bielefeld 2014. COMIC BOOK LEGAL DEFENSE FUND: History of the Comic Book Censorship Part I. In: Comic Book Legal Defense Fund Online (http://cbldf.org). URL: http://cbldf.org/resources/history-of-comics-censorship/history-of-comics-censor- ship-part-1/ [28.05.2016]. COMIC BOOK LEGAL DEFENSE FUND: History of the Comic Book Censorship Part II. In: Comic Book Legal Defense Fund Online (http://cbldf.org). URL: http://cbldf.org/resources/history-of-comics-censorship/history-of-comics-censor- ship-2/ [12.06.2016]. DANKY, JAMES / KITCHEN, DENIS: Underground Classics. The Transformation of Comics into Comix, 1963–90. In: DANKY, JAMES / KITCHEN, DENIS (Hrsg.): Un- derground Classics. The Transformation of Comics into Comix. New York 2009, S. 1721. DUNCAN, RANDY / SMITH, MATTHEW J. / LEVITZ, PAUL: The Power of Comics. History, Form, and Culture. 2. Aufl. London / New York 2015. EISNER, WILL: Mit Bildern erzählen. Comics & Sequential Art. Wimmelbach 1995. GRÜNEWALD, DIETRICH: Vom Umgang mit Comics (Ed. Literatur- und Kulturge- schichte: Vom Umgang mit… III). Berlin 1991. HALL, STUART: Foucault: Power, Knowledge and Discourse. In: WERTHERELL, MARGERET / TAYLOR, STEPHANIE / YATES, SIMEON J. (Hrsg.): Discourse Theory and Practice. A Reader. 5. Aufl. London / California / New Delhi 2005, S. 7281. HOFFMANN, DETLEF / RAUCH, SABINE: Comics. Materialien zur Analyse eines Mas- senmediums (Texte und Materialien zum Literaturunterricht). Frankfurt am Main / Berlin / München 1975. KELLER, REINER / SCHNEIDER, WERNER / VIEHÖVER, WILLY: Theorie und Empirie von Subjektivierung in der Diskursforschung. In: KELLER, REINER / SCHNEIDER, WERNER / VIEHÖVER, WILLY (Hrsg.): Diskurs – Macht – Subjekt. Theorie und Empirie von Subjektivierung in der Diskursforschung. Wiesbaden 2012, S. 720. KELLER, REINER: Die komplexe Diskursivität der Visualisierungen. In: BOSANČIĆ, SAŠA / KELLER, REINER (Hrsg.): Perspektiven wissenssoziologischer Diskursfor- schung (Theorie und Praxis der Diskursforschung 35). Wiesbaden 2016, S. 7593. KNIGGE, ANDREAS C.: Comics. Vom Massenblatt ins multimediale Abenteuer. Hamburg 1996. KNIGGE, ANDREAS C.: Alles über Comics. Eine Entdeckungsreise von den Höhenbil- dern bis zum Manga. Hamburg 2004.

101

KNOBLAUCH, HUBERT: Diskurstheorie als Sozialtheorie? Das Verhältnis des diskursi- ven zum kommunikativen Konstruktivismus. In: BOSANČIĆ, SAŠA / KELLER, REI- NER (Hrsg.): Perspektiven wissenssoziologischer Diskursforschung (Theorie und Praxis der Diskursforschung 35). Wiesbaden 2016, S.1127. LINK, JÜRGEN: Subjektivitäten als (inter)diskursive Ereignisse. Mit einem histori- schen Beispiel (der Kollektivsymbolik von Maschine vs. Organismus) als Symp- tom diskursiver Positionen. In: KELLER, REINER / SCHNEIDER, WERNER / VIEHÖ- VER, WILLY (Hrsg.): Diskurs – Macht – Subjekt. Theorie und Empirie von Sub- jektivierung in der Diskursforschung. Wiesbaden 2012, S. 5367. MERLOCK JACKSON, KATHY / ARNOLD, MARK D.: Baby-Boom Children and Harvey Comics after the Code. A Neighbourhood of Little Girls and Boys. In: Im- ageTexT: Interdisciplinary Comics Studies 3 (2007), H. 3. URL: http://www.english.ufl.edu/imagetext/archives/v3_3/jackson/ [16.07.2016]. RIFAS, LEONARD: Racial Imagery, Racism, Individualism, and Underground Comix. In: ImageTexT: Interdisciplinary Comics Studies 1 (2004), H. 1. URL: http://www.english.ufl.edu/imagetext/archives/v1_1/rifas/print.shtml [17.07.2016]. ROSENKRANZ, PATRICK: The Limited Legacy of Underground Comix. In: DANKY, JAMES / KITCHEN, DENIS (Hrsg.): Underground Classics. The Transformation of Comics into Comix. New York 2009, S. 2329. ROSENKRANZ, PATRICK: Rebel Visions: The Underground Comix Revolution 1963– 1975. Seattle 2002. SCHIKOWSKI, KLAUS: Der Comic. Geschichte, Stile, Künstler. Stuttgart 2014. SCHUDDEBOOM, BAS: Comics History. Underground Comix and the Underground Press. URL: https://www.lambiek.net/comics/underground.htm [12.07.2016]. SKINN, DEZ: Comix. The Underground Revolution. New York 2004. THOMAS, GESA: Helden rauchen nicht? Darstellung, Rezeptionsannahmen und Zen- sur von Drogen im Comic am Beispiel der Comicserie Lucky Luke (Studien zur qualitativen Drogenforschung und akzeptierten Drogenarbeit 43). Münster 2006. TRAUE, BORIS: Visuelle Diskursanalyse. Ein programmatischer Vorschlag zur Unter- suchung von Sicht- und Sagbarkeiten im Medienwandel. In: Zeitschrift für Dis- kursforschung 2 (2013), H. 1, S. 117136. WERTHAM, FREDERIC: Seduction of the Innocent. London 1955.

102

Britta Schmidtchen Feldpostausgaben im Zweiten Weltkrieg: Zur Manipulation von Moralvorstellungen durch die Nationalsozialisten

1 Moral, Krieg und das Buch

Die Begriffe ›Krieg‹ und ›Moral‹ erscheinen in ihren jeweiligen allgemeinen Bedeutun- gen so gegensätzlich, dass eine Verbindung auf den ersten Blick unmöglich scheint. Der Krieg, insbesondere die in seinem Rahmen begangenen Kriegsverbrechen wie das Töten von Menschen, erscheint nicht nur Pazifisten als etwas moralisch Verwerfliches: Moral betont im Alltag das Gute und die positiven Werte, die das friedliche Leben in einer Gesellschaft erst ermöglichen. Unter anderem soll es im ersten Teil dieser Arbeit um das Verhältnis dieser beiden zunächst konträren Begriffe gehen. Für die folgenden Betrachtungen spielt dabei auch noch ein anderer Aspekt eine wichtige Rolle: Dem Medium Buch haftet als kulturellem Gut in der Regel eine unter moralischen Gesichtspunkten positive Bewertung an. Bücher sind allerdings stets das Abbild einer Gesellschaft, was im positiven wie auch im negativen Sinne gilt:1 So kön- nen sie auch zur Durchsetzung eigener Interessen missbraucht und zur Manipulation eingesetzt werden. Mit der Untersuchung dieser Tatsache beschäftigt sich der zweite Teil der Arbeit: Konkret geht es dabei um die Truppenbetreuung der deutschen Front- soldaten während des Zweiten Weltkriegs. Die damit verbundene Propaganda des NS- Regimes fand über eine Fülle von Medien wie Radio, Fernsehen, Flugblätter, Broschü- ren oder Zeitungen statt,2 dazu kamen die in dieser Arbeit im Mittelpunkt stehenden Frontausgaben. In einer deskriptiven Herangehensweise wird dabei zunächst eine Verbindung zwi- schen Krieg und Moral geschaffen. Dazu wird kurz auf die allgemeine Bedeutung der Moral eingegangen: Welche Bedeutung wird der Moral im Krieg zugeschrieben? Was ist die sogenannte Kriegsmoral? Grundlegend dafür war Hanspeter Waldmanns Die Moral des 21.Jahrhunderts. In einem weiteren Schritt wird das veränderte Bild von Mo- ral, welches im Nationalsozialismus vorherrschend war, näher beleuchtet und aufge- zeigt, in welchem Verhältnis dieses zur Kriegsmoral stand. Hierbei wurden überwie- gend die Monographien von Wolfgang Bialas, Frank Vossler, Omer Bartov und Sönke Neitzel / Harald Welzer und das Herausgeberwerk von Wolfgang Bialas und Lothar Fritze in die Betrachtung mit einbezogen.3 Im nächsten Kapitel werden dann die Buchausgaben für die Front in die Untersu- chung eingebunden: Wie kam es überhaupt zu diesen, wie wurde ihr Vertrieb organi- siert und was für Inhalte enthielten sie hauptsächlich? Hier findet auch bereits der für das abschließende Fallbeispiel herangezogene C. Bertelsmann Verlag erste Erwähnung,

1 Vgl. Ruppelt 2010, S. 3. 2 Vgl. Bartov 1995, S. 183. 3 Vgl. Bialas 2014b; Vossler 2005; Bartov 1995; Neitzel / Welzer 2011; Bialas / Fritze 2014.

103

wenn es darum geht die Rolle herauszustellen, die er auf dem neuen Markt der Front- ausgaben spielte. Herangezogen wurden dazu hauptsächlich die Werke Geschichte des deutschen Buchhandels im 19. und 20. Jahrhundert, Drittes Reich von Fischer, Wittmann und Barbian sowie Hans-Eugen und Edelgard Bühlers Der Frontbuchhandel 1939– 1945. Im abschließenden Kapitel wird dann die Manipulation der Moralvorstellungen der Soldaten durch Frontausgaben aufgezeigt: Welche Moralvorstellungen wurden vermit- telt? Warum wurden diese vermittelt? Und inwiefern kann man hierbei von Manipu- lation sprechen? Aufschlussreiche Ergebnisse dazu werden unter anderem auch im Werk Großreinemachen im Osten von Michaela Kipp und in Klaus Latzels Aufsatz Die Gefallenen vorgestellt. Zudem bilden auch hier die Monographien von Neitzel / Welzer und Vossler eine gute Grundlage. Auf dieser Basis werden manipulative Inhalte zusam- mengetragen und mithilfe eigener historischer Quellenanalysen belegt. Dazu wurden mehrere Originalausgaben des C. Bertelsmann Verlags herangezogen und nach entspre- chenden Passagen durchsucht. Zum besseren Verständnis ist anzumerken, dass die zi- tierten Geschichten zumeist Vorkommnisse aus dem Ersten Weltkrieg berichten und aus Sicht der Soldaten erzählt werden. Dies ist aber für den gewünschten Effekt mora- lischer Indoktrination unerheblich.

2 Moral und Krieg

2.1 Moralvorstellungen im Krieg

Um zu ergründen ob, und wenn ja, in welcher Weise, der Begriff der Moral im Kriegs- geschehen eine Rolle spielt, muss zunächst kurz auf die Bedeutung eingegangen wer- den, die der Moral im Allgemeinen zugeschrieben wird. Bins gibt hier einen guten Überblick über die grundsätzlichen Inhalte der traditionellen Moralvorstellung. So handle es sich dabei um ein sittliches Empfinden sowie ein darauf basierendes bewußtes Verhalten betreffend die Ge- samtheit von ethisch-sittlichen Grundsätzen, Werten und Normen, die das zwischenmenschli- che Verhalten einer Gesellschaft regulieren sowie eine gefestigte Haltung und die Einsatzbereit- schaft für das Gute.4 Moral besteht also aus einem Konstrukt ethischer Werte. Dieses wird von einer Ge- sellschaft verinnerlicht und als Wertegemeinschaft akzeptiert. Der Glaube daran be- stimmt die Richtlinien für das gesellschaftliche Leben. Wer sein Leben danach ausrich- tet, handelt gewissenhaft und gut,5 denn die Richtlinien lassen eine Bewertung des Handelns zu. Sobald mindestens zwei mögliche Optionen zur Wahl stehen, kann ein moralisches Urteil gefällt werden. Das Ergebnis lautet dann entweder moralisch gut oder moralisch schlecht.6 Die bürgerlich-christliche Moral, welche vor der Machter-

4 Bins 2003, S. 21. 5 Vgl. Fritze 2014, S. 65 f. 6 Vgl. Fritze 2014, S. 65 f.; Waldmann 2008, S. 13.

104

greifung durch das NS-Regime gemeinhin als Standard anerkannt wurde, galt für aus- nahmslos jedes Individuum der Gesellschaft. Die so elementare Nächstenliebe schloss alle Mitglieder mit ein.7 Mit der Bedeutung des Kriegs im Hinterkopf, lässt besonders der letzte Teil der Definition von Bins gewisse Zweifel zu: Was hat die Einsatzbereitschaft für das Gute mit Krieg zu tun? So war doch eine weit verbreitete Wertung des Kriegs durch Solda- ten, ungeachtet ihrer Nationalität, »so wie man ihn meist versteht und bewertet; so wie es politisch und normativ korrekt ist, ihn zu verstehen: […] grausam, leidvoll, blutig, schmerzhaft, sinnlos, traurig, kurz: schlecht.«8 Demnach gleichbedeutend mit mora- lisch verwerflich. Was den Antrieb anbelangt, einen Krieg zu beginnen, sind in der Geschichte auch keine moralischen Bedenken von Kriegsführern bekannt. Bei der Ent- scheidung für oder gegen einen Krieg wich die Moral der Skrupellosigkeit.9 Dennoch taucht immer wieder die Frage nach einem gerechten Krieg auf, nach Gründen, welche die Kriegführung moralisch rechtfertigen. Eine kriegführende Partei möchte ihr Ein- greifen aus moralischem Standpunkt gerechtfertigt sehen, beispielsweise im Sinne der moralisch nicht belasteten Notwehr, also zum Zwecke der Verteidigung gegen einen unrechtmäßigen Angriff,10 oder, wenn es dazu dient für moralische Überzeugungen zu kämpfen. Sie sieht sich oft dazu genötigt, da der Feind durch seinerseits unmoralisches Handeln keine andere Alternative mehr bietet als die eigenen Überzeugungen mit Ge- walt durchzusetzen.11 Dass es durchaus moralische Beweggründe geben könne, Krieg zu führen, stellt auch Waldmann heraus: »Jede Moral muss Kriege akzeptieren, sofern sie ihre Existenz bedroht sieht. Ein radikaler Pazifismus ist rezessiv, das heißt, im Kon- fliktfall verschwinden die Pazifisten.«12 Jede kriegführende Partei kann einen Krieg als gerecht oder ungerecht definieren. Unmoralisch wird er erst dann, wenn die Partei, die Kriegführung ursprünglich einmal als ungerecht definiert hatte, dennoch einen Krieg beginnt.13 Ein gerechter Krieg ist demnach moralisch akzeptiert, ein ungerechter nicht.14 Jedoch existieren gleichzeitig immer unterschiedliche Sichtweisen darauf, ob ein Krieg in einer bestimmten Situation gerecht ist oder nicht.15 Auch die Härte eines Krieges kann moralisch bewertet werden. Diese hängt von der jeweiligen Waffentechnik ab, der Zahl der Bevölkerung, des Kriegsziels und des Un- terschieds in der Stärke der Gegner. Das individuelle Menschenleben wird dem Kriegs- ziel der kriegführenden Parteien dabei immer moralisch untergeordnet. Auch wenn das Töten anderer Menschen im Krieg per Definition legalisiert wird, ist gerade dies ein Aspekt, der Soldaten besonders in Bedrängnis bringt:16 Einem Menschen das Leben zu nehmen ist zwar unmoralisch, im Krieg jedoch unumgänglich. Selbst wenn Soldaten

7 Vgl. Bialas 2014b, S. 29. 8 Haak 2011, S. 175. 9 Vgl. Waldmann 2008, S. 117. 10 Vgl. Schmücker 2005, S. 12. 11 Vgl. Haas 2014, S. 181. 12 Waldmann 2008, S. 120. 13 Vgl. Waldmann 2008, S. 116. 14 Vgl. Waldmann 2008, S. 120. 15 Vgl. Waldmann 2008, S. 116. 16 Vgl. Waldmann 2008, S. 118.

105

das Töten von Menschen im Krieg akzeptieren, wobei auch ein Gefühl von Rache und Vergeltung eine Rolle spielt, gibt es moralische Bedenken, die sich nicht leicht ver- drängen lassen. So existieren Aussagen von Soldaten, dass das Töten zwar Spaß machen könne, dieser Umstand jedoch gleichwohl als äußerst erschreckend empfunden wurde.17 Moral spielt somit auch im Krieg immer schon eine wichtige Rolle: Schon in ver- gangenen Kriegszeiten existierten Begriffe wie Kriegs- oder ›Kampfmoral‹.18 Oft ist auch von der ›Moral der Truppe‹ die Rede.19 Die Soldaten an der Front müssen ihr Tun und Handeln moralisch vertreten können und auch dahinterstehen. Sie können die Befehle nur dann ausführen, wenn sie diese nicht selbst als unmoralisch erachten. Allein schon für ihre Psyche brauchen sie im Ausnahmefall Krieg eine Konstante, nach der sie ihr Handeln ausrichten können,20 denn auch ein Krieg kann nicht ohne mora- lische Richtlinien auskommen. Es scheint also, als würde im Rahmen des Kriegs ein Sonderfall der Moral existieren, einer, in dem das Töten von Menschen akzeptiert wird, solange sich der Krieg in einem gerechten Rahmen bewegt und somit aus mora- lischen Standpunkten heraus legitimiert wurde.

2.2 Nationalsozialistische Moralvorstellungen

Die Kriegsverbrechen, die während des Dritten Reiches durch den NS-Staat verübt wurden sind nach moralischen Standards nicht zu rechtfertigen.21 Da die Moral aber zu der Zeit einen hohen Stellenwert hatte und sich die Nationalsozialisten weder vor sich selbst, noch vor ihrem Volk als unmoralische Menschen sehen wollten, wurde das vorhandene moralische Verständnis zugunsten eines nationalsozialistischen Moralver- ständnisses umgeformt.22 Es kann hier allerdings nicht von einem kompletten Um- bruch der Werte gesprochen werden, da einige weiter Bestand hatten: Lügen und Steh- len war beispielsweise noch immer unmoralisch. Dennoch wurden bestimmte Werte ins Extreme verschoben oder umgewandelt.23 Besondere Bedeutung wurde etwa den moralischen Werten Ehre, Treue, Anstand und Pflicht zugeschrieben.24 Ebenfalls spiel- ten Kameradschaftlichkeit, Opferbereitschaft und Leistungswille eine große Rolle.25 Durch diese Umformung konnte die nationalsozialistische Ideologie untermauert werden,26 denn durch sie ließen sich die Verbrechen moralisch rechtfertigen und konn- ten in diesem Sinne nicht länger als unmoralisch betrachtet werden.27 Diesen Sachver- halt bestätigen Neitzel und Welzer:

17 Vgl. Haak 2011, S. 177 f. 18 Vgl. Vossler 2005, S. 50. 19 Vgl. Vossler 2005 S. 55. 20 Vgl. Haas 2014, S. 181 f. 21 Vgl. Bialas 2014a, S. 24. 22 Vgl. Bialas 2014a, S. 24; Bartov 1995, S. 161. 23 Vgl. Bialas 2014a, S. 25. 24 Vgl. Bialas 2014a, S. 26. 25 Vgl. Fritze 2014, S. 71. 26 Vgl. Kipp 2014, S. 191. 27 Vgl. Bialas 2014a, S. 24; Bartov 1995, S. 104 und 161.

106

Die nationalsozialistische Gesellschaft wird nicht unmoralisch, nicht einmal die Massenmorde gehen […] auf einen moralischen Verfall zurück. Vielmehr sind sie Ergebnis der erstaunlich schnellen und tiefgreifenden Etablierung einer ›nationalsozialistischen Moral‹ […].28 Die Rechtfertigung der Verbrechen der Nationalsozialisten erfolgte über den Aus- schluss bestimmter Gruppen aus der Moralgemeinschaft der ›Rassenangehörigen‹. Das bedeutete, dass es sich bei den Inhalten der Moral um partikulare Normen handelte:29 Nächstenliebe, Gerechtigkeit und Mitleid waren nach wie vor elementare Werte, sie galten aber nicht mehr für die gesamte Gesellschaft. Der angestrebte Wertewandel hatte also auch ein schleichendes Einverständnis der Ausgrenzung gewisser Gesell- schaftsgruppen zum Ziel.30 Aufgrund dieser Festsetzung unterschiedlicher Richtlinien für unterschiedliche Personengruppen ist die nationalsozialistische Moral laut Keller- wessel als eine Form des normativen Relativismus anzusehen.31 Die ursprüngliche kulturelle Moral wurde demnach zu einem politischen Gegen- stand, zu einem Instrument der Politik und dem politischen Handeln wurde ein mo- ralischer Rahmen zugeschrieben.32 Ziel war die Formung einer starken Volksgemein- schaft. Die Instanz, mit der das Individuum sein moralisches Handeln ausmacht, soll- ten nicht länger das Individuum und dessen Gewissen selbst sein, sondern der Staat, verkörpert durch den Führer. Letzterer bildete die politische Instanz der Überwachung und Einhaltung moralischer Vorgaben. Auch wenn der Staat dieses Moralverständnis vorgab und auch lenken wollte, musste es auch im Volk anerkannt werden,33 weshalb die Akzeptanz dieses neuen Moralverständnisses unabdingbar war. Dazu musste das bisherige Moralverständnis überwunden werden, was einen radikalen Schnitt bedeu- tete. Es ging nicht nur um eine einfache Anpassung, sondern erforderte vielmehr auch eine Umorientierung der Persönlichkeit jeden einzelnen Bürgers. Denn die Menschen sollten mit voller Überzeugung hinter der nationalsozialistischen Moral stehen.34 Doch es kam nicht nur zu einer Verschiebung der kulturellen Moral zugunsten ei- ner politisch bestimmten, nationalsozialistischen Moral. Für den Bereich des Zweiten Weltkriegs wurde auch die im vorherigen Kapitel vorgestellte Kriegsmoral verschoben: Bestehende Normen der Kriegsmoral wurden genutzt, um daraus eine eigene, natio- nalsozialistische Kriegsmoral zu generieren. Innerhalb dieser wurde alles als moralisch erachtet, was das Überleben sicherte und alles als unmoralisch, was dieses bedrohte.35 Laut Bartov beruhte die Moral der Truppe »auf einer Pervertierung der moralischen und rechtlichen Grundlagen des Kriegsrechts.«36 Das bedeutet, dass die geltenden Nor- men der ursprünglichen Kriegsmoral im Zweiten Weltkrieg außer Kraft gesetzt bezie- hungsweise pervertiert wurden. Das Außerkraftsetzen moralischer Maßstäbe, was ein

28 Neitzel / Welzer 2011, S. 56. 29 Vgl. Bialas 2014a, S. 28. 30 Vgl. Neitzel / Welzer 2011, S. 61. 31 Vgl. Kellerwessel 2014, S. 353. 32 Vgl. Bialas 2014b, S. 32. 33 Vgl. Bialas 2014b, S. 319 f. 34 Vgl. Bialas 2014b, S. 31. 35 Vgl. Bartov 1995, S. 109. 36 Bartov 1995, S. 20.

107

Krieg mit sich bringt, wurde nicht lediglich legalisiert, sondern sogar moralisch postu- liert.37 Der radikalisierte moralische Kodex des Militärs stiftete zu Völkermorden an und deklassierte seine Feinde. Die ausschließliche Verteidigung eines Landes wich ei- nem Vernichtungskrieg.38 Es bleibt festzuhalten, dass Moral im Krieg immer eine große Rolle spielt. Die Kriegsmoral bildet jedoch einen speziellen Fall, in dem einige Richtlinien zugunsten der Ziele verändert oder außer Kraft gesetzt werden, sodass sich die Kriegsmoral deut- lich vom kulturellen Moralverständnis unterscheidet. Eine deutlich radikalisierte Form der Kriegsmoral war jene des NS-Staats während des Zweiten Weltkriegs, deren Folgen in den Nürnberger Prozessen als ›Verbrechen gegen die Menschlichkeit‹ gewertet wur- den. Auf welche Weise die nationalsozialistischen Moralvorstellungen an die Soldaten herangebracht werden konnte, behandelt das folgende Kapitel.

3 Schriftmedien für die Front

3.1 Organisation und Vertrieb

Bereits kurz nach Beginn des Kriegs gab es von der NSDAP einen Aufruf zur Bücher- spende für die Frontsoldaten. Zuerst galt diese Anfrage Verlagen und Buchhandlun- gen, die besonders achtbares, was so viel bedeutet wie parteikonformes, Schrifttum veröffentlichten.39 Als Anreiz wurde ihnen Unterstützung in Form von Papierlieferun- gen zugesagt.40 Am 4. September 1939 wurde die Zentrale der Frontbuchhandlungen unter Zusammenarbeit von Eberhard Heffe, Direktor der Deutschen Arbeitsfront- Verlagsunternehmen, und dem Obersten Kommando der Wehrmacht gegründet. Die Zentrale fungierte als Zweigstelle. Die Verteilung von Buchlieferungen zwischen dem Buchhandel im Reich und den Verkaufsstellen im besetzten Ausland sollte dadurch koordiniert werden.41 Die Wehrmacht fungierte dabei als direkter Auftraggeber der Verlage und auch als eigener Verleger.42 Der Verkehr der hergestellten Bücher wurde über Postwege sichergestellt.43 In 300 eigens dafür eröffneten Frontbuchhandlungen vor Ort wurden sie dann verkauft. Betrieben wurden diese von rekrutierten Buchhänd- lern.44 Über diese Stützpunkte wurden die Bücher dann weiter vertrieben, beispiels- weise per Flugzeug oder Frontbuchwagen. Letztere waren Omnibusse, die seit 1940 in Polen, Frankreich, Belgien, Norwegen und an der Ostfront im Einsatz waren und die

37 Vgl. Haas 2014, S. 178. 38 Vgl. Haas 2014, S. 186 und 188. 39 Vgl. Adam 2010, S. 297; Fischer / Wittmann / Barbian 2015, S. 109. 40 Vgl. Bühler / Bühler 2002, S. 118. 41 Vgl. Adam 2010, S. 297; Fischer / Wittmann / Barbian 2015, S. 109. 42 Vgl. Fischer / Wittmann / Barbian 2015, S. 109. 43 Vgl. Bühler / Bühler 2002, S. 126. 44 Vgl. Adam 2010, S. 297; Fischer / Wittmann / Barbian 2015, S. 109.

108

Bücher direkt bis zur Front lieferten.45 Zudem hatten die Soldaten aber auch die Mög- lichkeit, die Bücher direkt in den Frontbuchhandlungen zu erwerben.46 Das Angebot wurde von den Soldaten positiv aufgenommen: Aufgrund ansteigender Nachfrage star- tete das Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda 1940 eine Kam- pagne, die auch Privathaushalte zu Buchspenden für die Front aufrief.47 Im Winter 1943 umfasste die Sammlung schließlich bereits 43 Millionen Bücher.48 Somit hatte der Handel mit Frontbüchern eine marktbeherrschende Rolle im Buchhandel einge- nommen.49 Die Zahl der am lukrativen Massenmarkt partizipierenden Verlage wuchs auf 71.50 Viele Verlage begnügten sich bald schon nicht mehr nur damit, bereits publi- zierte Werke an die Zentrale der Frontbuchhandlungen zu senden: So gab es bereits ab 1940 eigens für diesen Zweck herausgegebene Einzeltitel oder ganze Reihen, soge- nannte Feldpostausgaben. Diese waren in Form und Gewicht extra an den Versand angepasst, denn ab 1942 durften sie höchsten 100 Gramm wiegen, sonst wurde der Versand in Rechnung gestellt.51 Somit ist der Begriff Feldpost doppeldeutig: Er be- schreibt einmal die Organisation an sich und war zugleich Bezeichnung der Extraaus- gaben der Verlage.52 Alle zu versendenden Feldpostausgaben für die Front wurden vorher vom Reichs- ministerium für Volksaufklärung und Propaganda kontrolliert. Die Vorzensur sollte dafür sorgen, dass nur regimekonforme Literatur an die Front geliefert wurde. Für die Manipulation des Literaturguts war eine eigens dafür ins Leben gerufene Kommission zuständig. Diese bestand aus Vertretern des Obersten Kommandos der Wehrmacht, des Reichsministeriums für Volksaufklärung und Propaganda, der Deutschen Arbei- terfront, der Reichsschrifttumskammer und des Börsenvereins des Deutschen Buch- handels.53 Was die Soldaten zu lesen bekamen, wurde nicht dem Zufall überlassen.

3.2 Inhalte

Die thematische Bandbreite der gelieferten Bücher war sehr groß. Angestrebt wurde eine Mischung aus politisch-weltanschaulichen Themen und kurzweiliger oder besinn- licher Belletristik. Die Frontsendungen sollten zum Großteil unterhaltenden Charak- ter haben, also keine allzu schwere Kost für die Soldaten sein.54 Das Repertoire reichte von Romanen und Novellen über Gedicht- und Lieder- sammlungen bis hin zu Sach- und Fachbüchern, wie etwa Reiseführer zur besseren Orientierung und erleichterten Verständigung.55 Klassische Texte, beispielsweise von

45 Vgl. Adam 2010, S. 297; Bühler / Bühler 2002, S. 126; Fischer / Wittmann / Barbian 2015, S. 109. 46 Vgl. Weigand 2010, S. 26. 47 Vgl. Adam 2010, S. 299. 48 Vgl. Adam 2010, S. 297; Fischer / Wittmann / Barbian 2015, S. 219 f. 49 Vgl. Fischer / Wittmann / Barbian 2015, S. 220. 50 Vgl. Bühler / Bühler 2002, S. 124; Fischer / Wittmann / Barbian 2015, S. 109. 51 Vgl. Adam 2010, S. 299; Weigand 2010, S. 21. 52 Vgl. Weigand 2010, S. 7. 53 Vgl. Bühler / Bühler 2002, S. 118 f.; Weigand 2010, S. 28. 54 Vgl. Adam 2010, S. 301; Fischer / Wittmann / Barbian 2015, S. 221. 55 Vgl. Weigand 2010, S. 3 und 16.

109

Platon, Kleist, Goethe oder Fontane waren genauso beliebt wie humoristische Unter- haltungsliteratur. Die Verlage waren davon überzeugt, dass der Krieg durch schaden- frohe Texte mit einer ordentlichen Portion Galgenhumor wesentlich leichter zu ertra- gen sei.56 Ebenso sollten heimatverbundene Texte, Kriminal- oder Liebesromane und Abenteuergeschichten zur Entspannung der Soldaten beitragen.57 Neben leichter Unterhaltung wurde aber auch eine Menge Kriegsliteratur geliefert. Sogenannte Tornisterschriften enthielten Informationen und Instruktionen von Offi- zieren der Wehrmacht.58 Des Weiteren gab es Bücher über die besonderen Auszeich- nungen, die man sich im Krieg verdienen konnte, oder Berichte von Kriegserlebnissen aus erster Hand.59 Auch bekannte Hetzschriften wie Der Stürmer, die thematisch Feindbilder stilisierten, fanden ihren Weg zu den Soldaten und wurden oft von diesen abonniert.60 Die anfangs eher allgemeinen Themen wurden zunehmend zielgerichteter auf ihre Leser abgestimmt.61 Die vordergründig meist harmlosen Inhalte waren entsprechend oft völkisch-nationalistischen Hintergrunds.62 Die von den Soldaten gewünschten In- halte verschoben sich dabei mit den voranschreitenden Kriegsjahren: Direkt vor Aus- bruch des Krieges und in den ersten Jahren waren kriegsverherrlichende und heimat- verbundene Themen angesagt, doch je länger der Krieg dauerte, desto mehr stand den Soldaten der Sinn nach Zerstreuung, Unterhaltung und Ablenkung.63

3.3 Der C. Bertelsmann Verlag

Der Gütersloher C. Bertelsmann Verlag spielte eine bedeutende Rolle auf dem neuen Markt der Frontausgaben. Innerhalb weniger Jahre löste er sich von seinen theologi- schen Wurzeln und wandte sich regimekonformen Inhalten zu. Dieser Schritt stellte eine drastische Abkehr von der bisherigen Verlagspolitik dar. Aufgrund schlechter Ver- kaufszahlen wichen christliche Inhalte bereits ab 1933 immer öfter belletristischen Werken mit völkisch-nationalistischem Gedankengut. Mit der neuen Unterhaltungs- literatur sollte der Massenmarkt erobert werden.64 Der Verlag hatte schon früh den schleichenden Wandel der Moral wahrgenommen, weswegen bei der Machtergreifung des NS-Regimes keine großen Veränderungen im Verlagsprogramm mehr vorgenommen werden mussten. Schließlich war die ge- wünschte Gesinnung dort bereits weitgehend etabliert.65 Durch diese gute Ausgangs- lage begünstigt, war C. Bertelsmann einer der ersten Verlage, der auf die Produktion

56 Vgl. Weigand 2010, S. 24–26. 57 Vgl. Bühler / Bühler 2002, S. 35; Weigand 2010, S. 27. 58 Vgl. Weigand 2010, S. 15. 59 Vgl. Weigand 2010, S. 11; Fischer / Wittmann / Barbian 2015, S. 222. 60 Vgl. Kipp 2014, S. 194. 61 Vgl. Fischer / Wittmann / Barbian 2015, S. 109. 62 Vgl. Fischer / Wittmann / Barbian 2015, S. 336. 63 Vgl. Bühler / Bühler 2002, S. 35. 64 Vgl. Berghoff 2010, S. 16 f. 65 Vgl. Berghoff 2010, S. 17; Fischer / Wittmann / Barbian 2015, S. 336.

110

von Feldpostausgaben setzte und den neuen Markt für sich erschloss.66 Die Feldpost- ausgaben brachten schließlich den gewünschten finanziellen Erfolg.67 Innerhalb kür- zester Zeit wurde der Verlag zum führenden Wehrmachtslieferanten und überflügelte dabei sogar den der NSDAP zugehörigen Eher-Verlag.68 Der Erfolg fußte unter ande- rem auf der hohen Leistungsfähigkeit der eigenen Druckerei. Die Auftragsverlagerung in Druckereien besetzter Gebiete vergrößerte diese Kapazität zusätzlich. Die Unter- stützung von Wehrmachtsstellen und Propagandaministerium, welche dem Verlag auf- grund dessen hoher Anpassungsfähigkeit an das Regime wohlgesinnt waren, machte C. Bertelsmann schnell zu einem Verlag bester Produktionsvoraussetzungen:69 In den ersten Kriegsjahren konnte der Umsatz um mehr als das doppelte gesteigert werden. Lag dieser 1939 noch bei 3,133 Millionen Reichsmark, so betrug er zwei Jahre später bereits 8,062 Millionen.70 Da das Hauptziel darin bestand, den Massenmarkt zu erschließen, war der Verlag inhaltlich auch nicht länger festgelegt: Schon ab 1933 wurden preiswerte Volksausga- ben verlegt. Auch hier führten Massenauflagen zu kommerziellem Erfolg.71 Nach Kriegsbeginn wurde alles geliefert, was die Soldaten gerne lesen wollten. Kriegsliteratur war zu Beginn des Kriegs, aber auch schon davor, ein wichtiger Bestandteil des Ver- lagsprogramms. Der Verlag trug damit seinen Teil zur Kriegsverherrlichung bei.72 Drei großen Reihen lieferte der Verlag der Wehrmacht ab 1942. Die Feldausgaben, die Kleine Feldpost-Reihe und die Feldposthefte hatten neben kriegsverherrlichenden auch unterhaltende, humoristische, heimatverbundene und abenteuerliche Inhalte.73 Insgesamt beliefen sich die Ausgaben auf etwa 19,2 Millionen.74 Ganz seinem neuen Verlagsprogramm folgend, richtete sich C. Bertelsmann auch im weiteren Kriegsverlauf nach den Wünschen der Soldaten. Dass sich die gewünschten Inhalte mit den Kriegs- jahren veränderten, wurde bereits erwähnt. Dieser Trend zeigt sich auch in den Aus- gaben des Verlags.75 Noch während des Kriegs stagnierte der große Erfolg des Verlags jedoch zuneh- mend. Aufgrund von Einberufungen verlor er viele Mitarbeiter. Die Aufträge konnten so nicht mehr mit der gewohnten Effektivität bearbeitet werden. Ein weiteres Problem mit dem der Verlag zu kämpfen hatte, war die Papierknappheit. Um permanente Ver- sorgung sicherzustellen, ließ sich der Verlagsleiter in illegale Geschäfte verwickeln. Dies Tun blieb nicht lange unentdeckt und 1943 wurden Ermittlungen gegen den Verlag eingeleitet. Zu einem Ergebnis kamen diese allerdings nicht mehr, da der Verlag 1944

66 Vgl. Berghoff 2010, S. 19. 67 Vgl. Schwender / Ebert 2009, S. 28. 68 Vgl. Vossler 2005, S. 222. 69 Vgl. Fischer / Wittmann / Barbian 2015, S. 337. 70 Vgl. Bühler / Bühler 2002, S. 139. 71 Vgl. Fischer / Wittmann / Barbian 2015, S. 335. 72 Vgl. Berghoff 2010, S. 19. 73 Vgl. Fischer / Wittmann / Barbian 2015, S. 336; Vossler 2005, S. 219. 74 Vgl. Bühler / Bühler 2002, S. 141. 75 Vgl. Berghoff 2010, S. 20; Wittmann et al. 2002, S. 394.

111

wegen der ›allgemeinen Totalisierung des Kriegseinsatzes‹ geschlossen wurde. Mit die- sem Schicksal stand er nicht allein da. Viele Unternehmen wurden in den letzten Kriegsjahren wegen deren Kriegsunwichtigkeit aufgelöst.76

4 Manipulation von Moralvorstellungen in den Frontausgaben des C. Bertelsmann Verlags

4.1 Moralvorstellungen in den Frontausgaben

Besonders zu Beginn des Kriegs war das Regime darum bemüht, den Soldaten Recht- fertigungen dafür zu liefern, warum der Krieg geführt werden musste. Etwaige Kritik sollte damit präventiv verhindert werden. Dabei wurde oft die Ideologie vom herr- schenden Chaos verbreitet, welchem durch den Krieg entgegengewirkt werden sollte. Der Krieg würde die gewünschte Ordnung wiederherstellen.77 Dass dabei Opfer ge- bracht werden müssten, sei nicht zu verhindern. Doch diese sollten nicht umsonst sein. Umso wichtiger war es, gute Gründe dafür zu liefern, dass das Sterben einem höheren Zweck diente.78 Einer der Hauptgründe war der Dienst, den man seinem Land damit erweisen könne: »›Es ist doch schön, fürs Vaterland zu sterben – ‹. In seinen Augen war ein starker Glanz […]«.79 Für die Soldaten, die im Kampf ihr Leben ließen, wurde das altbekannte Pathos der Gefallenen wiederaufgefrischt. Kritik am Krieg würde jene, die ihr Leben dafür gaben, entehren. Denn die Gefallenen waren in der Gesellschaft mo- ralisch hochgeachtet.80 Dessen konnten sich die Soldaten sicher sein: Um dieses einen Augenblickes willen ist es doch schön! Um dieses Augenblickes willen, in dem der Stürmer alles hinter sich läßt, alles Bangen, alles Grübeln und allen Schmerz, in dem er abstößt von den Ufern aller Sicherheit und aller Ordnung! […] Sie sind sehr stolz auf einen.81 Trotz aller Zweifel sei es für die Soldaten das einzig Wahre, im Krieg ihr Leben zu geben. Das Sterben im Krieg wurde damit zu einer Ehre verklärt.82 Denn die Soldaten wüssten ja schließlich, wofür sie kämpfen: »›Mamachen!‹ […] ›Für dich! Für alle! Für Deutschland!‹«83 Die Verbindung zwischen Front und Heimat sollte gestärkt werden, denn das Va- terland sei es wert, für es zu kämpfen:84 »Ich lauere hier hinter meinen Gewehren ja nicht um Ruhm und nicht um Anerkennung, auch nicht aus Lust am Töten! Ich will ja nur den Kameraden da unten helfen, will nur, wie sie, die Heimat schützen!«85 Der

76 Vgl. Berghoff 2010, S. 21; Bühler / Bühler 2002, S. 140. 77 Vgl. Kipp 2014, S. 135. 78 Vgl. Kipp 2014, S. 337 f. 79 Goote 1940, S. 17. 80 Vgl. Latzel 2011, S. 93. 81 Goote 1940, S. 74. 82 Vgl. Latzel 2011, S. 95. 83 Goote 1940, S. 75. 84 Vgl. Kipp 2014, S. 186. 85 Goote 1940, S. 61.

112

Schutz der Heimat war also oberstes Gebot. Damit dieser gewährleistet werden konnte, hatten sich die Soldaten an strenge Grundsätze zu halten: »Man muß seine Pflicht tun! Alles soll Mahnung sein, sich selbst zu suchen, selbst zu stehen und selbst zu ringen.«86 Dementsprechend verachtend stand das Regime zu Deserteuren. Die Aufgabe seiner Pflichten als Soldat war keine Option und wurde meist mit Haftstrafen und schlimms- tenfalls mit der Todesstrafe belegt.87 Auf jeden Fall führte das Desertieren zu gesell- schaftlicher Ächtung, weshalb Zweifel erst gar nicht aufkommen sollen. Man müsse sich nur immer das Ziel vor Augen halten:88 ›Krieg hab‘ ich mir eigentlich anders vorgestellt.‹89 […] ›Ich hab‘ mir das auch ganz anders ge- dacht!‹ […] ›Wir alle haben uns das wohl anders gedacht, aber der Krieg richtet sich nun mal nicht nach unserem Denken, sondern unser Denken hat sich nach ihm zu richten!‹90 Man würde ja nicht nur sich selbst, sondern das ganze Vaterland ins Verderben stürzen, wenn man aufgäbe.91 Schlimmstenfalls könne dadurch der Krieg verlorengehen. Mög- liche Folgen dieses Szenarios wurden ebenfalls dargelegt.92 Um Bedenken seitens der Soldaten auszuräumen, wurde auch immer wieder auf das geltende Kriegsrecht hingewiesen. Unkorrektes Handeln nach moralischen Maßstäben war legitimiert und wurde als notwendige Maßnahme erachtet.93 Hin und wieder fanden sich auch Szenarien eines gewonnenen Krieges. So be- schreibt beispielsweise Das Wiedersehen von Werner Peiner ein Treffen zweier Soldaten nach Ende des Ersten Weltkriegs. Ihre Gedanken sahen folgendermaßen aus: Als wir Männer aus dem großen unglücklichen Kriege heimkehrten, erschöpften sich unsere Ansprüche an das unglaubhafte neue Leben um Wunsch nach einem gedeckten Tisch, einem sauberen Bett und nach der Wärme des Heimes und Weibes. Darüber vergaßen wir, daß eifriger Wintersturm und sengende Sonne uns peinigten, tagelanges Trommelfeuer unsere Nerven zer- rissen hatte. Vergaßen darüber, daß wir mit dumpfen Trotz dem Tode widerstanden hatten, der seine Fänge in unsere Körper gekrallt hielt und unsere Herzen mit wachsender Hoffnungslosig- keit beschlug. Mit strahlenden Augen sah uns das neu geschenkte Leben an; mit Glanz und Fülle lockte die Zukunft.94 So und noch besser sollte es nach dem Sieg dieses Kriegs sein: Es wurde ein Bild einer frohen, sorgenfreien Zeit nach dem Krieg vermittelt. Alle schrecklichen Kriegserfah- rungen würden wie weggewischt sein und man könnte frohen Mutes in die Zukunft blicken und stolz auf das sein, was man erreicht hatte. Diese Vorstellung sollte noch- mals den nötigen Motivationsschub geben, weiter für den Sieg zu kämpfen. Eine weitere Thematik, die besonders häufig in den Frontausgaben vorkam, war das nationalsozialistische Bild des rechten Soldaten. Auf vielfältige Weise wurde dargestellt, wie der gute Soldat zu sein hatte, wie er sich verhalten und an was er glauben sollte.

86 Goote 1940, S. 81. 87 Vgl. Koch 2008, S. 14. 88 Vgl. Bartov 1995, S. 20; Kipp 2014, S. 191. 89 Goote 1940, S. 64. 90 Goote 1940, S. 66. 91 Vgl. Kipp 2014, S. 136. 92 Vgl. Bartov 1995, S. 192. 93 Vgl. Bartov 1995, S. 21; Kipp 2014, S. 193. 94 Peiner 1943, S. 19.

113

Die nationalsozialistisch ins Extreme gerückten Tugenden Ehre, Treue, Pflicht und Anstand sollten im Soldatentum ihre volle Wirkung entfalten.95 Ein guter Soldat war demnach mutig, zuverlässig, aufmerksam und zuversichtlich.96 Er war gehorsam und voller Hingabe zur Sache:97 »[…] er tat seinen Dienst nicht als seelenlose Maschine, er tat ihn trotz alledem mit ganzer Hingabe.«98 Denn auf »›das Herz kommt es an […]‹«.99 Die Ideologie des Rassenbewusstseins sollte von ihm verinnerlicht und verteidigt wer- den. Seine Aufgaben solle er verantwortungsbewusst und mit der benötigten Durch- setzungskraft vollführen.100 Mit Entschlossenheit sollte kein Kampf gescheut werden: »Und da war auch wieder dieses sieghafte Lächeln […]. […] irgendetwas, das aussagte von einem Mann, der stürmte und schanzte und wieder stürmte und immer neu schritt von Sieg zu Sieg.«101 Egal was geschah, er würde niemals aufgeben: »Leben war er – pulsierendes Leben, das vorwärtsstürmt, das sich nicht ergibt, das mit sich reißt, das lacht und immer zäher festhält, je schlimmer es kommt!«102 Der aufopferungsvolle Kampf bis zum bitteren Ende wurde als »[m]oralisch integeres […] Handeln«103 dar- gestellt.104 Auch die Männlichkeit der Soldaten wurde oft thematisiert. Im Krieg zu dienen hieß Männlichkeit zu zeigen.105 Die »Manneszucht und Mannestugenden«106 untersag- ten ihnen jeden Anflug von Schwäche: »[…] Soldaten lassen sich nicht gehen, werden nicht weich […].«107 Diszipliniert sollten sich die Soldaten mit diesem Idealbild eines deutschen Soldaten identifizieren. Sie sollten Eins werden mit den Vorstellungen des Regimes.108 Eine di- rekte Vorbildfunktion nahmen dabei die Offiziere ein: »Und der Offizier ist das Vor- bild für den Soldaten, – oder er ist kein Offizier! –.«109 Er hatte bereits alle Eigenschaf- ten verinnerlicht und ging den Soldaten mit gutem Beispiel voran: Wie groß mußte die innere Stärke dieses Mannes sein, der einfach gegen den Feind anritt, – nicht als wäre seine Sache verloren, sondern als wäre er nur der erste Reiter vor einer unermeßli- chen Übermacht! […] aber der Feind begriff, daß hier ein Mann alles mitriß durch seine Ent- schlossenheit. Er begriff – und floh! – […] So etwas aber kann kein rechter Soldat mit ansehen, und wenn er tausendmal abgekämpft und zusammengetrommelt und am Ende seiner Kraft ist.

95 Vgl. Vossler 2005, S. 195 f.; Bialas 2014a, S. 26. 96 Vgl. Goote 1940, S. 83 und 102; Wundshammer 1941, S. 23. 97 Vgl. Neitzel / Welzer 2011, S. 69 und 300. 98 Goote 1940, S. 89. 99 Goote 1940, S. 91. 100 Vgl. Bialas 2014a, S. 27. 101 Goote 1940, S. 71 f. 102 Goote 1940, S. 68. 103 Kipp 2014, S. 191. 104 Vgl. Neitzel / Welzer 2011, S. 307. 105 Vgl. Kipp 2014, S. 136. 106 Neitzel / Welzer 2011, S. 69. 107 Goote 1940, S. 21. 108 Vgl. Kipp 2014, S. 136; Neitzel / Welzer 2011, S. 300. 109 Goote 1940, S. 21.

114

So ein Beispiel zündet immer; und so kam es mit einemmal wie ein ungeheurer Kraftstrom über die ausgepumpten Männer.110 Trotz scheinbar aussichtsloser Situation schafft es der Offizier in dieser Geschichte nur mithilfe starker Willenskraft, seine Männer mitzureißen und nebenher im Alleingang den Feind in die Flucht zu schlagen. Nicht nur im Kampf, auch bei den alltäglich anfallenden Aufgaben hatte ein Offi- zier nicht zu zaudern: So war er! Machte den ganzen Schwindel mit, fluchte feste, wenn das dazu gehörte, schwitzte […], fror in den Nächten […], aber wenn man ihn weckte nachts um zwei oder um vier: ›Herr Major müssen Posten schieben!‹ – ja, dann fluchte er nicht, dann nahm er die Knarre unter den Arm und schob los.111 Stets sei er sich seiner Aufgaben und seiner Vorbildfunktion bewusst: »Ein Querschlä- ger plärrte neben ihm auf, aber er reckte sich trotzdem ganz.112 […] Denn Angst muß niedergekämpft werden, wenn man Soldat, und ganz besonders, wenn man Offizier sein will!«113 Nach Ansicht des Regimes zeichneten all diese Eigenschaften einen ehrbaren Sol- daten aus. Nur mithilfe dieser Tugenden und Eigenschaften könne der Krieg gewon- nen werden.114 Neben Richtlinien für den guten Soldaten, wurde auch immer wieder auf die Wich- tigkeit der Zusammengehörigkeit der Truppe hingewiesen. Drückt man sich, so lässt man die gesamte Truppe im Stich. Der Fokus lag nicht länger auf den Einzelschicksa- len, sondern auf dem Kollektiv.115 Denn nur in diesem könne die maximale Stärke erreicht werden.116 Das bedeutete auch, dass jeder für den anderen einstehen müsse: »Befehl oder nicht! Wo Kameraden in Not sind, gehör ich hin! […] Weißt du auch, daß du diesmal vielleicht nicht wiederkommst, […]? […] ›Deshalb bleibt meine Pflicht die gleiche!‹«117 Diesem Soldaten wurde angeboten, nach einer schweren Verletzung nicht mehr an die Front zurückkehren zu müssen. Doch sein Kollektivdenken ist so ausgeprägt, dass er seine Kameraden niemals im Stich lassen würde, selbst wenn das seinen Tod bedeuten könnte. Folgende Textstellen belegen zudem, dass die Soldaten in den Geschichten das Leben ihrer Kameraden stets über ihr eigenes stellen: »[…] aber der Alte hatte nur dem Kameraden helfen wollen, nicht sich selbst.«118 Und: »[…] als nun aber der Kamerad ihm die Flasche bot, schüttelte er dennoch den Kopf. […] ›Lie- ber Sergeant, das brauchst du nötiger als ich!‹«119

110 Goote 1940, S. 152 f. 111 Goote 1940, S. 7. 112 Goote 1940, S. 9. 113 Goote 1940, S. 10. 114 Vgl. Bialas 2014b, S. 30. 115 Vgl. Kipp 2014, S. 139. 116 Vgl. Kipp 2014, S. 338. 117 Goote 1940, S. 84 f. 118 Goote 1940, S. 25. 119 Goote 1940, S. 36 f.

115

Eine letzte häufig vorkommende Thematik war die Stilisierung von Feindbildern. Im Sinne des Regimes sollte die Motivation der Soldaten zum Kampf nicht nur auf dem Schutz des Vaterlandes oder dem aussichtsreichen Leben nach dem Krieg fußen. Den Soldaten sollte es zusätzlich helfen zu wissen, dass die Feinde, gegen die sie kämpf- ten, schlechte Menschen seien, die es verdient hätten, dass man sie bekämpft. Denn der Feind repräsentierte in den Darstellungen immer die jeweiligen Gegenteile der deutschen Tugenden.120 Jedoch war Feind nicht gleich Feind. Verschiedene Nationen bekamen spezifische Charaktereigenschaften zugeschrieben, in denen sich auch rassis- tische und antisemitische Vorurteile widerspiegelten. So waren Afrikaner »schwarze[…] Halunken«121 oder »Hottentotten«.122 Ihren »Ka- pitäne[n], die aus sicherem Versteck heraus ihre Leute antrieben, wie das so Sitte war bei ihnen […]«123 wurde Feigheit attestiert. Sie nahmen also keine Vorbildfunktion ein und waren demnach das genaue Gegenteil der deutschen Offiziere. Auch Polen und dessen jüdische Einwohner kamen in den Geschichten über die Einsätze deutscher Soldaten nicht gut weg: »Rawicz war damals ein recht verschmutz- tes, total verjudetes Städtlein. ›Lauseschaukel und Kaftan herrschten allenthalben vor […]‹«124 und »[…] der unglaubliche Dreck, den man bei näherem Hinschauen überall entdecket […]«125 machte die »›östlichen Verhältnisse‹ deutlich […]«.126 Das Bild vom osteuropäischen Juden wurde noch expliziter ausgeführt: »[…] ab und zu schleichen irgendwelche Kaftanfiguren, die schon meterweit stinken, mit Säcken und allerhand geraubtem Gut vorbei.«127 Sie wurden also nicht nur als unrein – was im extremen Gegensatz zur propagierten deutschen Reinlichkeit stand – sondern obendrein auch als Diebe und Räuber dargestellt. Auch die polnischen Soldaten seien »übelriechende Kna- ben«,128 dazu »unerhört schlampig aussehend«129 und überhaupt »[e]in reichlich komi- scher Verein […]«.130 Wie man sich in einer Notsituation, um nicht aufzufallen, als Pole zu verkleiden habe, lag daher auf der Hand: »Schlips und Kragen fliegen in die Ecke, das Hemd wird etwas aufgerissen, der Kopf noch ein bißchen verstrubbelt, und der richtige, echte Pole war fertig.«131 Zudem wurden auch noch der Scharfsinn und die Intelligenz der Polen in Frage gestellt: […] in der rechten Hand hat er die mächtige doppelläufige Leuchtpistole, und als Stüber ihn fragt, was er denn mit dem Ding vorhabe, sagt er, er nehme an, daß die Polen das für eine Kanone

120 Vgl. Kipp 2014, S. 136. 121 Goote 1940, S. 14. 122 Goote 1940, S. 18. 123 Goote 1940, S. 18. 124 Purzelbaum 1940, S. 209. 125 Wundshammer 1941, S. 80. 126 Wundshammer 1941, S. 80. 127 Wundshammer 1941, S. 78. 128 Wundshammer 1941, S. 77. 129 Wundshammer 1941, S. 77. 130 Wundshammer 1941, S. 77. 131 Wundshammer 1941, S. 76.

116

halten würden. Bei der Mentalität der polnischen Landbevölkerung schien das noch nicht mal so ganz unmöglich.132 Den Franzosen mangele es ebenfalls an Intelligenz. Aber nicht nur das: »Solche Dummheit gepaart mit Furcht und Frechheit reizte mich zu einem Gelächter.«133 Der rechte deutsche Soldat ginge seine Aufgaben schließlich mutig und diszipliniert an, deshalb könne er über solches Verhalten nur lachen. Für die Franzosen wurde ebenfalls das Bild der Unreinheit herangezogen. Auch sie seien »schmutzig und verwahrlost.«134 Auch die Engländer blieben von nationalsozialistischen Charakterzuschreibungen nicht verschont. Mit Stereotypen wurde aufgeräumt: »›... gentlemenlike sind die Eng- länder, sagen Sie?‹ ›Das sagt doch jeder –‹ ›– der sie nicht kennt. Die anderen denken etwas nüchterner darüber.‹«135 So seien sie etwas unverständig und uneinsichtig, was den Trend in Deutschland anbelangt: Der Engländer konnte und wollte es nicht begreifen, daß sich in Deutschland eine neue Welt formte, mit höheren Idealen als den seinen, und daß hier unermüdlich gearbeitet wurde, nicht um Geld zu verdienen, sondern für diese Ideale. Ihre eigene Anschauung brachte einer einmal sehr treffend zum Ausdruck: ›We are lazy, but we can afford it‹ [...].136 Um für eigene Ideale zu arbeiten, seien die Engländer zu faul und das aus voller Über- zeugung. Im Krieg zeichneten sich die englischen Soldaten durch ihre Skrupellosigkeit aus. So machte in einer Geschichte ein deutscher Soldat bei einem Einsatz folgende Erfahrung: »Ein englischer Sopwith-Zweisitzer, dem er großmütig das Leben ge- schenkt hatte, hatte ihm als Dank im letzten Augenblick beim Niedergehen den linken Arm zerschossen.«137 Sie töteten nicht nur aus Kriegsgründen, sondern oftmals einfach nur aus Spaß daran. Das sollte auch dieser Abschnitt über das Ende des Ersten Welt- kriegs untermauern: Jetzt ist ja Friede! Und da richteten sie sich auf und gingen langsam mit schweren Schritten durch den grauen Morgen zurück, – in den Frieden hinein – – Aber wie sie so gingen, da prasselte mit einemmal das Feuer los. […] Natürlich die Engländer! Hatten eine Falle gestellt, wie immer! Können das Fallenstellen nicht lassen! Nicht einmal wenige Augenblicke, ehe der Friede da ist! Wollen noch Deutsche abwürgen, deren Tod nichts mehr entscheiden kann, deren Tod unnütz ist – – […] Wer wird denn Menschen umbringen, wenn er sich gar nicht wehren muß?138 Diese Geschichten zeichnen ein besonders hinterhältiges und ehrloses Kriegsverhalten englischer Soldaten. In diese Darstellung der Feindbilder ließen sich noch viele weitere Beispiele ein- bringen, auch über weitere Nationen. Auch wenn sich diese negativen Charakterzu- schreibungen von Nation zu Nation im Detail unterschieden, hatten sie doch eines gemein: Die betroffenen Völker seien Barbaren, die dem deutschen Volk Schreckliches antun würden, wenn man sie nicht besiegte. Man müsse sie also bekämpfen. Durch

132 Wundshammer 1941, S. 74. 133 Wundshammer 1941, S. 250. 134 Wundshammer 1941, S. 251. 135 Goote 1940, S. 104. 136 Ruge 1942, S. 47. 137 Goote 1940, S. 85. 138 Goote 1940, S. 141 f.

117

das Schüren von Angst und Hass gegenüber dem Feind sollte die Motivation zum Kampf gesteigert werden.139 Nach einer Darstellung der Themen, die in den Frontausgaben behandelt wurden, bleibt eine Anmerkung zu dem, was nicht thematisiert wurde. Besonders gegen Ende des Kriegs wurden die sich häufenden Niederlagen verschwiegen.140

4.2 Manipulation von Moralvorstellungen

Nachdem ausführlich dargelegt wurde, welche Inhalte sich unter anderem in den Frontausgaben finden ließen, soll näher auf den dabei implizierten Hintergedanken des Regimes eingegangen werden. Denn während den Soldaten der Sinn bei der Lek- türe eher nach Ablenkung vom Kriegsgeschehen stand, sah der NS-Staat darin eine Möglichkeit zur Indoktrination seiner Ideologien.141 Gerade bei den Soldaten war eine entsprechende Truppenbetreuung durch die Ausgaben unabdingbar, damit sich die Moralvorstellungen fest in den Köpfen verankern konnten und somit eine starke Ein- heit gleichen Gedankenguts geformt werden konnte.142 Um den Krieg zu gewinnen, war es wichtig, die richtige Haltung der Soldaten sicherzustellen.143 Die Soldaten soll- ten motiviert und mobilisiert werden.144 Auch seelischer Aufbau war wichtig, um den Strapazen standhalten zu können.145 Sie sollten selbstbewusstes und mutiges Verhalten zeigen. Zudem sollte dadurch der aufopferungsvolle Kampfwille stets garantiert wer- den können.146 Die Kampfmoral musste jederzeit stärker wiegen als die natürlichen Gefühle während des Kriegsgeschehens, wie etwa Angst, Einsamkeit oder Heimweh. Diese sollten dadurch im Keim erstickt werden.147 Wenn bestimmte Moralvorstellungen von Personen zutiefst verinnerlicht werden sollen, so müssen diese laut Grau »dauerhaft auf Sendung sein«.148 Das gelang über ständig kommunizierte Propaganda, in diesem Fall auch über die Frontausgaben. Diese Anleitung bezüglich richtigen Verhaltens war unmoralisch und somit eine Ma- nipulation von Moral,149 denn das Ziel dieser Vermittlung von Kriegsmoral war es, die Soldaten mittels Beeinflussung und Fanatisierung für den totalen Krieg bereit zu ma- chen.150 Die Manipulation der Moral fand demnach zum Selbstzweck des Regimes statt und kann somit als Ausnutzung von Macht angesehen werden. Hier spielt auch wieder die Gleichsetzung von Moral und Politik eine Rolle, wie auch Messerschmidt bemerkt:

139 Vgl. Haas 2014, S. 186. 140 Vgl. Vossler 2005, S. 206. 141 Vgl. Weigand 2010, S. 37. 142 Vgl. Neitzel / Welzer 2011, S. 67; Vossler 2005, S. 46. 143 Vgl. Echternkamp 2006, S. 44. 144 Vgl. Echternkamp 2006, S. 48. 145 Vgl. Vossler 2005, S. 48. 146 Vgl. Vossler 2005, S. 48; Kipp 2014, S. 337; Weigand 2010, S. 8 f. 147 Vgl. Vossler 2005, S. 56. 148 Grau 2008, S. 15. 149 Vgl. Haas 2014, S. 177. 150 Vgl. Eckhardt 1975, S. 112; Kipp 2014, S. 194.

118

»Das war die den politischen Ideologien eigene gefährliche Gleichsetzung von politi- schem Glaubensbekenntnis und Moral, die die theoretische Basis aller Gesinnungsty- rannei darstellt.«151 Das Regime besaß Macht. Allein schon durch die Ausnutzung die- ser wurde gegen die moralische Ordnung verstoßen.152 Aber nur so war es möglich, die Moral zu etwas Politischem machen. Nur so konnte die Moral mitsamt traditioneller Normen dem nationalsozialistischen Gedankengut untergeordnet beziehungsweise da- ran angepasst werden.153 Nur so konnte eine neue, brutalisierte und realitätsfernere Kriegsmoral geschaffen und legitimiert werden.154 Zur tatsächlichen Durchsetzung die- ser Vorstellungen dienten die Frontausgaben in diesem Szenario als Sprachrohr.

5 Manipulierte Moralvorstellungen in den Feldpostausgaben des Zweiten Weltkriegs

Schnell ließen sich in der Literatur Hinweise auf einen Zusammenhang zwischen Krieg und Moral finden. Kriegführende Parteien versuchen oft, ihre Kriegführung moralisch zu rechtfertigen. Die Existenz eines moralisch gerechten Krieges – eine Debatte, die nach wie vor höchste Aktualität besitzt und in der es, wie auch diese Arbeit gezeigt hat, keine einfachen Antworten geben kann. Es bleibt allerdings festzuhalten, dass zu Kriegszeiten eine andere Art Moral geltend gemacht werden kann: die Kriegsmoral. Zur Kriegsführung benötigte Maßnahmen wie das Töten von Menschen erfahren in ihr eine Legalisierung, sofern diese Maßnahmen aus moralisch vertretbaren Gründen heraus erfolgen. Moralisch vertretbar war die Kriegsführung des NS-Staats keineswegs, auf ein Wertekonstrukt zur Orientierung konnte deshalb trotzdem nicht verzichtet werden. So entstand eine eigene, nationalsozialistisch konstruierte Moral, durch die selbst die schlimmsten Kriegsverbrechen noch als moralisch geboten und einwandfrei dargestellt werden konnten. Die nationalsozialistische Kriegsmoral stellte demnach eine extremistische Form der Kriegsmoral dar, sozusagen ein politisches Hilfsmittel zur Untermauerung der nationalsozialistischen Ideologien. Zur Verbreitung dieser neuen Vorstellung von Moral unter den Soldaten dienten unter anderem die Frontausgaben, die vom Propagandaministerium initiiert und auf regimekonforme Inhalte überprüft wurden. Dabei waren von Kriegs- bis zu kurzweili- ger Unterhaltungsliteratur beinahe alle Genres vertreten. Versteckt in oftmals harmlo- sen Geschichten sollten nationalsozialistische Moralvorstellungen beiläufig indoktri- niert und als wahr und richtig anerkannt werden. Für viele der in der Literatur erwähn- ten Moralvorstellungen ließen sich in den Frontausgaben des C. Bertelsmann Verlags, welcher sich als größter Lieferant der Wehrmacht auf dem neuen Markt einen Namen machte, Beispiele finden. Als moralisch integre Werte für Soldaten wurde dort bei- spielsweise Mut, Gehorsam, Entschlossenheit und Überzeugung propagiert. Durch Einsetzung ihrer Manneskraft sollten sie mit Begeisterung für die Sache kämpfen, de- ren moralische Richtigkeit nicht angezweifelt werden konnte. Sie sollten sich durch

151 Messerschmidt 1969, S. 316. 152 Vgl. Vowinckel 1989, S. 49. 153 Vgl. Bartov 1995, S. 95. 154 Vgl. Bartov 1995, S. 93 und 163.

119

unbegrenzte Liebe zum Vaterland auszeichnen und dieses aufopferungsvoll bis zum Tode verteidigen. Dieses Ziel wurde unterstützt durch die Vermittlung einer Trup- penzusammengehörigkeit und der Stilisierung verschiedener Feindbilder, welche den Kampf unausweichlich erscheinen ließen. Schon die Art und Weise, in der die für das Fallbeispiel herangezogenen Geschich- ten geschrieben waren, lässt die Manipulation deutlich erkennen: Sie waren ohne Aus- nahme aus Sicht der Soldaten geschrieben. Entweder zeichneten sie deren Gedanken nach oder es handelte sich um Gespräche zwischen mehreren Soldaten. Es waren keine Befehle, die von oben gegeben und mit denen die Soldaten konfrontiert wurden. Selbst wenn die Aussagen wie Befehle formuliert waren, sollten diese immer vielmehr die eigenen Denkweisen der Soldaten darstellen. Die nationalsozialistischen Ideologien wurden den Soldaten in den Geschichten sozusagen in den Mund gelegt und propa- gierten auf diese Weise das Idealbild eines integren Soldaten. Es konnte somit gezeigt werden, dass auch dies eine Funktion ist, die Bücher erfüllen können: Die Indoktrina- tion von Moralvorstellungen zur Erreichung eines bestimmten Zieles. Abschließend soll noch ein kurzer Blick auf die moralische Aufarbeitung des C. Ber- telsmann Verlags nach Ende des zweiten Weltkriegs geworfen werden. Sehr schnell nach Kriegsende konnte er seine Arbeit wiederaufnehmen. Dabei kam es seitens des Verlags zu keinerlei kritischer Auseinandersetzung, keinem Eingeständnis einer Mit- schuld. Ganz im Gegenteil: Er stellte sich selbst als christlicher Widerstandsverlag dar. Entlarvende Unterlagen wurden unterschlagen oder beschönigt. 1985 wurde dieses Selbstbild im 150-jährigen Jubiläumsband weiter gefestigt und sollte noch bis in die 1990er-Jahre Bestand haben. Als dann jedoch kritische Stimmen laut wurden, beauf- tragte der Verlag in Eigeninitiative eine unabhängige historische Kommission, um die eigene Geschichte und Rolle im dritten Reich überprüfen zu lassen. Die Ergebnisse, welche 2002 unter dem Namen Bertelsmann im Dritten Reich veröffentlicht wurden, unterstrichen die eindeutige Regimekonformität des Verlags.155 Zu der Verleugnung dieser Rolle heißt es dort: Die Ablehnung all dessen, was als Eingeständnis politischer Schuld und moralischen Versagens hätte gedeutet werden können, war 1945 keine Sache allein der Unternehmerschaft, sondern Ausdruck einer gesellschaftlichen Mentalität, deren langsamer Abbau die Bundesrepublik noch über Jahrzehnte begleiten sollte.156 Der Verlag stellte also mit seiner Reaktion keinen Einzelfall dar. Dennoch ist es be- zeichnend, dass es über 50 Jahre dauerte, bis er offen zu seiner Geschichte stehen konnte.

Literaturverzeichnis

ADAM, CHRISTIAN: Lesen unter Hitler. Autoren, Bestseller, Leser im Dritten Reich. Berlin 2010.

155 Vgl. Schwender / Ebert 2009, S. 28 f. 156 Friedländer et al. 2002, S. 561.

120

BARTOV, OMER: Hitler Wehrmacht. Soldaten, Fanatismus und die Brutalisierung des Krieges. Reinbek bei Hamburg 1995. BERGHOFF, HARTMUT: Vom Gütersloher Kleinverlag zum globalen Medien- und Dienstleistungskonzern. Grundzüge der Unternehmensgeschichte des Hauses Ber- telsmann 1835 bis 2010. In: Müller, Helen (Hrsg.): 175 Jahre Bertelsmann – eine Zukunftsgeschichte. Gütersloh 2010, S. 6–83. BIALAS, WOLFGANG: Nationalsozialistische Ethik und Moral. Konzepte, Probleme, offene Fragen. In: Bialas, Wolfgang / Fritze, Lothar (Hrsg.): Ideologie und Moral im Nationalsozialismus (Schriften des Hannah-Arendt-Instituts für Totalitaris- musforschung 50). Göttingen 2014a, S. 23–63. BIALAS, WOLFGANG: Moralische Ordnungen des Nationalsozialismus (Schriften des Hannah-Arendt-Instituts für Totalitarismusforschung 52). Göttingen 2014b. BINS, LEBRECHT: Erfolgsstrategie Moral. Das neue Erziehungs- und Bildungskon- zept. Berlin 2003. BÜHLER, HANS-EUGEN / BÜHLER, EDELGARD: Der Frontbuchhandel 1939–1945. Organisation, Kompetenzen, Verlage, Bücher. Eine Dokumentation (Archiv für Geschichte des Buchwesens 3). Frankfurt am Main 2002. ECHTERNKAMP, JÖRG: Kriegsschauplatz Deutschland 1945. Leben in Angst – Hoff- nung auf Frieden: Feldpost aus der Heimat und von der Front. Paderborn 2006. ECKHARDT, HEINZ-WERNER: Die Frontzeitungen des deutschen Heeres 1939–1945 (Schriftenreihe des Instituts für Publizistik der Universität Wien 1). Wien / Stutt- gart 1975. FISCHER, ERNST / WITTMANN, REINHARD / BARBIAN, JAN-PIETER: Geschichte des deutschen Buchhandels im 19. und 20. Jahrhundert: Drittes Reich. Teilband 1 (Geschichte des deutschen Buchhandels im 19. und 20. Jahrhundert 3). Berlin / Boston 2015. FRIEDLÄNDER, SAUL et al. (Hrsg.): Bertelsmann im Dritten Reich. München 2002. FRITZE, LOTHAR: Hatten die Nationalsozialisten eine andere Moral? In: Bialas, Wolfgang / Fritze, Lothar (Hrsg.): Ideologie und Moral im Nationalsozialismus (Schriften des Hannah-Arendt-Instituts für Totalitarismusforschung 50). Göttin- gen 2014, S. 65–106. GOOTE, THOR: Glühender Tag. Männer in Bewährung. Gütersloh 1940. GRAU, ALEXANDER: Vom Wert und Unwert der Werte. In: Gottbert, Joachim von / Prommer, Elisabeth (Hrsg.): Verlorene Werte? Medien und die Entwicklung von Ethik und Moral (Medien, Alltag und Kultur 4). Konstanz 2008, S. 15–32. HAAK, SEBASTIAN: »And Feel the Tingle of the Greatest Game of Them All.« Über eine (verdrängte) Facette der Wahrnehmung von Krieg und Gewalt in den Briefen US-amerikanischer Soldaten. In: Didczuneit, Veit / Ebert, Jens / Jander, Thomas (Hrsg.): Schreiben im Krieg. Schreiben vom Krieg. Feldpost im Zeitalter der Weltkriege. Essen 2011, S. 175–184.

121

HAAS, PETER J.: Militärische Ethik im Totalen Krieg. In: Bialas, Wolfgang / Fritze, Lothar (Hrsg.): Ideologie und Moral im Nationalsozialismus (Schriften des Han- nah-Arendt-Instituts für Totalitarismusforschung 50). Göttingen 2014, S. 177–192. KELLERWESSEL, WULF: Universalismus und moralischer Relativismus. Zu einigen As- pekten der modernen Ethikdebatte und dem Nationalsozialismus. In: Bialas, Wolfgang / Fritze, Lothar (Hrsg.): Ideologie und Moral im Nationalsozialismus (Schriften des Hannah-Arendt-Instituts für Totalitarismusforschung 50). Göttin- gen 2014, S. 349–367. KIPP, MICHAELA: Großreinemachen im Osten. Feindbilder in deutschen Feldpost- briefen im Zweiten Weltkrieg. Frankfurt am Main 2014. KOCH, MAGNUS: Fahnenfluchten. Deserteure der Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg – Lebenswege und Entscheidungen (Krieg in der Geschichte 42). Paderborn 2008. LATZEL, KLAUS: Die Gefallenen. Zur Geschichte und Wiederkehr einer Pathosfor- mel. In: Didczuneit, Veit / Ebert, Jens / Jander, Thomas (Hrsg.): Schreiben im Krieg. Schreiben vom Krieg. Feldpost im Zeitalter der Weltkriege. Essen 2011, S. 87–101. MESSERSCHMIDT, MANFRED: Die Wehrmacht im NS-Staat. Zeit der Indoktrination. Hamburg 1969. NEITZEL, SÖNKE / WELZER, HARALD: Soldaten. Protokolle vom Kämpfen, Töten und Sterben. 3. Aufl. Frankfurt am Main 2011. PEINER, WERNER: Das Wiedersehen. Gütersloh 1943. PURZELBAUM, PETER: Bei Nathan schießt‘s. In: Banzhaf, Johannes (Hrsg.): Lustiges Volk. Ein heiteres Geschichtenbuch. Gütersloh 1940, S. 209–212. RUGE, FRIEDRICH: Ottern und Drachen. Lustige Treibminen auch für Landratten. 2. Aufl. Gütersloh 1942. RUPPELT, GEORG: Persönliches Geleitwort. In: Weigand, Jörg: Frontlektüre. Lese- stoff für und von Soldaten der deutschen Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg (Le- sesaal 33). Hameln 2010, S. 3–6. SCHMÜCKER, REINOLD: Krieg als Mittel der Moral? Zur Legitimität humanitärer In- terventionen. In: Orsi, Giuseppe et al. (Hrsg.): Nationale Interessen und internati- onale Politik (Rechtsphilosophische Hefte 10). Frankfurt am Main 2005, S. 7–41. SCHWENDER, CLEMENS / EBERT, JENS: Quod non est in actis, non est in mundo. Das Feldpostarchiv in Berlin. In: Das Archiv. Magazin für Post- und Telekommu- nikationsgeschichte 4 (2009), S. 86–105. URL: http://www.feldpost-ar- chiv.de/pdf/Archiv_04_2009_Schwender_Ebert.pdf [02.10.2016]. VOSSLER, FRANK: Propaganda in die eigene Truppe. Die Truppenbetreuung in der Wehrmacht 1939–1945 (Krieg in der Geschichte 21). Paderborn 2005. URL: http://digi20.digitale-sammlungen.de/de/fs1/object/dis- play/bsb00045124_00001.html?zoom=1.00 [02.10.2016].

122

VOWINCKEL, GERHARD: Macht und Moral. Einige Thesen zu den Machtbegriffen unterschiedlicher moralischer Urteilsformen. In: Vowinckel, Gerhard (Hrsg.): Macht und Moral. Soziologische Betrachtungen (Beiträge aus dem Fachbereich Pädagogik der Universität der Bundeswehr Hamburg 6). Hamburg 1989, S.45– 59. WALDMANN, HANSPETER: Die Moral des 21. Jahrhunderts. München 2008. WEIGAND, JÖRG: Frontlektüre. Lesestoff für und von Soldaten der deutschen Wehr- macht im Zweiten Weltkrieg (Lesesaal 33). Hameln 2010. WITTMANN, REINHARD et al.: Geistige Stärkung für Front und Heimat. Der Boom der Jahre 1939–1942. In: Friedländer, Saul et al. (Hrsg.): Bertelsmann im Dritten Reich. München 2002, S. 377–444. WUNDSHAMMER, BENNO: Flieger – Ritter – Helden. Mit dem Haifischgeschwader in Frankreich und andere Kampfberichte. Gütersloh 1941.

123

Jennifer Schrepfer Der literarische Tabubruch Im Krebsgang von Günter Grass: Auslöser eines kollektiven Identitätswandels?

1 Identitätsbildung über Medien

Das Selbstverständnis einer Person, einer Gruppe oder einer ganzen Nation ist als de- ren kulturelle Identität, die sich aus Werten, Gewohnheiten und Fähigkeiten zusam- mensetzt, zu verstehen.1 Die Identität einer Person bildet sich aus, indem sie sich für oder gegen etwas entscheidet. Diese Entscheidungs- und Urteilsfindung orientiert sich in der Regel an Werten.2 Als Wert kann eine bestimmte Auffassung verstanden werden, die einer Person oder Gruppe zeigt, welches Verhalten erstrebenswert ist.3 Werte ver- leihen somit dem gesellschaftlichen Leben eine gewisse Ordnung und Struktur. Sie können nicht von einer außenstehenden Person oder einer gesellschaftlichen Institu- tion festgesetzt und gesteuert werden, sondern entwickeln sich von selbst und besitzen eine eigenständige Dynamik.4 Sie sind weder unwiderruflich, noch müssen sie dauer- haft gelten.5 Die Wertebildung ist abhängig von der Kommunikation der Individuen, denn erst aus sozialen Beziehungen bzw. Interaktionen können sich Werte herausbil- den.6 Die Kommunikation muss kontinuierlich fortgeführt werden, damit Werte dauer- haft präsent bleiben und so weiterhin als Wegweiser fungieren können.7 An dieser Stelle spielen die Medien eine wichtige Rolle, denn in »der medialen Kommunikation spiegelt sich die Gesellschaft selbst.«8 Dabei gibt der Kommunikationsprozess jedoch nicht eins zu eins die Gesellschaft wieder, sondern das von den Medien vorgelegte Ab- bild ist »ein nach ihrer Rationalität selektiertes Bild der Gesellschaft […]«.9 Die Ent- scheidung, wie die Gesellschaft dargestellt und welches Bild verbreitet wird, liegt bei den Medien, denn während ihres Arbeitsprozesses wählen sie die für sie relevanten In- formationen aus.10 Sie beeinflussen, wie sich die Gesellschaft selbst sieht, und wirken somit auf deren Selbstverständnis ein.

1 Vgl. Kraft 2015, S. 118. 2 Vgl. Reichertz 2008, S. 66–69. 3 Vgl. Kluckhohn 1965, S. 395. 4 Vgl. Duncker 2000, S. 3 f. 5 Vgl. Grau 2008, S. 17. 6 Vgl. Duncker 2000, S. 3 f. 7 Vgl. Grau 2008, S. 15. 8 Gerhards 1994, S. 87. 9 Gerhards 1994, S. 87. 10 Vgl. Berger / Luckmann 1995, S. 57.

124

Medien lösen zugleich Wertediskurse aus.11 Beispielsweise können Werte und deren Nutzen problematisiert werden, indem in der medialen Auseinandersetzung Argu- mente, Kritik sowie Lösungen des Problems vorgetragen werden.12 Demnach ist dieser medial, öffentlich geführte Diskurs auch ein gesellschaftlicher, im Kollektiv13 beste- hender. Dahingehend strukturieren und gestalten mediale Diskurse das Kollektiv und sind identitätsstiftend.14 Sie müssen jedoch nicht zwingend die existierenden Werte einer Person oder Nation als Diskursgegenstand vorweisen, um schlussendlich einen Identitätswandel auslösen zu können. In Verbindung mit den Werten einer Gesell- schaft stehen ebenfalls deren Tabus, die gleichermaßen eine wichtige Funktion besit- zen. Tabus können ebenso die Identitätsbildung beeinflussen, indem sie medial kom- muniziert werden und sich in einem medialen, öffentlichen Diskurs wiederfinden; etwa ausgelöst durch einen Tabubruch.15 Ob der Diskurs allerdings zu einer Aufhe- bung, Verstärkung oder Abschwächung des Tabus führt, ist nicht sicher.16

1.1 Fragestellung, Gegenstand und Vorgehensweise

Inwiefern die Medien eine identitätsstiftende Funktion haben und erfüllen, soll an- hand des innerhalb der Novelle Im Krebsgang von Günter Grass vorkommenden Tabubruchs untersucht werden. Zu Beginn wird dargelegt, was unter Tabu sowie Tabubruch zu verstehen ist und wie diese zu klassifizieren sind. Die Hintergrundge- schichte des in der Novelle behandelten Themas dient der Veranschaulichung der Ta- buisierung und wird um den Vorgang der Tabuverletzung, die darauffolgenden Reak- tionen, die Motive des Autors und dessen Strategie ergänzt. Die Medien unterbreiten ein Abbild der Gesellschaft, indem sie deren Themen öf- fentlich machen.17 Um zu erfahren, inwiefern der literarische Tabubruch Auswirkun- gen auf die kollektive Identität der Deutschen hatte, gibt es die Möglichkeit, die Agenda der Medien zu begutachten. Zurückzuführen ist dies auf den Agenda-Setting- Ansatz, der besagt, dass die Medienagenda, welche die Anordnung der ausgewählten Themen in den Medien bezeichnet, die Publikumsagenda beeinflusst.18 Demnach be- schäftigen sich die Rezipienten mit dem Gegenstand, der auch auf der Medienagenda zu finden ist. Die Berichterstattung bestimmt somit die relevanten Themen für das Kollektiv19 und folglich den gesellschaftlichen Diskurs. Daher widmet sich der prakti- sche Teil dieser Arbeit der Agenda ausgewählter Medien. Mittels Inhaltsanalyse wird

11 Vgl. Grau 2008, S. 17. Diskurse transportieren und vermitteln Wissen sowie unterstützen Indivi- duen, die Realität zu verstehen und sich in diese einordnen zu können. Vgl. Jäger 2001, S. 149; Jäger 2011, S. 94. 12 Vgl. Peters 1994, S. 45–47. 13 Das Kollektiv meint an dieser Stelle »[…] das Personal von sozialen Systemen, das als solches immer eine abzählbare Vielheit von Individuen umfasst, die […] einander zugeordnet und also gesammelt und verbunden sind.« Messelken 2002, S. 277. 14 Vgl. Jäger 2011, S. 94. 15 Diese Aspekte werden innerhalb des 2. Kapitels belegt und veranschaulicht. 16 Vgl. Gottberg 2008, S. 58 f. 17 Vgl. Rhomberg 2008, S. 119. 18 Vgl. Maurer 2010, S. 11. 19 Vgl. Maurer 2010, S. 84.

125

untersucht, ob der Tabubruch bzw. der dadurch ausgelöste, mediale Diskurs zu einer Abschwächung, Verstärkung oder Enttabuisierung geführt und welchen Einfluss dieser auf den gesellschaftlichen Diskurs genommen hat. Anschließend soll eruiert werden, ob ein kollektiver Identitätswandel möglich erscheint.

1.2 Gedächtnis und Diskurs

Forschung in Bezug auf Günther Grassʼ Werke steht in enger Verbindung zur Ge- dächtnisforschung,20 sodass auch in dieser Arbeit auf den Begriff ›kollektives Gedächt- nis‹ zurückgegriffen wird. Nach Jan Assmann entsteht das individuelle Gedächtnis durch einen Kommunikationsprozess, der innerhalb einer sozialen Gruppe eingebettet ist. Wird diese Interaktion ausgesetzt, kann das Gedächtnis nicht fortbestehen und das Individuum ist nicht mehr in der Lage, sich zu erinnern. Es folgt das Vergessen. Zudem ist die Erinnerung nur möglich, wenn das Wissen oder die Erfahrung im kollektiven Gedächtnis platziert wurde und dort ausfindig gemacht werden kann.21 Bei Aleida Ass- mann wird das Gedächtnis einer Person »als Kollektivbegriff für angesammelte Erin- nerungen […]«22 aufgeführt. Das kommunikative Gedächtnis umschließt indes die Er- innerungen der gegenwärtigen Vergangenheit, solche, die das Individuum mit seinen Mitmenschen teilt.23 Diese Gedächtnisform beinhaltet alle Erfahrungen und Erinne- rungen über mehrere, in der Regel drei bis fünf, Generationen hinweg. Durch Kom- munikation wird das Erlebte miteinander geteilt und eine gemeinsame Erinnerungs- geschichte gestaltet.24 Wenn alle Angehörigen der Generationen verschieden sind,25 kann der Zusammenschluss jedoch nicht mehr fortleben.26 Das kollektive Gedächtnis bleibt hingegen über Generationen hinweg bestehen, indem es an ein auf Solidarismus gründendes Kollektiv gebunden ist.27 »Das Kollektiv ist der Träger des Gedächtnisses, das Gedächtnis stabilisiert das Kollektiv.«28 Entscheidend für das kollektive Gedächtnis ist ein Ereignis, das zu einem Leitbild oder zu einer Symbolfigur für das Kollektiv wird und dieses Kollektiv daraufhin prägt.29 Zum besseren Verständnis wird die Struktur eines Diskurses kurz erläutert. Der Diskurs als Wissensträger strukturiert und formt die Gesellschaft.30 Er besteht aus Dis- kurssträngen und diese wiederum aus Diskursfragmenten. Als Diskursstrang kann ein diskursiver Verlauf zu einem bestimmten Thema bezeichnet werden und als Diskurs- fragment einzelne Texte oder Teile aus Texten, die sich zu diesem Thema äußern. In- nerhalb eines Diskursstrangs kann ein diskursives Ereignis erfolgen, das als solches den

20 Vgl. beispielsweise Prinz 2004; Paaß 2009; Mazurek 2011. 21 Vgl. Assmann 1992, S. 36 f. in Anlehnung an Halbwachs 1966. 22 Assmann / Frevert 1999, S. 35. 23 Vgl. Assmann 1992, S. 50. 24 Vgl. Assmann / Frevert 1999, S. 36 f. 25 Vgl. Assmann 1992, S. 50. 26 Vgl. Assmann / Frevert 1999, S. 37. 27 Vgl. Assmann / Frevert 1999, S. 41 f. 28 Assmann / Frevert 1999, S. 42. 29 Vgl. Assmann / Frevert 1999, S. 42. 30 Vgl. Jäger 2001, S. 149; Jäger 2011, S. 94.

126

Verlauf richtungsweisend stark beeinflussen kann. Darüber hinaus sind Diskursstränge auf unterschiedlichen Ebenen, wie zum Beispiel Politik, Alltag, Wissenschaft oder Me- dien, zu verorten, wobei sich ein Wissenschaftsdiskurs durchaus auch auf der Medien- ebene positionieren lässt. Auf diesen Ebenen können zudem verschiedene Diskurspo- sitionen, etwa Personen oder Medien, existieren.31

1.3 Forschungsliteratur

Alle drei im Rahmen dieser Arbeit behandelten Forschungsgebiete, etwa die Tabufor- schung, die Erinnerungskultur der Deutschen und Günter Grass als Autor sowie des- sen Erzählstrategien, sind hinreichend untersucht. Beiträge zu Tabu sowie Tabubruch sind in zahlreichen Forschungsgebieten vertreten, so etwa innerhalb der Soziologie,32 Ethnologie,33 Ethik34 oder Semantik.35 Vor allem in den Sprachwissenschaften sind Analysen zum Forschungsgegenstand ›Tabu‹ zu finden.36 Herausragende und rich- tungsweisende Wissenschaftler der Tabuforschung sind unter anderem Sigmund Freud, William Robertson Smith und James George Frazer,37 die allerdings an dieser Stelle nur kurz erwähnt werden sollen. Denn obgleich etwa das Werk von Sigmund Freud Totem und Tabu38 als wichtiger Einschnitt in der Tabuforschung gilt,39 so muss doch aufgrund des Umfangs der vorliegenden Untersuchung auf dessen nähere Be- trachtung und die Darstellung unterschiedlicher Forschungsrichtungen innerhalb der Tabuforschung verzichtet werden. Die vorliegende Arbeit berücksichtigt in erster Linie das gegenwärtige Verständnis: Hierzu wurden neben aussagekräftigen Lexikonartikeln zum Begriff Tabu vor allem Beiträge von Hartmut Schröder verwendet.40 Die Novelle von Grass behandelt unterschiedliche Erinnerungsstrategien zu einem Schiffsuntergang, der sich nach Kriegsende ereignete. Günter Grass und seine Werke stehen im direkten Zusammenhang mit der Gedächtnisforschung und der Erinne- rungskultur der Deutschen. Die Deutung und Untersuchung der Werke des Autors werden meist im Hinblick auf das kollektive und kommunikative Gedächtnis vorge- nommen.41 Erinnerungskulturen werden als Forschungsbereich innerhalb der Kultur- wissenschaft untersucht und stehen im engen Zusammenhang mit der Gedächtnisfor- schung.42 Um die Erinnerungskultur der Deutschen in dieser Arbeit zu rekonstruieren, wird sich zum einen allgemeiner Forschungsarbeiten zu der Nachkriegszeit oder zum

31 Vgl. Jäger 2011, S. 107–110. 32 Vgl. beispielsweise Seibel 1990. 33 Vgl. beispielsweise Streck 1987. 34 Vgl. beispielsweise Fischer / Kacianka 2007. 35 Vgl. beispielsweise Ullmann 1973. 36 Vgl. beispielsweise Günther 1992; Kuhn 1987, S. 19–35. 37 Vgl. Gutjahr 2008, S. 32–35. 38 Vgl. Freud 1948. 39 Vgl. Gutjahr 2008, S. 19. 40 Vgl. Schröder 1995; Schröder 2002; Schröder 2003. 41 Vgl. beispielsweise Paaß 2009; Mazurek 2011. 42 Vgl. Erll 2004, S. 3.

127

Einzug der Alliierten bedient43 und zum anderen auf Untersuchungen zurückgegriffen, die die Nachkriegszeit in Verbindung mit dem kommunikativen und kollektiven Ge- dächtnis analysieren.44

2 Theoretische Einführung zu Tabu und Tabubruch

2.1 Definition und Funktionen des Tabus

Das Wort tabu stammt aus dem Polynesischen und bezeichnet dort etwas Besonderes, Nicht- Alltägliches, Heiliges, das vom Profanen, Alltäglichen zu separieren ist und dessen Verletzung von einer göttlichen oder dämonischen Kraft bestraft wird, somit etwas, das mit einem Bann oder Fluch belegt ist.45 Der Begriff Tabu kann eine lange Bedeutungsgeschichte vorweisen und ist seit einer Südseereise von James Cook46 in Europa publik. Im 19. Jahrhundert wurden darüber hinaus zusätzliche Sinngehalte erschlossen.47 In dieser Arbeit soll es allerdings genügen, das gegenwärtige Verständnis zu erläutern und auf die Rolle und Aufgaben eines Tabus in der modernen Gesellschaft hinzuweisen. Eine vollständige und ausführliche Dar- stellung der Geschichte der Wortbedeutung wird daher ausgeklammert. Um einen leichteren Einstieg zu ermöglichen, soll lediglich die Grundbedeutung im heutigen deutschen Sprachgebrauch erwähnt werden. Der Duden definiert zum einen das Tabu als ein der Völkerkunde entsprungenes »Gebot bei [Natur]völkern, bes. geheiligte Per- sonen, Tiere, Pflanzen, Gegenstände zu meiden […]«48 und zum anderen als ein »un- geschriebenes Gesetz, das aufgrund bestimmter Anschauungen innerhalb einer Gesell- schaft verbietet, bestimmte Dinge zu tun«.49 Bereits der Ursprungsbedeutung des Be- griffs, auf der sich die anfangs zitierte Definition von Karin Seibel bezieht, ist zu ent- nehmen, dass das Tabu etwas Verbotenes bezeichnet, da es von der Normalität ab- weicht und dessen »Verletzung […] bestraft wird […]«.50 Allerdings bezieht sich dieses ursprüngliche Verständnis stark auf etwas Heiliges, Religiöses sowie Dämonisches und Magisches. Anstelle dieser Bedeutung ist im 20. Jahrhundert eine andere getreten, wel- che die Tabus als Bedingung für ein geregeltes Zusammenleben der Mitglieder einer Gemeinschaft definiert.51 Tabus wird danach die Aufgabe zuteil, die Gesellschaft zu schützen, indem sie alles Gefährliche kennzeichnen.52 Auch nach heutigem Verständ- nis benennen Tabus etwas nicht Alltägliches, das nach den bestehenden Moralvorstel- lungen zu unterlassen ist. Sie geben bestimmte, zur Einhaltung gebotene Regeln vor,

43 Vgl. beispielsweise Echternkamp 2003; Reichenberger 1952. 44 Vgl. beispielsweise Assmann / Frevert 1999. 45 Seibel 1990, S. 4. 46 James Cook war um 1800 ein britischer Seefahrer und Entdecker. Vgl. BBC History. 47 Vgl. Marschall 1998, S. 877. 48 o. V. 2013, S. 1042. 49 Duden online: Tabu. 50 Seibel 1990, S. 4. 51 Vgl. Schröder 2003, S. 309. 52 Vgl. Kraft 2015, S. 44 f.

128

die im Falle einer Verletzung mit Sanktionen verbunden sind.53 Nach Schmidt sind Tabus soziale Verbote und individuelle Meidungsgebote.54 Sie können sich auf Hand- lungen, Gedanken und Gefühle, Gegenstände und bestimmte Themen beziehen.55 Im Meyers Enzyklopädischen Lexikon wird der Ausdruck Tabu […] in verallgemeinerter Bedeutung als Bez. für all jene ›verbotenen‹ Themen, Bereiche, Dinge benutzt, über die ›man‹ nicht spricht und die ›man‹ nicht tut, deren ›Verbot‹ (Tabuierung, Ta- buisierung) aber im allgemeinen weder rational legitimiert noch funktional begründet ist.56 Der letzte Aspekt in dieser Definition wird auch von Schröder thematisiert. Um ein Tabu klarer zu umreißen, greift er auf den Vergleich mit einem direkten Verbot zu- rück. Zum einen sind Tabus nicht wie Verbote schriftlich festgelegt,57 sondern das Wissen um ihre Existenz wird vorausgesetzt.58 Zum anderen können Verbote zur Spra- che kommen und im Diskurs der Öffentlichkeit stehen. Es ist nicht untersagt, über das Verbot zu diskutieren bzw. es in Frage zu stellen und dessen Daseinsberechtigung zu ergründen. Das Tabu ist hingegen kein Teil der Diskussion. Es wird nicht darüber gesprochen und es findet in der Regel59 keine Auseinandersetzung darüber statt.60 Dar- über hinaus sind nach Schröder Tabus kontextabhängig und nicht allgemeingültig.61 Sie besitzen keine uneingeschränkte Gültigkeit und es muss immer der jeweilige Gel- tungsbereich für das Tabu abgesteckt werden, denn der Inhalt eines Tabus kann sich je nach Bezugsgruppe, Zeit und Ort ändern. Die Bezugsgruppe kann eine Person, eine Gruppe, zum Beispiel eine Berufsgruppe, eine Gesellschaftsschicht sowie eine ganze Nation sein. Die Meidungsgebote sind ebenso wandelbar und können sich mit der Zeit ändern, wie etwa die Tabuisierung von Homosexualität. Zudem können Tabus auch an einen bestimmten Ort gebunden sein. Beispielsweise die Räumlichkeiten einer Arztpraxis, innerhalb derer der Arzt auf sogenannte Berührungstabus nicht zu achten braucht.62 Entsprechend der Funktionen von Werten besitzen Tabus ebenso eine Regelungs- funktion.63 Tabus stehen im Zusammenhang mit den essenziellen Werten der Gesell- schaft. Sie sind dem Einzelnen bekannt und werden nicht hinterfragt. Das Handeln und Verhalten der Menschen sollen aufgrund der Tabusetzung gesteuert bzw. geordnet werden, sodass das Miteinander in der Gesellschaft funktionieren kann. Mittels Tabus wird den Mitgliedern einer Gruppe oder Gemeinschaft eine Anleitung gegeben, die als Orientierungshilfe fungiert und den Mitgliedern vermittelt, was nicht gesagt und was

53 Vgl. Benthien / Gutjahr 2008, S. 7. 54 Vgl. Schmidt 1987, S. 218. Laut Gutjahr herrscht innerhalb der Tabuforschung Konsens darüber, dass Tabus Meidungsgebote sind. Vgl. Gutjahr 2008, S. 19. 55 Vgl. Banse 2007, S. 14. 56 o. V. 1978, S. 146. 57 Vgl. Schröder 2003, S. 310. 58 Vgl. Kuhn 1987, S. 26. 59 Außer bei einem Tabubruch. Vgl. Kapitel 2.3 Definition und Funktion des Tabubruchs. 60 Vgl. Schröder 1995, S. 5. 61 Vgl. Schröder 2002, S. 17. 62 Vgl. Kraft 2015, S. 73–76. 63 Vgl. Benthien / Gutjahr 2008, S. 7.

129

nicht gemacht werden darf.64 »Anders gewendet: Gesellschaftliches Zusammenleben ist ohne Tabus undenkbar, weil der Einzelne ansonsten ohne implizites Wissen über Ver- haltensgebote […] leben würde.«65 Tabus markieren einen Bereich, in dem das Mit- glied sich uneingeschränkt bewegen kann. Es wird ein Zugehörigkeitsgefühl vermittelt, da Tabus gemäß den Werten einer Gruppe, Gemeinschaft oder Gesellschaft identitäts- stiftend sind.66 Sie regeln den sozialen Ein- und Ausschluss und tragen somit zur kol- lektiven und individuellen Identitätsbildung bei.67 Tabus haben »[…] eine mitent- scheidende Rolle bei der Ausbildung, Aufrechterhaltung und Weiterentwicklung indi- vidueller und kollektiver kultureller Identität […]«68, denn die Entscheidung darüber, ob ein Thema, ein Gedanke oder eine Handlung zu einem Tabu erklärt wird oder nicht, ist auf die Identität des Einzelnen oder der Gesellschaft zurückzuführen.69 Der Grund, warum das Individuum letztendlich Tabus akzeptiert und danach sein Verhal- ten ausrichtet, ist die Angst vor dem Ausschluss aus der Gruppe, zu der es aufgrund des gemeinsamen Identitätskonstrukts gehört.70 Zusammenfassend ist zu sagen, dass die Definition eines Tabus von mehreren Fak- toren abhängig ist und es keine allgemeingültige Definition gibt. Die Benennung eines Tabus als Meidungsgebot ist zwar innerhalb der Forschung weitestgehend akzeptiert und auch hinsichtlich seiner Funktionalität gibt es einen Grundkonsens, allerdings ist ein Tabu und dessen Inhalt aufgrund seiner Kontextabhängigkeit stets individuell zu definieren. Warum ein Tabu ein Tabu ist, kann nur über die Funktion und über die Motive für die Entstehung erschlossen werden.71 Dazu ist es unumgänglich, den Ur- sprung bzw. die Entstehungsgeschichte des Tabus zu untersuchen und sich mit dessen Gegenstand auseinanderzusetzen. Da diese Tabukomplexität nur mithilfe einer genau- eren Differenzierung deutlich werden kann,72 sollen in einem nächsten Schritt die un- terschiedlichen Erscheinungsformen von Tabus dargestellt werden. Nur durch die Klassifizierung können weitere Merkmale erschlossen und Definitionsversuche von Tabus dargestellt werden.

2.2 Klassifizierung der Tabus

Es gibt unterschiedliche Herangehensweisen, Tabus zu benennen. An erster Stelle kann zwischen dem Tabu und dem Vorgang der Tabuisierung unterschieden werden. Für Heilmann ist das Tabu ein Thema, das vollständig ausgeblendet wird, wohingegen Tabuisierung das Thema teilweise billigt und eine bedingte Auseinandersetzung auf eine bestimmte Art und Weise ermöglicht.73 Banse erklärt indessen, dass Tabus aus

64 Vgl. o. V. 1978, S. 146. 65 Gutjahr 2008, S. 20. 66 Vgl. Gutjahr 2008, S. 19–21. 67 Vgl. Klein 2008, S. 249. 68 Kraft 2015, S. 117 f. 69 Vgl. Kraft 2015, S. 118. 70 Vgl. Kraft 2015, S. 118 f. 71 Vgl. Seibel 1990, S. 19. 72 Vgl. Schröder 1995, S. 4. 73 Vgl. Heilmann 2008, S. 14.

130

dem Vorgang der Tabuisierung resultieren, denn Tabus werden für bzw. durch jeman- den konstruiert.74 Der Vorschlag von Heilmann ist schwer nachzuvollziehen und es wird für diese Arbeit sinnvoller sein, das Tabu als Folge der Tabuisierung zu verstehen. Eine mögliche, allerdings sehr oberflächliche Einteilung ist bei Reimann im Staats- lexikon zu finden. Es können zum einen Tabuobjekte und zum anderen Bereiche der Gesellschaft, die tabuisiert bzw. innerhalb derer etwas tabuisiert wird, unterschieden werden. Zu den denkbaren Objekten zählt er Menschen, Tiere, Pflanzen, Orte, Nah- rungsmittel oder Ruhetage.75 Schröder ergänzt allerdings diese Aufzählung und fügt hinzu, dass nicht die Objekte selbst tabuisiert werden, sondern dass diese Objekte im Zusammenhang mit Aktionen und Berührungen vermieden werden.76 Als tabuisierte Bereiche führt Reimann Sexualität, Sucht, Erkrankungen, Tod, Armut oder Korrup- tion auf.77 Schröder teilt hingegen Tabus in nonverbale und verbale Tabus ein.78 Als nonverbale Tabus gelten nach ihm, in Anlehnung an Ulla Günther, tabuisierte Hand- lungen, Sachverhalte und Objekte.79 Solche Tabus gehören zu den sozialen Grundsät- zen einer Gesellschaft und legen fest, welche Handlungen und welches Verhalten ver- mieden80 sowie welche Personen und Objekte umgangen werden sollen.81 Die verbalen Tabus beziehen sich auf Wörter und Themen.82 Entweder wird die Kommunikation über Themen und die Konzeptionen von Sachverhalten gänzlich untersagt oder nur in einer bestimmten Form zugelassen, indem gewisse Wörter und Begriffe vermieden werden. Demnach werden auch sprachliche Ausdrücke tabuisiert.83 Zudem sind solche Kommunikations- und Sprachtabus auch im Zusammenhang mit den Handlungs- o- der Objekttabus möglich.84 Tabuisierte Kommunikation und Sprache sollen an dieser Stelle die nonverbalen Tabus verstärken,85 indem selbst die Verständigung über Vor- gänge oder Dinge ausgespart wird.86 Tabus sind stark kontextabhängig – ein Merkmal, das stets bei der Klassifizierung berücksichtigt werden muss. Denn je nach Kontext lassen sich die Tabus einteilen in absolute (universelle Geltung) und relative (einge- schränkte Geltung) Tabus. Des Weiteren können nach Schröder permanente und tem- poräre Tabus identifiziert und nach Großraumkulturen, Subkulturen oder Individuen unterschieden werden.87 Um den Geltungsbereich noch differenzierter betrachten zu können, schlägt Ertelt-Vieth zusätzlich vor, den Tabuapparat von Schröder um den

74 Vgl. Banse 2007, S. 14. 75 Vgl. Reimann 1989, S. 422. 76 Vgl. Schröder 2003, S. 311. 77 Vgl. Reimann 1989, S. 422. 78 Vgl. Schröder 2003, S. 310 f. 79 Vgl. Schröder 1995, S. 4; Günther 1992, S. 39–42. 80 Vgl. Schröder 2002, S. 17. 81 Vgl. Rothe / Schröder 2002b, S. 21. 82 Vgl. Rothe / Schröder 2002b, S. 21. 83 Vgl. Schröder 2002, S. 17. 84 Vgl. Schröder 1995, S. 4 f. 85 Vgl. Schröder 2003, S. 310 f. 86 Vgl. Schröder 1995, S. 5. 87 Vgl. Schröder 2002, S. 17.

131

Adressaten/Träger des Tabus und um den Empfänger des Meidungsgebots zu erwei- tern. Da Tabus nicht schriftlich festgehalten oder bekannt gegeben werden, sind sie meist nur über die Folgen oder nur durch den Vorgang des Tabuisierens, also der Mei- dungshandlung,88 zu erkennen.89 Auch Kraft befasst sich mit Handlungs- sowie Sprachtabus und verweist im Zusam- menhang mit den unterschiedlichen Erscheinungsformen auf die Kontextabhängig- keit. Nach seiner Auffassung verbieten Handlungstabus das Praktizieren gewisser Ak- tivitäten. In Deutschland herrscht uneingeschränkter Konsens, dass das laute Aufsto- ßen zu Tisch in der Öffentlichkeit als Tabu gilt. Daran ist vor allem die Kontextsensi- bilität zu erkennen. Lautes Aufstoßen am Tisch war im Mittelalter ein Hinweis auf Wohlergehen, heute gilt es als Tabu. Allerdings nur in der Öffentlichkeit und inner- halb einer Gruppe, demnach nur an bestimmten Orten. Kraft führt ebenso Berüh- rungstabus an, die in enger Verbindung mit Handlungstabus stehen und lediglich die Handlung des Berührens stärker markieren sollen. Sprachtabus, wie beispielsweise das Tabuisieren von Begriffen, welche als politisch inkorrekt gelten, zählt er zu den soge- nannten Sinnentabus. Diese beinhalten unter anderem noch Abbildungstabus, Ge- schmacks- bzw. Nahrungstabus und Geruchstabus, die sich einerseits auf die Vermei- dung des eigenen, strengen Körpergeruchs und andererseits auf die Hemmung, andere Personen auf ihren unangenehmen Körpergeruch hinzuweisen, beziehen.90 Zudem un- terscheidet Kraft noch zwischen bewussten und unbewussten Tabus sowie einer hyb- riden Form aus beiden, den sogenannten Partialtabus. Tabus stehen außerhalb der öf- fentlichen Diskussion und sind nicht kodifiziert. Dennoch werden sie beachtet, da sich die Mitglieder einer Gruppe, Gemeinschaft oder der Gesellschaft ihrer trotzdem be- wusst sind. Bezogen auf ein Individuum können sowohl bewusste als auch unbewusste Tabus auftreten. Um die persönliche Identität zu schützen, grenzt sich beispielsweise der Einzelne bewusst von bestimmten Dingen oder Personen ab. Eine unbewusste Ta- buisierung findet hingegen statt, wenn das Individuum ein traumatisches Ereignis in sein Unterbewusstsein verbannt und alle Sachverhalte, die eine Anspielung darauf sind, für sich selbst und für Nahestehende tabuisiert. Bewusste und unbewusste Tabus sind mit Emotionen verbunden, auch wenn bei letzteren keine Verbindung zu den Affekten gewünscht ist bzw. besteht. Charakteristisch für die bereits erwähnten Partialtabus ist ein Mangel an Affekten, der allerdings einer mäßig emotionalen Besetzung eines Tabus gegenüberzustellen ist. Sowohl bei Partialtabus als auch bei Tabus, die nur gering af- fektiv aufgeladen sind, handelt es sich um ein bewusstes, aber kaum interesseweckendes Thema. Der Grund für das mangelnde Interesse liegt allerdings nicht an der grund- sätzlich schwachen Emotionalisierung, sondern an der Tatsache, dass eine Auseinan- dersetzung mit den Affekten nicht gewollt ist. Eine affektive, emotionale Beschäftigung mit dem Thema wird abgewehrt. Der Sachverhalt selbst ist aber durchaus bekannt.91

88 Als mögliche Meidungshandlung führt Ertelt-Vieth das Nicht-Erzählen, Leugnen oder Lügen auf. Vgl. Ertelt-Vieth 2002, S. 73. 89 Vgl. Ertelt-Vieth 2002, S. 71 f. 90 Vgl. Kraft 2015, S. 63–72. 91 Vgl. Kraft 2015, S. 77–82.

132

2.3 Definition und Funktion des Tabubruchs

»Einst konnten Tabuverletzungen tödlich sein: James Cook wurde 1779 auf Hawaii deswegen (u. a.) erschlagen und erdolcht.«92 Heute ist dies zum Glück nicht mehr der Fall. Die Folgen eines Tabubruchs können unterschiedlich ausfallen, je nachdem, ob er bewusst oder unbewusst vollzogen wurde.93 Nach Übertreten einer Tabugrenze sind Konsequenzen unvermeidlich. Zumeist empfindet der Tabubrecher Scham- und Angstgefühle und da er in der Regel zugleich ein Gruppenmitglied verkörpert, hat er auch mit Sanktionen innerhalb der Gemeinschaft zu rechnen.94 Es folgt der Gruppen- ausschluss.95 In diesem Fall wird die Einhaltung der Tabus durch eine innere Zensur unter Kontrolle gehalten, um sich innerhalb der Gruppe konform zu bewegen und das Zusammenleben in der Gemeinschaft ermöglichen zu können. Die Tabus sichern und schützen in diesem Fall die Werte der Gruppe sowie das soziale Miteinander und sind daher positiv besetzt. Hier schadet die Tabuverletzung und sie wird daher von Scham- , Schuld- und Angstgefühlen und der Zurückweisung durch die Gruppe begleitet.96 Tabus können allerdings auch eine hemmende Wirkung besitzen und eine Weiterent- wicklung behindern.97 Tabus, die befürwortet werden, obwohl sie aufgrund des gesell- schaftlichen Fortschritts als nicht mehr zeitgemäß und rückständig erscheinen, blo- ckieren Veränderung in jeglicher Hinsicht. An dieser Stelle hat der Tabubruch eine befreiende Wirkung und ermöglicht eine Etablierung von Entwicklungsprozessen, die zu einer Enttabuisierung bzw. zu einer Aufhebung von Tabus führen können.98 Tabus sind demzufolge ein Abbild der aktuellen Vorstellungen bzw. Einstellungen der Ge- sellschaft99 und der Tabubruch ist als Symptom einer kulturellen Veränderung zu se- hen.100 Anders formuliert, ist die Verletzung eines Tabus zugleich eine Verletzung der Identität.101 Tabus markieren einen Bereich, der identitätsstiftend für die Person bzw. Gruppe ist. Der Angriff darauf eröffnet die Möglichkeit einer Identitätsveränderung bzw. Identitätsentfaltung.102 Diese Aspekte stellen zugleich die Funktion und die Be- weggründe für einen bewussten Tabubruch dar,103 der in unterschiedlicher Gestalt vor- kommen kann. Er muss dabei nicht zwangsläufig zu einer Enttabuisierung führen. Der Prozess ist dynamisch und kann in jede Richtung verlaufen. Nach einer Verletzung

92 Betz 1978, S. 141. 93 Seibel bezeichnet eine unbewusste Tabuverletzung als Taktlosigkeit. Vgl. Seibel 1990, S. 15 f. 94 Vgl. Stagl 1989, S. 720. 95 Vgl. Kraft 2015, S. 12. 96 Vgl. Benthien / Gutjahr 2008, S. 7 f. 97 Vgl. Schröder 1995, S. 8. 98 Vgl. Gutjahr 2008, S. 20. Unter Enttabuisierung wird die Auflösung bzw. das Entkräften des Tabus verstanden. Vgl. Reimann 1989, S. 421. 99 Vgl. Seibel 1990, S. 15. 100 Vgl. Benthien / Gutjahr 2008, S. 8. 101 Vgl. Kraft 2015, S. 180. 102 Vgl. Kraft 2015, S. 184. 103 Vgl. Kraft 2015, S. 184.

133

und kurzzeitigen Aussetzung des Tabus kann der Tabugegenstand bzw. das Tabuthema auch wieder ›retabuisiert‹ werden.104 Der Tabubrecher vollzieht den Bruch analog zu den erwähnten Klassifizierungen, indem er etwas ausspricht, etwas tut oder vielleicht etwas Verbotenes berührt. Er kann sich zudem unterschiedlicher Medien bedienen, um eine gewisse Reichweite zu erhal- ten. Beispielsweise können Bücher, Filme oder Theaterstücke ein Sprachrohr für den Bruch darstellen.105 Zur Übertretung bzw. Verletzung ist zunächst ausschließlich die Benennung notwendig. Diese kann eine Thematisierung, demnach das Ansprechen eines Tabuthemas, oder den Vollzug einer verbotenen Handlung umfassen.106 Das Tabu kann nur auf diese Weise, folglich durch den Tabubruch, sichtbar werden.107 Zudem muss das entsprechende Hintergrundwissen über das Thema bzw. die Sache vorhanden sein, denn nur so kann das Tabu und der dazugehörige Tabubruch erklärt und verstanden werden.108 Die Aufstellung allgemeingültiger Strategien, unabhängig von der jeweiligen Verletzung, ist problematisch. Zwar kann festgestellt werden, dass ein Kommunikationstabu durch bestimmte Strategien, wie etwa Witz und Satire, zeit- weilig gebrochen und aufgelöst werden kann,109 allerdings hängt die genaue Vorge- hensweise stark von dem jeweiligen Thema und der Klassifizierung ab. Erst im Nach- hinein, wenn der Tabubruch vollzogen ist, ist eine genaue Rekonstruktion des Vorge- hens möglich. Dieses ist bezüglich der Kontextabhängigkeit immer im Zusammenhang mit einem bestimmten Ort und einer bestimmten Zeit zu analysieren.110 Es ist daher bei der näheren Betrachtung eines Tabubruchs immer zu bestimmen, wo, wann, von wem und wie das Tabu gebrochen wurde.111 Des Weiteren ist der Adressat der Tabuverletzung zu bezeichnen,112 demnach, welche Person oder Gemeinschaft, für die das Tabu gegolten hat, attackiert wurde. Um den Tabubruch noch deutlicher zu kenn- zeichnen, ist zudem die Frage nach dem Motiv des Tabubrechers unausweichlich.113 Die Beweggründe für eine Übertretung sind nur mittels Hintergrundwissen und den Motiven der Tabusetzung aufzudecken. Daher steht nicht nur der Vorgang des Tabubruchs, sondern auch die Rahmenbedingungen, vor allem Motive und Funktio- nen der Tabusetzung, im Blickfeld der Untersuchung. Aufgrund dessen widmet sich der nächste Teil dieser Arbeit der Entstehungsgeschichte des von Günter Grass gebro- chenen Tabus, um in einem weiteren Schritt den Tabubruch klar benennen zu kön- nen.

104 Vgl. Braungart 2004, S. 302 f. 105 Vgl. Benthien / Gutjahr 2008, S. 11 und 15. 106 Vgl. Kraft 2015, S. 187. 107 Vgl. Seibel 1990, S. 12. 108 Vgl. Ertelt-Vieth 2002, S. 67. 109 Vgl. Schröder 2002, S. 19 f. 110 Vgl. Rothe / Schröder 2002a, S. 12. 111 Vgl. Schröder 2002, S. 18 f. 112 Vgl. Schröder 2002, S. 18 f. 113 Vgl. Kraft 2015, S. 184–187.

134

3 Günter Grass und seine Novelle Im Krebsgang

3.1 Erinnerungskultur in Deutschland

Als 2002 die Novelle Im Krebsgang von Günter Grass erschien, schrieb die Presse, dass er damit einen Tabubruch begangen habe.114 Da ein Tabu nur dann sichtbar wird, wenn es gebrochen wird, sorgte Grass offensichtlich dafür, dass es in Erscheinung tre- ten konnte. Er benannte es und sofort wurde es, zumindest für die Medien, offengelegt. Es ging um die Flucht und Vertreibung der Deutschen während und nach Ende des Zweiten Weltkriegs sowie deren Leid, das sie auf diesem Wege erfahren mussten. Da- neben wurde aber vor allem auch die Frage nach der Art und Weise des Erinnerns an diese Ereignisse und die Auseinandersetzung mit dem Geschehenen aufgeworfen.115 Es ist wichtig zu erwähnen, dass eine einheitliche Erinnerung der Deutschen an den Nationalsozialismus unmöglich ist. Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs zirkulieren hierüber zu viele, teilweise auch widersprüchliche Erinnerungen und Erinnerungsstra- tegien, als dass diese in der vorliegenden Arbeit vollständig und detailliert beleuchtet werden könnten. Ebenso ist die Einstellung bzw. Erinnerung durch Position oder Stel- lung bestimmt, die während der NS-Zeit von dem Einzelnen eingenommen wurde.116 Ob Täter oder Opfer, Sieger oder Besiegter117 – jeder Einzelne hatte eine andere Sicht- weise auf die Verbrechen, auf das Regime, auf das Geschehen in Deutschland und der Welt.118 Daraus ergibt sich die Schwierigkeit, die Schuldfrage deutlich zu klären. Sahen sich die Deutschen mit dem Ende des Kriegs als Opfer oder Täter? Haben sie den Krieg verloren oder wurden sie befreit?119 Waren sie alle gemeinsam, als Volk, oder nur Hitler und seine direkten Anhänger an den Verbrechen beteiligt? Die sogenannte kursierende Kollektivschuldthese besagt, dass alle Deutschen schuldig waren und die Schuld nicht nur bei Adolf Hitler und seinen unmittelbaren Anhängern lag.120 Jedoch griffen viele Deutsche auf die Exklusivthese zurück, die besagt, dass Hitler und seine Gefolgschaft das Volk unterwarfen, es keine andere Wahl gab und somit die Schuld allein beim NS- Regime lag.121 Die genannten Thesen beinhalten auch die zwei möglichen, von den Deutschen nach dem Krieg eingenommenen Einstellungen.

114 Vgl. beispielsweise o. V. 2002, S. 1; Hage 2002a, S. 185. 115 Vgl. Kraft 2015, S. 84 f. 116 Vgl. Assmann / Frevert 1999, S. 12. 117 Vgl. Assmann / Frevert 1999, S. 12. 118 In der vorliegenden Arbeit wird lediglich ein allgemeines Bild aufgeführt, da im Rahmen dieser Darstellung nicht jede einzelne Gruppe bzw. Kategorie beleuchtet werden kann. Des Weiteren ist an dieser Stelle anzumerken, dass sich die Bezeichnung ›die Deutschen‹ o. Ä. in dieser Arbeit auf Perso- nen in Deutschland bezieht, die nicht vom NS-Regime verfolgt wurden. 119 Vgl. Assmann / Frevert 1999, S. 98 f. 120 Vgl. Assmann / Frevert 1999, S. 83. 121 Vgl. Assmann / Frevert 1999, S. 83 f. und S. 158.

135

Auf der einen Seite befanden sich die Deutschen, die sich als Täter sahen. Die Schuld- und Schamgefühle führten zu einer Blockade, zum Schweigen und Verdrän- gen.122 Die Alliierten konfrontierten die Deutschen im Zuge ihrer Entnazifizierungs- maßnahmen durchgehend mit Bildern der NS-Verbrechen. Sie wollten Schuldgefühle hervorrufen, sodass es zu einer Identitätsveränderung kommen konnte.123 Der Zwang von Seiten der Alliierten, sich ständig erinnern zu müssen, und das hinzukommende Schamgefühl124 bewirkten eine Abwehrhaltung in Form des Schweigens.125 Persönliche Erlebnisse und Erfahrungen wurden nicht thematisiert und Erinnerungen blockiert.126 Die andere Seite baute ebenso Entlastungsstrategien auf, allerdings folgte sie der Exklusivthese. Das NS-Regime war der Schuldige, nicht das Volk.127 Auch diese Gruppe konnte sich den Maßnahmen zu einer Identitätswandlung seitens der Alliier- ten nicht entziehen, jedoch bestand ihre Abwehrreaktion darin, sich als Opfer zu sehen und eine Opfergemeinschaft zu entwerfen.128 Man berief sich darauf, stets nur Befehle eingehalten zu haben und dass Vorhaltungen nur in Bezug auf die Loyalität akzeptabel wären.129 Die Schuldvorwürfe führten dazu, dass sich die Deutschen nur an bestimmte Vorkommnisse erinnerten und all diejenigen, die sie als Schuldige entlarven würden, verleugneten. Nicht nur die Schuld wurde abgestritten, es wurde sich auch jeglicher Verantwortung entzogen, indem sie ihre Stellung als Mitläufer oder Mitwisser und schuldhaftes Verhalten dementierten.130 Diese zwei Entlastungstaktiken sind in eine Zeit zu verorten, die ungefähr bis Ende der 1950er-Jahre andauern sollte. Assmann teilt die Erinnerungsgeschichte wie folgt ein: Die Jahre 1945 bis 1957 waren geprägt von dem genannten Entlastungs- und Abwehrverhalten. Auch die Politik wollte sich durch die Entschädigung der Opfer und durch den Versuch, die früheren Nationalsozialisten wieder in die Gesellschaft einzu- gliedern, von der Vergangenheit befreien. Danach folgte bis 1984 eine zunehmend kritische Haltung gegenüber der Vergangenheitsbewältigung, die nicht zuletzt an der Kritik der 1968er-Generation zu sehen war. Erinnerung fand zunehmend ab 1985 in Form von öffentlichen und offiziellen Gedenktagen bzw. -ritualen und der politischen Diskussion, wie mit der Vergangenheit umzugehen sei, statt. Auf der einen Seite be- trieb Helmut Kohl eine Erinnerungspolitik, welche die Vergangenheitsbewältigung verfolgte. Am Ende sollte die Versöhnung mit den Siegermächten stehen, um die Ver- gangenheit ruhen lassen zu können. Auf der anderen Seite verfolgte Richard von Weizsäcker eine Politik, die versuchte, die Erinnerung an die Vergangenheit zu erhal- ten und vor allem dauerhaft präsent zu halten.131 Diese Auseinandersetzung bzw. die

122 Vgl. Assmann / Frevert 1999, S. 44–47. 123 Vgl. Assmann / Frevert 1999, S. 124–126. 124 Vgl. Assmann / Frevert 1999, S. 128. 125 Vgl. Assmann / Frevert 1999, S. 138 f. 126 Vgl. Assmann / Frevert 1999, S. 141. 127 Vgl. Assmann / Frevert 1999, S. 141. 128 Vgl. Echternkamp 2003, S. 200. 129 Vgl. Echternkamp 2003, S. 206. 130 Vgl. Mitscherlich / Mitscherlich 1969, S. 26. 131 Vgl. Assmann / Frevert 1999, S. 143–147.

136

Erinnerung war jedoch noch an gewisse Regeln gebunden. Die Darstellung persönli- cher Lebensgeschichten war in den 1980er-Jahren im privaten und gesellschaftlichen Umfeld tabu. Von Seiten der Politik wurde die NS-Zeit stets in der Öffentlichkeit thematisiert, allerdings wurden nur bestimmte Bereiche, beispielsweise die NS-Verbre- chen, angesprochen. Nur ein vorgegebener Rahmen konnte öffentlich behandelt wer- den, alles andere, etwa persönliche, subjektive Erfahrungen, wurde auf privater und gesellschaftlicher Ebene ausgegrenzt bzw. tabuisiert.132 Dass es eine politische Ausei- nandersetzung mit der Vergangenheit vor allem in den 1970er- und 1980er-, aber auch bereits in den 1960er-Jahren, gab, kann nicht bestritten werden.133 Allerdings lag der Fokus auf politischen Strukturen und Vorgängen der NS-Zeit. Die individuellen Er- fahrungen der Menschen in Deutschland wurden, mit wenigen Ausnahmen, kaum aufgearbeitet.134 Eine dieser Ausnahmen war ein Film (1978/1979) über den Holo- caust, in dem jüdische Opfer thematisiert wurden, und mit dessen Hilfe eine reflexive und affektive Auseinandersetzung hervorgerufen wurde.135 Des Weiteren wurde 1992 ein Film über die Vergewaltigung der deutschen Frau nach Kriegsende ausgestrahlt, der eine hitzige Diskussion auslöste, in der es um die Angemessenheit der Darstellung leidvoller Erfahrungen ging.136 Mit diesem Problem sahen sich auch die Deutschen, die u. a. aufgrund des Vorrü- ckens der Roten Armee in die Ostgebiete flüchten mussten oder vertrieben wurden, konfrontiert. Bereits in der Endphase des Zweiten Weltkriegs und auch nach Kriegs- ende wurden die Deutschen aus den deutschen Gebieten jenseits von Oder und Neiße, aus dem Sudetenland und aus den Siedlungsgebieten in Mittelost-, Ost- und Südost- europa vertrieben. Darunter ist die Evakuierung, die Flucht zu Land oder zu See, die Zwangsverschleppung in die Sowjetunion oder die Unterbringung in Internierungsla- gern zu verstehen. Grund für diese Ereignisse waren willkürliche oder geplante Opera- tionen von Gruppen, welche vom Nationalsozialismus verfolgt wurden, das Vorrücken der Roten Armee und deren Übergriffe auf die Menschen oder politische Entscheidun- gen der Alliierten. Von den zwölf bis vierzehn Millionen Vertriebenen sollen ungefähr zwei Millionen nicht überlebt haben.137 Am 30. Januar 1945 versenkte u. a. ein sowje- tisches U-Boot die ›Wilhelm Gustloff‹. Die Mehrheit der 6.000 Menschen auf dem Schiff überlebte nicht – es wurden nur wenige gerettet.138 Hunger, Furcht, Erniedri- gungen, soziale und kulturelle Abschottung, Erpressung, Taschenkontrollen, Haus- durchsuchungen, Abtransporte, Verschleppung und Vergewaltigung waren an der Ta- gesordnung.139 Die Ostdeutschen mussten ihre Heimat verlassen und hoffen, auf dem langen und beschwerlichen Weg nicht von der Roten Armee eingeholt zu werden.

132 Vgl. Assmann / Frevert 1999, S. 75–78. 133 Vgl. Assmann / Frevert 1999, S. 247–263. 134 Vgl. Assmann / Frevert 1999, S. 266. 135 Vgl. Assmann / Frevert 1999, S. 267. 136 Vgl. Assmann / Frevert 1999, S. 280 f. 137 Vgl. Faulenbach 2002. 138 Vgl. Echternkamp 2003, S. 44. 139 Vgl. Reichenberger 1952, S. 20.

137

Kälte, Existenz- und Todesängste prägten 1944 und 1945 die Erfahrungen der Flücht- linge und Vertriebenen.140 Über die Ereignisse wurde durchaus berichtet. Auch die Literatur- und die Ge- schichtswissenschaft nahmen sich dieses Themas an. Allerdings zeichnete sich ab 1960 eine verstärkte Auseinandersetzung mit dem Holocaust und anderen Verbrechen der Nationalsozialisten ab, sodass der Gegenstand ›Flucht und Vertreibung‹ zunehmend in den Hintergrund trat. Er wurde als Angelegenheit angesehen, die lediglich noch die Flüchtlinge und Vertriebenen selbst betraf und womit sie sich individuell auseinander- zusetzen hatten. Der Gegenstand war kein Teil des deutschen Geschichts- bzw. Kol- lektivbewusstseins mehr. Außerdem wurde das Thema von Vertriebenenverbänden und dem politisch rechts angesiedelten Lager dazu genutzt, die deutschen Verbrechen mit den Verbrechen an den Deutschen aufzurechnen. Das führte dazu, dass diese The- matik zunehmend als nationalsozialistisch verstanden wurde.141 Flüchtlinge und Ver- triebene waren dadurch gehemmt, ihr Leid darzustellen, da bereits lediglich der Hin- weis auf das eigene Elend dazu führen konnte, als Nationalsozialist angesehen zu wer- den. Die Erwähnung von Verbrechen, die nicht von dem NS-Regime ausgingen, wurde als respektloser Versuch aufgefasst, die belastete Vergangenheit der Deutschen zu entschuldigen.142 Die Tabuisierung des Leids wurde zudem noch durch Schuld- und Schamgefühle, welche durchaus auch unter den Flüchtlingen und Vertriebenen herrschten und ebenso durch Schuldzuweisungen der Alliierten begünstigt wurden, verstärkt.143

3.2 Tabu und Tabubruch bei Im Krebsgang

Eine Auseinandersetzung mit der Vergangenheit hat es immer gegeben. Allerdings ist die Intensität und die Art und Weise der Auseinandersetzung über die Jahre hinweg sehr unterschiedlich verlaufen. Eine Beschäftigung findet zeitweise nur auf bestimmten Ebenen, nur zu bestimmten Themen oder nur seitens bestimmter Gruppen statt. Ein Merkmal lässt sich allerdings durchgehend erkennen, etwa die Schwierigkeit, sich im Kollektiv mit persönlichen Geschichten der Deutschen zu beschäftigen. Geschehnisse, die die deutschen Flüchtlinge und Vertriebenen betreffen, waren bekannt und wurden durchaus in der Literatur und von den Historikern behandelt. Allerdings war lange Zeit die Thematisierung von persönlichem Leid und den Verbrechen an den deutschen Flüchtlingen und Vertriebenen tabu. Die Betroffenen schwiegen, weil sie es zum einen aufgrund der Scham- und Schuldgefühle verdrängten bzw. verleugneten oder weil es sich zum anderen nicht schickte, das Leid und das Elend öffentlich anzusprechen. Der Vorwurf der Aufrechnung der deutschen Schuld mit Verbrechen an den Deutschen hemmte sie, sich mit ihrer Vergangenheit auseinanderzusetzen und sich öffentlich zu erinnern. Es entstand sowohl ein Kommunikationstabu als auch ein Erinnerungstabu für einen bestimmten Bereich, der eng im Zusammenhang mit der Schuldfrage stand. Wer sich als Täter und wer als Opfer zu sehen hatte, wurde immer wieder diskutiert.

140 Vgl. Jolles 1965, S. 46 f. 141 Vgl. Faulenbach 2002. 142 Vgl. Assmann / Frevert 1999, S. 280 f. 143 Vgl. Kraft 2015, S. 86 f.

138

Diese Debatte und auch der Vorwurf der Aufrechnung fand allerdings ebenso statt, nachdem sich ein ›Nicht-direkt-Betroffener‹ dem Thema, beispielsweise literarisch, ge- widmete hatte – und dies sogar noch im 21. Jahrhundert. Im April 2002, ungefähr zwei Monate nach dem Erscheinen von Im Krebsgang,144 veröffentlichte Spiegel Online einen Artikel von Volker Hage, der sich genau mit diesem Sachverhalt beschäftigte. Er verwies auf eine Debatte, in der es um die Beschönigung der deutschen Schuld durch die Literatur ging. Autoren würden in ihren Büchern, u. a. durch die Darstellung des Leids, versuchen, die Deutschen von ihrer Schuld zu ›befreien‹ und sie als Opfer zu charakterisieren. Auch die Novelle Im Krebsgang fiel hierunter.145 Grass bricht nicht nur das Kommunikations- und Erinnerungstabu, er trägt laut Harald Welzer auch ei- nen Teil dazu bei, die Erinnerungskultur der Deutschen umzuwandeln – von einer Täter- in eine Opfergemeinschaft. Welzer, dessen Artikel kurz zuvor in der Neuen Zür- cher Zeitung erschienen war, verdeutlichte des Weiteren, dass solch ein Umgang mit der Vergangenheit zu einer Schmälerung der begangenen Gräuel an den Juden führe und diese Handhabung daher nicht wünschenswert sei.146 Im Mittelpunkt der Novelle steht der Schiffsuntergang der ›Wilhelm Gustloff‹. Am 30. Januar 1945 trafen drei sowjetische Torpedos das Schiff. Auf der Gustloff waren mehrere tausend Menschen, die versuchten, über See vor der Roten Armee zu flüchten. Nur wenige konnten gerettet werden.147 Zwei von ihnen waren Tulla und ihr Sohn Paul, der in der Nacht des Untergangs geboren wurde. Grass veranschaulicht die trau- matischen, persönlichen Erlebnisse und Erfahrungen, indem er Erinnerungen und un- terschiedliche Formen des Erinnerns präsentiert. In dem Buch setzen sich die drei fik- tiven Hauptfiguren, Tulla, ihr Sohn Paul und dessen Sohn Konrad, mit der ›Wilhelm Gustloff‹ auseinander. Tulla erzählt mündlich von dem Erlebnis und drängt ihren Sohn beharrlich, die Geschichte aufzuschreiben. Er selbst will zunächst nichts von dem Thema wissen. Der Journalist erhält allerdings denselben Auftrag von seinem Arbeit- geber. Als er entdeckt, dass sein Sohn das Thema für nationalsozialistische Zwecke auf einer Internetseite thematisiert, nimmt er sich der ›Wilhelm Gustloff‹ an und schreibt die Thematik nieder.148 Grass benennt das Tabu, indem er die Figuren ihr Schweigen brechen lässt. Er thematisiert Einzelschicksale, persönliche Geschichten, das Leid und das Elend der Flüchtlinge.149 Zudem erinnert er sich und bricht damit das Erinne- rungstabu. Außerdem kritisiert er die bisherige Auseinandersetzung mit der Vergan- genheit, sowohl in Bezug auf sich selbst als auch in Bezug auf andere. Grass, der sich selbst als ›den Alten‹ in die Geschichte integriert und so als Arbeitgeber von Paul in Erscheinung tritt,150 äußert, dass er es versäumt habe, über das Thema zu reden151 und dass das Schweigen über das Flüchtlingsleid und die damit verbundene Freigabe des

144 Im Krebsgang von Günter Grass erschien am 05.02.2002. Vgl. Weidermann 2002, S. 25. 145 Vgl. Hage 2002b. 146 Vgl. Welzer 2002. 147 Vgl. Echternkamp 2003, S. 42–44. 148 Vgl. Grass 2015. 149 Vgl. Grass 2015, S. 131–146. 150 Vgl. Paaß 2009, S. 423. 151 Vgl. Grass 2015, S. 77.

139

Themas für die Rechten keinesfalls hätte stattfinden dürfen.152 Die Tabuisierung des Themas wird von Grass demnach selbst angedeutet und zur Sprache gebracht. Ob Günter Grass der Einzige war, der ein Tabu gebrochen hat, welche Reichweite dieses Tabu tatsächlich hatte oder ob es überhaupt noch bestand, ist nicht exakt fest- zulegen. In der Forschungsliteratur und in Medienberichten wird Im Krebsgang teil- weise mit einem Tabubruch in Verbindung gebracht.153 Allerdings gab es bereits vor 2002 Bücher, Filme und TV-Serien, die sich mit Flucht und Vertreibung auseinan- dergesetzt hatten.154 Die Annahme von Kraft, dass Günter Grass ein Partialtabu gebro- chen habe, ist auf den ersten Blick und an dieser Stelle nachvollziehbar, da es auch mit der Tatsache zu vereinen ist, dass es bereits vorher Auseinandersetzungen zu Flucht und Vertreibung gab. Demnach war das Thema aufgrund der Arbeit bestimmter Gruppierungen auf allen Ebenen in Deutschland bekannt. Allerdings waren lediglich die Fakten publik, das von den Deutschen im Zuge von Flucht und Vertreibung er- fahrene Leid und Elend hingegen fand keine Erwähnung. Der gefühlsbetonte Umgang mit den Ereignissen und Erfahrungen wurde vermieden und ein affektreicher Zugriff unterbunden.155 Auch Michael Franzen wies in seiner Rezension in der Wochenzeitung Die Zeit darauf hin, dass das Thema keineswegs von Emotionen bestimmt war und die Deutschen aufgrund der Partizipation am NS-Regime, unerheblich ob gewollt oder nicht, »jeden Anspruch auf öffentliche Anerkennung ihres Leidens«156 verloren hat- ten.157 Der Holocaust stand gesamtgesellschaftlich im Vordergrund der Erinnerungs- arbeit. Die Flüchtlinge und Vertriebenen sollten sich alleine, innerhalb ihrer ›Gruppe‹, damit auseinandersetzen. Aus dem kollektiven Gedächtnis sollte die Vorstellung von Leid und Elend unter den Deutschen verschwinden. Auch der Historiker Hans-Ulrich Wehler formulierte in einem Interview mit dem Spiegel, dass für die Schicksale der Ostdeutschen ›keine nennenswerte Öffentlichkeit‹ existierte und ›sie ihr Leid privati- sieren mussten‹, da sich der Großteil in Deutschland einer gesamtdeutschen Auseinan- dersetzung mit diesem Gegenstand entgegenstellte.158 Die Frage, die sich allerdings erneut in dieser Analyse stellt, und die auch öffentlich in den Medien diskutiert wurde, ist,159 ob Günter Grass einen Tabubruch begangen hat. Diverse Zeitschriften- sowie Zeitungsartikel160 und beispielsweise auch Kraft161 weisen darauf hin, dass Grass nicht der Erste war, der das Thema, auch im Hinblick auf Elend und Leid, angesprochen bzw. das Tabu gebrochen hat. Sowohl davor als

152 Vgl. Grass 2015, S. 99. 153 Vgl. beispielsweise Kraft 2015, S. 83–88; Hage 2003, S. 184 f.; o. V. 2002, S. 1; Braun 2007, S. 117–135. 154 Vgl. Hall 2007, S. 168 f. 155 Vgl. Kraft 2015, S. 81–88. 156 Franzen 2002. 157 Vgl. Franzen 2002. 158 Vgl. Pieper / Wiegrefe, S. 61 f. 159 Vgl. Zimmermann 2006, S. 605–614. 160 Vgl. beispielsweise Wittstock 2002, S. 28; Stephan 2002, S. 15; Blasius 2002a, S. 10; Bartetzko 2002, S. 45. 161 Vgl. Kraft 2015, S. 87 f.

140

auch fast zeitgleich sind andere Bücher dazu erschienen.162 Daher stellt sich die weitere Frage, warum Im Krebsgang dennoch als der Auslöser für eine öffentliche Debatte galt.163 Eine mögliche Antwort liegt in der politischen Stellung von Grass. Der Autor galt als Vertreter der linksliberalen Politik. Daher war es umso erstaunenswerter, dass er sich als Linker einem geschichtlichen Aspekt widmete, welcher gerade von dieser politischen Seite vermieden wurde, um jeglichen Berührungspunkten zum National- sozialismus zu entgehen.164 Gerade die Position von Grass begünstigte somit enorm die Intensität der Aufarbeitung des Themas, denn »die Zustimmung oder Ablehnung hän- gen weniger davon ab, wie jemand eine Geschichte erzählt […]. Sondern davon, wie der Autor heißt und wann und warum er sein Thema wählt.«165 Laut eines Artikels von Paul Ingendaay war daher im Zuge der Veröffentlichung der Novelle nicht die Benen- nung des Themas der Tabubruch, sondern dass ein linker Autor die Deutschen als Opfer zeigte166 und somit den Holocaust in den Hintergrund stellte. Eine Gegenposi- tion dazu nimmt Michael Paaß ein. Er führt das Phänomen, dass Grass wiederholt mit dem Status eines Tabubrechers in Verbindung gebracht wird, nicht auf seinen Rang als politischer Autor zurück, sondern er vertritt die Ansicht, dass Im Krebsgang einfach zur richtigen Zeit erschienen ist. Demzufolge in einer Zeit, in der die deutsche Bevöl- kerung dazu bereit war, das Flüchtlingsleid im kollektiven Gedächtnis aufzunehmen und vor allem die Sichtweise auf die Deutschen als Opfer zuzulassen.167 Laut Rudolf Augstein war es nun wieder angemessen, sich an Flüchtlings- und Vertriebenenopfer zu erinnern.168 In Anbetracht der vorherigen und beinahe zeitgleichen Publikationen zu Flucht und Vertreibung kann Grass in der Tat nicht als erster und einziger ›Tabubrecher‹ gelten. Jedoch verlieh die Position des Autors und vor allem die öffent- liche Preisgabe seiner Motive für dieses Werk dem Thema eine gewisse Intensität, so- dass er aus dem Kreis der Tabubrecher heraussticht und er und seine Novelle als Aus- löser für einen verstärkt öffentlich geführten Diskurs gelten können.

3.3 Motive und Strategie des Autors

Günter Grass war Mitglied der Hitlerjugend, Flakhelfer und Mitglied in der Waffen- SS.169 Er wurde am 16. Oktober 1927 geboren.170 Als der Krieg 1945 zu Ende ging, war der 18-Jährige nach eigenen Angaben immer noch von der Richtigkeit des Kriegs überzeugt.171 Als ihm jedoch bewusst wurde, welchem Regime er angehört und mit welchem Regime er sich identifiziert hatte, war er zutiefst schockiert. Die für ihn in

162 Im Spiegel Special zum Thema Flucht und Vertreibung wurden ›Bücher zum Thema‹ abgedruckt. Vgl. Inhaltsverzeichnis. Spiegel Special 2/2002. 163 Vgl. beispielsweise Wittstock 2002, S. 28; Krauel 2002, S. 8. 164 Vgl. Hage, S. 187 f. 165 Ingendaay 2002, S. 33. 166 Vgl. Ingendaay 2002, S. 33. 167 Vgl. Paaß 2009, S. 476 f. 168 Vgl. Augstein 2002, S. 187. 169 Vgl. Paaß 2009, S. 62. 170 Vgl. Neuhaus 2010, S. 254. 171 Vgl. Interview in der Time vom 13.04.1970, S. 74, zitiert aus Neuhaus 2010, S. 254.

141

den vergangenen Jahren eigene Ideologie bewahrheitete sich als Ideologie eines Re- gimes, das die Verantwortung für den Mord an Millionen von Menschen trug. Er war fassungslos, als er erkannte, dass er selbst ein Teil davon gewesen war. Auschwitz än- derte alles, auch die Literatur von Günter Grass. Fortan sollten Form, Gestalt und Inhalt der Literatur stets von den unfassbaren Gewalttaten bestimmt sein. Das ge- wohnte, traditionelle Schreiben sollte nicht mehr möglich sein. Auschwitz wurde nun immer in den Schreibprozess, ob unbewusst oder bewusst, eingebunden. Grass wid- mete sich schreibend der Aufarbeitung der Vergangenheit und wehrte sich damit gegen die Abwehrmechanismen der Deutschen, welche die Vergangenheit verschleierten, tot- schwiegen und verdrängten. Es war aufgrund des wirtschaftlichen Aufschwungs keine Zeit, um sich zu erinnern. Grass versuchte, dem entgegenzutreten, vergegenwärtigte die Ereignisse und versuchte Auschwitz präsent zu halten, indem er sich nun mit der Schuld und der Teilhabe des Kleinbürgertums am Nationalsozialismus beschäftigte. In Grass entwickelte sich eine enorme Abneigung gegen jegliche extremistischen und to- talitären Ideologien. Seine Figuren sind daher keine Widerstandskämpfer oder Antifa- schisten, sondern Kleinbürger, die schuldig oder persönlich mit dem Nationalsozialis- mus verbunden waren. Der Autor versuchte demnach unmittelbar nach Kriegsende zu verhindern, dass das Erlebte in Vergessenheit geriet.172 Einem Thema hat er sich allerdings, seiner Meinung nach, nicht ausführlich genug gewidmet. Flucht und Vertreibung hatte Grass in seinen vorherigen Büchern bereits angesprochen. Nach ihm wurde jedoch ein wesentlicher Teil davon nicht behandelt, da er sich der Thematik nur sehr oberflächlich gewidmet hatte. Grass versuchte daher, mit seiner Novelle Im Krebsgang sein Versäumnis nachzuholen.173 Er war zudem der Meinung, dass das Leid der Deutschen generell unzulänglich thematisiert wurde und es bedenklich sei, dass man sich zu dem Gegenstand bisher nur sehr zurückhaltend und vorsichtig geäußert hatte. Für ihn war es kein Thema, das im Fokus der Erinnerungs- kultur der Deutschen und der Nachkriegsliteratur stand bzw. einen festen Platz im Gedächtnis der Deutschen hatte.174 Grass kennzeichnete sich selbst als Mitschuldigen – auch in seiner Novelle, indem er darin als ›der Alte‹ erscheint und agiert.175 Paul arbeitet als Journalist176 und bekommt von seinem Arbeitgeber, ›dem Alten‹, die Auf- gabe erteilt, über die ›Wilhelm Gustloff‹ zu schreiben.177 Der Auftraggeber (Günter Grass) ist der Meinung, dass es zugegebenermaßen seine eigene Aufgabe gewesen wäre, sich dieser Thematik zu widmen, er jedoch versagt und es versäumt habe, darüber zu berichten.178 Grass wendet sich durch ›den Alten‹ an die Leser und gibt so nicht nur seine Absichten preis, sondern benennt auch auf diese Art und Weise direkt das Tabu. Des Weiteren merkt er in der Novelle ebenso an, dass es unakzeptabel sei, aufgrund

172 Vgl. Paaß 2009, S. 61–68. 173 Vgl. Interview mit Günter Grass aus Die Woche vom 08.02.2002. Vgl. o. V. 2002, zitiert aus Hall 2007, S. 162 f.; vgl. Pleitgen 2002. 174 Vgl. die Rede von Günter Grass in Vilnius am 02.10.2000 aus Anlass der litauisch-deutsch-polni- schen Gespräche. Vgl. o. V. 2007, S. 84, zitiert aus Neuhaus 2010, S. 227. 175 Vgl. Paaß 2009, S. 423. 176 Vgl. Grass 2015, S. 58. 177 Vgl. Paaß 2009, S. 422 f.; auch Grass 2015, S. 30 f. 178 Vgl. Grass 2015, S. 77 f.

142

der persönlichen Schuldgefühle das Leid der Flüchtlinge und Vertriebenen zu verdrän- gen und es so den Rechten missbräuchlich zur Verfügung zu stellen.179 Grass schreibt gegen das Vergessen an und versucht die Ereignisse wieder in Erinnerung zu rufen. Die Geschichte ist auf zwei Erzählebenen angelegt. Auf der ersten Ebene, welche in der Gegenwart spielt, wird der Arbeitsprozess von Paul dargestellt. Er erhält den Auf- trag von ›dem Alten‹, den Untergang der ›Wilhelm Gustloff‹ aufzuschreiben. Die Re- cherchearbeit und die Rahmenbedingungen für den Arbeitsvorgang werden abgebildet und Paul und sein Auftraggeber interagieren auf dieser Ebene miteinander.180 ›Der Alte‹ bzw. Günter Grass steuert die journalistische Tätigkeit von Paul, indem er Ar- beitsanweisungen erteilt.181 Des Weiteren erfährt Paul auf dieser Ebene, dass sein Sohn Konrad die Geschichte über den Untergang auf einer rechtsradikalen Internetseite prä- sentiert und als Neonazi für sich beansprucht.182 Paul setzt sich im Rahmen seiner Re- cherche auch zunehmend mit der Webseite auseinander und berichtet von ihren In- halten.183 Vor allem auf der ersten Ebene wird deutlich, was Günter Grass aufzeigen möchte. Die Zusammenführung von verschiedenen Sichtweisen auf das, was am 30. Januar 1945 passiert ist, veranschaulicht gleichzeitig unterschiedliche Strategien des Erinnerns.184 Paul verdrängt zunächst die Geschichte um die ›Wilhelm Gustloff‹ und fühlt sich erst nach der Entdeckung der rechtsradikalen Webseite seines Sohnes wirklich dazu berufen, dem Auftrag ›des Alten‹ nachzukommen.185 Seine Mutter be- richtet als Augenzeugin in einer Endlosschleife186 und drängt auch ihren Sohn zum Aufschreiben.187 Sie sieht sich in der Position, die Leidensgeschichte der Vertriebenen und Flüchtlinge aus den Ostgebieten für die Öffentlichkeit zugänglich machen zu müs- sen und hört daher nicht auf, ihre traumatische Erfahrung zu erzählen.188 Konrad stellt die Geschichte auf seiner Webseite hingegen aus einem rechtsradikalen Blickwinkel dar.189 Alle drei Figuren haben einen anderen Zugang zur Historie und somit zur Er- innerung,190 die allerdings die ›Wilhelm Gustloff‹ als Fixpunkt gemeinsam hat. Grass zeigt dies jedoch nicht nur auf, sondern beabsichtigt eine kritische Betrachtung191 und stellt den bisherigen Umgang mit der Erinnerung infrage.192 Die zweite Ebene befindet sich in der Vergangenheit und greift die Geschichte der ›Wilhelm Gustloff‹ sowie der Familie Pokriefke auf. Der Ich-Erzähler Paul konstruiert

179 Vgl. Grass 2015, S. 99. 180 Vgl. Paaß 2009, S. 422–425. 181 Vgl. Paaß 2009, S. 422; auch Grass 2015, S. 54–56. 182 Vgl. Paaß 2009, S. 424; auch Grass 2015, S. 73. 183 Vgl. beispielsweise Grass 2015, S. 15, 35–37, 63. 184 Vgl. Paaß 2009, S. 429. 185 Vgl. Grass 2015, S. 30–32. 186 Vgl. Paaß 2009, S. 435 f. 187 Vgl. Grass 2015, S. 31. 188 Vgl. Paaß 2009, S. 435. 189 Vgl. Paaß 2009, S. 424. 190 Vgl. Paaß 2009, S. 453. 191 Vgl. Paaß 2009, S. 470. 192 Vgl. Hall 2007, S. 165.

143

mittels seiner Rechercheergebnisse und den Erinnerungen seiner Mutter die Vergan- genheit.193 Der Schiffsuntergang ist auf beiden Ebenen stets zugegen. Das Leid wird durchgehend thematisiert.194 Günter Grass verhindert damit, dass die ›Wilhelm Gust- loff‹ vergessen wird und die Erinnerung während der Lektüre nachlässt.

3.4 Zwischenfazit

Das Tabu, welches Günter Grass gebrochen haben soll, ist ein gesamtdeutsches, gene- rationenübergreifendes. Die Fakten um das Thema waren durchaus bekannt, teilweise wurde auch das Leid und Elend der Flüchtlinge und Vertriebenen thematisiert. Jedoch konnte es aufgrund der Schuldfrage zu keinem festen Ausgangspunkt im kollektiven Gedächtnis der Deutschen, wie etwa dem Holocaust, werden. Innerhalb bestimmter Gruppen bzw. auf bestimmten Diskursebenen bestand das Tabu nicht. Unter den Flüchtlingen und Vertriebenen wurde darüber gesprochen, auch wenn es manche auf- grund ihres Traumas oder der Schuld- und Schamgefühle nicht konnten. Die Gefahr des Vorwurfs, die Gräuel an den Deutschen mit den Gräueln des Holocausts gleichzu- setzen, ließ jedoch die öffentliche, ungehemmte und gesamtgesellschaftliche Auseinan- dersetzung zu einem tabuisierten Vorgang werden. Demnach war sowohl das Thema als auch der konkrete Vorgang des Kommunizierens und Erinnerns im Kollektiv tabu. Es gehörte sich nicht, das Leid der Deutschen aufgrund von Flucht und Vertreibung, egal, ob von den Betroffenen selbst oder von Außenstehenden, darzustellen und damit zugleich die Perspektive einzunehmen, dass es unter den Tätern auch Opfer gegeben hatte. Die Thematisierung der Deutschen als Opfer wurde als Versuch der Aufrech- nung empfunden. In Historiker- und Künstlerkreisen wurde das Thema allerdings behandelt. Daher stellt sich die Frage, warum es zu Beginn des 21. Jahrhunderts trotzdem zu einer Dis- kussion kommen konnte bzw. die Novelle Im Krebsgang eine öffentliche Debatte aus- gelöst hat. Eine mögliche Erklärung ist, dass die vorherigen ›Tabubrüche‹ nicht zu ei- ner Aufhebung des Tabus geführt haben. Es fand demnach keine Enttabuisierung statt, nach der das Thema, gleichbedeutend mit dem Holocaust, im kollektiven Gedächtnis der Deutschen existiert und sich niemand mehr nach öffentlicher Ansprache vor einem Ausschluss aus der Gruppe zu fürchten gehabt hätte. Ende 2003 veröffentlichte die Süddeutsche Zeitung zwei Artikel, die rückblickend Folgendes äußerten: Heidemarie Uhl stellte fest, dass in den vergangenen zwei Jahren das Schicksal der Ostdeutschen neben dem Holocaust in das gesamtdeutsche, kollek- tive Bewusstsein aufgenommen wurde. Es wurde zu einem relevanten Fixpunkt, an den sich die Deutschen nun erinnerten und der zudem auf die Identitätsbildung ein- wirken konnte.195 Ulrich Raulff betonte, dass durchweg über Flucht und Vertreibung berichtet wurde, es allerdings 2003 zu einer intensiveren und unbefangenen Beschäfti- gung kam.196 Bezüglich dieser Anmerkungen ist eine andere mögliche Schlussfolgerung

193 Vgl. Paaß 2009, S. 425. 194 Vgl. Paaß 2009, S. 432. 195 Vgl. Uhl 2003, S. 14. 196 Vgl. Raulff 2003, S. 11.

144

nun, dass Günter Grass lediglich ein Teil eines länger andauernden Enttabuisierungs- prozesses war und das Interesse an diesem Thema und die Intensität der Auseinander- setzung durch seine Novelle und seine Person verschärft wurden. Das steigende Inte- resse hat somit Öffentlichkeit konstituiert. Die Veröffentlichung war demnach ein so- genanntes diskursives Ereignis, das den bereits bestehenden Austausch, unabhängig, ob dieser Diskurs nun auf einer oder mehreren Diskursebene/n stattfand, in eine an- dere Richtung lenkte, bzw. den bisherigen Diskurs intensivierte. Der Autor hat es mit- hilfe seines Bekanntheitsgrads geschafft, das Thema, losgelöst von den einzelnen Grup- pen, zum Gegenstand eines öffentlichen Diskurses zu machen und somit die Möglich- keit zur Aufnahme ins kollektive Gedächtnis eröffnet. Die Novelle Im Krebsgang gilt demnach nur als einer von vielen Tabubrüchen, mit dem allerdings der Enttabuisie- rungsprozess zunehmend intensiviert wurde.

4 Analyse der Medienagenda

4.1 Fragestellung und Richtung der Analyse

Inhaltsanalysen sind theoriegeleitet.197 »Begreift man […] Theorie als System allgemei- ner Sätze über den zu untersuchenden Gegenstand, so stellt sie nichts anderes als die gewonnenen Erfahrungen anderer über diesen Gegenstand dar.«198 Die Theorie, wel- che der vorliegenden Arbeit zugrunde liegt, wird demnach als gewonnene Erfahrung über die Gegenstandsbereiche Tabu, Tabubruch, Erinnerungskultur der Deutschen, Günter Grass und Im Krebsgang verstanden. Diese Erfahrung ist die Basis für die fol- gende Inhaltsanalyse und bildet sich aus der Forschungsliteratur zu den jeweiligen The- men.199 Ein Tabubruch kann zu einer Enttabuisierung führen. Durch die Verletzung wird ein Diskurs ausgelöst, der eine Aufhebung, Stärkung oder Schwächung des Tabus er- möglichen kann und infolgedessen ebenso dazu fähig ist, eine Wandlung der Identität zu verursachen. Die Frage, die sich daraus ableiten lässt, ist, ob der literarische Tabubruch von Grass mittels Verschärfung des Diskurses das Tabu letzten Endes auf- hebt, abschwächt oder verstärkt. Tabuverletzungen wurden bereits vollzogen, aller- dings konnten sie die Einstellung, Deutsche nicht als Opfer darstellen zu dürfen, weil es zu einer Abschwächung der Gräuel des Holocaust geführt hätte, nicht verwerfen. Dafür sprechen beispielsweise die Reaktionen auf die Debatte um das Zentrum gegen Vertreibungen, denn zahlreiche Artikel problematisierten dieses Vorhaben und disku- tierten im Zuge dessen über die Darstellung der Deutschen als Opfer.200 Die Veröffentlichung der Novelle von Grass wird als diskursives Ereignis angese- hen, das den Diskurs selbst intensiviert und folglich auch beeinflusst. Daher soll die Medienagenda nach deren Erscheinen betrachtet werden. Um allerdings beurteilen zu

197 Vgl. Mayring 2015, S. 58–60. 198 Mayring 2015, S. 59 f. 199 In Anlehnung an Mayering 2015, S. 58–60. 200 Vgl. beispielsweise Mönch 2003, S. 37; Bartoszewski 2003, S. 9; Urban 2002, S. 9; Hofmann 2003.

145

können, ob Im Krebsgang durch die Intensivierung zu einer Aufhebung des Tabus ge- führt hat, muss ein bestimmter Aspekt auf der Medienagenda gesucht werden. Artikel zu der Debatte um Günter Grass als vermeintlich ersten Tabubrecher und Texte, die sich mit der Debatte um den richtigen Umgang mit dem Thema befassen, werden zur Kenntnis genommen, sind allerdings kein Indiz für eine Enttabuisierung. Texte hin- gegen, die sich mit Flüchtlingen und Vertriebenen beschäftigen, in denen diese even- tuell zu Wort kommen und selbst ihre traumatischen Erfahrungen darstellen, ohne dass zugleich die Leiddarstellung problematisiert wird, sind als Anzeichen für eine Ent- tabuisierung zu sehen. Die Fragestellung für die Analyse ist somit, ob auf der Agenda der ausgewählten Medien ein affektiver Zugang in Form von Leiddarstellungen aufgrund von Flucht und Vertreibung geschaffen wird und so die Deutschen als Opfer in den Vordergrund gestellt werden.

4.2 Vorgehensweise

Größtenteils betreffen die Fragestellungen einen zu großen Untersuchungsbereich, so- dass aus dem Material nur ein Ausschnitt analysiert werden kann.201 So ist es auch hinsichtlich der vorliegenden Forschungsfrage. Diese bezieht sich auf die Grundge- samtheit der in Deutschland bestehenden und aktiven Medien. Da es allerdings nicht möglich ist, die Agenda aller Medienprodukte in die Analyse einzubeziehen, kann nur eine Teilmenge berücksichtigt werden. Aus der Grundgesamtheit wird demnach eine nach bestimmten Kriterien getroffene Stichprobe ausgewählt. Herangezogen werden ausschließlich Printerzeugnisse aus dem Zeitschriften- und Zeitungsbereich. Zudem werden überregionale und reichweitenstarke Printprodukte gewählt, die unterschiedli- che Themenbereiche innerhalb des Produkts abdecken, damit die Auswahl als best- mögliches Abbild der Gesellschaft gelten kann. In die Analyse fließen die Tageszeitun- gen Frankfurter Allgemeine Zeitung, Süddeutsche Zeitung, Die Welt und die Wochen- zeitung Die Zeit ein. Diese sind nicht nur reichweitenstarke und überregionale Zei- tungsprodukte, sondern gelten auch als meinungsprägende Medienerzeugnisse.202 Er- gänzt wird das Material um die Zeitschriften Der Spiegel und Focus Magazin, da diese ebenfalls während des Untersuchungszeitraums zwei reichweiten- und umsatzstarke Zeitschriften in Deutschland waren.203 Der Untersuchungszeitraum beschränkt sich auf den 1. Februar 2002 bis 31. De- zember 2003. Aus der zuvor analysierten Forschungsliteratur zu Grass und Im Krebs- gang sowie aus der medialen Debatte um diese Novelle ergab sich, dass Grass keines- wegs der Erste und Einzige war, der sich mit diesem Thema auseinandergesetzt hatte.

201 Vgl. Früh 2015, S. 100. 202 Vgl. Duncker 2000, S. 41 f. Die Forschungsarbeit ist aus dem Jahre 2000. Zudem sind auf der In- ternetseite der Informationsgemeinschaft zur Feststellung der Verbreitung von Werbeträgern e. V. Da- ten zu den verkauften Auflagen aus den Jahren 2002 und 2003 zu finden. Vgl. Informationsgemein- schaft zur Feststellung der Verbreitung von Werbeträgern e. V. o. J. Des Weiteren sind auf der Web- seite des Bundesverbands Deutscher Zeitungsverleger Zusammenstellungen zu den Quartalsauflagen 2002 und 2003 der Zeitungen vorzufinden. Vgl. Bundesverband Deutscher Zeitungsverleger e. V. 2003a und 2003b 203 Vgl. Verband Deutscher Zeitschriftenverleger e. V. o. J.

146

Zudem trugen sich während und nach der Veröffentlichung immer wieder politische oder literarische Ereignisse zu, etwa die Debatte um das Zentrum gegen Vertreibungen, die Debatte um die Beneš-Dekrete im Zuge der EU-Erweiterung oder die Veröffentli- chung von Jörg Friedrichs Buch zum Bombenkrieg, die eine erneute Beschäftigung mit Flucht und Vertreibung bzw. den Deutschen als Opfer angestoßen haben.204 Die Fest- legung des Untersuchungszeitraums auf einen späteren Zeitpunkt ist daher problema- tisch, da das Referenzieren der entsprechenden Artikel zu Im Krebsgang mit zunehmen- dem zeitlichen Abstand deutlich schwieriger wird. Die Untersuchung der Medienagenda wird mithilfe der Inhaltsanalyse vollzogen. Das methodische Vorgehen innerhalb der Analyse wird durch das Kategoriensystem bestimmt.205 Dieses ist sowohl für die quantitative als auch für die qualitative Inhalts- analyse das wesentliche Arbeitsinstrument.206 In Anbetracht der zuvor geäußerten Richtung der Analyse wird sich in erster Linie der qualitativen Inhaltsanalyse bedient. Es wird nicht nur, wie etwa bei der quantitativen Inhaltsanalyse, nach bestimmten Merkmalen gesucht und deren Häufigkeit und Verteilung analysiert,207 sondern der gesamte Inhalt der Artikel untersucht. Was der Text aussagt, wird im Rahmen der qualitativen Inhaltsanalyse beantwortet.208 2002 und 2003 wurden Artikel zu Flucht und Vertreibung publiziert. Einzelne Veröffentlichungen erfolgten jedoch auch auf- grund anderer Vorhaben, wie etwa dem Bau des Zentrums gegen Vertreibungen oder der Beneš-Dekrete im Zuge der EU-Erweiterung. Um diese Texten auszuschließen, müssen sie gelesen und gedeutet werden, nur so können die gesetzten Kategorien aus- findig gemacht werden. Dies geschah während der Analyse jedoch erst in einem zwei- ten Schritt. Das untersuchte Material ist digitalisiert und über Datenbankarchive oder über die jeweilige Webseite zugänglich. Zuerst wurden über eine erweiterte Suchfunk- tion Artikel zum Thema Flucht und Vertreibung herausgefiltert und im nächsten Schritt mittels der qualitativen Inhaltsanalyse untersucht. Die Kategorien beziehen sich auf die zuvor festgelegte Fragestellung der Analyse und stützen sich auf die im ers- ten Teil der Arbeit gewonnenen Kenntnisse über den Gegenstand. Bestimmt wurden solche Einheiten, die auf eine Thematisierung von Einzelschicksalen in Verbindung mit Elend und Leid verweisen. Bei der Analyse der Texte wurde daraufhin entschieden, ob diese Einheit vorhanden ist oder nicht.209 In Anlehnung an das gewonnene Wissen zu dem Gegenstand wurden folgende Kategorien gewählt: Zum einen wurde die Kate- gorie ›Einzelschicksal‹ als Einheit festgelegt. Diese ist daran zu erkennen, ob über eine reale Person, welche die Ereignisse miterlebt hat, berichtet wird oder diese sogar selbst in dem Artikel zu Wort kommt. Zum anderen wurden die Ursachen für Leid und Elend wie etwa ›Flucht‹, ›Vertreibung‹, ›Kälte‹, ›Hunger‹, ›Verschleppung‹, ›Zwangsar- beit‹, ›Internierung‹, ‹Mord‹, ›Vergewaltigung‹, ›Tod‹, ›Angst‹ oder ›Krankheit‹ zu den Kategorien gezählt.

204 Vgl. Hirsch 2002, S. 9; Kellerhoff 2003, S. 28; Brössler / Fried 2002, S. 1; Jäger 2002, S. 35. 205 Vgl. Früh / Mayring 2002, S. 239. 206 Vgl. Mayring 2015, S. 51. 207 Vgl. Früh 2015, S. 69. 208 Vgl. Früh 2015, S. 69. 209 In Anlehnung an Früh 2015, S. 78–80.

147

4.3 Ergebnisse der Inhaltsanalyse

Am 1. Juni 2002 wurde ein Spiegel Special zum Thema Flucht und Vertreibung her- ausgegeben. Auf ungefähr 130 Seiten widmeten sich die Journalisten ausführlich die- sem Gegenstand. Neben politischen Fakten sind Darstellungen zu finden, die das Leid und das Elend thematisieren. Flüchtlinge und Vertriebene kommen zu Wort und kön- nen über ihre Einzelschicksale berichten.210 Vorkommnisse wie Internierung, Abtrans- port und Ermordung werden erwähnt.211 Einige der Artikel hatte der Spiegel bereits zuvor in einer vierteiligen Themen-Serie zu Flucht und Vertreibung und auch zum Erscheinen der Novelle Im Krebsgang veröffentlicht.212 Am 04. Februar 2002 publi- zierte die Zeitschrift, neben einer Rezension213 zu Im Krebsgang und einem Artikel von Rudolf Augstein,214 zwei Artikel, die sich ausschließlich mit der ›Wilhelm Gustloff‹ beschäftigen. Innerhalb der Texte werden Einzelschicksale auf der ›Wilhelm Gustloff‹ geschildert. Die Überlebenden werden zitiert und beschreiben die letzten, leidvollen Minuten vor dem Untergang des Schiffs.215 In der Serie zu diesem Thema, die am 25. März 2002 startete und am 15. April 2002 endete,216 sind neben Artikeln, die sich mit dem früheren und heutigen Umgang mit diesem Thema beschäftigen, abermals Leiddarstellungen und Einzelschicksale wiederzufinden. Die Artikel Vater, erschieß mich!,217 Lauft, ihr Schweine!,218 Eine teuflische Lösung219 und Hitlers letzte Opfer220 do- kumentieren Einzelschicksale im Hinblick auf Flucht und Vertreibung. Erfahrenes Leid durch Tod, Kälte, Hunger, Vergewaltigung, Verschleppung, Zwangsarbeit oder Internierung werden erwähnt und thematisiert.221 Erst im neuen Jahr wurden die trau- matischen Erfahrungen der Deutschen nach dem Kriegsende erneut zum Gegenstand verschiedener Publikationen. Am 1. April 2003 brachte der Spiegel ein weiteres Spiegel Special heraus, in dem es um die Deutschen als Opfer ging und abermals das Elend unter der deutschen Bevölkerung thematisiert wurde. Die Ursache für diese Leiderfah- rungen war allerdings nicht Flucht und Vertreibung, sondern der Bombenkrieg auf

210 Vgl. Inhaltsverzeichnis. Spiegel Special 2/2002. 211 Vgl. Inhaltsanalyse, Nr. 14; auch Meyer 2002, S. 60 f. Die analysierten Artikel finden sich in num- merischer Reihenfolge im Anhang. Diese wurden nach bibliographischen Angaben, inhaltlichen As- pekten und den vorgefundenen Kategorien erfasst. 212 Vgl. Inhaltsverzeichnis. Spiegel Special 2/2002; Darnstädt / Wiegrefe 2002a, S. 40–60; Darnstädt / Wiegrefe 2002b, S. 58–68; Darnstädt / Wiegrefe 2002c, S. 56–66; vgl. Höges / Meyer / Wiedemann et al. 2002, S. 192–202. 213 Vgl. Hage 2002a, S. 184–190. 214 Vgl. Augstein 2002, S. 186–187. 215 Vgl. Inhaltsanalyse, Nr. 8 und 9; auch Höges / Meyer / Wiedemann et al. 2002, S. 192–202; Schrep 2002, S. 196–197. 216 Vgl. Inhaltsverzeichnis. Der Spiegel 13/2002; Inhaltsverzeichnis. Der Spiegel 14/2002; Inhaltsver- zeichnis. Der Spiegel 15/2002; Inhaltsverzeichnis. Der Spiegel 16/2002. 217 Vgl. Darnstädt / Wiegrefe 2002a, S. 40–60. 218 Vgl. Darnstädt / Wiegrefe 2002b, S. 58–68. 219 Vgl. Darnstädt/Wiegrefe 2002c, S. 56–66. 220 Vgl. Wiegrefe 2002, S. 62 f. 221 Vgl. Inhaltsanalyse, Nr. 10–13.

148

deutsche Städte.222 Die Auseinandersetzung mit dem Bombenkrieg begann bereits im Januar 2003, wiederum mit einer Themen-Serie.223 Ob die Entscheidung der Spiegel- Redaktion, das Elend unter den Deutschen infolge des Bombenkriegs nun ins Zent- rum zu stellen, auf Im Krebsgang oder auf das Buch von Jörg Friedrich, Der Brand, zurückzuführen ist, kann nicht eindeutig zugeordnet werden. Unabhängig von diesen Publikationen konnten keine weiteren, klaren Auseinandersetzungen mit Flucht und Vertreibung im Hinblick auf die Kategorien gefunden werden. Es folgten zwar Mitte April zwei Veröffentlichungen, in denen die traumatischen Erfahrungen der Frauen nach Kriegsende im Mittelpunkt stehen, allerdings wird ausschließlich Berlin fokus- siert. In den Artikeln wird die Vergewaltigung durch russische Soldaten der Roten Ar- mee thematisiert. Dies war auch ein Schicksal der flüchtigen und vertriebenen Frauen, jedoch werden sie in dem Artikel mit keinem Wort erwähnt.224 Des Weiteren wurde das Thema nur in Bezug auf den Streit um das Zentrum gegen Vertreibungen225 und innerhalb eines Interviews mit Siegfried Lenz226 besprochen. Flucht und Vertreibung werden im Jahr 2002 im Focus Magazin nur im Hinblick auf das Zentrum gegen Vertreibungen und den gegenwärtigen, richtigen Umgang mit den Vertriebenen behandelt. 2003 wird diese Diskussion weitergeführt.227 Drei Artikel über das Leid und Elend der Deutschen kamen allerdings zum Vorschein. Jedoch be- fasst sich eine Publikation ausschließlich mit Leiderfahrungen, die infolge des Bom- benkriegs gemacht wurden.228 Die Veröffentlichung am 7. Juni 2003 von Alexandra Klausmann hingegen thematisiert die Hinrichtung von Deutschen in Böhmen. Ein ›Nicht-Betroffener‹ hat diese miterlebt und berichtet über das Leid, das aufgrund von Tod und Internierung entstand.229 Eugen Georg Schwarz vergegenwärtigte zudem im Dezember 2003 das Schicksal einer vor den Russen flüchtenden Familie. Indem Schwarz schildert, wie eine Mutter versucht, durch Vergiftung ihre Kinder vor Ver- schleppung und Vergewaltigung zu bewahren, verdeutlicht er die Verzweiflung, die unter den Flüchtlingen herrschte.230 Weitere Auseinandersetzungen konnten nicht aus- findig gemacht werden. Kurz nach dem Erscheinen von Im Krebsgang wurde sich in der Frankfurter Allge- meinen Zeitung mehrmals mit Flucht und Vertreibung, jedoch in Verbindung mit der Novelle, auseinandergesetzt. Es wurde stets auf vorherige Abhandlungen zu diesem Thema verwiesen und angemerkt, dass Günter Grass nicht der Erste war, der diese Problematik publizierte.231 Daneben wurde auch die Diskussion um die Beneš-Dekrete

222 Vgl. Inhaltsverzeichnis. Spiegel Special 1/2003. 223 Vgl. beispielsweise Bölsche 2003, S. 38–50; Bickerich 2003, S. 58–64. 224 Vgl. Kronsbein 2003, S. 182–185; Hage 2003, S. 184 f. 225 Vgl. Kloth 2003, S. 36 f. 226 Vgl. Hage / Doerry 2003, S. 142–146. 227 Vgl. beispielsweise Dometeit / Klausmann 2002, S. 202; Zorn 2002, S. 78; Dometeit / Flückiger 2003, S. 216; Krumrey 2003, S. 59; Jach 2003, S. 56. 228 Vgl. Thiede 2002, S. 104. 229 Vgl. Inhaltsanalyse, Nr. 4; auch Klausmann 2003, S. 192. 230 Vgl. Inhaltsanalyse, Nr. 5; auch Schwarz 2003, S. 58. 231 Vgl. beispielsweise Blasius 2002a, S. 10; Spiegel 2002, S. 56; Bartetzko 2002, S. 45.

149

aufgegriffen.232 Im Juni wurde ein Artikel zur Erinnerungsgeschichte veröffentlicht, der sich mit Filmen zu Flucht und Vertreibung auseinandersetzte.233 Am Ende des Jah- res 2002 wurde Jörg Friedrichs Buch rezensiert. In diesem Zusammenhang wurde da- rauf hingewiesen, dass das Buch, wie bereits Im Krebsgang, die Problematik der Auf- rechnung unterstreichen würde.234 Bis auf den Artikel über Zwangsarbeit von Barbara Wieland235 im August, ist 2002 nichts in Erscheinung getreten. Wieland stellt in ihrem Artikel deutsches Leid in Form von Hunger, Kälte, Verschleppung, Vergewaltigung, Krankheit und Tod als Folge von Flucht und Vertreibung dar.236 Die Medienagenda von 2003 wird ebenso in erster Linie von dem Streit um das Zentrum gegen Vertrei- bungen und der Diskussion um die Beneš-Dekrete bestimmt.237 Einzelschicksale und Leiddarstellungen sind nicht mehr zu finden. Ähnliches ist auch über die Süddeutsche Zeitung zu berichten. Zwei Artikel passen zu den gewählten Kategorien. Zunächst erschien im August 2002 ein Text, der über die Vergangenheitsbewältigung von Rentnern berichtet.238 Diese kommen dabei selbst zu Wort und schildern etwa, dass die eigenen Eltern die Vergewaltigung der Tochter durch die Russen miterleben mussten.239 In dem anderen Artikel, der 2003 erschien, wurden persönliche Erinnerungen von Edeltraut Wagner abgedruckt, die von Verge- waltigungen, Kopfläusen und Kälte erzählt.240 Neben diesen beiden Veröffentlichun- gen sind weitere Artikel zu Flucht und Vertreibung zu finden. Jedoch werden keine Einzelschicksale dargelegt. Die Texte beziehen sich wieder auf die Diskussion um das Zentrum gegen Vertreibungen oder die Beneš-Dekrete und die damit ebenso zusam- menhängende Opfer-Täter-Debatte. Der richtige Umgang mit Flucht, Vertreibung und Bombenkrieg wird beleuchtet und die Erinnerungs- und Gedächtniskultur hin- terfragt.241 Flucht, Kälte, Zwangsarbeit, Hunger und Tod werden als Thema im Zusammen- hang mit Flucht und Vertreibung bereits Mitte März in der Wochenzeitung Die Zeit aufgegriffen. Marc Hoepfner berichtet über das Schicksal von zwei Brüdern242 und Ma- rion Doenhoff erzählt über ihre Flucht auf einem Pferd in den Westen.243 Weitere Stellen, an denen von Flucht und Vertreibung die Rede ist, sind auf die Diskussionen um die Beneš-Dekrete und um das Zentrum gegen Vertreibungen zurückzuführen. Die im Zuge dessen auftretenden Fragen, wie Deutschland, Polen oder Tschechien mit der Vertreibung umzugehen haben, wie sich zu erinnern sei und der damit in Verbindung

232 Vgl. beispielsweise Blasius 2002b, S. 12; Reißmüller 2002, S. 7; Ludwig 2002, S. 1. 233 Vgl. Moeller 2002, S. 50. 234 Vgl. Jäger 2002, S. 35; Wapnewski 2002, S. 33. 235 Vgl. Wieland 2002, S. 3. 236 Vgl. Inhaltsanalyse, Nr. 3; auch Wieland 2002, S. 3. 237 Vgl. beispielsweise Schwarz 2003, S. 3; Bartoszewski 2003, S. 9; Mönch 2003, S. 37. 238 Vgl. Steinberger 2002, S. 3. 239 Vgl. Inhaltsanalyse, Nr. 1; auch Steinberger 2002, S. 3. 240 Vgl. Inhaltsanalyse, Nr. 2; auch Bergwanger 2003, S. R 5. 241 Vgl. beispielsweise Brössler / Fried 2002, S. 1; Krebs 2002, S. 7; Urban 2002, S. 9; Ther 2003, S. 2; Zimmermann 2003, S. 11; Uhl 2003, S. 14; Raulff 2003, S. 11. 242 Vgl. Inhaltsanalyse, Nr. 6; auch Hoepfner 2002. 243 Vgl. Inhaltsanalyse, Nr. 7; auch Doenhoff 2002.

150

stehende Opferdiskurs, werden unabhängig von Einzelschicksalen und Leiddarstellun- gen behandelt.244 Im Februar dominierten in der Tageszeitung Die Welt Artikel, die sich mit Günter Grass und seiner Novelle auseinandersetzen.245 Ende Februar erschien jedoch ein Arti- kel, der sich mit der Erinnerungsgeschichte im Allgemeinen beschäftigt. Allerdings ka- men weder Betroffene zu Wort, noch wurden Einzelschicksale oder erfahrenes Leid erwähnt.246 Bis Jahresende wird das Thema Flucht und Vertreibung immer wieder auf- genommen, angestoßen von Im Krebsgang, von Jörg Friedrichs Buch, von dem Streit um das Zentrum gegen Vertreibungen oder den Beneš-Dekreten. Allerdings wird der Umgang mit der Geschichte, mit der Erinnerung und mit der Schuldfrage thematisiert, die Schicksale von einzelnen Flüchtlingen und Vertriebenen werden nicht angespro- chen.247 2003 ist das Bild ähnlich. Es können keine konkreten Thematisierungen von Einzelschicksalen oder Leiddarstellungen ausfindig gemacht werden, geschweige denn, dass Betroffene zu Wort kommen. Am Jahresanfang wird sich in Bezug auf Grass und Friedrich zu der ausgelösten Debatte um Flucht und Vertreibung geäußert.248 Die Dis- kussion um die Beneš-Dekrete und um das Zentrum gegen Vertreibungen bewirkte so- wohl in der Mitte als auch am Ende des Jahres, dass die Vertreibung der Deutschen am Ende des Zweiten Weltkriegs Teil der Medienagenda war. Weitere Artikel im Jahr 2003 beschäftigen sich mit der Geschichts- und Erinnerungspolitik und mit der Frage, wie mit dem Thema Flucht und Vertreibung öffentlich umzugehen sei.249

5 Der Tabubruch bei Im Krebsgang als Auslöser eines kol- lektiven Identitätswandels?

Ein Tabu kennzeichnet in der Regel Gegenstände, Handlungen oder Themengebiete, die gänzlich vermieden werden sollen. Nicht einmal die Diskussion darüber wird zu- gelassen. Wenn sich allerdings das Tabu als Hindernis für den kulturellen oder sozialen Fortschritt erweist und somit die schützende und wünschenswerte Wirkung zuneh- mend abgelehnt wird, kann es zu einem Tabubruch kommen. Der Vorgang der Tabu- isierung erlebt damit einen Bruch. Ein Tabuthema wird kommuniziert und der Entta- buisierungsprozess, an dessen Ende bestenfalls die Aufhebung des Tabus steht, wird diskursiv gestartet. Das Thema kann nach der Enttabuisierung ohne Unbehagen kom- muniziert werden.

244 Vgl. beispielsweise Krzeminski 2002; Hartung 2002; Ross 2002; Müller 2003; Weiss 2003; Kola- kowski 2003; Hofmann 2003; Schlögel 2003. 245 Vgl. beispielsweise o. V. 2002, S. 1; Wittstock 2002, S. 28; Schneider 2002, S. 27; Krauel 2002, S. 8. 246 Vgl. Wolfrum 2002, S. 38. 247 Vgl. beispielsweise Gnauck 2002, S. 7; Hirsch 2002, S. 9; Beevor 2002, S. 7; Kamann 2002, S. 27; Seewald 2002, S. 27. 248 Vgl. Seitz 2003, S. 28. 249 Vgl. beispielsweise Meixner 2003, S. 34; Kellerhof 2003, S. 28; Facius 2003, S. 4; Gnauck 2003, S. 6; Fuhr 2003, S. 27; Gebert 2003, S. 5; Ackermann 2003, S. 9.

151

Solch ein klarer Enttabuisierungsprozess konnte bei dem Tabubruch von Günter Grassʼ Im Krebsgang nicht festgestellt werden. Zu Beginn wurde angenommen, dass es sich bei der Novelle um einen Tabubruch handelt, der zuvor noch nie stattgefunden hatte, und das Tabu außerhalb der Diskussion stehen würde. Im Anschluss konnte jedoch das Tabu als Partialtabu markiert werden. Das Thema wurde nicht gänzlich tabuisiert, sondern nur ein bestimmter Umgang bzw. Zugang war nicht erwünscht. Fakten wurden erwähnt, ein affektiver Zugang fand allerdings nicht statt. Die Darstel- lung des Leids der deutschen Flüchtlinge und Vertriebenen und der damit im Zusam- menhang stehende, mögliche Aufbau einer emotionalen Beziehung zu den Ereignissen galten als tabu. Die Deutschen als Opfer zu thematisieren, wurde als Versuch der Auf- rechnung angesehen. Die Reaktionen auf Im Krebsgang verstärkten allerdings die An- nahme, dass das Tabu noch differenzierter zu betrachten sei, da der Geltungsbereich des Tabus sich als sehr komplex erwies. Dies deutete sich auch bereits bei Kraft, der das Thema als Partialtabu kennzeichnete, an. Die Tabuisierung fand in der Regel in- nerhalb bestimmter Gruppen, etwa in Künstler- und Historikerkreisen und unter den Betroffenen selbst, nicht statt. Flucht und Vertreibung als leidvolle Erfahrung der Deutschen war allerdings kein Ereignis, das im kollektiven Gedächtnis fest verankert war und auf diese Weise identitätsstiftend für das Kollektiv wirken konnte. Die kol- lektive, öffentliche, gesamtdeutsche Tabuisierung verhinderte die Aufnahme in das kollektive Gedächtnis. Aufgrund des komplexen Geltungs- und Tabuisierungsbereichs sowie der Tatsache, dass es bereits vorher Auseinandersetzungen gegeben hatte, konnte bei Im Krebsgang überraschenderweise kein eindeutiger Bruch identifiziert werden. Die vorherigen Aus- einandersetzungen in Form von Büchern oder Filmen hatten bereits das Tabu gebro- chen und führten zu einem Wissensaustausch über Flucht und Vertreibung. Die Re- aktionen auf die Veröffentlichung der Novelle zeigten jedoch, dass Grass trotz allem ein noch bestehendes Tabu verletzt hatte. Zurückzuführen ist dies auf die Annahme, dass die zuvor vollzogenen Übertretungen nicht zu einer Aufhebung des Tabus geführt hatten. Im Krebsgang ist daher als ein Tabubruch von vielen innerhalb des Diskurses bzw. Enttabuisierungsprozesses zu sehen, der als diskursives Ereignis den Vorgang in- tensiviert hat. Die Untersuchung der Medienagenda ergab, dass auch Ende 2003 nicht von einer Aufhebung des Tabus gesprochen werden kann. Die Annahme wurde bestätigt, dass Grass den Diskurs verschärfte, dafür sprechen die Reaktionen auf die Novelle und die Debatte um Günter Grass als Tabubrecher. Jedoch wurden in dem Untersuchungsma- terial lediglich 14 Artikel gefunden, die unabhängig von der Frage, wie das Thema zu behandeln sei, und ohne den Umgang und die Erinnerungsstrategien zu hinterfragen, die Deutschen als Opfer und deren erfahrenes Leid aufgegriffen haben. In Anbetracht des Untersuchungszeitraums von fast zwei Jahren und u. a. drei täglich erscheinenden Presseerzeugnissen als Analysematerial erscheint dies als recht wenig. Die Diskussion um das Tabu selbst, ausgelöst u. a. auch durch andere Ereignisse, beherrschte bis 2003 noch die Medienagenda. Dennoch muss eine Identitätswandlung nicht gänzlich ausgeschlossen werden. Denn auch wenn eine Aufhebung des Tabus nicht zu erkennen ist, kann bereits die kleinste Abschwächung als Veränderung der Identität gedeutet werden. Die steigende

152

mediale Kommunikation, ausgelöst von Im Krebsgang, hat eine Öffentlichkeit geschaf- fen, deren allgemeines Merkmal ein Gegenstand von kollektivem Interesse ist. Die Frage, ob das Leid der Deutschen aufgrund von Flucht und Vertreibung nach dem Erscheinen von Im Krebsgang im kollektiven Gedächtnis verankert wurde, ist nicht zu beantworten. Jedoch kann angenommen werden, dass aufgrund der medialen, diskur- siven Kommunikation öffentliches und kollektives Interesse für dieses Thema bestand. Nicht zuletzt, da es auch die Medien sind, die den gesellschaftlichen Diskurs selbst thematisieren und diesen durch die Medienagenda beeinflussen.

Quellenverzeichnis

BBC HISTORY: Captain James Cook (1728–1779). URL: http://www.bbc.co.uk/his- tory/historic_figures/cook_captain_james.shtml [27.07.2016]. BUNDESVERBAND DEUTSCHER ZEITUNGSVERLEGER E. V.: IVW 4/2002. Überregio- nale Zeitungen verlieren im Einzelkauf. URL: http://www.bdzv.de/maerkte-und- daten/wirtschaftliche-datge/artikel/detail/ivw_42002_ueberregion- ale_zeitungen_verlieren_im_einzelverkauf/ [28.01.2003a/10.09.2016]. BUNDESVERBAND DEUTSCHER ZEITUNGSVERLEGER E. V.: IVW 3/2003. Wochen- zeitungen legen weiter zu. http://www.bdzv.de/maerkte-und-daten/wirtschaftli- che-lage/artikel/detail/ivw_32003_wochenzeitungen_legen_weiter_zu/ [04.11.2003b/10.09.2016].

Der Spiegel ‒ AUGSTEIN, RUDOLF: Rückwärts krebsen, um voranzukommen. In: Der Spie- gel 56 (2002), H. 6, S. 186–187. URL: http://magazin.spiegel.de/EpubDe- livery/spiegel/pdf/21362877 [04.02.2002/05.09.2016]. ‒ BICKERICH, WOLFRAM: »Die Moral blieb intakt.« In: Der Spiegel 57 (2003), H. 5, S. 58–64. URL: http://magazin.spiegel.de/EpubDelivery/spie- gel/pdf/26218446 [27.01.2003/04.09.2016]. ‒ BÖLSCHE, JOCHEN: »So muss die Hölle aussehen.« In: Der Spiegel 57 (2003), H. 2, S. 38–50. URL: http://magazin.spiegel.de/EpubDelivery/spie- gel/pdf/26060054 [06.01.2003/05.10.2016]. ‒ DARNSTÄDT, THOMAS / WIEGREFE, KLAUS: »Vater, erschieß mich!« In: Der Spiegel 56 (2002a), H. 13, S. 40–60. URL: http://magazin.spiegel.de/Epub- Delivery/spiegel/pdf/21856132 [25.03.2002/04.09.2016]. ‒ DARNSTÄDT, THOMAS / WIEGREFE, KLAUS: »Lauft, ihr Schweine!« In: Der Spiegel 56 (2002b), H. 14, S. 58–68. URL: http://magazin.spiegel.de/Epub- Delivery/spiegel/pdf/21963826 [30.03.2002/04.09.2016]. ‒ DARNSTÄDT, THOMAS / WIEGREFE, KLAUS: »Eine teuflische Lösung.« In: Der Spiegel 56 (2002c), H. 15, S. 56–66. URL: http://magazin.spiegel.de/E- pubDelivery/spiegel/pdf/22019259 [08.04.2002/04.09.2016].

153

‒ HAGE, VOLKER: Das tausendmalige Sterben. In: Der Spiegel 56 (2002a), H. 6, S. 184–190. URL: http://magazin.spiegel.de/EpubDelivery/spie- gel/pdf/21362876 [04.02.2002/05.09.2016]. ‒ HAGE, VOLKER: Literaturdebatte. Autoren unter Generalverdacht. URL: http://www.spiegel.de/kultur/literatur/literaturdebatte-autoren-unter-general- verdacht-a-190969.html [09.04.2002b/06.09.2016]. ‒ HAGE, VOLKER: »Befreiung? Seltsames Wort.« In: Der Spiegel 57 (2003), H. 16, S. 184 f. URL: http://magazin.spiegel.de/EpubDelivery/spie- gel/pdf/26856198 [14.04.2003/04.09.2016]. ‒ HAGE, VOLKER / DOERRY, MARTIN: »Manchmal muss man zuschlagen.« In: Der Spiegel 57 (2003), H. 27, S. 142–146. URL: http://magazin.spie- gel.de/EpubDelivery/spiegel/pdf/27497210 [30.06.2003/04.09.2016]. ‒ HÖGES, CLEMENS / MEYER, CORDULA / WIEDEMANN, ERICH et al.: Die ver- drängte Tragödie. In: Der Spiegel 56 (2002), H. 6, S. 192–202. URL: http://magazin.spiegel.de/EpubDelivery/spiegel/pdf/21362213 [04.02.2002/04.09.2016]. ‒ INHALTSVERZEICHNIS. SPIEGEL SPECIAL 2/2002. URL: http://www.spie- gel.de/spiegel/spiegelspecial/index-2002-2.html [05.10.2016]. ‒ INHALTSVERZEICHNIS. DER SPIEGEL 13/2002. URL: http://www.spie- gel.de/spiegel/print/index-2002-13.html [05.10.2016]. ‒ INHALTSVERZEICHNIS. DER SPIEGEL 14/2002. URL: http://www.spie- gel.de/spiegel/print/index-2002-14.html [05.10.2016]. ‒ INHALTSVERZEICHNIS. DER SPIEGEL 15/2002. URL: http://www.spie- gel.de/spiegel/print/index-2002-15.html [05.10.2016]. ‒ INHALTSVERZEICHNIS. DER SPIEGEL 16/2002. URL: http://www.spie- gel.de/spiegel/print/index-2002-16.html [05.10.2016]. ‒ INHALTSVERZEICHNIS. SPIEGEL SPECIAL 1/2003. URL: http://www.spie- gel.de/spiegel/spiegelspecial/index-2003-1.html [05.10.2016f]. ‒ KLOTH, HANS MICHAEL: »Wunde Punkte.« In: Der Spiegel 57 (2003), H. 32, S. 36 f. URL: http://magazin.spiegel.de/EpubDelivery/spie- gel/pdf/28102381 [04.08.2003/04.09.2016]. ‒ KRONSBEIN, JOACHIM: Die Frau als Kriegsbeute: In: Der Spiegel 57 (2003), H. 16, S. 182–185. URL: http://magazin.spiegel.de/EpubDelivery/spie- gel/pdf/26856197 [14.04.2003/04.09.2016]. ‒ MEYER, FRITJOF: Hohn für die Opfer. In: Spiegel Special 14 (2002), H. 2, S. 60–61. URL: http://magazin.spiegel.de/EpubDelivery/spie- gel/pdf/22937248 [01.06.2002/04.09.2016]. ‒ PIEPER, DIETMAR / WIEGREFE, KLAUS: Die Debatte wirkt befreiend. Inter- view mit Hans-Ulrich Wehler. In: Der Spiegel 56 (2002), H. 13, S. 61–64.

154

URL: http://magazin.spiegel.de/EpubDelivery/spiegel/pdf/21856139 [25.03.2002/05.09.2016]. ‒ PLEITGEN, FRITZ: Interview mit Günter Grass. »Ich glaube, wir haben unsere Lektion kapiert.« URL: http://www.spiegel.de/kultur/literatur/interview-mit- guenter-grass-ich-glaube-wir-haben-unsere-lektion-kapiert-a-217571.html [10.10.2002/09.09.2016]. ‒ SCHREP, BRUNO: Geboren an Bord der Gustloff. In: Der Spiegel 56 (2002), H. 6, S. 196–197. URL: http://magazin.spiegel.de/EpubDelivery/spie- gel/pdf/21362879 [04.02.2002/04.09.2016]. ‒ WIEGREFE, KLAUS: Hitlers letzte Opfer. In: Der Spiegel 56 (2002), H. 15, S. 62–63. URL: http://magazin.spiegel.de/EpubDelivery/spie- gel/pdf/22019259 [08.04.2002/04.09.2016].

Die Welt ‒ ACKERMANN, ULRIKE: Die ›europäische Lösung‹ ist bei der Beschäftigung mit den Vertreibungen eine Scheinlösung. Die Aussiedlung der Erinnerung. In: Die Welt 58 (2003), Nr. 235 vom 09.10.2003, S. 9. ‒ BEEVOR, ANTONY: Weil sich unser Verhältnis zu ihr ändert, weil sie uns än- dert. Und immer wieder: Geschichte! Und immer wieder: Geschichte! In: Die Welt 52 (2002), Nr. 244 vom 19.10.2002, S. 7. ‒ FACIUS, GERNOT: Bayerns Ministerpräsident bei den Sudetendeutschen – Vorwürfe an Prag. Stoiber: Benesch-Dekrete bleiben Thema. In: Die Welt 58 (2003), Nr. 132 vom 10.06.2003, S. 4. ‒ FUHR, ECKHARD: Das kollektive Gedächtnis lässt sich nicht an die ge- schichtspolitische Leine legen. Wege aus der Ambivalenz. In: Die Welt 58 (2003), Nr. 261 vom 08.11.2003, S. 27. ‒ GEBERT, KONSTANTY: Der Vertriebenenstreit aus polnischer Sicht. »Glotz und Steinbach planen Zentrum gegen Verständnis.« In: Die Welt 58 (2003), Nr. 248 vom 24.10.2003, S. 5. ‒ GNAUCK, GERHARD: Hinter der Demagogie sitzt eine handfeste Sorge, die Deutschland ernst nehmen sollte. Die tiefe Angst der Tschechen. In: Die Welt 52 (2002), Nr. 116 vom 22.05.2002, S. 7. ‒ GNAUCK, GERHARD: »Wenn wir über die Vergangenheit sprechen wollen, dann gemeinsam.« In: Die Welt 58 (2003), Nr. 163 vom 16.07.2003, S. 6. ‒ HIRSCH, HELGA: Wo soll das geplante Zentrum gegen Vertreibungen entste- hen: in Breslau oder Berlin? Das eigene Leid annehmen. In: Die Welt 52 (2002), Nr. 79 vom 05.04.2002, S. 9. ‒ KAMANN, MATTHIAS: Erinnerungen an gleiches Leid prägen das größer wer- dende Europa. Einen können sie es nicht. Wir sind alle Vertriebene. In: Die Welt 52 (2002), Nr. 291 vom 13.12.2002, S. 27.

155

‒ KELLERHOFF, SVEN FELIX: Nationales Museum oder europäische For- schungsstätte: Warum das ›Zentrum gegen Vertreibungen‹ nicht voran- kommt. Asymmetrische Erinnerung. In: Die Welt 58 (2003), Nr. 151 vom 02.07.2003, S. 28. ‒ KRAUEL, TORSTEN: Grass und die Grautöne. In: Die Welt 52 (2002), Nr. 35 vom 11.02.2002, S. 8. ‒ MEIXNER, SILVIA: Botschafter, Schriftsteller und Historiker debattieren die dunklen Seiten der Geschichte zwischen Deutschen, Polen und Tschechen. Krieg, Flucht und Vertreibung – Erinnern in Europa. In: Die Welt 58 (2003), Nr. 114 vom 17.05.2003, S. 34. ‒ O. V.: Das neue Buch von Günter Grass löst Debatte über Vertriebene aus. In: Die Welt 52 (2002), Nr. 30 vom 05.02.2002, S. 1. ‒ SCHNEIDER ROLF: Die Novelle ›Im Krebsgang‹: Eine notwendige Erinnerung an das Schicksal der Vertriebenen. Der beste Grass seit Jahren. In: Die Welt 52 (2002), Nr. 30 vom 05.02.2002, S. 27. ‒ SEEWALD, BERTHOLD: Die Debatte um Flüchtlinge und alliierten Bomben- krieg zerstört alte Tabus und eröffnet neue Perspektiven auf die Gegenwart. Deutschland entdeckt seine Leiden und die Trauer darum. In: Die Welt 52 (2002), Nr. 287 vom 09.12.2002, S. 27. ‒ SEITZ, NORBERT: Die deutsche Opfer-Debatte und die Kriegsgefahr im Irak. Kein präventives Mitleid. In: Die Welt 54 (2003), Nr. 13 vom 16.01.2003, S. 28. ‒ WITTSTOCK, UWE: Nachdenken über den Sensationserfolg der Novelle ›Im Krebsgang‹ von Günter Grass. Die weit offen stehende Tabu-Tür. In: Die Welt 52 (2002), Nr. 39 vom 15.02.2002, S. 28. ‒ WOLFRUM, EDGAR: Flucht und Vertreibung waren geschichtspolitischen Konjunkturen unterworfen – verdrängt wurden sie in der Bundesrepublik nicht. Vertrieben, Verdrängt, Vergessen? Rückkehr einer Erinnerung, die im- mer da war. In: Die Welt 52 (2002), Nr. 43 vom 20.02.2002, S. 28.

Die Zeit ‒ DOENHOFF, MARION: Ritt gen Westen. In: Die Zeit 57 (2002), Nr. 12 vom 14.03.2002, o. S. URL: http://pdf.zeit.de/2002/12/Ritt_gen_Westen.pdf [14.03.2002/14.09.2016]. ‒ FRANZEN, MICHAEL: Der alte Mann und sein Meer. In: Die Zeit 57 (2002), Nr. 7 vom 07.02.2002. URL: http://www.zeit.de/2002/07/Der_alte_Mann_und_sein_Meer [07.02.2002/05.09.2016]. ‒ HARTUNG, KLAUS: Feindbilder. In: Die Zeit 57 (2002), Nr. 18 vom 25.04.2002, o. S. URL: http://pdf.zeit.de/2002/18/Feindbilder.pdf [25.04.2002/14.09.2016].

156

‒ HOEPFNER, MARC: Das Wiedersehn von Belgorod. In: Die Zeit 57 (2002), Nr. 12 vom 14.03.2002, o. S. http://pdf.zeit.de/2002/12/Das_Wiederse- hen_von_Belgorod.pdf [14.03.2002/14.09.2016]. ‒ HOFMANN, G.: Unsere Opfer, ihre Opfer. In: Die Zeit 58 (2003), Nr. 30 vom 17.07.2003, o. S. URL: http://pdf.zeit.de/2003/30/Vertreibung.pdf [17.07.2003/14.09.2016]. ‒ KOLAKOWSKI, L.: Noch einmal: Über das Schlimmste. In: Die Zeit 58 (2003), Nr. 39 vom 18.09.2003, o. S. URL: http://pdf.zeit.de/2003/39/Vertriebene.pdf [18.09.2003/14.09.2016]. ‒ KRZEMINSKI, ADAM: Wo Geschichte europäisch wird. In: Die Zeit 57 (2002), Nr. 26 vom 20.06.2002, o. S. URL: http://pdf.zeit.de/2002/26/Wo_Geschichte_europaeisch_wird.pdf [20.06.2002/14.09.2016]. ‒ MÜLLER, ACHATZ VON: Volk der Täter, Volk der Opfer. In: Die Zeit 58 (2003), Nr. 44 vom 23.10.2003, o. S. URL: http://pdf.zeit.de/2003/44/OpferDeutsche.pdf [23.10.2003/14.09.2016]. ‒ ROSS, JAN: Die Vergrößerung der Vergangenheit. In: Die Zeit 57 (2002), Nr. 18 vom 25.04.2002, o. S. URL: http://pdf.zeit.de/2002/18/Die_Vergro- esserung_der_Vergangenheit.pdf [25.04.2002/14.09.2016]. ‒ SCHLÖGEL, KARL: Die Düsternis im neuen Licht. In: Die Zeit 58 (2003), Nr. 31 vom 24.07.2003, o. S. URL: http://pdf.zeit.de/2003/31/Es- say_Schl_9agel.pdf [24.07.2003/14.09.2016]. ‒ WEISS, CHRISTINA: Niemand will vergessen. In: Die Zeit 58 (2003), Nr. 41 vom 02.10.2003, o. S. http://pdf.zeit.de/2003/41/Vertriebene.pdf [02.10.2003/14.09.2016]. DUDEN ONLINE: Tabu. URL: http://www.duden.de/rechtschreibung/Tabu [01.08.2016].

Focus Magazin ‒ DOMETEIT, GUDRUN / FLÜCKIGER, PAUL: Können Deutsche Opfer sein?. In: Focus Magazin o. A. (2003), H. 39, S. 216. URL: http://www.focus.de/poli- tik/ausland/polen-koennen-deutsche-opfer-sein_aid_196240.html [22.09.2003/12.09.2016]. ‒ DOMETEIT, GUDRUN / KLAUSMANN, ALEXANDRA: »Öffnen Sie dieses Kapitel nicht!« In: Focus Magazin o. A. (2002), H. 7, S. 202. URL: http://www.focus.de/politik/ausland/ausland-oeffnen-sie-dieses-kapitel- nicht_aid_206532.html [09.02.2002/12.09.2016]. ‒ JACH, MICHAEL: Rückfall ins Aufrechnen. In: Focus Magazin o. A. (2003), H. 38, S. 56. URL: http://www.focus.de/magazin/archiv/jahrgang_2003/aus- gabe_38/ [15.09.2003/12.09.2016].

157

‒ KLAUSMANN, ALEXANDRA: Eine tödliche Mission. Protokoll eines Verbre- chens: Im böhmischen Postelberg richteten Soldaten 1300 Deutsche hin. In: Focus Magazin o. A. (2003), H. 24, S. 192. URL: http://www.focus.de/poli- tik/auausla/tschechien-eine-toedliche-mission_aid_197939.html [07.06.2003/10.09.2016]. ‒ KRUMREY, HENNING: »Nicht revanchistisch.« In: Focus Magazin o. A. (2003), H. 38, S. 59. URL: http://www.focus.de/politik/deutsch- land/deutschland-nicht-revanchistisch_aid_195302.html [15.09.2003/12.09.2016]. ‒ SCHWARZ, EUGEN GEORG: Eine Liebe, die über alles geht. In: Focus Maga- zin o. A. (2003), H. 49, S. 58. URL: http://www.focus.de/politik/deutsch- land/zeitgeschichte-eine-liebe-die-ueber-alles-geht_aid_198268.html [01.12.2003/10.09.2016]. ‒ THIEDE, ROGER: Deutsche Städte im Inferno. In: Focus Magazin o. A. (2002), H. 48, S. 104. URL: http://www.focus.de/kultur/medien/kul- tur-deutsche-staedte-im-inferno_aid_205139.html [25.11.2002/10.09.2016]. ‒ ZORN, THOMAS: »Notfalls ein Veto einlegen.« In: Focus Magazin o. A. (2002), H. 13, S. 78. URL: http://www.focus.de/politik/deutsch- land/deutschland-notfalls-ein-veto-einlegen_aid_205595.html [25.03.2002/12.09.2016].

Frankfurter Allgemeine Zeitung ‒ BARTETZKO, DIETER: Nacht fiel auch über die Debatte. Vor vierzig Jahren wurde das Thema Vertreibung zum ersten Mal populär – und wieder verges- sen. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung o. A. (2002), Nr. 38 vom 14.02.2002, S. 45. ‒ BARTOSZEWSKI, WLADYSLAW: Wider das selektive Erinnern. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung o. A. (2003), Nr. 180 vom 06.08.2003, S. 9. ‒ BLASIUS, RAINER: Keine Wanderer auf der Ostsee. Die Erinnerung an das Schicksal von 15 Millionen vertriebenen Deutschen wandelt sich. In: Frank- furter Allgemeine Zeitung o. A. (2002a), Nr. 34 vom 09.02.2002, S. 10. ‒ BLASIUS, RAINER: Kein Platz mehr für ›Landesverräter‹. Wie Eduard Beneš schon im Londoner Exil die sudetendeutschen Hitler-Gegner ausschaltete. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung o. A. (2002b), Nr. 43 vom 20.02.2002, S. 12. ‒ INGENDAAY, PAUL: Soldaten von Salamis. Javier Cercas und die Geschichts- lektionen des neuen Romans. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung o. A. (2002), Nr. 183 vom 09.08.2002, S. 33. ‒ JÄGER, LORENZ: Das Böse. Was rechtfertigt Bomben? John Rawls über den Luftkrieg. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung o. A. (2002), Nr. 277 vom 28.11.2002, S. 35.

158

‒ LUDWIG, MICHAEL: Nicht Versöhnung war das Ziel. Wie die polnischen Kommunisten die Vertreibungsgesetze aufgehoben haben. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung o. A. (2002), Nr. 147 vom 28.06.2002, S. 1. ‒ MOELLER, ROBERT G.: Als der Krieg nach Deutschland kam. Aus dem Pa- noptikum der Erinnerungsgeschichte: Wie der deutsche Film vom Schicksal der Vertriebenen und Flüchtlinge erzählte. In: Frankfurter Allgemeine Zei- tung o. A. (2002), Nr. 130 vom 08.06.2002, S. 50. ‒ MÖNCH, REGINA: Volkshotel Abgrund. Gedenkstätte oder Tanzdiele: Wa- rum der ›Fichtenbunker‹ der geeignete Ort für ein ›Zentrum gegen Vertrei- bungen‹ wäre. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung o. A. (2003), Nr. 206 vom 05.09.2003, S. 37. ‒ REISSMÜLLER, JOHANN GEORG: Was Prag nie erläuterte. In: Frankfurter All- gemeine Zeitung o. A. (2002), Nr. 59 vom 11.03.2002, S. 7. ‒ SCHWARZ, KARL-PETER: »Ereignisse und Taten.« Prag ist weit davon ent- fernt, die Vertreibung der Sudetendeutschen zu verurteilen. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung o. A. (2003), Nr. 151 vom 03.07.2003, S. 3. ‒ SPIEGEL, HUBERT: Das musste aufschraiben! Die verspätete Erinnerung: Günter Grass beschreibt in seiner Novelle ›Im Krebsgang‹ den Untergang der ›Wilhelm Gustloff‹ und das Leid deutscher Kriegsflüchtlinge. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung o. A. (2002), Nr. 34 vom 09.02.2002, S. 56. ‒ WAPNEWSKI, PETER: Churchill aus dem Bunker erlebt. Bomben auf uns: Wir haben geschwiegen, jetzt müssen wir reden. In: Frankfurter Allgemeine Zei- tung o. A. (2002), Nr. 281 vom 03.12.2002, S. 33. ‒ WEIDERMANN, VOLKER: Aus dem Tagebuch eines Schreckens. In: Frankfur- ter Allgemeine Sonntagszeitung 2 (2002), Nr. 5 vom 03.02.2002, S. 25. ‒ WIELAND, BARBARA: Die vergessenen Zwangsarbeiter. Im Kanzleramt hat niemand Zeit für Deutsche, die nach dem Krieg in sowjetische Lager ver- schleppt wurden. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung o. A. (2002), Nr. 194 vom 22.08.2002, S. 3. GRASS, GÜNTER: Im Krebsgang. Eine Novelle. 10. Auflage. München 2015. INFORMATIONSGEMEINSCHAFT ZUR FESTSTELLUNG DER VERBREITUNG VON WER- BETRÄGERN E. V.: Quartalsauflagen. URL: http://www.ivw.de/print/quartalsau- flagen/quartalsauflagen [o. J/10.09.2016]. O. V.: »Eine Katastrophe, kein Verbrechen.« Interview mit Günter Grass. In: Die Woche o. A. (2002), o. Nr. vom 08.02.2002, o. S. Zitiert nach Hall, Katharina: Günter Grassʼ Danzig Quintet. Explorations in the Memory and History of the Nazi Era from Die Blechtrommel to Im Krebsgang. Bern 2007. O. V.: Werkausgabe in 20 Bänden. Band 20: Essays und Reden IV. Göttingen 2007. Zitiert nach Neuhaus, Volker: Günter Grass (Sammlung Metzler 179). 3., aktuali- sierte und erweiterte Auflage. Stuttgart / Weimar 2010.

159

O. V.: Tabu. In: Scholze-Stubenrecht, Werner / Haller-Wolf, Angelika / Kraif, Ur- sula et al. (Hrsg.): Duden. Die deutsche Rechtschreibung. Auf der Grundlage der aktuellen amtlichen Rechtschreibregeln (Der Duden in zwölf Bänden 1). 26., völ- lig neu bearbeitete und erweiterte Auflage. Berlin / Mannheim / Zürich 2013, S. 1042.

Süddeutsche Zeitung ‒ BERGWANGER, INA: Erinnerung an die Flucht. Edeltraut Wagner erzählt Schülern ihren Leidensweg. In: Süddeutsche Zeitung 59 (2003), Nr. 56 vom 08.03.2003, S. R 5. ‒ BRÖSSLER, DANIEL / FRIED, NICO: Schröder sagt Reise nach Prag ab. Hal- tung der tschechischen Regierung zur Vertreibung der Deutschen nach 1945 belastet erneut das Verhältnis. In: Süddeutsche Zeitung 58 (2002), Nr. 50 vom 28.02.2002, S. 1. ‒ KREBS, HEIKO: Die Stunde der Patrioten. Tschechiens Parteien schlagen im Wahlkampf stark nationale Töne an und verweigern jede Diskussion über die Benes-Dekrete. In: Süddeutsche Zeitung 58 (2002), Nr. 83 vom 10.04.2002, S. 7. ‒ RAULFF, ULRICH: 1945. Ein Jahr kehrt zurück: Tausche Geschichte gegen Gefühl. In: Süddeutsche Zeitung 59 (2003), Nr. 250 vom 30.10.2003, S. 11. ‒ STEINBERGER, KARIN: Verdammt zum Fröhlichsein. Nächte in Luft- schutzkellern, Wochen in Flüchtlingstrecks und Jahre mit Schuldgefühlen – warum viele erst jetzt als Rentner über ihre Traumata reden. In: Süd- deutsche Zeitung 58 (2002), Nr. 182 vom 08.08.2002, S. 3. ‒ STEPHAN, RAINER: Blinde Eulen. Die literarische Vertriebenendebatte fin- det kein Echo in der Politik. In: Süddeutsche Zeitung 58 (2002), Nr. 39 vom 15.02.2002, S. 15. ‒ THER, PHILIPP: Vertreibung als Warnung dokumentieren. In: Süddeut- sche Zeitung 59 (2003), Nr. 167 vom 23.07.2003, S. 2. ‒ UHL, HEIDEMARIE: Hitlers letzte Opfer? Die Vertreibung aus deutscher und aus österreichischer Sicht. In: Süddeutsche Zeitung 59 (2003), Nr. 249 vom 29.10.2003, S. 14. ‒ URBAN, THOMAS: Ort der Milde. Warum ein Zentrum gegen Vertreibung sinnvoll wäre. In: Süddeutsche Zeitung 58 (2002), Nr. 155 vom 08.07.2002, S. 9. ‒ ZIMMERMANN, MOSHE: In Deutschland wie in Nahost. Vertreibung und Aufrechnung. In: Süddeutsche Zeitung 59 (2003), Nr. 173 vom 30.07.2003, S. 11. TIME, 13.04.1970, S. 74. Zitiert nach Neuhaus, Volker: Günter Grass (Sammlung Metzler 179). 3., aktualisierte und erweiterte Auflage. Stuttgart / Weimar 2010.

160

VERBAND DEUTSCHER ZEITSCHRIFTENVERLEGER E. V.: Branchendaten 2003. URL: http://www.vdz.de/branche-publikumszeitschriften-anzeigen-vertrieb/ [o. J./10.09.2016]. WELZER, HARALD: Zurück zur Opfergesellschaft. Verschiebungen in der deutschen Erinnerungskultur. In: Neue Zürcher Zeitung o. A. 2002, o. Nr. vom 03.04.2002. URL: http://www.nzz.ch/article81DU6-1.382381 [03.04.2002/06.09.2016].

Literaturverzeichnis

ASSMANN, ALEIDA / FREVERT, UTE: Geschichtsvergessenheit – Geschichtsversessen- heit. Vom Umgang mit deutschen Vergangenheiten nach 1945. Stuttgart 1999. ASSMANN, JAN: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identi- tät in frühen Hochkulturen (C. H. Beck Kulturwissenschaft). München 1992. BANSE, GERHARD: Über Tabus und Tabuisierung. In: Fischer, Michael / Kacianka, Reinhard (Hrsg.): Tabus und Grenzen der Ethik (Ethik transdisziplinär 7). Frank- furt am Main 2007, S. 13–30. BENTHIEN, CLAUDIA / GUTJAHR, ORTRUD: Interkulturalität und Gender-Spezifik von Tabus. Zur Einleitung. In: Benthien, Claudia / Gutjahr, Ortrud (Hrsg.): Tabu. Interkulturalität und Gender. München 2008, S. 7–16. BERGER, PETER L. / LUCKMANN, THOMAS: Modernität, Pluralismus und Sinnkrise. Die Orientierung des modernen Menschen. Gütersloh 1995. BETZ, WERNER: Tabu – Wörter und Wandel. In: Hanle, Adolf / Drosdowski, Gün- ther (Hrsg.): Meyers Enzyklopädisches Lexikon. Band 23: Sue–Tuo. Mit Sonder- beiträgen von Werner Betz, Joachim Illies, Walter Laqueur, Friedrich Rapp. 9., völlig neu bearbeitete Auflage. Mannheim 1978, S. 141–144. BRAUN, MICHAEL: Die Medien, die Erinnerung, das Tabu: Im Krebsgang und Beim Häuten der Zwiebel von Günter Grass. In: Braun, Michael: Tabu und Tabubruch in Literatur und Film (Film – Medium – Diskurs 20). Würzburg 2007, S. 117– 135. BRAUNGART, WOLFGANG: Tabu, Tabus. Anmerkungen zum Tabu ›ästhetischer Af- firmation‹. In: Braungart, Wolfgang / Ridder, Klaus / Apel, Friedmar (Hrsg.): Wahrnehmen und Handeln. Perspektiven einer Literaturanthropologie (Bielefel- der Schriften zu Linguistik und Literaturwissenschaft 20). Bielefeld 2004, S. 297– 327. DUNCKER, CHRISTIAN: Verlust der Werte? Wertewandel zwischen Meinungen und Tatsachen (DUV: Sozialwissenschaft). Wiesbaden 2000. ECHTERNKAMP, JÖRG: Nach dem Krieg. Alltagsnot, Neuorientierung und die Last der Vergangenheit 1945–1949. Zürich 2003.

161

ERLL, ASTRID: Medium des kollektiven Gedächtnisses: Ein (erinnerungs-)kulturwis- senschaftlicher Kompaktbegriff. In: Erll, Astrid / Nünning, Ansgar (Hrsg.): Me- dien des kollektiven Gedächtnisses. Konstruktivität – Historizität – Kulturspezifi- tät (media and cultural memory 1). Berlin / New York 2004, S. 3–22. ERTELT-VIETH, ASTRID: Tabubrüche als Übergänge zwischen inter- und intrakultu- reller Kommunikation. Empirische Daten und begrifflich-systematische Überle- gungen. In: Rothe, Matthias / Schröder, Hartmut (Hrsg.): Ritualisierte Tabuver- letzungen, Lachkultur und das Karnevaleske. Beiträge des Finnisch-Ungarischen Kultursemiotischen Symposiums 9. bis 11. November 2000. Berlin – Frankfurt (Oder) (Studien zur Ethik in Ostmitteleuropa 6). Frankfurt am Main 2002, S. 65–78. FAULENBACH, BERND: Die Vertreibung der Deutschen aus den Gebieten jenseits von Oder und Neiße. Zur wissenschaftlichen und öffentlichen Diskussion in Deutsch- land. In: Aus Politik und Zeitgeschichte o. A. (2002), B 51–52, S. 44–54. URL: http://www.bpb.de/apuz/26557/die-vertreibung-der-deutschen-aus-den-gebieten- jenseits-von-oder-und-neisse [16.12.2002/05.09.2016]. FISCHER, MICHAEL / KACIANKA, REINHARD (Hrsg.): Tabus und Grenzen der Ethik (Ethik transdisziplinär 7). Frankfurt am Main 2007. FREUD, SIGMUND: Gesammelte Werke. Chronologisch geordnet. Neunter Band. To- tem und Tabu. Einige Übereinstimmungen im Seelenleben der Wilden und der Neurotiker. London / Bradford 1948. FRÜH, WERNER / MAYRING, PHILIPP: Inhaltsanalyse. In: Endruweit, Günter / Trommsdorff, Gisela (Hrsg.): Wörterbuch der Soziologie (UTB 2232). 2., völlig neubearbeitete und erweiterte Auflage. Stuttgart 2002, S. 238–245. FRÜH, WERNER: Inhaltsanalyse. Theorie und Praxis (UTB 2501). 8., überarbeitete Auflage. Konstanz / München 2015. GERHARDS, JÜRGEN: Politische Öffentlichkeit. Ein system- und akteurstheoretischer Bestimmungsversuch. In: Neidhardt, Friedhelm (Hrsg.): Öffentlichkeit, Öffentli- che Meinung, soziale Bewegungen (Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozial- psychologie/Sonderheft 34). Opladen 1994, S. 77–105. GOTTBERG, JOACHIM VON: Die Empörung über Verstöße stärkt die Regel – Medien und die Bewachung der Moral. In: Gottberg, Joachim von / Prommer, Elizabeth (Hrsg.): Verlorene Werte? Medien und die Entwicklung von Ethik und Moral (Alltag, Medien und Kultur 4). Konstanz 2008, S. 49–64. GRAU, ALEXANDER: Vom Wert und Unwert der Werte. In: Gottberg, Joachim von / Prommer, Elizabeth (Hrsg.): Verlorene Werte? Medien und die Entwicklung von Ethik und Moral (Alltag, Medien und Kultur 4). Konstanz 2008, S. 15–32. GÜNTHER, ULLA: »und aso das isch gar need es Tabu bi üs, nei, überhaupt need.« Sprachliche Strategien bei Phone-in-Sendungen am Radio zu tabuisierten Themen (Züricher Germanistische Studien 32). Bern / Frankfurt am Main / New York et al. 1992.

162

GUTJAHR, ORTRUD: Tabus als Grundbedingungen von Kultur. Sigmund Freuds To- tem und Tabu und die Wende in der Tabuforschung. In: Benthien, Claudia / Gutjahr, Ortrud (Hrsg.): Tabu. Interkulturalität und Gender. München 2008, S. 19–50. HALBWACHS, MAURICE: Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen (Soziologi- sche Texte 34). Berlin / Neuwied 1966. HALL, KATHARINA: Günter Grass’ ›Danzig Quintet‹. Explorations in the Memory and History of the Nazi Era from Die Blechtrommel to Im Krebsgang. Bern 2007. HEILMANN, HEINZ-PETER: Das Tabu der Zeitgeschichte. Der tabuisierte Weg zum Historikerstreit. Analysen – Methoden – Interessen – Gefahren. München 2008. JÄGER, SIEGFRIED: Kritische Diskursanalyse. Eine Einführung (DISS-Studien). 3., gegenüber der 2., überarbeiteten und erweiterten unveränderte Auflage. Duis- burg 2001. JÄGER, SIEGFRIED: Diskurs und Wissen. Theoretische und methodische Aspekte ei- ner kritischen Diskurs- und Dispositivanalyse. In: Keller, Reiner / Hirseland, An- dreas / Schneider, Werner et al. (Hrsg.): Handbuch Sozialwissenschaftliche Dis- kursanalyse. Band 1: Theorien und Methoden (Interdisziplinäre Diskursfor- schung). 3., erweiterte Auflage. Wiesbaden 2011, S. 91–124. JOLLES, HIDDO M.: Zur Soziologie der Heimatvertriebenen und Flüchtlinge. Köln / Berlin 1965. KLEIN, GABRIELE: Körper zeigen. Performance-Kunst als Tabubruch. In: Benthien, Claudia / Gutjahr, Ortrud (Hrsg.): Tabu. Interkulturalität und Gender. München 2008, S. 247–259. KLUCKHOHN, CLYDE et al.: Values and value-orientations in the theory of action: An exploration in definition and classification. In: Parsons, Talcott / Shils, Edward A. (Hrsg.): Toward a general theory of action (Harper torchbooks 1083). Third Prin- ting. New York 1965, S. 388–433. KRAFT, HARTMUT: Die Lust am Tabubruch. Göttingen 2015. KUHN, FRITZ: Tabus. In: Heringer, Hans Jürgen / Kurz, Gerhard / Stötzel, Georg (Hrsg.): Sprache und Literatur in Wissenschaft und Unterricht 18 (1987), H. 60, S. 19–35. MARSCHALL, WOLFGANG: Tabu. In: Ritter, Joachim / Gründer, Karlfried (Hrsg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie. Band 10: St–T. Völlig neubearbeitete Ausgabe des ›Wörterbuchs der philosophischen Begriffe‹ von Rudolf Eisler. Basel 1998, S. 877–879. MAURER, MARCUS: Agenda-Setting (Konzepte. Ansätze der Medien- und Kommuni- kationswissenschaft 1). Baden-Baden 2010. MAYRING, PHILIPP: Qualitative Inhaltsanalyse. Grundlagen und Techniken. 12., überarbeitete Auflage. Weinheim / Basel 2015.

163

MAZUREK, ALICE: »Die Erinnerung liebt das Versteckspiel der Kinder.« Der Erinne- rungsprozess in Günter Grassʼ Beim Häuten der Zwiebeln. Marburg 2011. MESSELKEN, KARLHEINZ: Kollektiv. In: Endruweit, Günter / Trommsdorff, Gisela (Hrsg.): Wörterbuch der Soziologie (UTB 2232). 2., völlig neubearbeitete und er- weiterte Auflage. Stuttgart 2002, S. 277 f. MITSCHERLICH, ALEXANDER / MITSCHERLICH, MARGARETE: Die Unfähigkeit zu trauern. Grundlagen kollektiven Verhaltens. München 1969. NEUHAUS, VOLKER: Günter Grass (Sammlung Metzler 179). 3., aktualisierte und er- weiterte Auflage. Stuttgart / Weimar 2010. O. V.: Tabu. In: Hanle, Adolf / Drosdowski, Günther (Hrsg.): Meyers Enzyklopädi- sches Lexikon. Band 23: Sue–Tuo. Mit Sonderbeiträgen von Werner Betz, Joachim Illies, Walter Laqueur, Friedrich Rapp. 9., völlig neu bearbeitete Auflage. Mannheim 1978, S. 146. PAASS, MICHAEL: Kulturelles Gedächtnis als epische Reflexion. Zum Werk von Gün- ter Grass. Bielefeld 2009. PETERS, BERNHARD: Der Sinn von Öffentlichkeit. In: Neidhardt, Friedhelm (Hrsg.): Öffentlichkeit, Öffentliche Meinung, soziale Bewegungen (Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie/Sonderheft 34). Opladen 1994, S. 42–76. PRINZ, KRISTINE: »Mochte doch keiner was davon hören« – Günter Grassʼ Im Krebsgang und das Feuilleton im Kontext aktueller Erinnerungsverhandlungen. In: Erll, Astrid / Nünning, Ansgar (Hrsg.): Medien des kollektiven Gedächtnisses. Konstruktivität – Historizität – Kulturspezifität (media and cultural memory 1). Berlin / New York 2004, S. 179–194. REICHENBERGER, FATHER EMMANUEL J.: Europa in Trümmern. Das Ergebnis des Kreuzzuges der Alliierten. Graz / Göttingen 1952. REICHERTZ, JO: Werteverlust oder Wertevermehrung? Medien und ihr Einfluss auf die Entwicklung von Werten. In: Gottberg, Joachim von / Prommer, Elizabeth (Hrsg.): Verlorene Werte? Medien und die Entwicklung von Ethik und Moral (Alltag, Medien und Kultur 4). Konstanz 2008, S. 65–76. REIMANN, HORST: Tabu. In: Görres-Gesellschaft (Hrsg.): Staatslexikon. Recht – Wirtschaft – Gesellschaft. Fünfter Band. Sozialindikatoren–Zwingli. 7., völlig neu bearbeitete Auflage. Freiburg / Basel / Wien 1989, S. 420. RHOMBERG, MARKUS: Mediendemokratie. Die Agenda-Setting-Funktion der Mas- senmedien. München 2008. ROTHE, MATTHIAS / SCHRÖDER, HARTMUT: Thematische Einleitung: Vom Tabu zur Tabuverletzung. In: Rothe, Matthias / Schröder, Hartmut (Hrsg.): Rituali- sierte Tabuverletzungen, Lachkultur und das Karnevaleske. Beiträge des Finnisch- Ungarischen Kultursemiotischen Symposiums 9. bis 11. November 2000. Berlin – Frankfurt (Oder) (Studien zur Ethik in Ostmitteleuropa 6). Frankfurt am Main 2002a, S. 11–15.

164

ROTHE, MATTHIAS / SCHRÖDER, HARTMUT: Theorien: Differenzieren, Kontrastie- ren, Abstrahieren. Einstimmung. In: Rothe, Matthias / Schröder, Hartmut (Hrsg.): Ritualisierte Tabuverletzungen, Lachkultur und das Karnevaleske. Bei- träge des Finnisch-Ungarischen Kultursemiotischen Symposiums 9. bis 11. No- vember 2000. Berlin – Frankfurt (Oder) (Studien zur Ethik in Ostmitteleuropa 6). Frankfurt am Main 2002b, S. 21–23. SCHMIDT, AXEL: Tabu. In: Streck, Bernhard (Hrsg.): Wörterbuch der Ethnologie. Köln 1987, S. 218–220. SCHRÖDER, HARTMUT: Tabuforschung als Aufgabe interkultureller Germanistik. In: o. V.: Jahrbuch Deutsch als Fremdsprache. Intercultural German Studies. Band 21. München 1995, S. 15–35. URL: https://www.kuwi.europa- uni.de/de/lehrstuhl/sw/sw2/forschung/tabu/weterfuehrende_informationen/arti- kel_zur_tabuforschung/tabu_artikel_1995.pdf [27.07.2016]. SCHRÖDER, HARTMUT: Thesen und Fragen zur Thematik ›Ritualisierte Tabuverlet- zungen, Lachkultur und das Karnevaleske‹. In: Rothe, Matthias / Schröder, Hart- mut (Hrsg.): Ritualisierte Tabuverletzungen, Lachkultur und das Karnevaleske. Beiträge des Finnisch-Ungarischen Kultursemiotischen Symposiums 9. bis 11. November 2000. Berlin – Frankfurt (Oder) (Studien zur Ethik in Ostmittel- europa 6). Frankfurt am Main 2002, S. 17–20. SCHRÖDER, HARTMUT: Tabu. In: Wierlacher, Alois / Bogner, Andrea (Hrsg.): Handbuch Interkultureller Germanistik. Stuttgart / Weimar 2003, S. 307–315. SEIBEL, KARIN: Zum Begriff des Tabus. Eine soziologische Perspektive. Wiesbaden 1990. STAGL, JUSTIN: Tabu. In: Endruweit, Günter / Trommsdorff, Gisela (Hrsg.): Wör- terbuch der Soziologie. Band 3: Sanktion–Zweistufenthese. Stuttgart 1989, S. 720. STRECK, BERNHARD (Hrsg.): Wörterbuch der Ethnologie. Köln 1987. ULLMANN, STEPHEN: Semantik. Eine Einführung in die Bedeutungslehre. Frankfurt am Main 1973. ZIMMERMANN, HARRO: Günter Grass unter den Deutschen. Chronik eines Verhält- nisses. Göttingen 2006.

165

Anhang: Inhaltsanalyse

Nr. / Quelle Textstelle Kategorie 1 »Hat doch keinen interessiert, was da passiert Einzelschicksal Steinberger, Karin: Ver- ist vor all den Jahren in Hinterpommern, sie Kälte dammt zum Fröhlichsein. selber am wenigsten. Flecktyphus, Scharlach, Krankheit Nächte in Luftschutzkel- Nierenbeckenentzündung. Und dann diese lern, Wochen in Flücht- ewige Kälte, das Schlafen auf Steintreppen, das Vergewaltigung lings-trecks und Jahre mit Verstecken vor den Russen im Heu, das Rob- Schuldgefühlen – warum ben über Minenfelder.« viele erst jetzt als Rentner »Sie war so ein gutes Kind. Hat geschwiegen, über ihre Traumata reden. keinem erzählt, wie man sie übers Feld hetzte In: Süddeutsche Zeitung damals in Hinterpommern, wie einen Hasen. 58 (2002), Nr. 182 vom War schon genug, dass die Eltern zusehen 08.08.2002, S. 3. mussten, wie die Schwester dreimal von den Russen vergewaltigt wurde.« »Nach dem Krieg ging es genau so weiter: Der Vater […] hat in der neuen Heimat Hamburg seine Frau geschlagen, die sich langsam zu Tode trank.« 2 »Die Frauen müssen auf der Flucht immer Einzelschicksal Bergwanger, Ina: Erinne- wieder unnötigen Ballast abwerfen, um Flucht rung an die Flucht. Edel- schneller voran zu kommen. Die Vorräte wer- Hunger traut Wagner erzählt den knapper, auch für die Trakehner-Pferde, Schülern ihren Leidens- die den Leiterwagen ziehen. Nachts muss bei Kälte weg. In: Süddeutsche Zei- Temperaturen von 25 Grad unter null Quar- Vergewaltigung tung 59 (2003), Nr. 56 tier gesucht werden. Kopfläuse sind an der Ta- Vertreibung vom 08.03.2003, S. R 5. gesordnung. Wichtiger ist, die jungen Mäd- chen vor den Russen zu verstecken, während die Mutter für sie Schützengräben ausheben muss. ›Kurz vor Stettin haben uns die Russen empfangen, ab da ging es mit den Vergewalti- gungen los‹, erinnert sich Edeltraut Wagner.«

3 »Hunger, drei Jahre lang hatte er Hunger, Angst Wieland, Barbara: Die drei Jahre lang gab es keinen Tag, an dem Einzelschicksal vergessenen Zwangsarbei- Franz Schneider auch nur einmal satt war. Hunger ter. Im Kanzleramt hat Der Hunger durchwühlte die Eingeweide und niemand Zeit für Deut- beherrschte alle Gedanken, während er als Internierung sche, die nach dem Krieg Hauer in einem ukrainischen Bergwerk arbei- Kälte in sowjetische Lager ver- tete, acht Stunden Schwerstarbeit täglich, Krankheit schleppt wurden. In: ohne Sonn- und Feiertage.« Tod Frankfurter Allgemeine »Die meisten von denen, die den Transport in Vergewaltigung Zeitung o. A. (2002), Viehwaggons, die unmenschlichen Arbeitsbe- Nr. 194 vom 22.08.2002, dingungen, Unterernährung, Krankheiten und Verschleppung S. 3. Verzweiflung überlebten, kamen erst nach drei Zwangsarbeit bis fünf Jahren Zwangsarbeit frei.« »Das schlimmste für Christa Ludes war die Angst: die Angst vor der Zukunft, die Angst

vor der Einsamkeit. Mehr als einmal, so er- zählt sie, wäre es ihr lieber gewesen, tot zu

166

sein, als ihr Schicksal weiter ertragen zu müs- sen.« »Im Winter war es bis zu minus 40 Grad kalt, die Arbeitskleidung war immer feucht. Am Anfang mußten die jungen Frauen auf blan- ken Holzpritschen schlafen, noch nicht einmal Strohsäcke gab es. Im Sommer kamen die Mücken und brachten Malaria. Oft lag Christa Ludes mit Fieberanfällen und an- schließenden Gliederschmerzen auf ihrer Holzpritsche im Lager.« »Nach einem Tag mit Massenvergewaltigun- gen, die sie gefesselt und geknebelt über sich ergehen lassen mußte […].« »In überfüllten Viehwaggons, ohne Decken und ohne ausreichende Ernährung dauerte die Fahrt vier Wochen […].« »›Unterwegs starben viele […].‹« »›Unterwegs bekamen wir Magenkrämpfe und Durchfall. Dazu kamen die Läuse, die sich un- ter den Achseln, in den Haaren festsetzten, überall.‹« 4 »›Ich erlebte, wie kurz nach dem Krieg Einzelschicksal Klausmann, Alexandra: fünf Buben hingerichtet wurden. Vor den Au- Internierung Eine tödliche Mission. gen des eigenen Vaters wurde einem in die Mord Protokoll eines Verbre- Halsschlagader geschossen. An den Blutfontä- chens: Im böhmischen nen sah ich die letzten Schläge seines Her- Tod Postelberg richteten Sol- zens.‹« daten 1300 Deutsche hin. »Am 3. Juni 1945 trieben uniformierte Tsche- In: Focus Magazin chen den Sohn eines Hopfenhändlers mit o. A. (2003), H. 24, mehreren Hundert anderen auf dem Markt- S. 192. URL: platz im böhmischen Saaz (Eatec) zusammen http://www.focus.de/poli- und internierten sie in einer Kaserne im be- tik/auausla/tschechien- nachbarten Postelberg (Postoloprty). Tsche- eine-toedliche-mis- chischen Untersuchungen zufolge wurden sion_aid_197939.html dort innerhalb weniger Tage 763 Deutsche [07.06.2003/10.09. hingerichtet.« 2016]. 5 »Die 29-jährige Christel Geldmacher schreibt Angst Schwarz, Eugen Georg: […] einen Brief an ihren Mann […]. Sie Einzelschicksal Eine Liebe, die über alles werde die Kinder Jobst, Klaus, Ralf und auch Flucht geht. In: Focus Magazin sich selbst töten, bevor sie den Sowjetsoldaten o. A. (2003), H. 49, in die Hände falle […]. Die Angst, ihre Kin- Tod S. 58. URL: der könnten verschleppt und sie selbst verge- http://www.focus.de/poli- waltigt werden, sei übermächtig.« tik/deutschland/zeitges- »Zusammen mit Großmutter und Schwester chichte-eine-liebe-die- packt sie am 20. April, Hitlers Geburtstag, ueber-alles- ihre Habseligkeiten auf einen Pferdewagen, geht_aid_198268.html setzt Kinder und Verwandte in eine Kutsche [01.12.2003/10.09. und fährt los.« 2016].

167

»Dann holt sie das Gift […]. Sie träufelt es sich selbst, Renate und ihren Söhnen in den Mund […].« »Als der Zweijährige daraufhin auf den Boden stürzt, wird der zwölfjährigen Renate klar, was auch sie und der sechsjährige Klaus im Mund haben.« »Die Mutter bricht zusammen. Die Bäuerin stürzt mit einer Kanne Milch in den Raum. Sie zwingt Klaus und seine Cousine zu trin- ken, bis sie sich übergeben.« 6 »Weil der Vater nicht als Russe gilt, bleibt der Einzelschicksal Hoepfner, Marc: Das Weg zurück auf den alten Hof versperrt. Statt- Hunger Wiedersehn von Bel- dessen wird die Familie nach Komi, einem Kälte gorod. In: Die Zeit waldreichen Landstrich an der Westflanke des 57 (2002), Nr. 12 vom Urals, deportiert.« Tod 14.03.2002, o. S. URL: »Sein Bruder Albert hat 15 lange Jahre in Verschleppung http://pdf.zeit.de/2002/12 Komi vor sich. Mehr als 250 der 360 Depor- Zwangsarbeit /Das_Wiederse- tierten sterben schon im ersten Jahr vor Hun- hen_von_Belgorod.pdf ger und Kälte. Der Vater, krank vor Kummer [14.03.2002/14.09. erlebt Verbannung und Zwangsarbeit im seeli- 2016]. schen Dämmerzustand. Eines Tages, auf dem Weg zurück zu der Baracke, in der er mit sei- ner Frau lebt, verliert er den Bezugsschein für die täglich 300 Gramm Brot. Ohnehin bereits bis auf die Knochen abgemagert, stirbt er in- nerhalb weniger Tage.« 7 »Am 21. Januar hatten wir uns zusammen auf Einzelschicksal Doenhoff, Marion: Ritt den Weg gemacht, spät am Abend durch ei- Flucht gen Westen. In: Die Zeit nen von den Ereignissen schon fast überholten Kälte 57 (2002), Nr. 12 vom Räumungsbefehl alarmiert und von dem im- 14.03.2002, o. S. URL: mer näher rückenden Lärm des Krieges zur Tod http://pdf.zeit.de/2002/12 Eile getrieben. In nächtlicher Dunkelheit die /Ritt_gen_Westen.pdf Wagen packen, die Scheunentore öffnen, das [14.03.2002/14.09. Vieh losbinden – das alles geschah wie im 2016]. Traum und war das Werk weniger Stunden.« »Schritt für Schritt geht es weiter durch die ei- sigen Schneestürme des Ostens.« »Kinder sterben, und Alte schließen die Au- gen, in denen angstvoll die Sorgen und das Leid von Generationen stehen.« 8 »Ursula Pautz hatte es gerade geschafft einzu- Angst Höges, Clemens / Meyer, schlafen, als ein ›entsetzlicher Schlag‹ sie wie- Einzelschicksal Cordula / Wiedemann, der hochriss: ›Es war, als wenn Eisenplatten Kälte Erich et al.: Die ver- mit wahnsinniger Wucht gegeneinander ge- drängte Tragödie. In: Der schlagen wurden. Entsetzensschreie gellten Tod Spiegel 56 (2002), H. 6, durch die Luft. Ich sah Verwüstung. Umge- S. 192–202. URL: stürzte Spinde, eingeklemmte schreiende http://magazin.spie- Mädchen. Durch die Tür, die zum Schwimm- gel.de/EpubDelivery/spie- bad führte, drang Wasser. Ich riss sie auf und gel/pdf/21362213 sah ein entsetzliches Bild. Überall lagen meine Kameradinnen, teilweise schon vom Wasser überflutet, ein schreiender, betender Haufen.

168

[04.02.2002/04.09. Die Mädels, die noch nicht tot oder ertrunken 2016]. waren, versuchten die Treppe nach oben zu erreichen. […] Ich hörte Schreie nach der Mutter, nach Gott, nach Hilfe. Ich will nicht sterben, schrie eines der Mädchen. Eine an- dere Kameradin neben mir hatte von irgend- woher ein Messer und schnitt sich die Adern an beiden Armen auf – ihr Blut mischte sich mit dem immer höher steigenden Wasser.‹« (S. 192) »Die meisten Opfer waren Frauen und Kin- der. Sie traten sich in den Gängen zu Tode, wurden von Stahlwänden zerquetscht oder brachen sich das Genick, als sie über das ver- eiste Deck kletterten. Zwischen den Wracktei- len schwammen sie nachher meist nur Minu- ten, bis die Kälte des Wassers sie einschlä- ferte.« (S. 193) 9 »Die damals 22-jährige Ingeborg war am Ende Einzelschicksal Schrep, Bruno: Geboren der deutschen Welt gestrandet. Wenigstens Flucht an Bord der Gustloff. In: half ihr der Bauch, einen Platz auf der ›Gust- Der Spiegel 56 (2002). loff‹ zu ergattern. Nach dem Einschlag der H. 6, S. 196–197. URL: Torpedos kroch die Wöchnerin im http://magazin.spie- Nachthemd an Deck. Ihr Baby […] presste sie gel.de/EpubDelivery/spie- in einem Kopfkissen an sich.« (S. 196) gel/pdf/21362879 [04.02.2002/04.09. 2016]. 10 »Das Massaker von Nemmersdorf war der Angst Darnstädt, Thomas / Vorbote von Flucht und Vertreibung, mit der Einzelschicksal Wiegrefe, Klaus: »Vater, alles zerfiel in Hass, Hunger, Entwürdigung, Flucht erschieß mich!« In: Der Angst.« (S. 40) Hunger Spiegel 56 (2002), H. 13, »Gerdas Meczulat berichtete später, dass die S. 40–60. URL: ersten Russen am frühen Nachmittag in den Kälte http://magazin.spie- Unterstand eindrangen. Sie durchwühlten das Mord gel.de/EpubDelivery/spie- Handgepäck, waren aber dabei unerwartet Tod gel/pdf/21856132 freundlich. Einer spielte sogar mit den Kin- Vergewaltigung [25.03.2002/04.09. dern. Doch am Abend erschien ein Offizier 2016]. und befahl die Deutschen barsch nach drau- Vertreibung ßen. ›Als wir rauskamen, standen zu beiden Seiten des Ausgangs Soldaten mit schussberei- ten Gewehren. Ich fiel hin, da ich eine Kin- derlähmung habe, wurde hochgerissen und spürte in der Aufregung nichts mehr. Als ich zu mir kam, hörte ich die Kinder schreien und Gewehrschüsse. Dann war alles still.‹ Gerda Meczulat überlebte – schwer verletzt – als Ein- zige, weil der Soldat, der sie töten wollte, un- genau gezielt hatte.« (S. 40 f.) »[…] erfrorene Babys eine Beute hungriger Ratten, Hunderttausende vergewaltigte Frauen […].« (S. 41)

169

»Die Trecks stehen auf den Straßen […]. Mit den Pferden bis zum Bauch im Schnee versu- chen manche Familien, aus dem Stau über die Felder zu entkommen. […] bald sind die nas- sen Windeln der Säuglinge gefroren. Dann sterben die Kinder. Sie können nicht mal be- graben werden […]. Wilde Tiere holen sie vom Wegesrand.« (S. 42 f.) »Die Medizinstudentin Josefine Schleiter, in derselben Gegend auf der Flucht, hat erlebt, wie Panzer in ihren Treck rasten. ›Die Wagen wurden in den Graben geschleudert, die Pfer- deleiber lagen verendet, Männer, Frauen, Kin- der kämpften mit dem Tode.‹ Die Studentin hörte ein verletztes Mädchen sagen: ›Vater, er- schieß mich!‹ Und auch der Bruder bat […].« (S. 43) »[…] rund 3300 so genannte Tatorte östlich von Oder und Neiße, an denen deutsche Zivi- listen erschlagen oder erschossen, zu Tode ver- gewaltigt oder bei lebendigem Leib verbrannt wurden.« (S. 50) 11 »Den internierten Deutschen stand Schreckli- Einzelschicksal Darnstädt, Thomas / ches bevor. Im Stechschritt mussten sie unter Internierung Wiegrefe, Klaus: »Lauft, Beschimpfungen der Passanten durch die Stra- Krankheit ihr Schweine!« In: Der ßen zu Arbeitseinsätzen ausrücken. Den Spiegel 56 (2002), H. 14, Frauen wurden die Haare geschoren, und sie Mord S. 58–68. URL: hatten Steine zu schleppen. Kranke oder Ver- Tod http://magazin.spie- letzte wurden auf offener Straße erschossen.« Vergewaltigung gel.de/EpubDelivery/spie- (S. 59) Verschleppung gel/pdf/21963826 »Am 30. Mai 1945 mussten rund 26 000 Vertreibung [30.03.2002/04.09. deutschsprachige Bewohner der mährischen 2016]. Stadt binnen weniger Stunden ihre Häuser Zwangsarbeit verlassen und wurden in einem langen Elends- zug unter brutalen Misshandlungen Richtung Österreich aus ihrer Heimat gezwungen. Auch hier waren es vor allem Alte, Frauen und Kin- der, von denen mindestens 2000 auf dem 80 Kilometer langen Marsch an Entbehrungen und Krankheit starben oder von ihren Bewachern getötet wurden. ›Wir wurden mit Peitschenhieben wie eine Herde Vieh getrieben‹, erinnert sich Walter Saller […].« (S. 62) »Die Kleinen sahen, wie ihnen am Straßen- rand hilflose, erschöpfte Greise die Hände ent- gegenstreckten; Schwangere wurden mit Ge- wehrkolben malträtiert, alte Frauen totge- schlagen. Die Kinder hörten nachts die Schreie vergewaltigter Mädchen.« (S. 62) »Vor dem Bahnhof liegen zwei Dutzend Tot- geschlagene. Das Wasser im Feuerlöschteich färbt sich blutrot, johlende Männer ertränken

170

hier wahllos, wen sie gerade zu greifen vermö- gen. Auch auf der 20 Meter hohen Brücke von Aussig tobt der Mob. Menschen jeglichen Alters stürzen hinab in die Elbe. Wer nicht gleicht stirbt, auf den wird geschossen.« (S. 62) 12 »Milizeinheiten umstellten die Dörfer, und Einzelschicksal Darnstädt, Thomas / Uniformierte trieben die Bürger mit vorgehal- Hunger Wiegrefe, Klaus: »Eine tener Waffe auf offener Straße zusammen. Internierung teuflische Lösung.« In: Frauen, die gerade beim Einkaufen waren, tru- Der Spiegel 56 (2002), gen noch ihre Kittelschürze, Männer ihre Kälte H. 15, S. 56–66. URL: Hausschuhe. Mit Peitschenhieben und Kol- Verschleppung http://magazin.spie- benstößen wurden die Menschen zu den je- Vertreibung gel.de/EpubDelivery/spie- weiligen Bahnhöfen gescheucht. Tage und gel/pdf/22019259 Nächte standen danach Greise wie kleine Kin- [08.04.2002/04.09. der in der drangvollen Enge in Viehwaggons 2016]. ohne Essen und Trinken auf irgendwelchen toten Gleisen.« (S. 59) »Im Bahnhof Stettin-Scheune, wo die Züge mit oft Tausenden Entwurzelten eintrafen, fie- len die nach langen Irrfahrten Verhungerten oder Erfrorenen einfach auf die Bahnsteige.« (S. 59) »Weil der Lebensraum für die Polen aus dem Osten so dringend gebraucht wurde, mussten viele Deutsche, für die nicht sofort ein Vieh- wagen aufzutreiben war, zunächst einmal in Lagern untergebracht werden.« (S. 59, 63) »Die Erinnerung daran quält viele Überle- bende bis heute, etwa wie es klingt, wenn Menschen mit einem Gewehrkolben geschla- gen werden. ›Es gab dann ein ganz komisches Geräusch, das sich anhörte wie ein Knall‹, er- innert sich Helmut Gerlitz, der als sechsjähri- ger […] in das Lager Lamsdorf kam.« (S. 63) 13 »Oberschlesien ist von der Roten Armee ero- Einzelschicksal Wiegrefe, Klaus: Hitlers bert; in Schwientochlowitz bei Kattowitz wird Internierung letzte Opfer. In: Der Spie- nur noch vereinzelt geschossen. Die Schaffne- Kälte gel 56 (2002), H. 15, rin der Oberschlesischen Kleinbahn steht wie S. 62–63. URL: immer vor vier Uhr morgens auf, zieht ihre Verschleppung http://magazin.spie- marengofarbene Uniform an und klemmt sich Zwangsarbeit gel.de/EpubDelivery/spie- das Schiffchen ins Haar. Dann fährt die 23- gel/pdf/22019259 Jährige zum Zentraldepot. Dabei hatte ein [08.04.2002/04.09. Kollege Helene Tirpitz noch gewarnt.« (S. 62) 2016]. »Am übernächsten Tag wird die junge Frau ins berüchtigte Lager Zgoda bei Kattowitz ein- geliefert.« (S. 62) »Im Februar 1945 beginnt die Jagd auf Ar- beitssklaven in den eroberten Ostgebieten des Reiches.« (S. 62) »Herbert Mitzka ist noch ein Junge, als bei seiner Mutter im ostpreußischen Mohrungen ein freundlicher Deutscher klingelt. Er sei

171

froh, sagt er, in dieser schweren Zeit mit Landsleuten sprechen zu können. Der Besu- cher plaudert viel, ganz nebenbei erkundigt er sich nach dem Alter der Kinder. Einige Tage später holt er gemeinsam mit einem Soldaten den 15-jährigen Herbert ab […]. Mitzka lan- det im Ural. In Ostpreußen oder Schlesien quälen sich bald lange Elendsmärsche zu zent- ralen Sammelstellen bei minus 20 Grad durch den tiefen Schnee.« (S. 62) »Die oft von der Ruhr entkräfteten Menschen werden in Waggons ohne Fenster gepfercht, für die Notdurft ist ein Loch im Boden vor- handen.« (S. 62) 14 »Das ethnische Reinigungsgebot serbischer Internierung Meyer, Fritjof: Hohn für Chauvinisten galt aber auch einer deutschen Mord die Opfer. In: Spiegel Spe- Minderheit, deren Vorfahren der Wiener Hof Tod cial 2 (2002), H. 2, S. 60– nach dem Rückzug der Türken vor 300 Jah- 61. URL: http://maga- ren nördlich von Belgrad angesiedelt hatte – Verschleppung zin.spiegel.de/EpubDe- die ›Donauschwaben‹.« (S. 60) Vertreibung livery/spie- »Als Hitlers Soldaten 1944 vom Balkan flüch- gel/pdf/22937248 teten, schloss sich ihnen die Mehrheit der Ju- [01.06.2002/04.09. goslawen deutscher Nationalität an, doch un- 2016]. gefähr 200 000 blieben im Lande. Sie erlebten eine willkürliche Verfolgung durch die Sieger […].« (S. 60) »In Homolitz erschoss die Sremska-Brigade der Partisanen 173 Menschen mit Maschinen- gewehren. In Kubin starben auf gleiche Weise 108 Menschen; dabei soll es nach Zeugenaus- sagen zu grausamen Perversionen gekommen sein. Auf einem Acker bei Brestowatz gruben Titos Freischärler zwölf Männer bis zum Hals in der Erde ein und schlugen ihnen dann die Köpfe wie Kohl ab, eine Tötungsart, von der auch der damalige Partisanenführer Milovan Djilas berichtet hat. In der Milchhalle von Kikinda wurden die Männer erst verprügelt, dann schnitt man ihnen Nase, Zunge, Ohren oder Penis ab und stach ihnen die Augen aus – schließlich lagen 136 Leichen auf dem Hof.« (S. 61) »In acht Transportzügen wurden zudem 8000 Frauen und 4000 Männer in die Sowjet- union deportiert, von ihnen kam jeder Sechste ums Leben. Die übrigen 167 000 Deutsch- stämmigen, die verschont geblieben waren, wurden in Lagern konzentriert.« (S. 61)

172