2 Wochenschau Bauwelt 40 | 2013 Bauwelt 40 | 2013 3

garde denkt, sei daran erinnert: Sämtliche Exponate Zwischen Expressionismus und Moderne: stammen aus der Sammlung der Tchoban Founda- Haus Neufert in Bugnaux-sur-Rolle von 1964 tion. Deren Gründer bekannte unlängst im Interview mit schwebend anmutendem Stahlbeton- faltdach auf sechs Stützen (Bauwelt 28.2013), es gehe ihm um den ästhetischen Foto: -Universität , Archiv Genuss, selbst aus größeren Konvoluten würden der Moderne „nur solche Highlights gewählt, die mich persönlich begeistern“. Diesem Auswahlprinzip sind nicht we- nige Entdeckungen zu verdanken, großartige Blätter von geradezu betörender Kunstfertigkeit (an den Aka- demien von St. Petersburg oder Moskau hat sich die perfekte Darstellungskunst als eigenständiges Genre ja bis heute erhalten). Aber hört denn die Kunst bei Säule, Symmetrie und Rocaille auf? Fanden die küh-

len Lineaturen der Konstruktivisten nicht zu genau- AUSSTELLUNG für Normungsfragen“, eine Position, die dieser für so faszinierender Ästhetik, sobald man der Bewegung die Erarbeitung einer „Bauordnungslehre“ nutzte. nur mit Wohlwollen begegnete? In Sedows These nun Der andere Neufert | Ausstellung Das 1943 erstmals publizierte Handbuch propagierte haftet dem revolutionären Aufbruch ein Makel an, in das Oktametrische Maßsystem, konnte jedoch nicht „ein bitterer Beigeschmack des Dienens am Prole­ta- an den Erfolg der Bauentwurfslehre anschließen. riat und seiner Diktatur“. Am Ende wirft er kon­struk- „Schau im Neufert nach“ wird bei funktionalen Ent- In der Nachkriegszeit avancierte Neufert, hier tivistischen Entwürfen gar ihre Brauchbarkeit vor: wurfsfragen selbst in den Architekturbüros geraten, setzt die Ausstellung an, zum Hausarchitekten ver- „Diese Architektur kann gebaut werden, sie war zum die dem Autor sein Wirken im Nationalsozialismus schiedener Firmen, mit denen er teilweise schon seit Errichten fertig – und wurde in Hunderten von sow- vorwerfen. Das bis heute ungebrochene Renommee den 30er Jahren in Kontakt stand. Zu nennen sind jetischen Städten gebaut.“ seiner Bauentwurfslehre verstellte lange den Blick die Portland-Cement-Fabrik Dyckerhoff in Amöneburg Da liegt es nahe, hinter der innigen Beschwö- auf den Architekten Ernst Neufert. Die Technische Uni- bei Wiesbaden, das von nach Mainz verlagerte rung von Schönheit und Stil heute mehr zu vermuten versität , seine einstige Wirkungsstätte, Schott-Werk und das Eternit-Werk im badischen Lei- als nur kunsthistorische Bildung und Liebhaberei. würdigte 2011 Leben und Werk mit einer Ausstellung, men – deren Bauten decken formal ein Spektrum Der Bezug auf die Heroen des „Silbernen Zeitalters“, die in erweiterter Form nun in Dessau und danach von skulpturaler Ofenanlage bis minimalistischem der Belle Epoque des Zarenreichs, macht deutlich, in Nürnberg zu sehen ist. Fertigungsgebäude ab. Boris Iofan, Wiederaufbau von Noworossijsk, mit welch romantischen Sehnsüchten und melancho- Beide Städte sind wichtige Stationen in Neu- Bei den kleineren Bauwerken zeigt sich der Ein- Entwurf Zentraler Platz. 1944, Pastell u. AUSSTELLUNG lischen Selbstbildern ein gediegenes Kulturbürger- ferts Karriere. In der anhaltinischen Residenzstadt fluss von Frank Lloyd Wright, den Neufert 1936 Wasserfarben, 353 x629 mm tum in der Sowjetgesellschaft überdauern konnte. war der 25jährige Büroleiter von für erstmals besuchte. Neufert arbeitete mit den Kon- rechts: Jakow Tschernichow, Architekturphan- Und mit welcher Konsequenz solche Bürgerlichkeit die Projekte „Bauhaus“ und „Meisterhäuser“ ver- trasten unterschiedlicher Materialoberflächen, weit tasie. 1930–40er Jahre, Bleistift, 99 x98 mm „Inbrünstige Liebe zur Weltkultur“ | sich sogar noch rückwirkend von allen Experimenten antwortlich. Nach einer Lehre als Maurer, Zimmerer, auskragenden Dächern und expressivem Einsatz linker Revoluzzer distanziert. Was Sedow hier dem Einschaler und Betonierer hatte Neufert nach nur von Backstein. Nach Wrights Tod 1959 modifizierte Zeichnungen russischer und sowjetischer Konstruktivismus als „dürftigen Stil“ anlastet, meint zweijährigem Studium an der Baugewerkschule Wei- er seinen eigenen Stil. In seinem Wohnhaus in im Grunde wohl doch das soziale Projekt, dem die mar und dem Bauhaus nämlich Adolf Meyer ersetzt, Bugnaux-sur-Rolle nahe dem Genfer See von 1964 Architekten in Berlin Avantgarde sich verschrieb. Architektur steht tatsäch- der Gropius nicht nach Dessau gefolgt war. ist mit den hochgezogenen Dachecken der Einfluss lich im Kulturkampf. Bis heute. In Nürnberg steht die „Versandmaschine“ für Asiens erkennbar, im etwas später errichteten Hans- „Quelle“, die Neufert von 1958 bis 1967 in mehreren Busch-Institut der TH Darmstadt gar der des Bruta- Wolfgang Kil Architektur im Kulturkampf | Tchoban Foun- Schritten errichtete und bis 1975 den sich ändern- lismus. Die Piranesi-Blätter, mit denen das neue Berliner Mu- Iwan Leonidow, eine ihrer Lichtgestalten, steht mit schaft dieser Kollektion: Nach seiner These haben dation, Museum für Architekturzeichnung, den Erfordernissen baulich anpasste. Am aktuell leer- Die stetige Weiterentwicklung, das zeigt die seum für Architekturzeichnung seine Eröffnung fei- einer späten „Phantasie“ für das UN-Gebäude in die Großen der sowjetrussischen Architektur mit Christinenstraße 18A, 10119 Berlin | stehenden Bau des Großversenders mit mehr als von Werner Durth mit Ralf Dorn und Udo Gleim erte, waren ein einziges Fest für die Augen. Bei der New York einsam als unverbesserlicher Träumer da. ihrer „lyrischen und inbrünstigen Liebe zur Weltkul- ▸ www.tchoban-foundation.de | bis 14. Februar 250.000 Quadratmetern Bruttogeschossfläche zeigt konzipierte Ausstellung, war die Quelle für Neuferts zweiten Ausstellung geht es didaktischer zu. Für Nur bei Alexej Schtschussew lassen verschiedene tur“, besonders aber zur Pracht und Opulenz römi- 2014 | Der Katalog kostet 40 Euro sich sein Wille, fordistischen Arbeitsabläufen effi- Erfolg – nicht zuletzt sichtbar an der Bauentwurfs- diese gibt es einen klaren historischen Rahmen, ein Skizzen für das Leninmausoleum auf mehrere Seelen scher Palazzi und Veduten, im Grunde ihres Herzens zient und sachlich Gestalt zu geben (Bauwelt 1–2. lehre, die er bis zu seinem Tod von Auflage zu Auf- Thema und eine These. Gezeigt werden Zeichnun- in seiner Brust schließen. Dass es nach dem Krieg stets dem Klassizismus angehangen. Der Konstruk- 2012). lage überarbeitete. Eine „Baugestaltungslehre“ gen russischer und sowjetischer Architekten vom Be- unter den Schülern der neoklassischen Altmeister nur tivismus mit seiner Verachtung für den klassischen Dabei kam Neufert seine schon früh ausgereif­te wollte er über Jahrzehnte hinweg verfassen, doch ginn bis zur Mitte des letzten Jahrhunderts. Das noch epigonal zuging, belegen Blätter von Boris Kanon sei dagegen nur eine Art Experimentallabor Pragmatik zugute: Er orientierte sich, stets dem fehlte es ihm dafür vermutlich an einer Vision. Thema „Architektur im Kulturkampf“ meint den Rich- Schura­wljow oder Leonid Poljakow. gewesen, eine vorübergehende Phantasterei, die in wirtschaftlichen, technischen und funktionalen Stand Neuferts Bauwerke sind keine Ikonen der Baukunst, tungsstreit zwischen Neoklassizisten und Konstruk- Mittendrin, als große Überraschung, eine Suite ihrer „vorbehaltlosen Liebe zur Technik und Geo- entsprechend, auf das Nützliche. Auch berufliche aber vorbildliche, an der jeweils gestellten Auf- tivisten, deren Konkurrenz im Sowjetrussland der von zehn Bleistiftminiaturen! Gespenstische Holz- metrie“­ bar jeder „humanistischen Komponente“ die Entscheidungen fällte er ohne Sentiment. Bereits 1926 gabe orientierte Architekturen. Michael Kasiske 20er und frühen 30er Jahre zwar allgemein bekannt, mühlen und fiktive Fabriken, die, aus schiefen Bal- Mehrheit ihrer Zeitgenossen gar nicht erreichte. verließ er Gropius für eine Professur an der – nach aber en detail noch kaum erklärt worden ist. ken und Brettern gebaut und vom Einsturz bedroht, Weshalb beim ersten Wettbewerb zum Sowjetpalast dem Fortgang des Bauhauses – neu gegründeten Bau- Ernst Neufert. Leben und Werk des Architekten In den zwei Kabinetten des Museums sind „das Gefühl einer dunklen Bedrohung“ vermitteln. 1932 der „weise Führer“ J. W. Stalin mit Iofans ba- hochschule in Weimar. Nach deren Auflösung durch 1900–1986 | Hochschule Anhalt, Campus Des- 79 Blätter aus den besagten Jahrzehnten in chrono- Spukhafte Alpträume, zu Papier gebracht von Jakow bylonischem Wolkenkratzer die Signale wieder auf den nationalsozialistischen Staatsminister für Inneres sau, Gebäude 04 – Bill-Haus, Seminarplatz 2a, logischer Folge zu sehen. Mit Iwan Scholtowski, Tschernichow, Industriearchitekt und Zeichenlehrer Tradition setzen ließ und die Architekten „in ihrer und Volksbildung rezensierte Neufert als freier Autor 06846 Dessau | ▸ www.triennale-der-moderne. Iwan Fomin, Boris Iofan, Wladimir Gelfrejch oder Noi am Moskauer Architekturinstitut (MArchI). Seine No- Mehrzahl schnell und begeistert zu den Positionen Ausstellungen und Präsentationen vor allem für die de/dessau/veranstaltungsorte/ernst-neufert- leben-und-werk | bis 15. November 2013 | Trotzki überwiegen Traditionalisten, die fast alle tate einer inneren Emigration lassen ahnen, unter der von oben vorgegebenen neoklassizistischen Ar- Bauwelt, in der auch die ersten Auszüge der Bauent- Begleitpublikation der TU Darmstadt 9,90 € | ihre Skizzenbücher auf Italienreisen gefüllt hatten. welch massivem Druck die Konkurrenz der Richtun- chitektur wechselten.“ Schnell und begeistert? Das wurfslehre veröffentlicht wurden. 4. Dezember 2013 bis zum 19. Januar 2014 Da­gegen antretende Konstruktivisten wie Andrej gen letztlich entschieden wurde. ist starker Tobak. Mit deren Erscheinen im Jahr 1936 rückte der Neues Museum – Staatliches Museum für Kunst Burow oder Kirill Afanassjew gehören zur zweiten Im sorgfältig edierten Katalog enthüllt Wladimir Bevor man nun an die Revision allgemein ge­ erfolgreiche Organisator ins Blickfeld von Albert und Design in Nürnberg Reihe dieser weltweit bestaunten Avantgarde. Sedow, Baugeschichtsprofessor am MArchI, die Bot- sicherter Positionen in Sachen Revolution und Avant- Speer. Er ernannte Neufert 1938 zum „Beauftragten