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Sendung vom 18.06.2005, 20.15 Uhr

alpha-forum-extra: Stationen der Literatur: Eduard Mörike Prof. Dr. Wolfgang Frühwald im Gespräch mit Dr. Walter Flemmer

Flemmer: Liebe Zuschauerinnen und Zuschauer, willkommen zu einer der, wie ich meine, schönsten Stationen der deutschen Literatur, zu einem Gespräch über Eduard Mörike. Mein Gesprächspartner im Studio ist Professor Dr. Wolfgang Frühwald. Herr Frühwald, Mörike: Cleversulzbach, die Idylle am Bodensee, ein Männlein, ein Vikar, ein Pfarrer, der in seinem Leben über Schwaben eigentlich nicht hinausgekommen ist, der höchstens ein paar Schritte nach Bayern, nach Tirol und in die Schweiz hinein getan hat – und dieser Mann soll Weltliteratur sein? Der soll, wie Albrecht Goes gesagt hat, der Mozart der deutschen Sprache gewesen sein? Wie kommt man zu einem solchen Ruhm? Frühwald: Das ist ein sehr schönes Wort, das Albrecht Goes da gesagt hat. Und er war vermutlich wirklich der Mozart der deutschen Sprache. Die Dichter und die zeitgenössischen Kritiker haben ihn so eingeschätzt, wie Sie das soeben mit Ihrer Aufzählung ebenfalls gemacht haben. Obwohl immerhin Gottfried Keller schon gesagt hat, Mörike sei der Sohn aus einer Verbindung zwischen Horaz und einer feinen Schwäbin. Gottfried Keller wusste also bereits, wer ihm da entgegengetreten ist. Die Musiker jedoch haben diesen Eduard Mörike von Anfang an unter das Höchste gerechnet, was es in der deutschen Literatur gibt und was zu vertonen sich lohnt. Flemmer: Wobei man ihn eigentlich gar nicht vertonen hätte müssen, denn seine Sprache ist ja Musik: Sie klingt wie kaum eine andere. Und man darf vielleicht sagen: In der deutschen Lyrik kann man Goethe kaum jemand anderen als Mörike mit seinen Naturgedichten zur Seite stellen – wobei man sehr vorsichtig sein muss, wenn man "Naturgedichte" sagt. Ich schlage mal ganz kühn den Bogen zu den größten Dichtern der T'ang-Dynastie in China, zu Tu Fu und Li Po: Mörike kann sich sehr wohl an deren Seite stellen. Frühwald: Ja, das ist überhaupt keine Frage. Und natürlich ist er in Japan und in China einer der bekanntesten deutschen Autoren – wegen dieser Musikalität seiner Sprache und wegen seiner gemäldeartigen Sprache. Trotzdem sind die Musiker diejenigen gewesen, die ihn in das Bewusstsein des Volkes und in das Bewusstsein der Gebildeten hineingebracht haben. Flemmer: Schumann muss man hier wohl als Ersten nennen. Frühwald: Ja, Schumann vor allem, aber auch Brahms. Es gibt etwa 1800 Vertonungen von Mörike-Gedichten. Das ist nichts im Vergleich zu Heine oder Eichendorff, wo es jeweils um die 5000 Vertonungen gibt. Aber immerhin: Es gibt Gedichte von Mörike, die mehr als 100 Mal vertont worden sind – bis zu Hugo Distler, bis zu , bis hinein in unsere neueste Zeit, also bis zu den Modernen. Für die Musiker war dieser "Mozart der deutschen Sprache" immer ein Geheimtipp – und das mit Recht. Flemmer: Man muss wohl auch zum Ursprung zurückgehen, nach Ludwigsburg, wo er 1804 geboren wurde als Sohn eines Arztes, dessen Geschlecht aus Brandenburg stammt und das bereits im 17. Jahrhundert nach Württemberg eingewandert war, und einer Schwäbin. Das war eine Familie, in der sechs Kinder gestorben sind und er das siebte von insgesamt 13 Kindern war. Und dies, obgleich der Vater Arzt gewesen ist. Frühwald: 13 Kinder bedeuteten natürlich eine große Familie. Das Wichtige dabei ist, dass diese Geschwister ein wirklich enges Verhältnis zueinander gehabt haben. Das Faktum, dass einer seiner Brüder wegen sträflicher Ehrsucht auf die Festung verbracht worden ist, hat Mörike unglaublich berührt. Es hat ihn ebenso sehr berührt, dass eine seiner Schwestern in relativ jugendlichem Alter gestorben ist und er ihr in ihrer Todeskrankheit, obwohl Pastor und Pfarrer, nicht sagen konnte, ob er denn an den Heiland und die Auferstehung glaubt. Es hat in berührt, dass einer seiner Brüder vermutlich Selbstmord begangen hat. Darüber hinaus hatte er ein ganz inniges Verhältnis zur Mutter, weil der Vater gestorben ist, als Mörike 13 Jahre alt war. All das gehört natürlich zum Bild dieses Mannes, der Zeit seines Lebens mit seiner Mutter und einer seiner Schwestern zusammengelebt hat. Flemmer: Man sagt ja, dass er schon in jungen Jahren der Erzähler für seine Brüder gewesen sei und ihnen Geschichten und Märchen erzählt hätte. Er hat damals wohl auch schon die Märchen der Gebrüder Grimm benutzt, um seine Geschwister zu unterhalten. Sie haben auf das unterschiedliche Verhältnis zu seinen Geschwistern bereits hingewiesen, auf seine Brüder Karl und August, auf seine Schwester Luise und schließlich auf seine Schwester Klara am Ende. Da zeichnete sich dann ja auch ein Konflikt ab, über den wir später sicherlich noch sprechen werden. Der junge Mörike war ja eigentlich gar kein guter Schüler, als er in die Schule gekommen ist. Er hatte nur... Frühwald: ... mittelmäßige Noten. Und deswegen sollte er auch nicht in das unteres Seminar aufgenommen werden, also in die Vorbereitungsschule für eine Theologenlaufbahn. Aber wegen seiner Phantasiebegabung und insbesondere wegen seines guten Betragens ist er dann doch in dieses untere Seminar aufgenommen worden. Flemmer: Seine Mutter ist dann ja aus Ludwigsburg zum Onkel gezogen, zu einem hohen Justizbeamten. Mörike traf dort wohl auf einen sehr gebildeten Haushalt, denn dort hatte er seine ersten Begegnungen mit der Literatur und natürlich auch mit der Musik. Mörike kam dann auf das bereits angesprochene untere Seminar. Das war ja ein Seminar mit einer bestimmten Richtung, denn dort lief es wohl auf die Theologie hinaus. Frühwald: Ja, es ging in Richtung Philosophie und Theologie. Vor allem aber ist damit die Ausbildung zum Theologen möglich geworden, denn der ganze Promotionsjahrgang, also der ganze Jahrgang dieses unteren Seminars ist dann in das Tübinger Stift aufgenommen worden. Und das war ja doch wohl das Vornehmste und Beste, was man jedenfalls in Württemberg an Erziehung bekommen konnte. Flemmer: Für die evangelische Kirche war das seinerzeit das Institut. Frühwald: Albrecht Goes, ein Stiftler, schreibt dann eines Tages eine Biographie über den Stiftler Eduard Mörike. Er sprach auch in einer Rede im Tübinger Stift über den Stiftler Eduard Mörike. Flemmer: In Tübingen, aber auch davor schon in Urach, in dieser Klosterschule sind Freundschaften entstanden, die bei Mörike ein Leben lang gehalten haben. Uns sind aus diesem Grund viele, viele Briefe erhalten geblieben. Manche Freunde hat er meinetwegen mal ein Jahr lang nicht wahrgenommen, hat nicht auf ihre Briefe zurückgeschrieben, aber die Versöhnung... Frühwald: ... war dafür dann umso prächtiger. Flemmer: Da gab es ja wohl ein paar herausragende Freunde. Frühwald: Ja, da gab es die Freundschaft mit Hartlaub, die Freundschaft mit Ludwig Bauer, die Freundschaft mit Wilhelm Waiblinger. Das sind im Grunde genommen zunächst einmal schon rein schwäbische Freundschaften. Aber diese Freundschaften haben dann wirklich ein Leben lang gedauert. Freundschaft war in Mörikes Leben fast noch wichtiger als Liebe. Flemmer: So ist es. Frühwald: Er hat auf die Freunde als Lebensführer mehr vertraut als auf alles, was ihm an weiblicher, fraulicher Liebe begegnet ist. Flemmer: Dieser Wilhelm Waiblinger hat ihn ja zu Hölderlin und zu Shakespeare und zu Goethe geführt. Frühwald: Ja, Mörike hat den kranken Hölderlin auch noch persönlich gesehen, diesen Hölderlin im Turm in Tübingen. Aber er wollte nicht so dichten, wie Hölderlin gedichtet hat, obwohl er ihn sehr bewundert hat. Aber dieses Poetenschicksal, als geisteskranker und gemütskranker Mensch dann jahrzehntelang in einem Turm und betreut von einem ganz einfachen Mann zu überleben und ab und zu noch eine Erinnerung an das Frühere zu haben, das hat Eduard Mörike sehr beeindruckt. Und viele Gestalten haben dann auch so ein Schicksal. Flemmer: Waiblinger war ja ein etwas verlottertes Genie, wenn ich das so sagen darf. Er ist dann nach Italien verschwunden und dort regelrecht zugrunde gegangen. Damit war natürlich auch die Freundschaft zwischen den beiden beendet. Aber Mörike hat wohl nie vergessen, was ihm dieser Freund nahe gebracht hatte. Frühwald: Ja, auch an Genialität nahe gebracht hat, an Genialität und auch an Beziehung zur Sprache, denn dieser Mörike war im Leben nicht sehr befestigt. Mir scheint er einer der traurigsten Dichter der deutschen Literatur zu sein. Das ist zwar ein Dichter, der auch in unglaublichen Humor ausbrechen konnte, aber dieser Humor ist doch abgerungen einem Untergrund von Traurigkeit und Schwermut. Es gibt von ihm eine wunderschöne Briefstelle, wo er dies beschreibt. Dort heißt es: "Ich freute mich zuletzt nur auf eine einsame Stunde, wo ich nach Herzenslust unter ungehemmten Tränen meine eigene Trauer gleichsam würde umarmen und erschöpfen dürfen. Denn so bin ich: Aug in Aug noch mit dem geliebtesten Gegenstand bleibt der äußere Teil meines Wesens meistens ohne lebhaften Ausdruck, so gierig sich auch der Schmerz aus der Tiefe hervorsehnt und auf eine stürmische Erlösung wartet." Er war ein trauriger Dichter. Flemmer: Ein trauriger Dichter, ein Dichter, der auch immer wieder an seinem Beruf beinahe verzweifelte. Er wanderte von einer Vikarsstelle, also einer niedrigen theologischen Stelle zur anderen: Ein Dutzend Stellen in den kleinsten Orten Württembergs musste er über sich ergehen lassen. Er ist herumgeschoben worden und landete schließlich in Cleversulzbach. Frühwald: Wo er dann immerhin neun Jahre lang Pfarrer war. Flemmer: Ja, dort ist er dann neun Jahre lang geblieben. Frühwald: Aber er war evangelischer Pastor und hat doch das Predigen gehasst. Flemmer: Ja, er hat das gehasst und wollte diesem Beruf eigentlich entkommen: Er dachte, er könnte sogar als Schriftsteller für ein Damenblättchen Furore machen. Aber das hat alles nicht geklappt. Er hat Cotta geschrieben, hat sich bei ihm vorgestellt usw., aber das hat alles nicht funktioniert. Frühwald: Später hat er noch einmal versucht, eine Bibliothekarsstelle zu bekommen. Er war außerdem von unglaublich schwächlicher Gesundheit. Mathias Mayer meint sogar, er habe schon relativ früh und mit unterschiedlichen Schüben an multipler Sklerose gelitten. Daran ist er dann auch mit 71 Jahren gestorben. Und multiple Sklerose ist mit Sicherheit eine sehr schwere und damals noch viele schwerere Krankheit als heute. Flemmer: Er war also ein Pfarrer, der nach Cleversulzbach kam und dort einige Jahre gelebt hat. Dann hat er jedoch um seine Pensionierung gebeten. Frühwald: Ja, bereits im Jahr 1843. Flemmer: Danach kam er nach Stuttgart und gab dort an einem Mädchen-Lyzeum Unterricht: Er hat den Mädchen wohl für einige Stunden in der Woche Shakespeare und andere Literatur vermittelt. Das war keine große Aufgabe. Frühwald: Er musste ja von etwas leben. Man muss nur einmal die Auflagenhöhen von Mörike mit denen von Hebel in der damaligen Zeit vergleichen. Hebels Auflage seines "Schatzkästleins" ging in die zig Tausende, während die Auflage bei Mörike immer nur ungefähr bei 300, 400 Stück lag. Davon konnte man nicht leben. Mörike hat ja ein wunderschönes Haushaltungsbuch überliefert, in dem jede kleinste Ausgabe in diesem Haushalt notiert wurde. Seine Frau musste notieren, was sie an Haushaltsausgaben hatte und diese Ausgaben wurden dann von Mörike annotiert und kommentiert. Das war wirklich ein ärmlicher Haushalt, wie man sagen kann. Das war der ärmliche Haushalt eines Genies. Und wohl auch deswegen hat Mörike Mozart in den Mittelpunkt seines Werkes gestellt. Flemmer: Große Sprünge konnte er also nie machen. Ein ganz wichtiges Thema war aber doch die Liebe bei ihm, auch dann, wenn sie vielleicht nicht die Bedeutung hatte wie die Freundschaft. Aber ich weiß gar nicht, ob unser Satz von vorhin in Bezug auf die Freundschaften und die Liebe wirklich stimmt, denn von der Liebe bzw. von der enttäuschten Liebe ist er ja aufgewühlt worden wie kaum ein anderer. Ein erstes kleines Liebesverhältnis zu einer Base von ihm spielte keine große Rolle, aber dann machte er schon 1823/24 eine unglaubliche Begegnung. Frühwald: Ja, es erscheint plötzlich im Gefolge einer Sektenstifterin – der Frau von Krüdener – eine junge Frau namens Maria Meyer. Und in diese Frau... Ja, man kann eben gar nicht sagen, dass sich Mörike in diese Frau verliebt hätte: Nein, dieser Frau ist Eduard Mörike regelrecht verfallen. Alle warnen ihn jedoch sofort vor dieser "Zigeunerin". Und als Zigeunerin, als "die Zigeunerin Elisabeth", erscheint sie dann ja auch im "Maler Nolten", also in diesem Roman, den Mörike geschrieben hat. Diese Verfallenheit geht jedenfalls so tief, dass er Zeit seines Lebens versucht hat, dieses Hingezogensein zu dieser schweifenden Liebe zu vergessen und zu verdrängen. Er spricht dann später von seiner Noli-me-tangere- Vergangenheit, also von seiner Rühr-mich-nicht-an-Vergangenheit, weil sonst alles in ihm wieder aufgebrochen wäre. Flemmer: Das muss eine sehr schöne Frau gewesen sein. Der Wirt hatte sie am Straßenrand aufgelesen, wo sie wohl zusammengebrochen war. Er hatte sofort den Gedanken: "Die muss bei mir Kellnerin werden, denn dann wird das Publikum in Scharen kommen, um von so einer schönen Kellnerin bedient zu werden!" Frühwald: Mörike hat sich dieser Frau dann natürlich rasch entzogen. Was genau geschehen ist, weiß man aber bis zum heutigen Tage nicht. Flemmer: Denn er hat alle Dokumente diesbezüglich vernichtet. Frühwald: Ja, er hat alles vernichtet und auch sonst nichts darüber gesagt. Deswegen gibt es nur ein Buch über dieses so genannte Peregrina-Erlebnis, also über dieses Erlebnis des schweifenden Eros, der schweifenden Liebe. Flemmer: "Die dreifache Maria" von Peter Härtling fällt mir dabei ein. Frühwald: Wobei man natürlich sagen muss, dass diese schweifende Liebe, dieser flüchtige Eros, schon bei Platon vorgebildet ist. Der gebildete Mörike kennt diese Geschichte bei Platon natürlich: Er überträgt das dann von Platon auf sein eigenes Erlebnis. Aber diese Frau taucht dann in seinem Leben immer wieder einmal auf. Urplötzlich ist sie in Ludwigsburg, urplötzlich ist sie in Tübingen und Mörike verfällt ihr jedes Mal wieder. Flemmer: Aber zunächst einmal ist er furchtbar enttäuscht, als sie weggeht nach Heidelberg, als man ihm sagt, sie sei ja eigentlich nicht sehr viel mehr als eine Prostituierte, sie würde sich mit Männern herumtreiben usw. Das muss ihn furchtbar getroffen haben. Und er beendet dann dieses Verhältnis letztlich ganz abrupt: Er verweigert sich ihr, als sie dann wieder auftaucht. Aus der Begegnung mit dieser Frau entstand dann ein Gedichtzyklus von Mörike: Das ist einer der berühmtesten Gedichtzyklen der deutschen Sprache. Darf man das so sagen? Frühwald: Ja, das ist sicherlich einer der berühmtesten Gedichtzyklen der deutschen Sprache, aber auch einer der rätselhaftesten. Friedrich Theodor Fischer, der ihn besprochen hat, hat gesagt: Es fehle diesem Zyklus der Boden, es fehle eine Notiz, es fehle "die kalte Anmerkung der Verständlichkeit" für dieses Gedicht. Ich glaube, das stimmt tatsächlich: Es fehlt diesem Gedicht der Boden. Dieses Gedicht ist etwas, das ins Bodenlose geht. Und dort in diesem Gedicht wird genau beschrieben, wie es war mit Peregrina: "Ein Irrsal kam in die Mondscheingaerten / Einer einst heiligen Liebe. / Schaudernd entdeckt ich verjaehrten Betrug. / Und mit weinendem Blick, doch grausam, / Hiess ich das schlanke, / Zauberhafte Maedchen / Ferne gehen von mir. / Ach, ihre hohe Stirn, / War gesenkt, denn sie liebte mich; / Aber sie zog mit Schweigen / Fort in die graue / Welt hinaus. // Krank seitdem, / Wund ist und wehe mein Herz. / Nimmer wird es genesen!" Flemmer: Es gibt von diesem Zyklus ja ein paar Variationen und er hat ihn auch aufgenommen in seinen Roman "Maler Nolten". Aber er steht doch auch ganz für sich, wie man sagen darf. Dieses "Irrsal", das ihn da gepackt hat und das in diese Gärten gekommen ist, ist doch der Ausdruck einer unendlichen Verzweiflung, einer unendlichen Enttäuschung. Wobei hier ja wohl auch seine Schwester Luise eine Rolle gespielt hat, die ihn... Frühwald: ... gewarnt hatte, denn sie hatte zu ihm gesagt: "Das darfst du doch nicht machen! Man kann einer Frau nicht so verfallen! Und dann auch noch einer Frau so niedrigen Standes, deren Herkunft völlig unbekannt ist, die am Straßenrand von irgendjemand aufgelesen worden ist! Einer Frau, von der man nicht weiß, wohin sie verschwindet und wann sie wiederkommt!" Das war schon eine sehr sonderbare Liebe. Mörike selbst schreibt auch einmal von der "Angst und der Qual, die die Liebe den Menschen antut". Und diese Qual der Liebe hat er wirklich erlebt und nie mehr wieder vergessen. Flemmer: Man kann diese Peregrina-Gedichte wohl nur noch an die Seite der "Marienbader Elegie" von Goethe stellen. Wobei es allerdings erstaunlich ist, in welch jungen Jahren Mörike dieses Gedicht geschrieben hat. Bei Goethe war es so, dass er bereits ein alter Mann gewesen ist, als ihn eine solche Begegnung noch einmal aufwühlte. Bei Mörike geht ja wohl sein ganzes Leben lang dieses Untergründige immer irgendwie weiter: Er hat ja eine Reihe von Liebesgedichten geschrieben, aber kaum eines davon ist wirklich heiter – wenn man mal von diesem einen mit dem Küssen absieht. In seinen Gedichten grummelt es immer. Frühwald: Es gibt natürlich bei ihm auch Gedichte, von denen man fast sagen muss, dass sie frivol, fast schon obszön sind. Flemmer: Sie meinen dieses Gedicht mit dem Aal. Frühwald: Ja, mit dem Aal und mit dem Fisch: Es bezieht sich auf die erste Liebe eines Mädchens. Flemmer: Und dieses Gedicht hat er dann sogar noch einem Freund zugeschickt! Frühwald: Ja, das stimmt. Wenn Mörike also ausgebrochen ist, dann ist da wirklich ungeheuer viel herausgekommen. Flemmer: Das war dann keine biedermeierliche Liebe, sondern eine erotisch sehr expressive Liebe. Frühwald: Richtig. Ich würde ihn daher fast lieber noch als mit Goethe mit Richard Wagner vergleichen, mit "Tristan und Isolde". Wenn es bei Mörike "von der verhassten Liebe Qual" heißt, dann ist das doch genau das, was auch Tristan und Isolde erfahren. Tristan erfährt diese Qual der Liebe zu Isolde und flieht dann vor Isolde in den Tod. Isolde merkt, er betrügt sie mit dem Tod. Und dann stirbt sie ihm nach. Diese "verhasste Qual der Liebe": damit ist gemeint, dass Liebe nichts Idyllisches ist, nichts Vornehmes, nichts Feines und auch noch nicht einmal etwas Erfüllendes, sondern dass sie etwas Peinigendes ist und dass dieses Peinigende ein ganzes Leben lang anhalten kann. Flemmer: Es gibt noch zwei Frauen in Mörikes Leben, die auch literarisch einen Niederschlag gefunden haben: Das ist zum einen die Luise Rau mit den vielen Liebesbriefen. Man hat davon gesprochen, das seien die schönsten Liebesbriefe der deutschen Literatur. Ich muss jedoch sagen, dass ich bei einer solchen Einschätzung meine Zweifel hätte. Frühwald: Das sind sicher nicht die schönsten Liebesbriefe der deutschen Literatur, aber es sind schöne Liebesbriefe. Flemmer: Ja, das denke ich auch. Diese Luise Rau war ja ein Pfarrerstöchterlein. Wie kam es denn zur Verlobung mit und dann zur Trennung von dieser Frau? Frühwald: Die Trennung ist umrätselt. Diese Frau war eine Waise. Der vorherige Pfarrer an der Stelle, auf der Mörike nun saß, war gestorben und Mörike hat sich in diese Frau verliebt und hat diese Verlobung immerhin vier Jahr lang bewahrt. In diesen vier Jahren der Verlobung hat er 60 Briefe an sie geschrieben. Wobei man sagen muss, dass der Briefschreiber Mörike noch gar nicht richtig entdeckt ist, denn er war schon ein großer Briefschreiber. Eine Nichte dieser Verlobten Mörikes hat später Carl Jakob Burckhardt eine im Grunde entsetzliche Szene erzählt. Sie erzählte, dass Mörike und Luise Rau eines Tages im Wald spazieren gegangen seien, dass Mörike in fast spasmische Erregung verfallen sei, Luise Rau gezwungen habe, niederzuknien und ein Messer gezogen habe und gesagt habe: "Ich schneide dir jetzt den Kopf ab!" Es kam dann aber jemand, Mörike war völlig erschöpft und hat sich entschuldigt. Aber diese Qual des Verhältnisses, auch im Verhältnis zu dieser jungen Frau, ist etwas, das Mörike kennzeichnet. Hofmannsthal hat gesagt: "Mörike erschreckt mich. Ich spüre in seinen Versen gelegentlich Sadismus." Flemmer: Diese junge Frau hatte sich von Mörike wohl etwas ganz anderes erwartet, als er eigentlich bieten konnte und schließlich auch nicht geboten hat: eine ruhige Pfarrerstelle. Sie war eine nicht ungebildete Frau, aber sicherlich keine besonders gebildete. Sie wollte jedenfalls einen ruhigen Pfarrershaushalt führen. Frühwald: Sie hätte sich darauf sicherlich eingelassen. Flemmer: Schließlich hat sie das dann ja auch erreicht. Für Mörike bestand aber gar keine Aussicht in dieser Richtung. Frühwald: Er hatte keine Möglichkeit, eine Familie zu ernähren. Flemmer: Ja, er war noch lange nicht so weit. Frühwald: Auf der anderen Seite war es aber auch so, dass das Leben dieser Luise Rau anschließend kein sehr glückliches Leben war. Sie hat erst relativ spät geheiratet und ist dann aber relativ früh, lange vor Mörike, gestorben. Dieses enge und innige Verhältnis mit diesem Mann hat also diese Frau geprägt. Bei Mörike hat dieses Verhältnis hingegen Schuldgefühle hinterlassen: Schuldgefühle wie auch im Verhältnis zu Maria Meyer. Auch hier galt für ihn im Hinblick auf die Vergangenheit wieder: Noli me tangere! Flemmer: Er hat dann spät doch noch geheiratet, die Margarete Speeth. Frühwald: Er war damals zusammen mit seiner Schwester in Bad Mergentheim. Der Hausbesitzer hatte eine Tochter und Mörike hat dann diese Margarete Speeth geheiratet. Er hatte zwei Kinder mit ihr, zwei Töchter. Aber seine Schwester Klara war immer mit im Haushalt. Dieses Dreiecksverhältnis zwischen ihm, seiner Frau und seiner Schwester hat nicht funktioniert. Das ging sogar so weit, dass Mörike mit seiner Schwester und der jüngeren Tochter ausgezogen ist. Er hat sich dann erst kurz vor seinem Tod im Jahr 1875 mit seiner Frau wieder versöhnt. Das war schon ein von Qualen erfülltes Leben: Aber diese Qualen sind dann natürlich Form geworden in einer Art und Weise, die wirklich an den späten Goethe erinnern kann. Flemmer: Seit dem Verhältnis zu Maria Meyer gab es zwischen Mörike und allen anderen Menschen scheinbar immer eine gewisse Distanz. Dieses spontane sich Öffnen gegenüber anderen Menschen gab es für Mörike wohl kaum noch. Aber diese Verhältnisse sind dann in der Tat Wort geworden. Wir müssen jetzt einfach ein paar Gedichte zitieren. Die Anfänge seiner Gedichte sind meistens so frappierend, von einer solchen Dichte der Sprache und einer so großartigen Melodik der Vokalführung, dass man sich nur wundern kann. Nennen Sie doch ein paar dieser Gedichte. Frühwald: Vielleicht sind seine berühmtesten Gedichte das Gedicht "Um Mitternacht" und das Gedicht "Auf eine Lampe". Dieses Gedicht "Um Mitternacht" ist wirklich ein wunderschönes Gedicht. Ich habe vor kurzem gelesen, dass Heinz Friedrich, der ehemalige Präsident der Bayerischen Akademie der schönen Künste, dieses Gedicht als sein Lebensgedicht bezeichnet hat. Der letzte Text, den Heinz Friedrich in seinem Leben überhaupt geschrieben hat, ging darum, dieses Gedicht auszulegen. "Gelassen stieg die Nacht ans Land, / Lehnt traeumend an der Berge Wand, / Ihr Auge sieht die goldne Waage nun / Der Zeit in gleichen Schalen stille ruhn; / Und kecker rauschen die Quellen hervor, / Sie singen der Mutter, der Nacht, ins Ohr / Vom Tage, / Vom heute gewesenen Tage. // Das uralt alte Schlummerlied, / Sie achtets nicht, sie ist es mued; / Ihr klingt des Himmels Blaeue suesser noch, / Der fluechtgen Stunden gleichgeschwungnes Joch. / Doch immer behalten die Quellen das Wort, / Es singen die Wasser im Schlafe noch fort / Vom Tage, / Vom heute gewesenen Tage." Ich glaube, die Stunde der Dämmerung ist in deutscher Sprache nirgendwo großartiger ausgedrückt worden. Flemmer: Es gibt in der Tat kein vergleichbares Gedicht. Das Erstaunliche ist ja, dass dieses Gedicht die Natur nicht symbolisiert, sondern die Natur ist hier in einem völlig neuen Zustand präsent. Darf man das so sagen? Frühwald: Ja. Flemmer: Die Bilder, die Stimmen sind so einmalig, dass man sich fragen muss, wie man so etwas finden kann. Das macht den Zauber dieser Sprache aus. Das ist in der Tat der Mozart der deutschen Sprache. Frühwald: Ja, das ist der Mozart der deutschen Sprache. hat ihn ja fast nachgeahmt in einem Herbstgedicht: " Astern - schwälende Tage, / alte Beschwörung, Bann, / die Götter halten die Waage / eine zögernde Stunde an. // Noch einmal die goldenen Herden / der Himmel, das Licht, der Flor, / was brütet das alte Werden / unter den sterbenden Flügeln vor? // Noch einmal das Ersehnte, / den Rausch, der Rosen Du- / der Sommer stand und lehnte / und sah den Schwalben zu, // Noch einmal ein Vermuten, / wo längst Gewißheit wacht: / die Schwalben streifen die Fluten / und trinken Fahrt und Nacht." Aber bei Mörike ist in der Erinnerung doch immer noch etwas von Lebenshoffnung enthalten. Es ist ja die Nacht, die "gelassen ans Land" stieg und "träumend an der Berge Wand" lehnt. Flemmer: Das ist ein regelrechter Schwebezustand. Frühwald: Ja, ein Schwebezustand, aber diese Quellen, die aus dem Reich der Nacht hervorspringen, erzählen vom Tage, vom "heute gewesenen Tage". Und diese Erinnerung an den heute gewesenen Tag macht die Größe von Mörikes Lyrik und von Mörikes Werk überhaupt aus: dass die Erinnerung, die in die Gegenwart mit fortwirkt, festzuhalten ist, weil dort das Leben wurzelt. Flemmer: Es gibt ja eine Reihe von Nachtgedichten bei Mörike und auch eine ganze Reihe von Morgengedichten. Die meisten Sammlungen haben ja als erstes Gedicht dieses "An einem Wintermorgen, vor Sonnenaufgang" vorangestellt: "O flaumenleichte Zeit der dunkeln Fruehe!". Das ist wieder so eine Fügung, die es in der deutschen Literatur nur einmal gibt. Im Verlauf dieses Gedichts spielen dann die Vokale miteinander, ist dieser Zauber eines Wintermorgens mit dem Licht über dem Schnee unvergleichlich eingefangen. Frühwald: "Einem Kristall gleicht meine Seele nun, / Den noch kein falscher Strahl des Lichts getroffen; / Zu fluten scheint mein Geist, er scheint zu ruhn, / Dem Eindruck naher Wunderkraefte offen, / Die aus dem klaren Guertel blauer Luft / Zuletzt ein Zauberwort vor meine Sinne ruft." Flemmer: Ähnlich das Gedicht "In der Fruehe": "Kein Schlaf noch kuehlt das Auge mir..." Man muss diese Gedichte wohl auch laut lesen, um sich in diesen Klang hineinbegeben zu können. Man kann diese Gedichte wirklich Hunderte Male lesen und man sollte sie den Kindern vorlesen und den alten Leuten vorlesen... Frühwald: Und man sollte sie auch gesungen hören! Flemmer: Stimmt. Frühwald: Aber dieser Mörike war natürlich kein Erlebnislyriker. Denn diese Erinnerung war immer gebrochen. Und in diesem Gedicht "Auf eine Lampe", das ja zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen Emil Staiger und Martin Heidegger geführt hat, wird er zum Artisten, also zu einem Künstler, dem es nur noch um das schöne Ding an sich geht. Das ist eigentlich etwas ganz Modernes: Das ist etwas, das es in dieser Zeit sonst nicht gegeben hat. Flemmer: Er ist natürlich auch geprägt von der Antike, denn er hat ja auch antike Autoren übersetzt: Etwas Vergilisches ist daher wohl auch in all seinen Versen mit drin. Frühwald: Vergil, Horaz, Ovid, all diese Autoren kannte dieser klassische gebildete Mann natürlich. Aber dieses Gedicht "Auf eine Lampe" ist wahrscheinlich wirklich in antikischem Gewand moderne expressive Ästhetik. Flemmer: Man hat ja immer wieder behauptet, das sei ein Biedermeier-Gedicht, aber das geht wohl doch weit über das Biedermeier hinaus. Frühwald: "Noch unverrückt, o schöne Lampe, schmückest du, / An leichten Ketten zierlich aufgehangen hier, / Die Decke des nun fast vergessnen Lustgemachs. / Auf deiner weissen Marmorschale, deren Rand / Der Efeukranz von goldengrünenem Erz umflicht, / Schlingt fröhlich eine Kinderschar den Ringelreihn. / Wie reizend alles! lachend, und ein sanfter Geist / Des Ernstes doch ergossen um die ganze Form - / Ein Kunstgebild der echten Art. Wer achtet sein? / Was aber schön ist, selig scheint es in ihm selbst." Der berühmte Streit ging darum, was dieses "scheint in ihm selbst" am Schluss genau bedeutet, denn dieses "ihm" ist ein Reflexivum, es heißt also: "selig scheint es in sich selbst". Heißt dieses "scheint" "videtur"? Ist damit gemeint, es scheint nur schön? Oder heißt dieses "scheint" "lucet", es leuchtet? Das ist nicht zu entscheiden. "Was aber schön ist, selig scheint es in ihm selbst": Ich bin mehr für "lucet" als für "videtur". Flemmer: Aber man muss es gar nicht entscheiden. Frühwald: Richtig, man muss es nicht unbedingt entscheiden. Flemmer: Kommen wir von der Lyrik Mörikes zur Prosa. Den Roman "Maler Nolten" haben wir schon erwähnt. Das ist ja eine schwierige Lektüre: Man muss diesen "Maler Nolten" nicht unbedingt lesen, man sollte ihn lesen, auch um zu erfahren, wie Mörike diese Frauengestalten seines Lebens eingebunden hat, wie er in diesem Roman auch das Untergründige, das Schicksalhafte wachsen lässt und wie das alles schließlich zur Katastrophe gerät. Aber man muss unbedingt den "Mozart auf der Reise nach Prag" lesen. Das ist eine der schönsten Novellen deutscher Sprache. Und über die wollen wir uns nun noch ein wenig unterhalten. Wie kam eigentlich Mörike zu Mozart? Frühwald: Mörike hatte ein grundlegendes Mozart-Erlebnis. Zusammen mit seinem Bruder hörte er – das war vermutlich in Stuttgart – eine Aufführung der Oper "Don Giovanni". Und dieser "Don Giovanni", diese "Don Juan" hat ihn Zeit seines Lebens nicht mehr verlassen. Eines Tages schreibt er dann eben eine Erzählung und siedelt sie im Jahr 1787 an: Mozart ist auf der Reise nach Prag zur Uraufführung seiner Oper "Don Giovanni". Er macht dabei Station in einem kleinen Ort, geht in einen Schlossgarten und findet dort eine Orangerie. Dabei hat er eine Melodie im Ohr und ganz in Gedanken geht er dann in diese Orangerie, setzt sich nieder unter einem Pomeranzenbaum, also einem kleinen Orangenbaum, greift gedankenlos auf dieses kleine Orangenbäumlein und hat plötzlich eine abgepflückte Frucht in der Hand. Flemmer: Eine von neun Früchten, die an diesem Baum hängen. Frühwald: Eine von neun Früchten, die gerade an diesem Tag in einem Gedicht für die Eugenie eine ganz besondere Rolle spielen sollten. Der Gärtner ist daher maßlos entsetzt, als er sieht, was Mozart getan hat. Mozart schreibt daher einen Entschuldigungsbrief an den Grafen und so erfährt dessen Familie, dass Mozart da sei. Mozart wird eingeladen und verbringt dann einige Zeit bei dieser Familie. Danach dann kommen viele, viele Rückblicke auf sein Leben, seine Frau erzählt, er selbst erzählt und das Ganze bekommt eine Tiefe, dass man wahrscheinlich den Urgrund des Lebens in dieser Erzählung entdeckt. Denn dieser Mozart ist Adam, ist Adam im Paradies und Adam nach dem Sündenfall, der die Frucht vom Baum schon gepflückt bzw. dem Eva diese Frucht bereits gereicht hat. Dieser Baum ist der Baum der Hesperiden, dieser kleine Orangenbaum ist der Baum des Lebens und der Erkenntnis von Gut und Böse. Und dieser Mozart, der am Anfang dieser Geschichte ja auch mit unbändigem Lebenswillen lebt, denkt am Schluss dieser Geschichte daran, ob es ihn, wenn er gestorben wäre, ehe er diese Oper fertig komponiert hätte, nicht im Grabe umgetrieben hätte, ob er nicht hätte wiederkommen müssen, um diese Oper zu Ende zu führen. Flemmer: Diese Novelle, diese Erzählung – man kann sich darüber streiten, in welches Genre diese Geschichte passt – beginnt ja ganz nüchtern mit den Worten: " Im Herbst des Jahres 1787 unternahm Mozart in Begleitung seiner Frau eine Reise nach Prag, um ›Don Juan‹ daselbst zur Aufführung zu bringen..." Sie steigen ab in einem Gasthaus und etwas traumverloren geht Mozart in diese Orangerie hinein. Er wird dort entdeckt und schreibt dann auf ein Zettelchen seine Entschuldigung – wobei er daraufhin den Herrschaften als ein "Herr Moser" angekündigt wird, was ja auch sehr schön ist. Es wird gesagt: "Wie, ein Herr Moser?" Und die Dienerschaft antwortet: "So ein Kerl irgendwo aus Wien, so ein Lumpenmusiker!" Aber die Eugenie ahnt, wer das ist: "Das ist Mozart! Den müssen wir doch gebührend empfangen!" Und dann entwickeln sich diese Dialoge. Mozart erzählt dabei selbst die Entstehungsgeschichte des letzten Teils seiner Oper "Don Giovanni". Da schaudert einem ja beinahe, wie er das beschreibt, wie er den Text dazu bekommen hat usw. Frühwald: Ja, es kommt natürlich hinzu, dass dieser Mozart, so wie er hier dargestellt ist, wahrscheinlich zutiefst ein Selbstportrait des Künstlers Eduard Mörike ist. Dieser "Mozart der deutschen Sprache": Da gibt es fast schon eine innige Symbiose zwischen diesem Mörike und diesem Mozart. Da ist das Genie, das sich im bürgerlichen Leben nicht zurechtfindet, das die Liebe, die Freundschaft, das Leben in all seinen Erscheinungen immer tiefer empfindet als alle anderen Menschen in der Umgebung. Da ist das Genie, das ungeheuer gerne lebt, denn dieser Mozart sagt z. B. zu seiner Frau: "Die Erde ist wahrhaftig schön und keinem zu verdenken, wenn er so lang wie möglich darauf bleiben will. Gott sei's gedankt, ich fühle mich so frisch und wohl wie je und wäre bald zu tausend Dingen aufgelegt, die denn auch alle nacheinander an die Reihe kommen sollen, wie nur mein neues Werk vollendet und aufgeführt sein wird." Und dann gibt es diese Eugenie, die ihn wohl als Einzige wirklich versteht. Sie bemerkt plötzlich, dass dieser Mann sich so verschwendet, dass er nicht alt werden kann, dass er einem frühen Tod entgegengeht und dass dieser frühe Tod in seinem Künstlertum begründet liegt, weil die Pracht und die Schönheit seiner Musik so verschwenderisch ist, dass sie die Lebenssubstanz aufzehrt. Das ist die Geschichte des Genies. Flemmer: Mörike hat sich ja kundig gemacht für diese Novelle durch einige Mozartbiographien, durch Artikel in Lexika usw. Aber er hat sich letztlich auch selbst dargestellt in dieser Novelle, wie Sie schon gesagt haben, und diese Szenen frei erfunden. Das Ganze ist wohl aus einem verwandtschaftlichen Geist heraus entstanden. Frühwald: Aus verwandtschaftlichem Geist, das stimmt. Er hatte als Quelle natürlich auch eine Mozartbiographie, die man sich ganz leicht erschließen kann, wenn man sich den Erstdruck dieser Novelle ansieht. Der Erstdruck ist in einzelnen Teilen erschienen in Cottas "Morgenblatt für gebildete Stände". Dort gibt es über jedem einzelnen Abdruck ein Motto, sodass diese Motti auf seine Quellen führen. Aber im Grunde ist das doch die Beschreibung seines eigenen Lebens und der Rückblick auf das eigene Leben. Diese Eugenie denkt dann am Schluss ja auch: "Es ward ihr so gewiß, so ganz gewiß, daß dieser Mann sich schnell und unaufhaltsam in seiner eigenen Glut verzehre, daß er nur eine flüchtige Erscheinung auf der Erde sein könne, weil sie den Überfluß, den er verströmen würde, in Wahrheit nicht ertrüge." Und dann kommt dieses selbstverständlich wunderschöne Gedicht, von dem man immer gemeint hat, es sei ein Volkslied, das jedoch Mörike tatsächlich selbst geschrieben hat: "Ein Tännlein grünet wo, / Wer weiß, im Walde...". Flemmer: Das sollten wir doch noch ganz hören, wie ich meine. Frühwald: " Wie sie es aber auch verstehen wollte," -- dieses ältere Blatt aus einem Liederheft mit diesem vermeintlichen Volkslied, das jedoch von Mörike selbst stammt -- "der Inhalt war derart, daß ihr, indem sie die einfachen Verse wieder durchlas, heiße Tränen entfielen: 'Ein Tännlein grünet wo, / Wer weiß, im Walde; / Ein Rosenstrauch, wer sagt, / In welchem Garten? // Sie sind erlesen schon, / Denk es, o Seele, / Auf deinem Grab zu wurzeln / Und zu wachsen. // Zwei schwarze Rößlein weiden / Auf der Wiese, / Sie kehren heim zur Stadt / In muntern Sprüngen. // Sie werden schrittweis gehen / Mit deiner Leiche; / Vielleicht, vielleicht noch eh / An ihren Hufen / Das Eisen los wird, / Das ich blitzen sehe!'" Flemmer: Das ist schon ein Schluss einer Novelle, wie man ihn so leicht nicht wieder findet. Das war also die Novelle "Mozart auf der Reise nach Prag". Es gibt daneben noch eine Reihe von Prosatexten, die diesen Mörike aber eher ins Idyllische treiben lassen. Da gibt es z. B. "Das Stuttgarter Hutzelmännchen" oder "Lucie Gerlmeroth". Diese anderen Prosawerke von Mörike erreichten aber nie diesen Rang wie die Geschichte von Mozarts Reise nach Prag. Frühwald: Das stimmt. Bei der Mozartgeschichte lag der Grund wohl darin, dass er in dieser Geschichte das Eigene mit dem Fremden verknüpft hatte, dass er im Grunde genommen zwei Genies einander angenähert hatte. Deswegen ist das eine so bedeutende Erzählung geworden. Viele, viele, viele deutsche Autoren haben von dieser Erzählung gelebt, auch . Und wenn man bedenkt, dass dieser Mörike vier Tage, ehe Thomas Mann geboren wurde, gestorben ist, dann kann man die Reihe der deutschen Literatur von Mörike aus wirklich in die Moderne hinein verlängern und fortsetzen. Flemmer: Das heißt, Mörike war auf keinen Fall ein Romantiker, sondern Mörike führte die Literatur quasi weiter ins 20. Jahrhundert. Frühwald: Er ist kein Romantiker, er ist kein Klassiker, er ist aber vor allem kein Epigone. Er selbst hat die Zerrissenen seiner Zeit wie im Grunde genommen gehasst. Und doch sind die größten Figuren seines Werkes Zerrissene. Flemmer: Alle, wirklich alle. Frühwald: Das war eine Generation von Menschen, die in der öffentlichen Darstellung keine Möglichkeiten gefunden haben, die sich vor allem in der restaurativen Politik ihrer Zeit nicht betätigen konnten und die daher alle ihre Energie und alle ihre Kreativität zurückgebunden haben an die Kunst, sodass die Kunst das eigentliche Emanzipationsinstrument gewesen ist. So war es eben auch bei Mörike, den die Revolution von 1848 zutiefst erschüttert hat, obwohl er scheinbar ein unpolitischer Mensch gewesen ist. Und in seiner Poesie ist wesentlich mehr von dieser Zeit und ihrer Zerrissenheit enthalten, als man bei allen anderen oberflächlich-politischen Autoren aus dieser Zeit finden kann. Flemmer: Ich bedanke mich sehr für dieses Gespräch, Herr Professor Frühwald. Man muss Mörike lesen, lesen und wieder lesen! Ihnen, liebe Zuschauerinnen und Zuschauer, sage ich herzlichen Dank für das Zuschauen und Zuhören.

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