Hommage à

Realisiert von Siegfried Gohr Für unseren Freund Johannes Gachnang

69 contemporary fine arts

Hommage à Georg Baselitz

snoeck

Realisiert von Siegfried Gohr Der Sessel Im Atelier von Georg Baselitz steht ein alter, sichtlich abgenutzter Ledersessel; eine Decke schützt ihn vorsorglich vor weiterer, zu schneller Alterung. Dieses Möbel stand schon in Derneburg, jetzt bietet es eine Aussicht auf den Ammersee. Natürlich stehen Sitze in Ateliers, eine scheinbar banale Beobachtung, aber Baselitz’ Sessel hat ein stattliches Volumen und gleicht eher einem Thron als einem nur nützlichen Inventar. Der Sessel zeigt an, wer in diesem Raum Regie führt, wer etwas zu sagen hat und von wo das Geschehen seine Energie erhält. Aber es hat noch eine andere Bewandtnis mit dem Sitz; denn er symbolisiert die Zeit der Reflexion zwischen den eigentlichen Malhandlungen. Langes Nachdenken, schnell malen – dieses Prinzip bestimmt den Arbeitsrhythmus des Künstlers; es steht quer zu der immer wieder behaupteten emotionalen Direktheit seiner Malerei. Reflexion und Malen bedingen sich gegenseitig und sind unauflöslich ineinander verschränkt. Hier ist kein „Mal-Schwein“ am Werk, das vor lauter Expression seinen Baselitz Verstand verloren hätte. Splitter Konzentrische Kreise Am 23. Januar 1938 wurde Hans-Georg Kern in einem Ort weit im Osten Deutschlands geboren: Deutschbaselitz! Warum der Zusatz „Deutsch“? Weil es auf der anderen Seite eines Waldstückes einen Zwillingsort gab, nämlich „Wendisch­baselitz“. Hier wohnten keine Sachsen, sondern Sorben, denen die DDR einen besonderen Status gab, so dass ihnen die Beibehaltung ihrer sorbischen Trachten und Gebräuche erlaubt wurde. Als Hans-Georg Kern sich seit 1961 Georg Baselitz nannte, bezog er sich auf diese doppelte Herkunft, die ein stetiger Bezugspunkt seiner Orientierung und ständige Quelle der Inspiration werden sollte. Das Schulhaus, in dem er aufwuchs, die Landschaft, Spuren aus vorhistorischen und wendischen Schichten, denen er später intensiv nachgehen wird, Volkskunst, Erlebnisse und Prägungen aus Dresden, der alten Residenzstadt und zugleich Zentrum der Malerei seit der Romantik. Um diesen Kern herum legte Baselitz immer neue Kreise, die sich in andere Räume und unterschiedliche Zeiten ausdehnten.

5 Außenseiter Nachdem Baselitz von der Akademie in Berlin- Ost wegen „politischer Unreife“ verwiesen worden war, begann er 1957 ein Studium an der West- Berliner Hochschule in der Klasse von Hann Trier. Dieser Lehrer war ein Vertreter des Informel in der westdeutschen Prägung, entwickelte die Methode, beidhändig zu malen, und stärkte auf diese Weise eine Art Strukturbildung im gestischen Farbauftrag. Obwohl Baselitz einige der Möglichkeiten des dort herrschenden Stils ausprobierte, zielte seine Arbeit auf andere Ergebnisse. Es entstanden die „Rayski-Köpfe“ als erste Verfestigungen menschlicher Motive aus dem Farbwucher des Gestischen. Bezeichnenderweise gab ein sächsischer Maler des 19. Jahrhunderts zwischen Romantik und Realismus den wegweisenden Impuls, Ferdinand von Rayski, ein bedeutender Porträtist und Landschafter. Die Dresdner Galerie bot das Inspirationsmaterial für Baselitz. Schon die Wahl seines künstlerischen Ausgangspunkts mitten im sächsischen 19. Jahrhundert musste damals befremdlich bis arrogant wirken. Aber Baselitz fand sich im Westen isoliert und einsam. Hann Trier versorgte den jungen Mann aus dem Osten mit Lektüre-Empfehlungen. Deshalb war dessen Reaktion, andere Außenseiter als Verbündete zu wählen, verständlich und aus seiner Sicht logisch. Das jetzt entstehende Ensemble von Dichtern, Künstlern, Schriftstellern erstaunt wegen der Sicherheit des Zugriffs und der langen Wirkung mancher dieser imaginären Begegnungen. Antonin Artaud nahm einen bedeutenden Platz ein, ebenso Isidor Ducasse alias Lautréamont. August Strindberg als Maler, Charles Meryon, Ernst Josephson und verschiedene mehr stützten die Haltung des Außenseiters und sorgten für Motive, Anregungen und Abwendungen. Die Kunst der Geisteskranken aus Hans Prinzhorns Sammlung in Heidelberg wurde genau betrachtet. Baselitz las viel, sah viel, z. B. in , sammelte dasjenige um sich, was sein Werk nähren konnte. Alles dies mit der ihm eigenen Sorgfalt und Rayski, 1959 Gründlichkeit. Kopf, 1963 6 7 ohne Titel (Hommage à Wrubel), 1963 ohne Titel, 1964 8 9 Manifeste Pathetisch und humorlos – das sind die Grundzüge von Literatur im Gewand des Manifestes. Dessen eigentliche Geschichte begann mit dem „Kommunistischen Manifest“ von Karl Marx und Friedrich Engels von 1847/48. Die Künstler des 20. Jahrhunderts haben ständig in Manifesten Forderungen erhoben oder Provokationen verbreitet, vor allem seit die italienischen Futuristen sich in dieser Weise an die Öffentlichkeit gewandt hatten. Oft waren es Künstlergruppen, die ihre Ziele und Interessen mit Manifesten publik machten. Baselitz hat sein erstes Manifest zusammen mit Eugen Schönebeck geschrieben: „I. Pandämonisches Manifest“ von 1961. Es folgte eine Fortsetzung als „Pandämonisches Manifest II“ im folgenden Jahr. Die Anregung für eine solche Art der Äußerung stammte von Künstlern aus Wien, die damals enge Kontakte nach Berlin hatten. Versehen mit Zeichnungen und Handgeschriebenem, zeigten diese Manifestationen einen sehr persönlich-existenziellen Stil. Antonin Artaud wurde mit der Sentenz zitiert: „Alles Geschriebene ist Schweinerei.“ Als Baselitz 1966 für das Plakat seiner Ausstellung in der Galerie Rudolf Springer in Berlin ein Manifest verfasste, hatte sich der Gestus verändert: „Warum das Bild ,Die großen Freunde‘ ein gutes Bild ist.“ Nach den Erfahrungen mit der skandalhaften Wirkung seiner ersten Ausstellung 1963 nahm Baselitz das Existenzielle zurück. Er schrieb dem Bild ironisch die Merkmale zu, die Hans Prinzhorn als Eigenart der „Kunst der Geisteskranken“ herausgearbeitet hatte. Viel später folgte, manifestartig verfasst, „Das Rüstzeug der Maler“ im Jahr 1985. Immer wieder äußerte sich Baselitz seitdem in lapidaren Texten und gab auch seinen Ausstellungen ironisch-programmatische Titel. Mit der sehr eigenwilligen, assoziationsreichen Sprache, mit der Knappheit der Sätze und der bildnerischen Prägnanz der verwendeten Wörter und Begriffe etablierte Baselitz eine Möglichkeit, jene Öffentlichkeit zu provozieren oder zu Georg Baselitz’ 70. Geburtstag, 23. Januar 2008, v.l. Georg Baselitz, Christa Dichgans, unterrichten, die ihm im Laufe der Jahre immer mehr Rudolf Springer (1909–2009), Nicole Hackert Aufmerksamkeit schenkte. und Elke Baselitz

10 11 Helden In der Reihe der „Helden“-Bilder, die Baselitz 1965/66 malte, erscheint zum Beispiel unter dem Titel „Ein moderner Maler“ eine männliche Figur vor schwarzem Hintergrund auf dem Boden sitzend, die Hände in Erdspalten gefangen. Die abgerissene Kleidung könnte ehemals als Soldatenuniform gedient haben. Blockiert, gequält nach oben blickend, verloren im Niemandsland entspricht die Figur nicht der üblichen Vorstellung von Helden. Seit der Antike galten Menschen mit außergewöhnlichen charakterlichen und körperlichen Kräften als Heroen. Sie galten als Vorbilder, wurden aber auch immer wieder benutzt, um vor allem in Krisen- und Kriegszeiten alle Kräfte von Menschen, Völkern und Staaten zu mobilisieren. Nach dem Zweiten Weltkrieg war in Westdeutschland ein solches Heldenverständnis unmöglich geworden, und selbst das Wort Held verschwand für lange Jahre aus dem Sprachgebrauch. Das war in der DDR anders; denn hier wurde als neue Kategorie der „Held der Arbeit“ eingeführt. Weder mit der westlichen noch mit der östlichen Haltung zum Heldentum haben die Figuren von Baselitz etwas zu tun. Obwohl es sich nicht um Selbstbildnisse handelt, reflektierte der Künstler seine als Außenseitertum empfundene Lage zwischen Ost und West, zwischen Erinnerung und Gegenwart. Inmitten der Wirtschaftswunderjahre mussten diese Bilder mit den seltsam verletzten, hilflosen Gestalten als fremd und verstörend wirken. Während ihrer Entstehungszeit fanden diese Erfindungen deshalb kaum Resonanz. Aber mit seinen fiktiven Helden oder „Neuen Typen“ fand Baselitz Formulierungen für das Unbehagen, das trotz der glitzernden Konsumoberfläche der Bundesrepublik von wachen Künstlern und Schriftstellern registriert wurde. Während dieser Jahre, die scheinbar ohne Geschichte auskamen, brachten Bilder wie diese das Verdrängte der deutschen Situation zwischen Drittem Reich, Teilung und Zukunft ins Sichtbare. Der moderne Maler kann nichts vergessen, er bleibt bei Baselitz in der Bindung an sein Land stecken. Das Prinzip Teilung beherrscht schmerzhaft auch das Abschlussbild der eigentlichen „Helden“-Phase, nämlich „Die Großen Freunde“ von 1966. Auf dem schwarz-weiß gehaltenen Plakat der Galerie Springer-Ausstellung wird die Isolation innerhalb des Paares der beiden „Freunde“ noch stärker sichtbar. Schon hier herrscht zwischen den Figuren die Fraktur, die später als neues Bildverfahren eingeführt werden wird. Ein moderner Maler, 1966 12 13

Teilungen Über Berlin an der Frontlinie zwischen Ost und West und vor allem über die Stadt nach der Teilung im Jahr 1961 gibt es so viel Literatur, dass eine ansehnliche Bibliothek bestückt werden kann. Ebenso zahlreich sind die Werke der bildenden Kunst zur Berliner Situation, die ein Museum bilden könnten. Die Werke von Georg Baselitz aus den Jahren 1961 bis 1966 gehören dazu, jedoch in einer Art, wie sie Maurice Blanchot in Bezug auf die Bücher von Uwe Johnson beschrieben hat: „Vielleicht könnte der eilfertige Leser und der eilfertige Kritiker sagen, dass in Werken dieses Typs [‚weder politisch noch realistisch‘] die Beziehung zur Welt und zur Verantwortlichkeit einer politischen Entscheidung ihr gegenüber weitläufig und indirekt bleibt. Indirekt, ja. Aber man muss sich gerade fragen, ob ein indirekter Weg nicht der richtige sein kann, um auf die Welt … einzugehen, und auch der kürzere.“ Aus einer Art malerischem Urschlamm ließ Baselitz die Motive hervorquellen, ironisch betitelt, z. B. „Blumenmädchen“. Figuren und Köpfe erscheinen wie gerade geboren, aber noch von Schmerzen gequält und eigentlich fragmentarisch. Kein Neuanfang scheint möglich zu sein, der nicht die unsichtbare Last der Erinnerung mit sich schleppt. Diese wurde obendrein geteilt, schon seit dem Kriegsende 1945, dann 1949, aber noch ein weiteres Mal mit der Teilung 1961. Weil zum Wesen von Teilung das Fragmentarische gehört, das der Erinnerung eine zusätzliche Bürde auferlegt, bot sich hier für Baselitz der Ansatzpunkt einer ästhetisch-malerischen Strategie. Verstümmelungen, Frakturen, Ver­ knotungen, Verletzungen, solche Phänomene Zwei Streifen hinterm Baum, 1967 ließen sich inhaltlich und formal verwenden. Drei Streifen – Der Maler im Mantel (zweites Frakturbild), 1966 16 17 Waldarbeiter, 1967

Katzenkopf, 1967 18 19 Beatrice, 1964

Ein Grüner, 1966 20 21 Verkehrte Welt Die Abbilder der Außenwelt fallen auf die Netzhaut in den Augen, und erst das Gehirn dreht das Kopfstehende richtig herum für die alltägliche Orientierung. Wenn Baselitz sich entschließt, seine Motive um 180° zu drehen, stellt er das wieder her, was von außen ursprünglich in unsere Sehorgane als Lichtstrahl eindringt. Dieser Entschluss kam 1969 scheinbar aus einem starken Willen zustande, hatte dennoch einige Vorstufen im Werkverlauf. Abgesehen von einigen kopfstehenden Details in früheren Werken bereiteten die sogenannten Fraktur-Bilder den endgültigen Befreiungsschlag vor, der 1969 mit „Der Wald auf dem Kopf“ gelang. Sofort wurde die Motivumkehr als Trick verunglimpft. In einem höchst aufschlussreichen Gespräch mit Johannes Gachnang von 1975 hat Baselitz sich zu seiner Strategie geäußert. Motive dienten ihm als Anker und Widerstand innerhalb eines gelösten, unverkrampften Farbauftrags. Dieser wurde jedoch technisch mit einem Hindernis verbunden, das als „Fingermalerei“ bezeichnet wurde. Mit ihrer Hilfe konnte die Bildoberfläche zu einer eigenen Wahrnehmungsebene werden, die aber des Motivs bedurfte. Diesem verschaffte der Farbauftrag eine Art farbige Haut, von großer Unruhe lebendig gehalten. Der Betrachter

spürt eine unmerkliche, dennoch ohne Titel (Landschaft), 1970 energiegeladene Vibration. Auf eine bis dahin unbekannte Weise teilten sich Motiv und Malerei in verschiedene Elemente; aber paradoxerweise konnte der Maler ein Band zwischen beiden knüpfen, welches das Der Wald auf dem Kopf, 1969 „neue Bild“ Wirklichkeit werden ließ.

22 23 Halde, 1970

Wald mit Elke, 1970

Büsche, 1969 24 25 Selbstbildnis mit Lederhose, 1997 3. Afrikaner, 1972 26 27 Aggression Der Weg von der Malerei in die Dreidimensionalität der Holzfiguren und -köpfe bereitete sich seit 1977 vor. Es waren die großen Linolschnitte, die seit damals entstanden, in denen sich die Motive herausbildeten, aus denen Skulpturen werden konnten. Außerdem bereitete die Technik des Linolschnitts eine Materialbehandlung vor, wie sie gesteigert auch zur Holzbildhauerei benutzt werden konnte. Aus Skepsis gegenüber dem neuen Weg, der mit der ersten Holzskulptur für den Biennale-Pavillon eingeschlagen wurde, nannte Baselitz diese Arbeit „Modell für eine Skulptur“. Aber bald fand er die ihm gemäße heftige Methode, die Holzblöcke zu traktieren: mit Beil, Kettensäge, Hammer, Meißel und ähnlich robusten Werkzeugen. So konnte er die spröden, zerfurchten, gerissenen, urtümlichen Gebilde schaffen, die innerhalb der zeitgenössischen Bildhauerei einen ganz eigenständigen und für viele Betrachter höchst befremdlichen Platz einnehmen. Im Zusammenhang mit der Entstehung dieser Werke hat Baselitz öfters von der Aggression gesprochen, welche er in die Arbeit an den Holzbildwerken investierte. Diese scheint nötig zu sein, um zu einem Punkt vorzudringen, der an den Ursprung der Motiventstehung reicht. Insofern hat das Heraushauen von Figuren und Köpfen aus dem Block etwas Verwandtes mit dem Ausgraben der Archäologen. Allerdings geht es jetzt darum, die Wurzeln menschlicher Regungen freizulegen. Obwohl die Skulpturen bis auf wenige Ausnahmen nichts Individuelles zeigen, treffen sie auf Zustände im Betrachter, die dieser individuell nachempfinden und mit eigenem Erleben vergleichen kann. Dennoch wurden einige Skulpturen der letzten Jahre selbstbildnishaft gestaltet, z. B. der Sitzende, der als bemalte Bronze vor dem Hamburger Bahnhof aufgestellt wurde. Hier fügt sich die ungestüm behauenen Blöcke zu einer Figur der Melancholie, die wie eine Korrektur des „Denkers“ von Auguste Rodin wirkt, der so oft wie ein Logo vor dem Eingang von Museen platziert wurde. Für die Konzeption einer solchen Skulptur rekurrierte Baselitz auf Werke, wie es sie in der Romanik gibt, nämlich blockhaft, sparsam mit Einzelheiten versehen, aber eine fast magische Präsenz ausstrahlend. Aus Rodin, dem Bewunderer Michelangelos, wurde Baselitz, ein Verwandter der mittelalter­ Modell für eine Skulptur, 1979–80 lichen Bildwerke, deren Epoche nach dem Jahr 1000 beginnt.

28 Blauer Kopf, 1983

Im Fenster Als 1979/80 das 18-teilige „Straßenbild“ entstand, erweiterte Baselitz die Diptychon-Idee der kurz vorangegangenen Ausstellung im Museum von Eindhoven. Als Inspiration für das „Straßenbild“ diente eine sehr seltsame große Komposition von Balthus mit dem Titel „La Rue“ von 1933. Schon das Gemälde von Balthus zeigt eine Situation in einer Pariser Straße, wo eins neben dem anderen geschieht, ohne dass Kommunikation angestrebt würde. Aus diesem geheimnisvollen Nebeneinander entwickelte Baselitz 1989/90 ein Poliptychon „45“ mit zwanzig Tafeln aus Holz, die in der Art seiner Skulpturen rüde bearbeitet wurden. Weil die einzelnen Bildfelder wie Fenster wirken, entsteht der Eindruck einer Front von Öffnungen, in denen nicht gegrüßt, geschrien, geschimpft oder schlicht gestikuliert wird. Manchmal erscheint nur ein Kopf, als ob er gerade erfunden wurde – roh, direkt, wie am Nullpunkt, der sich jedoch bald ausdehnen könnte. Nach der Wende, nach dem Ende der deutschen Teilung imaginierte Baselitz in „45“ ein Panorama von Frauen, die heimkehren, von Neuem ins Straßenbild kommend aus ferner sächsischer Vergangenheit und Landschaft. Später wird es die gelben Köpfe der „Dresdner Frauen“ geben. Dies alles hat nicht unmittelbar mit dem „Orangenesser“ zu tun, aber gehört zu seiner Vorgeschichte. Während die Motive des „Straßenbildes“ von 1980 sowohl in Gegenwart als auch Vergangenheit angesiedelt sind, reagierte Baselitz mit der Serie der „Orangenesser“ und der „Trinker“ auf das künstlerische Umfeld am Beginn der achtziger Jahre. Nicht zuletzt durch seine Wendung zu mehr Expressivität nach den kühlen Farben seiner Ende-der-siebziger-Jahre-Werke bereitete sich in der Eindhovener Ausstellung eine neue aggressive, manchmal geradezu grelle Farbwahl vor. Essen und Trinken, beides elementare Notwendigkeiten für das menschliche Leben, wurden zum Thema in extremen Formulierungen. Indem er das Alltäglichste in eine solche Rohheit und Wut steigerte, antwortete Baselitz auf die gerade im Entstehen begriffene „Malerei der neuen Wilden“, wie sie von den Kommentatoren in Anlehnung an die historische Gruppe der „Fauves“ in Paris um 1906 getauft wurden. Sein Malstil der nächsten Jahre kultivierte nicht das Rohe allein, sondern auch das Hässliche. Dieses wurde zu einem Leitmotiv des Jahrzehnts nach 1980. Er fand Lösungen für eine provokative Malerei, die nicht mit Ironie, Parodie oder politischer Provokation arbeitete, sondern mit einer elementaren Malerei, demonstriert an elementaren Lebensvorgängen. Über die Motive von Orangen oder Trinkgläsern lassen sich umfassende Studien anstellen, die knappen Südfrüchte zu DDR-Zeiten, das verzweifelte Trinken der Bohème böten viel Stoff. Aber die Motive reflektieren in ihrer Unmittelbarkeit und Drastik auch die gedankliche und experimentelle Anstrengung am Beginn einer neuen Werkperiode des Künstlers. Orangenesser (VIII), 1980/81 32 33 Mann am Strand (Okt.’81), 1981 Pastorale, 1985

Nachtessen von Dresden, 1983

34 35

Adler 12.iii.1979, 1979 Adler, 1979

39 Köpfe Immer wieder Köpfe. Seit den sogenannten Rayski-Köpfen von Ende der fünfziger Jahre hat Baselitz den menschlichen Kopf auf verschiedenste Weise interpretiert. Als er 1963 einen Körper aus dem Dunkel des Bildhintergrundes auftauchen ließ, setzte er einen grotesken Kopf auf den entblößten Leib, der in seiner übertriebenen Länge an Alberto Giacometti erinnert. Allerdings nimmt die fahle, unangenehme Farbwahl das existenzielle Pathos des Vorgängers zurück in eine ambivalente Atmosphäre. Kopf und Geschlecht bilden hier eine Dopplung, als ob das eine vom andern noch nicht getrennt wäre. Die bald danach entstehenden „Helden“ weisen meist kleine Köpfe auf, anatomisch unwahrscheinlich für die massigen Körper. Erst der Holzschnitt „Großer Kopf“ von 1966 füllt das ganze Blatt mit einem mächtigen Gesicht, das von Ornamenten durchfurcht wird. „Ralf- Kopf“ lässt eine Erinnerung an den Dresdner Freund A. R. Penck lebendig werden. Das bildhauerische Werk behandelt während langer Jahre eine Reihe von Kopf-Motiven wie den „Blauen Kopf“ von 1982/83. Eigentlich trifft der Titel nur für die obere Hälfte der Skulptur zu, denn der Kopf mit den nach oben gerichteten kugelförmigen Augen sitzt auf einem mächtigen Holzblock, der wie ein Energiespender für die visionäre und kraftvolle Physiognomie des Kopfes fungiert. Aus dem ungeformten, primitiven Körperholz steigt etwas in den Kopf, was diesen speist und zugleich die Kraft gibt, sich von der unteren Hälfte zu lösen, wozu natürlich die blaue Bemalung beiträgt. Ungefähr in der gleichen Entstehungszeit schnitt Baselitz den Artaud-Kopf in eine große Linoleum- Platte. Wieder wählte er einen ungewöhnlich langen Hals als „Sockel“ für den von strahlenden Kreisen eingehüllten Kopf. Für dieses Motiv hatte er eine Selbstbildnis-Zeichnung von Antonin Artaud gemäß seiner Vorstellung verwandelt. Wie schon 1963 und in der späteren Skulptur fasziniert der Kopf im Linolschnitt durch die visionäre Suggestion und zugleich durch den Eindruck, dass der Kopf der Sitz des menschlichen Wollens ist, das ebenfalls durch die Strahlenkreise seine Wirkung auf den Raum ausübt. Deshalb erscheint hier wie auch in anderen Werken bei Baselitz das Expressive als Äquivalent für den Willen an sich. Antonin Artaud: Selbstportrait, 11. Mai 1946 Kopf, 1982 40 41 Blicke zurück Der Name Baselitz ist Programm, er steht für die Inspiration aus der verlorenen Welt im Osten Deutschlands, die mit der Wende von 1989 plötzlich wieder näher zu rücken schien. Unter dem Eindruck des berührenden geschichtlichen Momentes begann Baselitz die Arbeit an einem vielteiligen Werk auf Holztafeln. Diese wurden schwarz eingefärbt und dann in der Art der großen Linolschnitte, dieses Mal wegen des spröden Materials jedoch in einer besonders ruppigen Vorgehensweise, mit Frauenköpfen als Motiven versehen. Nur eine Tafel zeigt einen Hasen. Am Ende wurden zwanzig Bilder zu einer wandgroßen Komposition zusammengefügt und in zwei Reihen übereinander angeordnet. Nur der lapidare Titel „45“ gibt einen Hinweis auf die historische Reflexion, die mit dem Ensemble verbunden ist. „Bild Nr. 21“ wurde in die Selbstständigkeit als Einzelbild entlassen. 1945 endete der Zweite Weltkrieg, die Frauen hatten den schweren Alltag in dem verwüsteten Land zu bewältigen. Hans Georg Kern war damals sieben Jahre alt und erlebte das Wechselbad der Geschichte als Weg aus Diktatur und Krieg in eine völlig unsichere, orientierungslose Gegenwart. Indem er den Hasen, das Symbol für Unstetigkeit und Ausgesetztsein, in den Zyklus einfügte, gab er einen Hinweis auf sein damaliges Lebensgefühl. Obwohl die Gestaltung der Frauenköpfe bei erstem Hinsehen primitiv wirkt, erschließen sich beim längeren Betrachten Dimensionen, die eine weite Spanne menschlicher Regungen sichtbar werden lassen. Aufgrund der dunklen Hintergründe und der rabiaten Behandlung der Holzplatten war Baselitz in der Lage, etwas wie eine Schöpfung aus dem Nichts, ein Wiederauftauchen des Menschen nach der Katastrophe zu bewirken. Wie schon in manchen Werken der achtziger Jahre, z. B. in den „Mutter/Kind“-Motiven, setzte er die Hässlichkeit als Stilmittel bewusst ein, um eine Distanz beim Blick in die Geschichte auszuschließen. Nicht durch historisches Räsornieren und Allegorisieren, sondern durch eine direkte, ungeschönte Konfrontation mit der Erinnerung an 1945 konnte eine angemessene bildnerische Realisation erreicht werden. Indem Baselitz das Werk „45. Bild Nr. 21“ nannte, deutete er an, dass dieses Thema noch nicht beendet sein konnte, was schließlich die gelb bemalten Holzskulpturen der „Dresdner Frauen“ von 1990 beweisen. Wenn die Redewendung sagt, dass man in der Erinnerung graben kann, so hat Baselitz schon mit seiner ungewöhnlichen Technik hierfür das richtige Mittel gefunden. Dafür bedurfte es außerdem der stumpfen Oberfläche der Tafeln, die durch die Tempera-Malerei möglich wurde, und das Graben im Holz wie das Graben in einer dunklen, erdigen Malerei Atelier Derneburg, 1989 aussehen ließ. aus ’45 (hier war der Hase drauf, 24. vi. – 26. viii. 89), 1989 42 43 Das Motiv Bremen (Nr. 150), 1988

44 Erfindungen Der Paradigmenwechsel, den das 20. Jahrhundert den bildenden Künsten gebracht hat, hieß: Von der Nachahmung zum Fortschritt. Das Neue wurde zum Kriterium für Qualität und Ruhm. Malerei wurde für tot erklärt, der Ausstieg aus dem Bild beschworen, die Überführung der „Kunst ins Leben“ verkündet, das offene Kunstwerk gefordert, die Heirat von „High and Low“ vollzogen, die neuen Medien als Verheißung gefeiert. Im Falle von Baselitz ist es hilfreich, zwischen der Suche nach dem Neuen und der Erneuerung zu unterscheiden. Für eine Weiterentwicklung von Malerei, Skulptur, Graphik, Zeichnung waren Wendungen erforderlich, die er Schritt für Schritt vollziehen musste, um mit seinem Werk auf Zeit und Geschichte reagieren zu können. Seine Erfindungen fanden innerhalb eines gegebenen Rahmens statt, der verletzt oder strapaziert, aber niemals verlassen wurde. Baselitz hat mit der Motivumkehr den Ausstieg aus dem Bild innerhalb des Bildes demonstriert. Er hat so einen innerbildlichen Antagonismus provoziert. Er hat mit den großen Linolschnitten eine neue Kategorie der Graphik etabliert. Seine Skulpturen haben die Bildhauerei weg vom Objekt und hin zum Bildwerk im Sinne der Zeiten vor der Renaissance und außerhalb Europas, z. B. in Afrika, geführt. Er hat das sakral gedachte Polyptychon in eine moderne Gestalt verwandelt. Er hat Kunst über Kunst zum Gestaltungsprinzip erhoben – allerdings nicht als Zitat, sondern als schöpferische Antwort. Er hat Erinnerung als Kategorie für Kunst in ungeahnter Weise fruchtbar gemacht. Er hat die Künstler- Sammlung erneuert: Manieristen, Afrika, Fautrier, Picasso, Giacometti, Francis Picabia etc. Er hat das Remix-Prinzip der populären Musik produktiv für Malerei umgedeutet. Er hat die Volkskunst ernstgenommen. Er hat vor allem Intellekt und Kreatürlichkeit des Menschen in ein neues Verhältnis gebracht. Elke und Georg Baselitz, 23. Januar 2008, Berlin Das erste Negativ, 2004 46 47 Deutsche Kunst? Nach der Mitte der neunziger Jahre dachte ein Kunstbeirat über die Ausstattung des Bundestages im alten Reichstagsgebäude nach. Unter anderem wurde Baselitz eingeladen, Werke beizusteuern; deshalb beschäftigte er sich mit C. D. Friedrich, und zwar am Beispiel eines Bändchens, das den Soldaten des Zweiten Weltkriegs an die Hand gegeben wurde. Es entstanden Gemälde nach Holzschnitten von Friedrich, nämlich „Frau am Abhang“ und „Knabe auf einem Grab ruhend“. Da die Malweise so flüssig und transparent gehandhabt wurde, dass sich der Eindruck von Aquarellen einstellt, vermitteln diese Gemälde den Eindruck von Halluzinationen. Es scheint, dass es Baselitz mit dieser Methode möglich wurde, eine Durchsichtigkeit der Bilder zu verwirklichen, die verschiedene Wirkungen hat. Friedrich erscheint als der deutsche Künstler, der Romantik, Frömmigkeit, Landschaft, deutsche Vergangenheit so suggestiv in Bilder gefasst hat, dass er als Gegenpol z. B. der französischen Malerei um und nach 1800 gesehen werden konnte. Bei Baselitz blickt der Betrachter durch Friedrichs Melancholie und Trauer hindurch, die leicht geworden sind. Er schaut auf Motive von existenzieller Grundsätzlichkeit wie Weltschmerz und Tod. Ohne Geschichte zu illustrieren, boten diese Bilder an ihrem politischen Ort viele Reflexionsmöglichkeiten über Deutschland am Ende des 20. Jahrhunderts. Als Nachklang zu seinem Beitrag für den Reichstag können die Motive nach einer Albrecht Dürer-Zeichnung von 1501 gelten, die in der Wiener Albertina

48 49 Georg Baselitz, 2009 aufbewahrt wird. Es handelt sich um die Proportionsstudie nach einem weiblichen Akt, wie Dürer ihn schon um 1498 im Kupferstich „Das Meerwunder“ verwendet hatte. Schon hier kann man Dürers Interesse an Proportionsstudien voraussetzen, wie er sie, aus Italien inspiriert,, verfolgte. In dem großen Gemälde von 1998 konfrontierte Baselitz die Frauenfigur mit einem verdunkelten restlichen Bildfeld, in dem ein heller Kreis wie der Mond wirkt. Aus der berühmten Signatur ad bei Dürer wurde ein „Ade Nymphe I“, also ein Abschied von Dürer. Dies lässt sich so verstehen, dass der Optimismus und die Berechenbarkeit der Welt, wie sie Dürer und seine Zeitgenossen angetrieben hatte, hinfällig geworden sind. Wenn gerade dieses Vorbild von Baselitz dekonstruiert wird, ist das grundsätzlich gemeint. Weil die weibliche Figur in krassen Farben erscheint und in ein leeres Dunkel schaut, wirkt sie wie die Zurücknahme des italienisch geprägten Ideals Dürers. Was Baselitz als einen Grundzug deutscher Kunst behauptete – und nicht nur er –, nämlich das Hässliche, hat er gegen Dürer demonstriert. Also lässt sich nicht nur die Friedrich-Arbeit als ein Kommentar verstehen zur Frage, wie deutsche Kunst aussieht, zumal im ehemaligen Reichstag. Die Diskussion über diese Fragen war nach der Wiedervereinigung entbrannt, doch wurde zwischen Ost und West keine Einigung erzielt. Und deshalb wird die wieder hoffähig gewordene Frage nach der „deutschen Kunst“ auf absehbare Zeit keine gültige Antwort finden. Baselitz hat

Albrecht Dürer: Liegender Akt / Das Meerwunder, 1501 allerdings seinen Standpunkt deutlich Albertina, Wien gemacht. Ade Nymphe I, 1998 50 51

Remix auf eine Schrift des Kunsthistorikers Albert Schon in der großen Retrospektive im Erich Brinckmann, „Spätwerke großer Guggenheim Museum in New York, Meister“, führt näher an Baselitz heran. die im Jahr 1995 gezeigt wurde, begann Denn dieser stellte eine ganze Reihe von Baselitz, sich mit früheren Bildmotiven zu Beispielen zusammen, die beweisen, dass beschäftigen. Diese sehr pastos gemalten, Künstler seit der Renaissance frühe Werke oft mit Weiß versetzten Gemälde begannen im Alter neu gestaltet haben und dabei zu Ende 1990 ihren Platz im Oeuvre des ganz erstaunlichen Ergebnissen gekommen Künstlers zu beanspruchen. Es handelte sich sind. nicht um präzise Wiederaufnahmen früherer Das gilt zweifelsohne auch für die Werke, sondern um Helden-, Kopf- und Remix-Periode bei Baselitz, die im späten Akt-Motive, die aus älteren Erfindungen Jahr 2005 begann. Der Entschluss, Bilder entwickelt worden waren. Baselitz wählte wie „Die große Nacht im Eimer“ von damals einen Weg in die eigene Bildwelt, 1962/63 neu zu malen, gleicht den früheren wie dies Fernand Léger praktiziert hatte Entscheidungen, Motive auf den Kopf zu oder ab einen bestimmten Zeitpunkt auch stellen, Holzskulpturen aus dem Block oder Pablo Picasso. Léger fasst in den Zyklen Stamm zu hauen oder die Serie der großen zu „La Grande Parade“, „La Partie de Querformate während der neunziger Jahre Campagne“ und „Les Constructeurs“ seine zu malen. Bildwelt zusammen und gestaltet sie in Aus der populären Musik wurde der neuen Kombinationen. Ebenso könnte bei entsprechende Begriff in seine Bildwelt Picasso von der Behandlung und Variation transferiert: Remix. Darunter sind zentraler früherer Motiven gesprochen Sampler zu verstehen, die vorhandene Titel werden, z. B. von „Maler und Modell“ oder umformen und neu zusammenstellen. Die den „sleep watchers“, wie Leo Steinberg eigenen Karten, in diesem Falle: die Bilder, diesen ikonographischen Zweig genannt werden neu gemischt. hat. Der jeweilige Fundus aus Motiven Als Baselitz 2007 „Ein moderner und Kompositionsmethoden war groß und Maler“ von 1966 mit dieser Vorgehensweise ergiebig genug, um daraus neue Werke zu erneuerte, fügte er der unteren Bildhälfte schöpfen. Im weitesten Sinne ist damit das die Darstellung eines Waldstücks an. Problem des alternden Künstlers berührt Es verweist auf Ferdinand von Rayskis oder die Möglichkeit, eine Summe zu ziehen Waldstudien, die als Vorlage für „Der Wald in einem „Spätwerk“. Wenn man einen Text auf dem Kopf“ von 1969 gedient hatten. wie Gottfried Benns „Altern als Problem für Durch dieses Zitat wird sehr deutlich, dass Künstler“ zu Rate zieht, gibt es eine Reihe Heimat, die Erde, aus der man gewachsen von Phänomenen in späten Werken: größere ist, ein Grundelement für den „modernen“ Freiheit, Experimentierlust, Müdigkeit, Maler Baselitz gebildet hat und weiter bildet. Melancholie, Milde etc. Aber Benn bleibt „Remix“ ermöglicht eine Erneuerung und skeptisch, da Beispiele und Gegenbeispiele zugleich eine Verdeutlichung des früheren sich die Waage halten. Aber sein Verweis „Helden“-Bildes und seiner Intention. Modern Painter (Remix), 2007 54 55 Zero Das Wort Zero klingt härter als das deutsche Null oder Nichts. Baselitz hat sich mit einem Zettel, auf dem das Wort steht, photographieren lassen. Er trägt eine Kappe mit der Bezeichnung Zero, die ähnlich auch in einer Selbstbildnis-Skulptur auftaucht. Im Gegensatz zu Künstlern, die von Ende und Tod fasziniert, sogar besessen sind wie Edvard Munch, Max Beckmann, später dann Joseph Beuys, Andy Warhol oder Markus Lüpertz, taucht die Reflexion über Vergänglichkeit und Verfall erst seit einigen Jahren ausdrücklich im Werk von Baselitz auf: „Davongehen, Weggucken, Abgehen“ oder „Ohne Hemd auf der Matratze liegen“ heißen zwei Gemälde von 2015. Bald danach malte Baselitz einen weiblichen Akt „Abwärts III“, der in die gleiche fahle, unwirkliche Farbe getaucht ist. In diesem Gemälde korrespondiert die Motivumkehr mit dem ikonographischen Sinn der Reflexionen über die eigene Hinfälligkeit und den näherrückenden Tod. Im Unterschied zu früheren Darstellungen von Gewalt, Schmerz oder Verletzung scheinen die Körper jetzt in den Bildraum zu verschwinden, weil die Gliedmaßen sich auflösen. Zumindestens bei den Darstellungen mit dem „Zero“-Attribut ist Selbstironie im Spiel. Indem Baselitz nicht zurückschreckt vor Darstellungen wie „Abwärts III“ von 2016, zeigt er nicht nur, wie es ist oder sein wird, sondern auch seine Souveränität gegenüber Ängsten und leidvollen Erfahrungen mit den Körpern. Die Farbigkeit dieser Werkgruppe erinnert an eine weitgehend im Dunklen liegende Bühne; hier könnte ein Stück von Samuel Beckett spielen, den Baselitz während dessen Berliner Zeit erlebt hatte. Selbstironie spricht auch aus der Verwendung des italienischen Wortes Zero; denn es hat mit dem Spielcasino zu tun, das im Kleinen eine Bühne für das menschliche Schicksal sein kann. Zero bildet aber auch die ständig wiederkehrende Herausforderung für einen Künstler, der sich immer wieder vom Nullpunkt aus neu erfinden muss. Aber auch die Einsamkeit und Isolation des jungen Künstlers in West-Berlin bildete eine erste unvergessliche „Zero“- Erfahrung. Der Werkverlauf ist seit damals häufig strukturiert durch „Zero“- Situationen, die durch Reflexion und Willensstärke aufgelöst wurden. Hier ging Baselitz ähnlich vor wie sein Freund A. R. Penck, der wiederum die häufigen Stilwechsel von Picasso genau studiert hatte. Ein Hauch von Resignation mag allerdings auch der „Zero“-Stimmung beigemischt sein, etwas von der Melancholie der Vollendung. Eugène Delacroix hat in späten Jahren ein Gemälde geschaffen, das Michelangelo zeigt, wie er nachdenklich inmitten seiner berühmten Figuren im Atelier sitzt. Hier findet sich ein Bild von Delacroix’s eigener Befindlichkeit im Spiegel eines großen Vorgängers. Aber auch aus der Melancholie der Meisterschaft, aus diesem Zero, kommen wieder neue einmalige Werke ins Sichtbare. Als Baselitz sich mit dem Abwärts I, 2016 „Zero“-Zettel photographieren ließ, lächelte er.

56 57 ZERO, 2009

58 abbildungen 19 Waldarbeiter, 1967 32 Orangenesser (VIII), 1980/81 Kreide, Kohle Öl und Tempera auf Leinwand 62,5 × 48,5 cm 200 × 162 cm 1 Das Blumenmädchen, 1965 Privatsammlung Sammlung Uli Knecht, Stuttgart Öl auf Leinwand 140 × 120,5 cm 20 Beatrice, 1964 34 Mann am Strand (Okt.’81), 1981 Sammlung Hoffmann, Berlin Gouache auf Papier Kohle auf Papier 48,5 × 31,6 cm 70 × 62 cm 2 Kopf, 1963 Privatsammlung Privatsammlung Blumenmädchen, 1965 Ein moderner Maler, 1966 21 Ein Grüner, 1966 Pastorale, 1985 Öl auf Nessel Kohle, Rötel auf Papier 4 aus ’45, 1989 162 × 130 cm 87,5 × 76,3 cm Rote Mutter mit Kind, 1985 ACT Art Collection Privatsammlung

6 Rayski, 1959 22 Der Wald steht auf dem Kopf, 1969 35 Nachtessen von Dresden, 1983 Tuschfeder und Tusche laviert auf Papier Öl auf Leinwand Kohle, Rötel auf Papier 29,6 × 21 cm 250 × 190 cm 57 × 87 cm Museum Ludwig, Köln Privatsammlung 7 Kopf, 1963 Öl auf roher Baumwollleinwand 23 ohne Titel (Landschaft), 1970 36/37 Orangenesser (VIII), 1980/81 140 × 105 cm Öl und Eitempera auf Leinwand ohne Titel (Hommage à Wrubel), 1963 Sammlung Hoffmann, Berlin 130,5 × 162 cm Rote Mutter mit Kind, 1985 Galerie Haas AG, Zürich 8 ohne Titel (Hommage à Wrubel), 1963 37 Rote Mutter mit Kind, 1985 42 aus ’45 (hier war der Hase drauf, 50 Albrecht Dürer: 61 Abwärts I, 2016 Bleistift, Deckweiß, Tabaksaft 24 o. Halde, 1970 Öl auf Leinwand Bleistift auf Papier 24. vi. – 26. viii. 89), 1989 Liegender weiblicher Akt / Blauer Kopf, 1983 46,8 × 29,5 cm 330 × 250 x 5 cm Tempera auf Holz Das Meerwunder, 1501 3. Afrikaner, 1972 Privatsammlung 57,6 × 43,4 cm Galerie Michael Haas, Berlin Privatsammlung 200 × 160 cm Pinsel, Feder, Weißhöhungen, aus ’45, 1989 9 ohne Titel, 1964 38 Nachtessen von Dresden, 1983 Privatbesitz auf grün grundiertem Papier Orangenesser (VIII), 1980/81 Gouache auf Papier 24 u. Büsche, 1969 Halde, 1970 16,9 × 21,8 cm Bleistift auf Papier 43 Foto: © Daniel Blau, München 61 ohne Titel (Hommage à Wrubel), 1963 46 × 18,5 cm Zwei Kühe, 1968 Albertina, Wien Blauer Kopf, 1983 Privatsammlung 43,5 × 58 cm Adler 12.III.1979, 1979 44 Das Motiv Bremen 1988 (Nr. 150), 1988 51 Ade Nymphe I, 1998 Beatrice, 1964 Galerie Michael Haas, Berlin Büsche, 1969 Pastell, Kohle auf Papier Öl auf Leinwand Pastorale, 1985 10 Foto: Bruno Brunnet Wald mit Elke, 1970 25 Wald mit Elke, 1970 77 × 59 cm 203 × 162 cm Kopf, 1982 Tusche, Bleistift, Buchseite Privatsammlung 13 Ein moderner Maler, 1966 39 Adler 12.iii.1979, 1979 Döpfner Collection Abgarkopf, 1983 Öl auf Leinwand 58 × 43 cm Tusche, Aquarell auf Papier Tinte und Aquarell auf Papier 45 4 Zeichnungen: Skulptur 162 × 130 cm Privatsammlung 52/53 Ade Nymphe I, 1998 69,5 × 49,5 cm 85,7 × 61 cm Skulptur (Juni 84), 1984 Berlinische Galerie – Landesmuseum Das erste Negativ, 2004 26 Selbstbildnis mit Lederhose, 1997 schönewald, Düsseldorf Skulptur (9. x. 83), 1983 für moderne Kunst, Fotografie Katzenkopf, 1967 62 2 Kühe, 1968 Aquarell auf Papier Skulptur (1. iii. 84), 1984 und Architektur Adler, 1979 Waldarbeiter, 1967 Bleistift, Buntstift 100 × 75 cm Skulptur (1. iii. 84), 1984 Graphit und Tinte auf Papier Blumenmädchen, 1965 31,5 × 39,3 cm Privatsammlung Kohle / Bleistift auf Papier 14/15 Ein Grüner, 1966 85,7 × 61 cm Ein moderner Maler, 1966 Privatsammlung Modern Painter (Remix), 2007 jeweils 61,4 × 43,1 cm 27 3. Afrikaner, 1972 schönewald, Düsseldorf ohne Titel, 1964 Kunsthalle Bielefeld 55 Modern Painter (Remix), 2007 64 Elke mit Boxhandschuh (31.viii.05), 2005 Öl auf Leinwand 40 Antonin Artaud: Selbstportrait, Öl auf Leinwand Aquarell und Tusche auf Papier 200 × 162 cm 16 Zwei Streifen hinterm Baum, 1967 11. Mai 1946 45 ohne Titel (Rote Frau), 1987 303 × 250 cm 67 × 51 cm Privatsammlung Tusche, Bleistift auf Papier Bleistift auf Papier Kohle und Öl auf Canson Berlinische Galerie – Landesmuseum schönewald, Düsseldorf 42 × 29 cm 28 Modell für eine Skulptur, 1979–80 63 × 49 cm 254 × 147 cm für moderne Kunst, Fotografie Privatsammlung Lindenholz und Tempera cnac-mnam, Musée national d’art schönewald, Düsseldorf und Architektur nicht abgebildet moderne – Centre de création Förderung aus Mitteln des Beauftragten 4 Zeichnungen: Skulptur 17 Drei Streifen – Der Maler im Mantel 178 × 147 × 244 cm 46 Fotos: Jan Bauer Museum Ludwig, Köln industrielle, Paris der Bundesregierung für Kultur und Skulptur (Jan 83), 1983 (Zweites Frakturbild), 1966 Medien (BKM) aufgrund eines Skulptur (25. vi. 83), 1983 47 Das erste Negativ, 2004 Öl auf Leinwand 29 Blauer Kopf, 1983 41 Kopf, 1982 Beschlusses des Deutschen Bundestages Skulptur (25. Jan 83), 1983 Öl auf Leinwand 250 × 190 cm Rotbuche und Öl Linolschnitt auf Papier Skulptur (1. iii. 84), 1984 250 × 200 cm Privatsammlung Berlin 81 41 34 cm Platte: 190 × 145 cm 56 Abwärts I, 2016 Bleistift, Aquarell / Gouache auf Papier × × Contemporary Fine Arts, Berlin Kunsthalle Bielefeld Papier: 200 × 160 cm Öl auf Leinwand jeweils 61,4 × 43,1 cm 18 Katzenkopf, 1967 300 × 185 cm Dada Held-Poschardt 48 Foto: Elfi Semotan Kunsthalle Bielefeld Öl auf Leinwand 30/31 Abwärts I, 2016 Döpfner Collection 152 × 126 cm Blauer Kopf, 1983 Privatsammlung 3. Afrikaner, 1972 58–59 ZERO-Aktion, Oktober 2009 aus ’45, 1989 Fotos: Archiv CFA, Berlin

60 61 2 Kühe, 1968

62 Dieser Katalog erscheint anlässlich der Ausstellung Unser ganz besonderer Dank gilt den Leihgebern, ohne deren Vertrauen und Engagement diese Ausstellung Hommage à Georg Baselitz nicht möglich geworden wäre: Realisiert von Siegfried Gohr Berlinische Galerie – Landesmuseum für moderne Kunst, zum 80. Geburtstag des Künstlers Fotografie und Architektur vom 23. Januar – 3. März 2018 Kunsthalle Bielefeld bei Contemporary Fine Arts, Berlin ACT Art Collection Döpfner Collection Contemporary Fine Arts Dada Held-Poschardt Bruno Brunnet & Nicole Hackert Sammlung Hoffmann, Berlin Grolmanstraße 32/33 Sammlung Uli Knecht, Stuttgart 10623 Berlin Galerie Michael Haas, Berlin Tel +49-30-88 777 167 Galerie Haas AG, Zürich www.cfa-berlin.com schönewald, Düsseldorf [email protected] sowie private Leihgeber, die ungenannt bleiben möchten. Copyright 2018 Georg Baselitz Contemporary Fine Arts, Snoeck Verlagsgesellschaft mbH, Ganz besonders die sachkundige und konstruktive Unterstützung von und der Autor Detlev Gretenkort und Julia Westner vom archiv georg baselitz Text haben dafür gesorgt, etwaige Fehler zu minimieren. Ihnen gebührt Siegfried Gohr unser herzlichster Dank. Ebenfalls danken möchten wir unser Mitarbeitern, die dieses Projekt Fotografie von Anfang an mit großer Begeisterung und Professionalität begleitet Archiv CFA, Berlin haben: Daniela Cwickla, Carolin Leistenschneider, Genevieve Lipinsky, Daniel Blau Anja Sommer, Julian Thamer und Imke Wagener. Bruno Brunnet Elfi Semotan Stephan Homann und sein Team von art handling haben mit ihrer von uns schon lange geschätzten routinierten und besonnenen Art Installationsfotografie die Ausstellung gehängt und ausgeleuchtet. Auch dafür danken wir Matthias Kolb, Berlin aufrichtig. Reproduktionen Dem Restaurator Peter Most gilt unser herzlicher Dank für seine Lea Gryze, Berlin sorgfältige und umsichtige konservatorische Betreuung der Werke Joseph Loderer, München in der Ausstellung. Jochen Littkemann, Berlin Schließlich gilt Siegfried Gohr, dem erfahrenen Museumsleiter, Mathias Kolb, Berlin Ausstellungsmacher, Publizisten und ehemals lehrenden Professor, Lothar Schnepf, Köln der die Idee zu dieser Ausstellung sofort aufgegriffen hat und durch Rheinisches Bildarchiv, Köln sein Wissen und die jahrelange Beschäftigung mit dem Werk von Martin Müller Georg Baselitz ein idealer Partner war, unser aller herzlichster Dank. © VG Bild-Kunst, Bonn 2018, für Antonin Artaud: bpk / cnac-mnam, Musée national d’art moderne – Nicole Hackert & Bruno Brunnet Centre de création industrielle, Paris / Adam Rzepka Berlin, im Januar 2018 Albertina, Wien

Grafischer Entwurf Kühle und Mozer

Lithografie Farbanalyse, Köln

Produktion Snoeck Verlagsgesellschaft mbH Kasparstraße 9–11 50670 Köln www.snoeck.de isbn 978-3-86442-243-0

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65 contemporary fine arts berlin

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