Frankfurt am Main  22. September 2015 www.epd.de Nr. 39

Reformator, Ketzer, Judenfeind. Jüdische Perspektiven auf

Tagung der Evangelischen Akademie zu und des Zentralrats der Juden in Deutschland, Berlin 10.-12.6.2015

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 Reformator, Ketzer, Es wurden sehr unterschiedliche Lyra gelernt hast.« (Rückfragen Judenfeind – Jüdische jüdische Stimmen laut, selten eine und Ausblicke aus der Sicht eines wie die Heines: »Ruhm dem Lu- Juden, in Luther kontrovers, 1983, Perspektiven auf ther! Ewigen Ruhm dem teuren 252-265) Martin Luther Manne, dem wir die Rettung unse- rer edelsten Güter verdanken und Heraus aus der Folterkammer, weg Die Wortkombination »historisches von dessen Wohltaten wir noch von dem Ort der Gewalt, ins Licht Ereignis« wird oft bemüht und heute leben! Es ziemt uns wenig um uns gegenseitig zu sehen. Da- ebenso wird oft übersehen, dass über die Beschränktheit seiner bei sollen sich Protestant_innen jedes Ereignis historisch ist, kaum Ansichten zu klagen … es ziemt klar werden über die Ursachen der dass es geschah. Die Tagung ver- uns noch weniger, über seine Feh- Gewalt gegen Juden in ihrer Tradi- dient das Prädikat »besonderes ler ein herbes Urteil zu fällen« tion. historisches Ereignis«. War sie (Religion und Philosophie in doch die erste Kooperation des Deutschland, Erstes Buch, 1835) Vermutlich hatte die Französische Zentralrates der Juden in Deutsch- Friedrichstadtkirche solche eine land mit einer Ev. Akademie, in Wir sehen hier, dass auch Heine paritätische Teilnehmerschaft aus diesem Falle der Ev. Akademie zu irren kann und trotzdem ist es gut, Juden, Jüdinnen, Christinnen und Berlin. Dieses Prädikat wird noch ihn nicht einfach zu ignorieren, Christen noch nie gesehen und so verstärkt dadurch, dass sich diese sondern zu verstehen suchen, was freuten sich die alten Mauern der Partner eines Themas annahmen, er wohl meinte, was ihn zu solcher Toleranz und des Respekts an das für beide Seiten je unterschied- Euphorie veranlasst haben könnte. solchem Vorhaben, antisemitische lich aber gemeinsam schmerzhaft Aber, lieber Heinrich Heine, es Gewaltformen anzusehen und sich ist. Denn die Judenfeindschaft ziemt sich wohl, ja es ist sogar ihnen zu widersetzen. Luthers und ihre Nachwirkungen notwendig ein differenziertes, aber in einer Tagung mit jüdischen und in diesem Falle wohl doch herbes Diese Tagung und deren Doku- christlichen Teilnehmer_innen und Urteil über Martin Luther zu spre- mentation sollen eine Perspektive Referent_innen zu bearbeiten, chen, vielleicht gar nicht nur über stärken für einen solidarischen und stellt aufgrund des so lang anhal- seine unheilvollen Judenschriften empathischen, gleichzeitig nichts tenden gewaltförmigen christlichen sondern möglicherweise über noch beschönigenden Austausch zu Zugangs zum jüdischen Volk kein andere Grundpfeiler seiner Theolo- Gemeinsamkeiten und Unterschie- leichtes Unterfangen dar. Verstärkt gie. den im jüdisch-christlichen Ver- wird diese Schwierigkeit durch die hältnis in Geschichte und Gegen- Indienstnahme Luthers durch die Anders Albert Friedlander, der wart. Sie zielt auf eine konkrete Deutschen Christen und die Natio- große, in Berlin geborene Rabbiner und deutlich verstärkte Veranke- nalsozialisten. der Westend in Lon- rung dieses Austausches in den don: »Wir müssen (aus der Folter- unterschiedlichen protestantisch Dass dies gelingen konnte, haben kammer) nach oben gehen, wo du verantworteten institutionellen alle Beteiligten auch als Geschenk mich wieder als einen des Volkes Kontexten. gesehen. Denn es ist, so viele Gottes erkennen kannst. Wir müs- Apostel einer unangefochtenen sen in deiner Bibliothek sitzen, so (Sabena Donath, Prof. Dr. Doron Normalität im christlich-jüdischen dass ich mich an deinen großen Kiesel, Zentralrat der Juden in Verhältnis es auch geben mag, Bibelarbeiten ergötzen und dir Deutschland; Dr. Christian Staffa, bleibend nicht selbstverständlich manchmal leise sagen kann, dass Ev. Akademie zu Berlin) zu diesem Thema gemeinsam diese und jene Idee von dem jüdi- nachzudenken und zu arbeiten. schen Gelehrten Raschi stammt, auch wenn du es von Nicolaus von

Quellen: Reformator, Ketzer, Judenfeind. Jüdische Perspektiven auf Martin Luther

Tagung der Evangelischen Akademie zu Berlin und des Zentralrats der Juden in Deutschland, Berlin 10-12.6.2015 epd-Dokumentation 39/2015 3

Aus dem Inhalt:

Reformator, Ketzer, Judenfeind. Jüdische Perspektiven auf Martin Luther. Tagung der Evangelischen Akademie zu Berlin und des Zentralrats der Juden in Deutschland, 10.-12.6.2015 ► Prof. Dr. Christian Wiese: »Unheilsspuren«: Zur politischen Dimension des theologischen Denkens Luthers im Kontext des modernen Antisemitismus 4

► Prof. Dr. Andreas Pangritz: Martin Luther – Judenfreund oder Antisemit? 17

► Dr. Maria Diemling: Jüdisches Leben in Deutschland um die Reformationszeit 25

► Prof. Debra Kaplan: Jewish Responses to Martin Luther: Diplomacy, Polemics, and Proximity 34

► Prof. Dr. Christian Wiese: Deutsch-jüdische Lutherlektüren vor der Shoah: Eine tragische Liebesgeschichte 42

► Prof. Dr. Micha Brumlik: Martin Luther und die Juden – eine politologische Betrachtung 59

► Prof. Dr. Gury Schneider-Ludorff/Dr. Axel Töllner: Zum Umgang mit der aktuellen Debatte um Luthers Einfluss und Wirken – aus protestantischer Sicht 69

► Autorenverzeichnis 77

4 39/2015 epd-Dokumentation

»Unheilsspuren«: Zur politischen Dimension des theologischen Denkens Luthers im Kontext des modernen Antisemitismus1 Von Prof. Dr. Christian Wiese, Goethe-Universität, Frankfurt am Main

Reformator, Ketzer, Judenfeind. Jüdische hat mit seinen Bildern und Mythen stets den kon- Perspektiven auf Martin Luther. Tagung der kreten politischen Umgang mit der jüdischen Evangelischen Akademie zu Berlin und des Minderheit bestimmt, sei es unmittelbar oder sei Zentralrats der Juden in Deutschland, Berlin es durch die Prägung einer Mentalität, die Verfol- 10.-12.6.2015 gung, Entrechtung und Gewalt, mindestens aber die Diskriminierung von Juden als selbstverständ- lich und berechtigt hinnahm. Stets – und so auch 1 bei Luther – waren religiöse, kulturelle, wirt- schaftliche und politische Motive auf das Engste Die Auseinandersetzung mit der verhängnisvollen miteinander verwoben, nie blieb theologisches Wirkungsgeschichte christlicher Judenfeindschaft Denken über Juden und Judentum ohne konkrete und ihrem Zusammenspiel mit dem modernen existenzielle Wirkung auf jene, über die man Antisemitismus gehört zu den Grundelementen nachdachte. christlich-theologischer Selbstreflexion nach 1945. Die Erkenntnis der ungeheuren Dimension der Muss man deshalb so drastisch urteilen wie der Mitverantwortung des Christentums und der Philosoph Karl Jaspers, der nach 1945 eine Linie christlichen Kirchen für die Verbrechen der Shoah von Luther bis nach Auschwitz zog, wenn er mit ist in den vergangenen Jahrzehnten zu einem Blick auf die berüchtigten sieben Ratschläge des entscheidenden Aspekt theologischer Neuorien- Reformators an die Obrigkeit formulierte: »Was tierung und zu dem Fundament geworden, auf Hitler getan, hat Luther geraten, mit Ausnahme dem das christliche-jüdische Gespräch der Ge- der direkten Tötung durch Gaskammern«?2 Oder genwart überhaupt erst möglich geworden ist. Die wie der Historiker Daniel Jonah Goldhagen, der historische Forschung hat das Bewusstsein geför- 1996 in seinem Buch Hitlers willige Vollstrecker dert, dass die christliche Tradition, der zufolge Luther als zentrale Figur des von ihm postulierten Israel von Gott verworfen ist, sowie das Ver- spezifisch deutschen »eliminatorischen« Antisemi- schweigen und Verzerren jüdischen Selbstver- tismus deutete, der vom Mittelalter über die Re- ständnisses durch die Zeiten hindurch unendli- formation und die neuzeitliche Aufklärung bis hin ches Leid über jüdische Menschen gebracht ha- zur modernen rassistischen Judenfeindschaft mit ben und mit in die Geschichte des mörderischen ihren vernichtenden Folgen führte?3 Antisemitismus der Nazis hineingehören. Aller- dings sind viele Fragen auch strittig – etwa ob Die neuere historische Antisemitismusforschung man zwischen Antisemitismus als einem Phäno- hat, ohne die Mitverantwortung christlich- men der Moderne und einem christlichen »An- theologischen Denkens für die jüdische Verfol- tijudaismus« unterscheiden soll, bei dem es sich gungsgeschichte bis hin zur Shoah zu bestreiten, aus der Sicht mancher Interpreten um ein rein die Frage nach der Kontinuität des modernen theologisches Konzept handelt. Ich möchte daher Rassenantisemitismus zur traditionellen christli- von vorneherein betonen, dass sich diese Unter- chen Judenfeindschaft wesentlich differenziert. scheidung stets auf dem Grat zwischen einem Forscher wie Yehuda Bauer oder Saul Friedländer Mittel geschichtlicher Differenzierung und einer haben sich auf überzeugende Weise dafür ausge- missbräuchlichen Verharmlosung des scheinbar sprochen, von einem differenzierteren Zusam- »nur theologischen« Antijudaismus bewegt: Die menhang traditioneller und moderner Motive These, letzterer dürfe – als theologischer Gegen- auszugehen: Die biologisch-rassistische antisemi- satz zum Judentum – nicht für den Antisemitis- tische Ideologie der Nazis bediente sich der tra- mus und für die Shoah verantwortlich gemacht dierten antisemitischen Bilder und Stereotype, werden, war und ist bis in die Gegenwart – auch verwarf aber vielfach zugleich deren christliche mit Blick auf Luthers »Judenschriften« – eine der Motivation. Dass sich Antisemiten mit großer Strategien, sich der Schuldgeschichte von Theolo- Selbstverständlichkeit auf die christliche Juden- gie und Kirche nicht in ihrem ganzen Ausmaß feindschaft berufen konnten, ist unbestreitbar stellen zu müssen. Damit wäre jedoch die konkre- und hängt, so Bauer, damit zusammen, dass das te politische Dimension des Theologischen über- Christentum »die Juden in Dogma, Ritual und sehen: Christlicher Antijudaismus war zu keiner Praxis mit einem anscheinend unauslöschlichen Zeit ein »rein theologisches« Phänomen, sondern epd-Dokumentation 39/2015 5

Stigma brandmarkte«.4 Die historische Antisemi- wurde, von seiner Theologie als zeitbedingte tismusforschung geht auf der Grundlage der Prä- antijüdische Entgleisung abheben, oder handelt misse, dass der mörderische Rassenantisemitis- es sich um etwas, was in den Grundlinien seines mus, der in Nazi-Deutschland zu einem präze- theologischen Denkens verwurzelt ist? Wie ist zu denzlosen Verbrechen führte, gegenüber der tra- erklären, dass in verschiedenen Phasen des Le- ditionellen Judenfeindschaft tatsächlich eine neue bens Luthers auffällig unterschiedliche Stellung- Qualität aufweist, von einem zweifachen Zu- nahmen zum politischen Umgang mit der jüdi- sammenhang aus, der auch für die differenzierte schen Minderheit begegnen? Die Frage nach der Bewertung der Wirkungsgeschichte Luthers von Kontinuität oder Diskontinuität zwischen Luthers entscheidender Bedeutung ist. Ein Aspekt dabei frühen und späten Schriften wird daher nach wie betrifft die konkreten Zubringerdienste christli- vor kontrovers diskutiert. Eine Interpretationslinie cher Theologen, die vor und während der Nazi- geht davon aus, Luther habe offenkundig einen Zeit auf dem Hintergrund ihrer theologisch- dramatischen Wandel durchgemacht: gesell- politischen Überzeugungen zum Antisemitismus schaftliche Entwicklungen, die Enttäuschung und zur Situation der jüdischen Minderheit in seiner enthusiastischen Missionshoffnungen, Deutschland Stellung nahmen. Dabei spielten persönliche Erlebnisse, das eigene Studium jüdi- Martin Luthers »Judenschriften«, wie zu zeigen scher Schriften und eine allgemeine Verhärtung sein wird, eine nicht zu unterschätzende Rolle. des »alten« Luther hätten ihn aus seinen frühen Zweitens bildete die Tradition der christlichen Toleranzträumen gerissen. Eine zweite Deutung, Judenfeindschaft mit ihrer Sprache und ihren die sich in der gegenwärtigen kirchenhistorischen Bildern insgesamt den Hintergrund und das un- Forschung durchzusetzen scheint, erblickt dage- verzichtbare Arsenal der radikaleren und nun gen hinter Luthers widersprüchlichen Äußerun- wirklich »eliminatorischen« Formen des Antisemi- gen zur zeitgenössischen Politik gegenüber der tismus. Mit Saul Friedländers sehr präzisen Wor- jüdischen Minderheit eine grundlegende Kontinu- ten: ität seiner theologischen Bewertung des Juden- tums, die mit seinem Verständnis der Hebräi- »Vielleicht die stärkste Wirkung des religiösen schen Bibel und seiner Theologie der Rechtferti- Antijudaismus war […] die aus dem Christentum gung der Sünder zusammenhing. ererbte Doppelstruktur des antijüdischen Bildes. Einerseits war der Jude ein Paria, der verachtete Ausgangspunkt der folgenden Überlegungen ist, Zeuge des triumphalen Vormarsches des wahren um mit dem Historiker Heiko A. Oberman zu Glaubens; andererseits erschien seit dem späten sprechen, dass die hasserfüllte Auseinanderset- Mittelalter im volkstümlichen Christentum und in zung mit dem Judentum »keine schwarze Sonder- chiliastischen Bewegungen ein entgegengesetztes seite in Luthers Werk bildet, sondern zentrales Bild, das des dämonischen Juden, welcher Ritu- Thema seiner Theologie ist«.6 Zugleich scheint almorde begeht, sich gegen das Christentum ver- eine Deutung ausgeschlossen, die die Position des schwört, der Vorbote des Antichristen und der frühen Luther als eindeutig positive Stellungnah- mächtige und geheimnisvolle Abgesandte der me gegenüber dem Judentum versteht, um das Kräfte des Bösen ist. Dieses Doppelbild kommt in Spätwerk des Reformators als psychologisch oder einigen wesentlichen Aspekten des modernen biographisch begründbaren Rückfall ins Mittelal- Antisemitismus wieder zum Vorschein. Und seine ter erleichtert im Regal zu lassen. Vielmehr be- bedrohliche und okkulte Dimension wurde zum steht die Herausforderung gerade darin, dass ständig wiederkehrenden Thema der wichtigsten zwar die unmenschliche Dämonisierung des Ju- Verschwörungstheorien der westlichen Welt.«5 dentums und die unbarmherzigen Ratschläge an die Obrigkeit in Von den Juden und ihre Lügen Eine genaue historische Analyse dürfte zu dem (1543) und Vom Schem Hamphoras und vom Ergebnis kommen, dass der Reformator in seinen Geschlecht Jesu (1543) in Luthers Denken ein »Judenschriften« zu diesem doppelten, paradoxen neues Element darstellten, die theologischen Mo- Judentumsbild wesentliche Elemente beigetragen tive, die hier zugrunde liegen, sich jedoch durch hat. Eine Schwierigkeit der Bewertung der Wir- sein gesamtes Werk ziehen und auch in seiner kungsgeschichte Luthers besteht allerdings darin, Schrift Daß Jesus ein geborener Jude sei (1523) dass die historische Interpretation seiner Haltung präsent sind. Dazu gehören insbesondere die gegenüber Juden und Judentum nach wie vor Überzeugung von der Verstockung der angeblich grundsätzlich umstritten ist. Ist das Thema Juden- unter Gottes Zorn stehenden Juden und der be- tum für Luther nur ein Nebenaspekt oder aber ein haupteten Christusfeindschaft des Judentums, das Kernstück seiner Theologie? Kann man die Juden- Unverständnis für eine von der christologischen feindschaft, die in seinem Leben immer sichtbarer Schriftdeutung abweichende jüdischen Exegese, 6 39/2015 epd-Dokumentation

das Verständnis der Juden als des Typus der els, dessen Leiden er als Folge von Gottes Zorn Selbstverherrlichung des sündigen Menschen vor sieht. Darin kommt die christliche Enterbungs- Gott sowie eine apokalyptische Naherwartung, und Verwerfungstheologie klassisch zum Aus- die das Judentum in einer diabolischen Koalition druck, gegen die sich heutige theologische Er- mit Papst, Türken und Schwärmern auf die Seite kenntnis mit dem Bekenntnis zur »bleibenden des Antichrist brachte. Erwählung« Israels wendet. Zweitens ist Luthers exklusiv christologische Sicht der Hebräischen Für ein klares und differenziertes Verständnis der Bibel zu nennen: Er vermochte zu keiner Zeit zu »Judenschriften« Luthers ist auf das ausgezeich- verstehen, dass Menschen sich von ihrem Chris- nete Buch Thomas Kaufmanns mit dem Titel tuszeugnis nicht überzeugen ließen, und immer Luthers Juden zu verweisen. Er betont zunächst mehr wurde ihm das zum Beweis für die angebli- mit Recht, dass diese Schriften historisch in erster che Blindheit der Juden. Dass Juden an ihrem Linie in ihrem zeitlichen Kontext, also im Zu- Glauben, ihrer Schriftauslegung und an ihrer sammenhang der spätmittelalterlichen theologi- Identität festhielten, erschien ihm als Wirkung schen Wahrnehmung des Judentums und der des »Antichrist«, die jüdische Verweigerung re- damaligen politisch-sozialen Praxis gegenüber der formatorischer Bekehrungsversuche verstand er jüdischen Minderheit gedeutet werden müssen. als Ausdruck dämonischer Verstocktheit. Drittens Er spricht zudem in aller Deutlichkeit aus, dass ist erkennbar, dass die Juden – auf dem Hinter- die Judenfeindschaft des späten Luther über tradi- grund der Rechtfertigungslehre Luthers – zu ei- tionelle Elemente des christlichen Antijudaismus nem Typus für die Selbstverherrlichung des sün- weit hinausgeht und zur Verbreitung einer theo- digen Menschen vor Gott wurden. Der Reforma- logisch unkontrollierten Menschenverachtung tor konnte zwar von der Solidarität der Sünder beitrug, die auch nicht davor zurückscheute, über reden: »Die Juden heute sind vor allem wir elen- die Qualität des jüdischen Blutes zu räsonieren, den Christen selbst« (Römerbriefvorlesung). Aber jüdische Christentumsfeindschaft und Mordlust neben dem selbstkritischen Potential steckt in zu behaupten und dämonisierende Mythen wie diesem Satz auch ein ganz gefährliches Element: Ritualmord und Hostienfrevel aufzugreifen – da- Zuletzt bleibt das Feindbild, sodass man den mit habe er sich zum Sprachrohr der finsteren Juden in sich und die wirklichen Juden bekämp- Feind- und Angstbilder des spätmittelalterlich- fen muss – die Existenz der Juden in der christli- frühneuzeitlichen Antisemitismus gemacht.7 chen Gesellschaft wird etwas Gefährliches und Überzeugend erscheint auch Kaufmanns Deu- Angstmachendes. Und so verwendete Luther das tung, Luther habe damit einen dramatischen poli- Bild der falschen, bedrohlichen jüdischen Reli- tischen Positionswechsel vollzogen – von der gion zugleich als Mittel gegen den Katholizismus, Befürwortung einer zeitweisen Duldung der jüdi- innerreformatorische Gegner oder die christlichen schen Minderheit zum Programm einer »scharfen Hebraisten, denen er aufgrund ihres Interesses an Barmherzigkeit«, die auf ihre Vertreibung aus den jüdischen Schriften »Judaisieren« vorwarf. dem christlichen Europa zielte. Wichtig ist jedoch dabei, unmissverständlich deutlich zu machen, Während dieses früh geprägte theologische Bild dass dieser politische Wandel keinen theologi- fortwirkte, verschärften sich die politischen schen Positionswechsel bedeutete. Die neuartige Schlussfolgerungen ins Maßlose. Wie zwiespältig Offenheit von 1523, Juden – mit eindeutiger mis- die Wirkung von Luthers Überzeugungen war, sionsstrategischer Absicht – zu dulden, setzte wird bereits bei Josel von sichtbar, dem weiterhin einen fundamentalen Gegensatz zum Sprecher der deutschen Judenheit zur Zeit der Judentum voraus, das aus der Sicht des Reforma- Reformation, bei dem die Schrift von 1523 zu- tors keine religiös legitime Möglichkeit war, son- nächst große Hoffnung auf eine Verbesserung der dern ein wandelnder Leichnam, die Figur des Lage der Juden ausgelöst hatte, der aber spätes- Ahasver. Die Hoffnung auf eine ernsthafte Hin- tens 1537 erkennen musste, dass er sich ge- wendung der Juden zum von der Reformation täuscht hatte: Als er Luther bat, dem Verbot des sichtbar gemachten Evangelium bedingte eine Aufenthaltsrechts für Juden auf kursächsischem Duldung auf Zeit – »bis ich sehe, was ich ge- Territorium entgegenzutreten, gab ihm dieser in wirckt habe«. Auf der Ebene der Theologie ist einem Schreiben an seinen »guten Freund, sei- demnach eine klare Kontinuität zwischen den ne(n) lieben Josel« zu verstehen, er werde sich frühen und den späten Lutherschriften festzustel- beim Kurfürsten nicht für die Juden verwenden, len. um sie nicht durch seine Gunst in ihrem Unglau- ben zu bestärken. Das Elend der Juden, so Lu- Ein unübersehbares Kontinuum ist Luthers ther, werde kein Ende finden, solange sie nicht Schriftbeweis für die endgültige Verwerfung Isra- aufgehört hätten, Jesus Christus als »gekreuzig- epd-Dokumentation 39/2015 7

ten, verdammten Juden« zu lästern. Religiöse sem Ansatz einer philosemitischen »Liebe zu Judenfeindschaft hatte in diesem Zusammenhang Israel« erwuchs im 19. Jahrhundert eine Tradition unübersehbar politische Folgen. der »Judenmission«, die sich insbesondere durch drei Elemente auszeichnete: eine organisierte Die lutherische Orthodoxie des 16. und 17. Jahr- Missionsarbeit, den Versuch, antisemitischen hunderts schrieb die negativen Züge des Juden- Verleumdungen entgegenzuwirken und ein ge- tumsbildes Luthers weiter, während der Pietis- rechteres Bild der jüdischen Religion und Ethik mus und die Aufklärung eher die Perspektiven zu entwerfen, sowie durch eine wissenschaftliche des frühen Luther akzentuierten. Eine dramati- Arbeit, die sich das Ziel setzte, die jüdische Lite- sche und unmittelbar politisch relevante Wirkung ratur zu erforschen, vor allem aber jüdische Leser entfalteten Luthers »Judenschriften« jedoch im von der Wahrheit des Christentums sowie davon späten 19. und frühen 20. Jahrhundert, als vor zu überzeugen, dass die messianischen Verhei- allem die Hasstiraden Luthers im Kontext des ßungen der Bibel in Christus erfüllt seien. modernen Antisemitismus eine zentrale Rolle spielten. Daher kommt der Erhellung der Wir- Theologen dieser heilsgeschichtlich orientierten kungsgeschichte und Rezeption der Judenfeind- Strömung, wie etwa der Leipziger Alttestamentler schaft Luthers in den Jahrzehnten vor den Schre- Franz Delitzsch, stellten sich ausdrücklich auf cken der Judenpolitik der Nazis besondere Bedeu- den Boden von Luthers Schrift von 1523 und tung zu. Das von Karl Barth stammende Bild der bedauerten, dass diese nicht sein letztes Wort »Unheilsspuren« im Titel,8 steht für die bittere gewesen sei. Gerade an Delitzsch, der eine unter Erkenntnis, dass Luthers »Judenschriften« – ne- christlichen Theologen einzigartige Kenntnis jüdi- ben den erschütternd vielen anderen judenfeind- scher Quellen besaß, im wissenschaftlichen Aus- lichen Strömungen der christlichen Theologie – tausch mit zahlreichen jüdischen Gelehrten stand Teil der Geschichte des Antisemitismus und der und sich unermüdlich für die Verteidigung des christlichen Schuldgeschichte sind, die das Ver- Judentums gegen antisemitische Hetze engagier- hältnis von Judentum und Christentum bis in die te, lässt sich aber auch zeigen, dass in der »Ju- Gegenwart überschatten. Mit Blick auf Luther gilt denmission« etwas begegnet, was in der Struktur es zu bedenken, dass die Unheilsspuren seiner zumindest mit dem vergleichbar ist, was in Lu- Urteile über Juden und Judentum in verschiede- thers Werdegang geschah: Die solidarische »Liebe nen historischen Kontexten unterschiedliche zu Israel« stand nicht selten in Gefahr, in ent- Formen annehmen konnten, wir es also mit einer täuschte Liebe umzuschlagen, wenn sie mit jüdi- differenzierten, facettenreichen Wirkungsge- scher Ablehnung des christlichen Zeugnisses schichte zu tun haben und davon ausgehen müs- konfrontiert wurde. In Delitzschs Missionsschrif- sen, dass das Verhältnis der frühen und der spä- ten finden sich daher auch unübersehbar negative ten »Judenschriften« auf vielfach gegenläufige Werturteile, denen zufolge das Judentum nach Weise interpretiert werden konnte. Jesus letztlich eben doch verknöchert, ohne Wahrheit und Zukunft war oder wonach der an- 2 gebliche jüdische »Erwählungsstolz« einen Hauptgrund des Antisemitismus darstellte; jüdi- Beginnen wir mit der Tradition der lutherischen sche Kritik am Christentum oder Versuche jüdi- »Judenmission«. Inspiriert durch die pietistische scher Gelehrter, Jesus geschichtlich im Kontext Bewegung, hatte diese Bewegung ihren Ursprung des Judentums zu verstehen, verurteilte er als Ende des 17. und dann im 18. Jahrhundert. Ge- »jüdischen Antichristianismus« – und er konnte lehrte wie Jakob Philipp Spener oder Johann dann rasch mit dem Entzug der Solidarität dro- Heinrich Callenberg hatten sich im Vorfeld der hen, die Emanzipation des Judentums in Frage Aufklärung dafür ausgesprochen, Christen sollten stellen und Zugeständnisse an den Antisemitis- durch eine Überwindung lieblosen Verhaltens mus machen. gegen Juden die Hindernisse aus dem Weg räu- men, die letzteren die Hinwendung zu Jesus Sichtbar wird diese Zwiespältigkeit an Ernst Christus erschwerten; nur wenn die Juden an den Schaeffer, dem langjährigen Leiter der Berliner Christen die Glaubwürdigkeit ihres Redens und »Gesellschaft zur Beförderung des Christentums Lebens erkennen könnten, sei eine Bekehrung unter den Juden«, der im Lutherjahr 1917 mit möglich. Juden sollten, ganz im Sinne des frühen einer Abhandlung zum Thema Luther und die Luther, durch das Vorbild eines christlichen Le- Juden an die Öffentlichkeit trat. Er kritisierte da- bens zum Glauben an Christus »gereizt« werden, rin Luthers judenfeindliche Ratschläge an die christliche Theologen dagegen versuchen, die Obrigkeit, zeigte sich aber irritiert durch das jüdische Überlieferung kennenzulernen. Aus die- selbstbewusste Auftreten von Juden seiner Zeit, 8 39/2015 epd-Dokumentation

die ihre moderne – liberale oder orthodoxe – hämischen Schlangen, Meuchelmörder und Teu- jüdische Identität und den religiösen Anspruch felskinder«.12 Unter Berufung auf den »deutschen eines lebendigen Judentums auf kulturelle Teil- Luther« werden die Juden als ruchlose Gegner habe in Deutschland geltend machten. Er warnte des deutschen Volkes gekennzeichnet – Luther daher vor »zersetzenden« jüdischen Einflüssen erscheint als Retter, der das Christentum mit dem auf das Christentum und machte somit deutlich, Deutschtum verbunden und den vom selbst »ver- dass aus der Sicht der »Judenmission« ein solches judeten« Papsttum übermalten Gegensatz zum jüdisches Selbstbewusstsein, das sich dem christ- Judentum neu hervorgehoben habe.13 Luthers lichen Absolutheits- und Missionsanspruch wi- theologische Argumente interessierten den Agita- dersetzte, als Anmaßung und Bedrohung er- tor Fritsch nicht, seine Schriften wurden lediglich schien9 – ein immer wieder aktuelles Motiv der als Steinbruch für die eigene antisemitische Pro- Judenfeindschaft, gegen das eben auch diese paganda verwendet. vergleichsweise positive Tradition lutherischer Theologie nicht gefeit war. Theodor Fritsch ist durchaus exemplarisch für die Inanspruchnahme Luthers durch den völkischen Eine ungleich perfidere, von der »Judenmission« Antisemitismus. In den von maßlosem Hass er- konsequent bekämpfte Erscheinung um die Jahr- füllten Schriften Mathilde Ludendorffs, Arthur hundertwende war die nationalistisch-völkische Dinters und der ganzen Fülle antisemitischer Deutung Luthers – ein vor 1933 gesellschaftlich Hetzschriften dieser Zeit begegnet einem immer zunehmend einflussreiches Phänomen. Ganz wieder ein Vorwurf: Die Gewährung der bürgerli- selbstverständlich wurde Luther hier als Ge- chen Gleichberechtigung der Juden im 19. Jahr- währsmann des Antisemitismus in Anspruch hundert sei ein Verrat an Luther gewesen und die genommen, der schon im Mittelalter die jüdische Kirche müsse sich auf dessen späte Schriften Gefahr und die entscheidende Bedeutung der besinnen, seine »Enthüllungswerke über die jüdi- »Rassenfrage« erkannt habe. Ein Beispiel für die- schen Geheimziele und seine flammende Predigt sen Typus von Rezeption bietet der sächsische des Abwehrkampfes gegen das Judentum«, wie Publizist Theodor Fritsch, dem es in seinen Mathilde Ludendorff 1928 schrieb.14 Dies reicht Hetztiraden darum ging, die Position der jüdi- bis in die nationalsozialistische Lutherdeutung, schen Minderheit in der Gesellschaft durch die die – etwa im »Stürmer« – unablässig geltend Verleumdung ihrer Religion, ihres Charakters und machte, der Reformator habe aus rassischen und ihrer Mentalität systematisch zu schwächen – so völkischen Motiven zur Entrechtung und Vernich- etwa in seinem 1887 verfassten Antisemiten- tung der Juden aufgerufen. Interessant ist in die- Katechismus, der später unter dem Titel Hand- sem Zusammenhang, dass Alfred Rosenberg, buch der Judenfrage zahllose weitere Auflagen einer der schlimmsten Ideologen des Dritten Rei- erfuhr. Fritsch versammelte darin alles Material, ches, in seinem Mythos des 20. Jahrhunderts ei- das geeignet war, die jüdische Gemeinschaft als nen ganz anderen Weg ging und Luthers Wirk- gefährliche Gegenmacht gegen das deutsche Volk samkeit und die Reformation als einen Schritt zur erscheinen zu lassen, und rief zum »heiligen »Verjudung« des deutschen Volkes kennzeichne- Krieg« gegen den »bösen Geist« des Judentums te: Indem Luther die Bibel, vor allem das Alte und für die »höchsten Güter der arischen Testament, übersetzt und zum christlichen Menschheit« auf.10 Fritsch projizierte die antisemi- Volksbuch gemacht habe, habe er den »jüdischen tischen Phantasien von einer jüdischen Weltherr- Geist« mitten ins deutsche Volk getragen. Es ist schaft in die angeblich geheimen und verbreche- nicht ohne Ironie, dass in einer der wichtigsten rischen Inhalte der rabbinischen Literatur hinein, Publikationen der nationalsozialistischen Ideolo- dehnte jedoch seine Angriffe konsequent auch auf gie Luther nicht als Antisemit, sondern als »Ju- die Gottesvorstellung der Hebräischen Bibel aus denfreund« dargestellt wird, während sich vor und konstruierte einen fundamentalen Gegensatz allem die deutsch-christlichen und völkischen zwischen dem »Gott des Judentums«, einem ver- Kreise innerhalb der evangelischen Kirche be- brecherischen Götzen, und dem »wirklichen Gott mühten, das genaue Gegenteil zu beweisen. Diese des Christentums«. In seiner Schrift Der falsche nämlich beriefen sich spätestens seit 1917 ganz Gott (1916) berief sich Fritsch ausdrücklich auf selbstverständlich auf die antijüdische Polemik Martin Luther, der »mit den schärfsten Waffen des Reformators und erhoben ihn zum Vorläufer gegen die ehrlosen Fremdlinge zu Felde gezogen« deutsch-christlicher Bestrebungen. Über den sei.11 Ausgiebig zitierte er Luthers Polemik und Bund für deutsche Kirche bis zur Glaubensbewe- berief sich auf dessen Forderung nach Verbren- gung Deutsche Christen reicht die Reihe derer, die nung der Synagogen und Vertreibung von Juden den Reformator für eine antisemitische Ideologie als eines Mittels im Kampf gegen die »giftigen, in Anspruch nahmen und ihm allenfalls den epd-Dokumentation 39/2015 9

Vorwurf machten, mit der Reformation nicht weit treuherzige Luther von 1523 sei noch naiv gewe- genug gegangen und vor der konsequenten Til- sen, habe das Eindringen des jüdischen Geistes in gung aller jüdischen Spuren im Christentum – der das Christentum seiner Zeit und die rassischen Beseitigung des Alten Testaments und der Entde- Ursachen des jüdischen Wuchers nicht durch- ckung des »arischen Jesus« – zurückgeschreckt zu schaut – er glaubte, das schändliche Treiben der sein. In einer Fülle von Schriften beschworen Juden auf eine zu überwindende religiöse Ver- Theologen dieser Couleur Luthers Judenfeind- blendung zurückführen zu können, »aber daß schaft, um den Beweis dafür zu führen, dass die alles Denken und Empfinden, Tun und Handeln Kirche ihre Solidarität mit dem nationalsozialisti- aus den tiefsten Gründen unseres eingeborenen schen Staat auch theologisch begründen konnte. Wesens« stamme, »das aus dem Blute steigt«, Ihre Einstellung gipfelte nicht selten in einer habe er nicht geahnt.18 Der Reformator habe des- Rechtfertigung antijüdischer Gewalt durch Luther, halb auch an der jüdischen Abstammung Jesu bis dahin, dass 1938 der thüringische Landesbi- festgehalten, während die heutige Wissenschaft schof Martin Sasse in seiner Schrift Martin Luther längst Jesu galiläisch-arische Herkunft bewiesen über die Juden: Weg mit ihnen! die Reichspog- habe. Im Hauptteil seines Buches, das »Luther als romnacht als Erfüllung der Forderungen Luthers Judengegner« gewidmet ist, zitiert Falb dann verstand – des »größten Antisemiten seiner Zeit«, ausführlich aus Luthers späten Schriften und des »Warners seines Volkes wider die Juden.« bezieht seine Aussagen jeweils auf antisemitische »Am 10. November 1938, an Luthers Geburtstag, Ideen der eigenen Zeit. Luthers Erbitterung gegen brennen in Deutschland die Synagogen« – so die Juden sei durch seine Vorausahnung der eröffnet Sasse seine Schrift.15 Man braucht nur die »künftigen Verjudung des Christentums« zu erklä- weiteren Überschriften dieses in einer Auflage ren,19 durch seine Einsicht in die Rachgier und von 100.000 verbreiteten Buches zur Kenntnis zu Blutrünstigkeit des jüdischen Volkes, und im nehmen, um zu verstehen, wes Geistes Kind es Grunde hätte er erkennen müssen, dass Israel ist: »Luther klagt an«, »Die Synagoge – ein Teu- nicht das Volk Gottes, sondern das eines bösen felsnest«, »Jüdische Verbrecherlehren«, »Ab- Dämons sei.20 Wenigstens Luthers Anhänger in schaum der Menschheit«. der Gegenwart müssten aber nun einsehen, dass das, was sie am Alten Testament liebten, »in Eine solche Inanspruchnahme Luthers für Hass Wahrheit nur Luthers Dichterwort und Luthers und Gewalt wirft die Frage auf, wie andere, ge- Seele« sei,21 während sich in Wahrheit dort nur mäßigtere protestantische Theologen mit derarti- jüdischer Götzendienst verberge. Dennoch habe gen Positionen umgingen. Schon früh traten eini- sich Luther mit der Frage befasst, wie es über- ge von ihnen den völkischen Deutungen entge- haupt möglich sei, dass ein solches »Barbaren- gen, ohne dass damit allerdings in der Regel wirk- volk« auf Erden existiere, und seine kraftvolle liche Solidarität mit Juden und Judentum ver- Wendung gegen das Judentum besitze höchste bunden gewesen wäre. Anhand einer Artikelserie Bedeutung für die »arische Menschheit«: »als des Rostocker Lutherforschers Wilhelm Walther innerste Empörung und jähe Abschüttelung jü- über Luther und die Juden aus dem Jahre 1921 disch-orientalischer Wesensvergewaltigung, als lassen sich eine Reihe exemplarischer Argumenta- erstes Erwachen der germanischen Seele zu ari- tionsstrukturen herausarbeiten, die man als Stra- scher Gotteserkenntnis und Wiedergeburt.«22 Lu- tegie der Bewahrung christlicher Überzeugungen ther habe das mehr gefühlsmäßig als in klarer bei gleichzeitiger Preisgabe des Judentums an die politischer Erkenntnis zur Sprache gebracht und antisemitische Hetze bezeichnen kann. in seiner germanischen Seele zumindest geahnt, dass der »Gott der Juden« nicht der Gott der Anlass von Walthers Schrift war ein völkisches christlichen Liebe, sondern ein verabscheuungs- Pamphlet eines gewissen Alfred Falb über Luther würdiger Götze sei. Die gegenwärtige – verjudete und die Juden, dessen Autor behauptete, der – protestantische Theologie habe jedoch die Bot- »Befreier Luther« sei bereits, ohne über das mo- schaft des Reformators, statt sie fortzuschreiben, derne Wissen über das Judentum und das Wesen verzerrt und »sein Bangen um die Zukunft der der Rassen zu verfügen, intuitiv – kraft der »Em- deutschen Seele, die er vorausschauend in den pörung seines germanischen Wesens« – unter- Klauen des schleichenden Wucherdämons ersti- wegs zur Erkenntnis der Minderwertigkeit des cken sah« – dieses sein theologisches Vermächt- Judentums gewesen, den Weg jedoch nicht voll- nis – unterschlagen.23 ständig zu Ende gegangen.16 Zu würdigen sei jedoch, dass er sich im Verlaufe seines Lebens Wilhelm Walther wandte sich gegen diese Ver- vom »ausgesprochenen Judenfreund zum aller- achtung des Alten Testaments, verband dies aber schärfsten Judengegner« entwickelt habe.17 Der mit einer deutlich antijüdischen Position. »Das 10 39/2015 epd-Dokumentation

Abstoßende« am heutigen Antisemitismus sei, Grunde antisemitische Strategien und warnte wie er schrieb, »daß er, um die Juden gründlich lediglich vor einem zu starken Gewicht auf rassi- schlecht zu machen, auch das ganze Alte Testa- sche Konzepte, die zuletzt auch das Alte Testa- ment in Verachtung zu stoßen nicht müde wird. ment »als bloßes Judenbuch«, als »vom bösen Damit richtet er nur Unheil an«. Es sei falsch, das, Judengeiste« herrührende Tradition verwerfen was Luther dem Talmud und den Juden seiner mussten.28 Hiermit – und damit formulierte Zeit vorwerfe, in das Alte Testament zurückzu- Walther eine besonders perfide, aber durchaus projizieren. Viele Christen gerieten durch die verbreitete Einschätzung – täten die Antisemiten Angriffe auf das Alte Testament in Not, sei es das Werk der Juden, judaisierten also selbst! doch unleugbar, dass »überall in der alttestament- lichen Geschichte die Nationalfehler des jüdi- In dieser Strategie, dem Antisemitismus theolo- schen Volkes« sich bemerkbar machten;24 den- gisch und politisch Zugeständnisse zu machen, noch habe sich Jesus zum Alten Testament be- ihn jedoch zugleich so zu zähmen zu versuchen, kannt. »Wenn aber die Antisemiten« meinten, »in dass er die christlichen Glaubensgrundlagen un- ihrem Kampfe gegen das gefahrbringende Juden- angetastet ließ, kann Walther als repräsentativ für tum die Waffe der Verhöhnung des Alten Testa- eine Vielzahl protestantischer Theologen jener ments nicht entbehren zu können«, so solle sie Zeit gelten. Typisch ist jene ausgeklügelte Metho- die Tatsache eines besseren belehren, »daß der- de der Desolidarisierung, die die als Vorstufe des selbe Luther, der das Alte Testament so hoch Neuen Testaments verstandene Hebräische Bibel geehrt und aus ihm soviel Segen für sich und für scharf vom Judentum trennte und so einen mas- uns geschöpft hat, doch der Juden Mängel und siven Gegensatz zwischen Judentum und Chris- die von ihnen drohende Gefahr mit klarem Blick tentum konstruierte. Dahinter stand die ungebro- gesehen und mit gewaltiger Sprache davor ge- chene traditionelle Enterbungstheologie, die mit warnt hat«.25 Konkret hieß das: Die Rezeption Hilfe antijüdischer Stereotypen von der Verwer- Luthers sollte die Christen der Gegenwart das Alte fung Jesu und vom jüdischen »Gottesmord« die Testament achten, aber die Juden und das nach- Hebräische Bibel für das Christentum bean- biblische Judentum verachten lehren. Denn alle spruchte und die Geschichte und Gegenwart des anderen Stereotype und Ziele des Antisemitismus jüdischen Volkes im Zeichen der göttlichen Ver- rechtfertigte Walther: »So schroff die Antisemiten fluchung verstand. Luther widersprechen, so berechtigt sind sie, bei ihrem Kampfe gegen den jüdischen Geist sich auf Im Gegensatz dazu distanzierte sich etwa der Aussprüche Luthers zu berufen. Sie vermögen Stuttgarter Pfarrer Eduard Lamparter 1928 in auch um so tieferen Eindruck mit dieser ihrer seiner Schrift Evangelische Kirche und Judentum. Berufung auf Luther deshalb zu machen, weil Ein Beitrag zum christlichen Verständnis von Ju- dieser lange Zeit hindurch eine viel freundlichere dentum und Antisemitismus scharf vom Antise- Stellung zu den Juden eingenommen hat, also mitismus der späten Lutherschriften und versuch- erst durch viele betrübende Erfahrungen zu sei- te, im Grunde ähnlich wie die Vertreter der »Ju- nem harten Urteil über sie gekommen ist.«26 denmission«, das Erbe des frühen Luther neu zur Geltung zu bringen. Lamparter, führend im Ver- In der Folge verteidigte Walther die Äußerungen ein zur Abwehr des Antisemitismus tätig und der des späten Luther und zog immer wieder Paralle- liberalen Tradition verpflichtet, die auf eine In- len zur Gegenwart. Luther habe seine Auffassung tegration der Juden setzte, beklagte, Luther habe ändern müssen, weil die Juden seiner Zeit die seine ursprünglich »gerechte und wahrhaft evan- Ohren verstockt gegen die Wahrheit verschlossen gelische Stellung zur Judenfrage« preisgegeben hätten und weil er bei der Beschäftigung mit der und damit die protestantische Kirche in eine ver- rabbinischen Literatur der jüdischen Arroganz hängnisvoll falsche Richtung gelenkt.29 Am frühen und Christentumsfeindschaft, der Verfluchung Luther lobte er die Wertschätzung des »Alten und Verhöhnung Jesu begegnet sei. Andeutungs- Testaments« und den von Nächstenliebe und weise stellte Walther mit Hinweis auf Luthers Gerechtigkeitsgefühl inspirierten Einspruch gegen negative Erfahrungen auch den Sinn der Juden- die mittelalterliche Judenpolitik. Aus der Sicht emanzipation des 19. Jahrhunderts in Frage: »Ob des Theologen gehörte es »zum Schmerzlichsten, die Folgen günstigere gewesen sind als die, wel- daß dieser größte Deutsche, der zuvor solch che Luther von seinen ähnlichen Gedanken, wie warme Worte voll Mitleid, Gerechtigkeit und er sie in seiner judenfreundlichen Schrift von Liebe für die Juden gefunden hatte«, sich später 1523 aussprach, beobachten mußte? Er meinte zu »in einen solch blinden Haß gegen sie hineinstei- erkennen, daß die Juden die Herren, Christen ihre gerte«, dass er den Stab über sie brach.30 Damit Knechte würden«.27 So bestätigte Walther im habe er sein eigenes Prinzip der Glaubens- und epd-Dokumentation 39/2015 11

Gewissensfreiheit beschädigt und sei zum »Kron- vor allem sein theologisches Judentumsbild zeugen des modernen Antisemitismus« gewor- durchgängig negativ geprägt war, dürfte Lampar- den.31 Lamparter selbst wollte die Kirche seiner ter hier einer Idealisierung der Theologie des Gegenwart dagegen für den Luther gewinnen, frühen Luther unterlegen sein. Dass er sich in »der auf dem Höhepunkt seines reformatorischen diesem positiven Urteil mit jüdischen Gelehrten Wirkens für die Unterdrückten, Verachteten und wie Samuel Krauss von der Israelitisch- Verfemten in so warmen Worten eingetreten« sei Theologischen Lehranstalt in Wien einig war, der und so eine Tradition der Achtung und Bekämp- 1917 – zum Lutherjahr – ebenfalls eine sehr posi- fung der Judenfeindschaft begründet habe, an die tive Würdigung der frühen Arbeiten Luthers vor- es anzuknüpfen gelte.32 genommen und sie scharf von seinen späten Schmähschriften abgesetzt hatte,34 dürfte kaum Lamparters Position war verbunden mit scharfer ein Zufall sein: So wie der späte Luther antisemi- Kritik des zeitgenössischen Antisemitismus und tischem Denken als Gewährsmann ihrer Ideologie mit der Forderung, Vorurteile zu überwinden und galt, versuchten jene, die für eine Anerkennung Gemeinsamkeiten stärker zu gewichten. Am Ende der religiösen wie politisch-sozialen Existenz- und steht ein für die damalige Zeit einzigartiges Plä- Gleichberechtigung des Judentums eintraten, die doyer für eine Anerkennung des Judentums als Autorität dieser zentralen Figur des deutschen einer lebendigen, religiös-kulturell wertvollen Protestantismus für ihre Bedürfnisse in Anspruch Tradition sowie als eines legitimen Bestandteils zu nehmen. Ihr Ziel war es dem frühen Luther als der deutschen Gesellschaft. Der Reichtum, der der für sie maßgeblichen Gestalt eine möglichst Judentum und Christentum verbinde, verpflichte positive Haltung abzuringen und eine Gegenge- beide »zu einem Verhältnis des Friedens und schichte gegen die Stimmen maßgeblicher protes- gegenseitiger Achtung«; darum war Lamparter tantischer Theologen zu formulieren, die immer überzeugt, »die Pflicht, in dem Judentum einen deutlicher in nationalistische und antisemitische gottgewollten Weg zur Lösung der höchsten Le- Deutungen abglitten. bensfragen anzuerkennen«, sei »mindestens ebenso wichtig als die, christliche Propaganda Dass die »Unheilsspuren« des späten Luther unter den Juden zu treiben. Unter den Völkern, durch den Hinweis auf seine frühe Haltung nicht welche an der Geisteskultur der Neuzeit Anteil mehr aufzuheben waren, zeigt die Geschichte der haben, dürfen fremde Hände nicht in das Heilig- Rezeption der »Judenschriften« Luthers im Jahre tum der persönlichen religiösen Überzeugung und 1933. Hatte die sog. »Lutherrenaissance« seit 1917 Entscheidung eingreifen. Das Judentum steht als mit ihrem Programm der Erneuerung der theolo- eine kultur- und religionsgeschichtliche Erschei- gischen Lutherforschung nicht zuletzt auch des- nung vor uns, die mit Ehrfurcht erfüllt. Wir wer- halb unter jungen Theologen großen Widerhall den auf unsere jüdischen Volksgenossen den gefunden, weil seit dem Ende des 19. Jahrhun- tiefsten Eindruck machen, wenn wir mit diesem derts der »deutsche Luther« zu einer wichtigen Zugeständnis nicht zurückhalten. Wir werden Identifikationsfigur des wachsenden Nationalis- ihre Herzen am ehesten gewinnen, wenn wir den mus geworden war, so verstärkte sich dieses dem Geiste wahren Christentums widerstreiten- Interesse im Zusammenhang der zahlreichen den Antisemitismus verleugnen«.33 akademischen Lutherfeiern zum 10. November 1933, dem 450. Geburtstag des Reformators. Mit Mit diesen Ausführungen kam Lamparter wie schwärmerischer Begeisterung bejubelte man kaum ein anderer Theologe seiner Zeit dem An- Luther als den Wegbereiter eines neuen Deutsch- spruch des zeitgenössischen Judentums entgegen, lands und als »Erneuerer des Deutschtums«. als eine lebendige, religiös und kulturell wertvolle Zwangsläufig wurden nun vor allem Luthers spä- Tradition und als berechtigter Bestandteil der te »Judenschriften«, einschließlich ihrer häufig deutschen Gesellschaft und Kultur anerkannt zu rassisch zugespitzten theologisch-politischen werden. Es handelte sich um den Versuch, weni- Interpretationsmuster, in die öffentliche Diskus- ge Jahre vor der nationalsozialistischen Machter- sion über die Stellung der jüdischen Gemeinschaft greifung den immer mächtiger werdenden Schat- mit einbezogen. Sehr hellsichtig schrieb daher ten der Judenfeindschaft Luthers durch die Beru- Ludwig Feuchtwanger, ein Bruder Lion Feucht- fung auf eine Tradition der Liebe und der Glau- wangers, in der Bayerisch-Israelitischen Gemein- bensfreiheit zu bannen, die Lamparter in der dezeitung anlässlich des Lutherjubiläums: Reformation prinzipiell angelegt sah. Angesichts der historischen Erkenntnis, dass Luther wohl zu »Es geht hier um keine antiquarische Kuriosität, keiner Zeit eine wirklich positive Haltung gegen- um keine sonderbare Altersschrulle eines großen über Juden und Judentum annahm, sondern dass Mannes, zu seinem 450. Geburtstag wiederer- 12 39/2015 epd-Dokumentation

zählt. Wie damals Martin Luther gegen die Juden streut.«39 Anklänge an die Legende vom »ewigen losbrach, so tönt es immer wieder aus dem deut- Juden« fehlen ebenso wenig wie die Rede von schen Volk seit 450 Jahren. Wir erleben im No- dämonischen Mächten und einer göttlichen Ver- vember 1933, daß zahlreiche bedeutende Vertre- werfung des jüdischen Volkes, aus der keine ter der protestantischen Kirche und Lehre sich Emanzipation retten könne. Polemik gegen die diese Stellung Luthers ausdrücklich zu eigen ma- »jüdisch-rabbinische Sittlichkeit« – mitsamt all chen, ihm Wort für Wort nachsprechen und seine den impliziten antisemitischen Vorwürfen – fin- Judenschriften eindringlich zitieren und empfeh- det sich bei Vogelsang ebenso wie die Rede von len.«35 dem im Glauben an die Erwählung Israels und an das Kommen des Messias wurzelnden »unheim- Es fällt auf, dass namhafte protestantische Theo- lich zähen Weltherrschaftsanspruch des Juden- logen in ihren Reden den Schwerpunkt zumeist tums«40 – und vieles mehr aus dem Arsenal des auf Luthers Spätschriften legten und dabei zwar theologischen wie des Rassenantisemitismus. der rassenpolitischen Vereinnahmung von Lu- Vermischt ist dies mit einer Inanspruchnahme thers Judenhass widersprachen, selbst jedoch Luthers für völkische Kategorien: Der Reformator völkischen Anklängen gegenüber nicht abgeneigt habe eine Abneigung gegen »alles Landfremde« waren. So sprach Heinrich Bornkamm in einem gehabt, viele seiner sozialen Anklagen gegen das Vortrag über »Volk und Rasse bei Martin Luther« Judentum hätten auch einen »völkischen Klang«, ausdrücklich von Luthers »instinktiver rassenmä- insofern sie sich gegen die »undeutsche Verschla- ßiger Abneigung gegen die Juden«. Er machte genheit und Lügenhaftigkeit« der Juden gerichtet zwar deutlich, dessen Vorwürfe gegen das Juden- hätten.41 Luthers eigentliche Stärke sei die »innere tum seien nicht aus dem Rassegegensatz erwach- Einigung und Durchformung von Deutschtum sen, betonte aber umso stärker den religiösen und Christentum« gewesen.42 Wie Vogelsang sich Gegensatz: »Sie (Luthers Anklagen) erklangen die »scharfe Barmherzigkeit« Luthers für die Ge- vielmehr wider ein Volk, das unausgesetzt Gott genwart vorstellte, ließ er, wie viele seiner protes- durch Unglauben und Lästerung beleidigte.« An tantischen Kollegen, die die politischen Konse- dem grundsätzlich religiösen Charakter von Lu- quenzen ihrer theologischen Argumentation staat- thers Judenfeindschaft könne kein Zweifel beste- lichem Handeln überließen, offen. Dass Vogel- hen; allerdings, so fügte Bornkamm hinzu, könne sang vor allem Luthers Vorstellungen von einer das »Verbrechen der Christuslästerung«, des Un- »reinlichen Scheidung von Juden und Christen« gehorsams gegen die Schrift und des »jüdischen hervorhob, spricht dafür, dass ihm eine Politik Raubes an Gottes Ehre« alleine Luthers Zorn nicht der Separation und der Aufhebung der Integration erweckt haben. Bestärkt worden sei seine Abnei- und Gleichberechtigung der deutschen Juden gung durch die wirtschaftliche Schädigung und vorschwebte.43 Dies aber ist kaum anders denn »Aussaugung Deutschlands« durch die Juden.36 als Legitimation der konkreten staatlichen Ent- rechtungspolitik der Nazis im ersten Jahr nach Exemplarisch sei an dieser Stelle die Position des ihrer Machtergreifung zu verstehen. In jedem Fall Königsberger Lutherforschers Erich Vogelsang distanzierte Vogelsang sich von Eduard Lampar- angeführt, die dieser 1933 in einer dem Evangeli- ters im Liberalismus wurzelnden Position: Lu- schen Reichsbischof Ludwig Müller gewidmeten thers praktische Lösung der »Judenfrage« heiße Schrift mit dem bezeichnenden Titel Luthers keineswegs »Verständigung« oder Angleichung Kampf gegen die Juden entfaltete. Statt den völki- oder freundliche Anerkenntnis, »daß [Zitat Lam- schen Lutherinterpreten zu widersprechen, redete parter] auch der jüdischen Religion neben der er von dem »heute volksnotwendigen Antisemi- christlichen ein göttliches Daseinsrecht, eine be- tismus«,37 erklärte sein Einverständnis mit dem sondere Gabe und Aufgabe im Geistesleben der sog. »Arierparagraphen« und versagte dem Juden- Menschheit (heute noch) verliehen ist«. Für die tum explizit jede Solidarität. Gegen eine Eineb- Kirche gelte vielmehr »Scheidung der Geister und nung des Gegensatzes von Judentum und Chris- entschiedener Abwehrkampf gegenüber der inne- tentum, die er der liberalen Theologie seit der ren Zersetzung durch jüdische Art, gegenüber Aufklärung vorwarf, prägte er ein, dass das jüdi- allem ‚Judaisieren‘ und ‚Judenzen‘«.44 sche Volksschicksal nur in den Kategorien »Fluch und Verblendung, Zorn und Gericht Gottes« zu Vogelsangs Position ist ein klassisches Beispiel verstehen sei.38 »Das ist der rätselhafte Fluch über für eine Form von Judenfeindschaft, die antijuda- dem jüdischen Volk seit Jahrhunderten«, so gab istische Kategorien mit ausgeprägter soziokultu- er Luthers Haltung wieder: »In Wahrheit eine reller Feindschaft gegen die jüdische Gemein- Selbstverfluchung. An Christus, dem Stein des schaft verband und sich gegenüber rassistischen Anstoßes, sind sie zerschellt, zermalmt, zer- Konzepten zumindest offen verhielt. 1933 und epd-Dokumentation 39/2015 13

darüber hinaus war dies ein sehr verbreitetes Judentum sei für Luther, weil es ständig »Christus Denkmodell. Das Judenbild, das auf diese Weise lästerte«, auf die Seite des Antichrist geraten. Verbreitung fand, war das eines – bedingt durch Luther habe aber gewusst, dass die Kirche, das seine Abkehr von Christus – dem Christentum »neue Israel« ständig selbst in Gefahr stünde, vollständig fremd und zugleich feindlich gegen- »Judentum« zu werden und Christus zu verleug- überstehenden Volkes, eines zumindest fremdar- nen. Judentum sei seinem Wesen nach »Anti- tigen, wenn nicht fremdrassigen Volkstums, des- christentum«: »Der Jude steht immer vor der Tür, sen angebliche »zersetzende« Kraft Deutschland auch wenn kein rassisch und politisch sichtbares bedrohte und nach Gegenmaßnahmen verlangte, Judentum mehr bestehen sollte. Und wer wollte was einer stillschweigenden Billigung der Ent- leugnen, daß wir heute in der Kirche nicht einen rechtungspolitik, jedenfalls der Preisgabe der solchen ‚antisemitischen’ Kampf zu fechten hät- jüdischen Gemeinschaft entsprach. Die »Unheils- ten?«45 Schroth wollte damit im Grunde etwas spuren« einer antisemitisch verschärften Theolo- Positives aussagen – nämlich dass Christen mit gie Luthers lassen sich hier in einem ganz kon- Juden in der Solidarität der Sünde und Abwen- kreten politischen Versagen gegenüber der Ju- dung von Christus verbunden seien, ja dass Lu- denpolitik der Nazis verfolgen. Dass lutherische thers »christlicher Antisemitismus« sich in der Kirchen und Theologen sich, abgesehen von der Gegenwart womöglich ebenso stark wie gegen die unmittelbaren Wirkung der Judenfeindschaft Juden gegen die Völkischen selbst richte: Ent- Luthers, auch von einer verhängnisvollen Deu- scheidet sich ein Volk gegen Christus, so wird es tung der lutherischen »Zweireichelehre« haben ein »jüdisches«, »mag es seiner Rasse und seinem leiten lassen, die dem Staat programmatisch das Volkstum nach sein, was es wolle, mag seine Recht zum politischen Handeln gegen die jüdi- Religion katholisch, evangelisch oder nicht- sche Gemeinschaft überließ und ihm nicht her- christlich organisiert sein. Und wenn ein Volk einreden wollte, ist in diesem Zusammenhang durch seinen tatsächlichen Entscheid gegen Chris- nur anzudeuten. Unter Berufung auf Luthers Un- tus ein Volk des Judentums geworden ist, teilt es terscheidung der beiden Regimente Gottes gaben das Schicksal des rassischen Judentums: Verwer- weite Kreise selbst der Bekennenden Kirche die fung durch Gott.«46 »Es siegt der Jude auch im Juden der »scharfen Barmherzigkeit« staatlichen Antisemitismus, wenn dieser die Frage gegen Handelns preis und beanspruchten allenfalls das Christus beantwortet« – deshalb ist es Aufgabe Recht zu einem anderen Handeln an den Juden- der Kirche, »allem Antichristentum oder völkisch- christen im Bereich der Kirche. Theologisch aber nationalem Christentum Widerstand zu leisten, so hatten sie der Diffamierung des Judentums nicht wie es Luther gegenüber den Juden tat«.47 Wie wirklich etwas entgegenzusetzen. gefährlich und kontraproduktiv dieser Gedanke eines »heilsgeschichtlichen Antisemitismus« Lu- Das wird, um eine letzte Stimme aus dieser Zeit thers war, nahm Schroth wohl damals nicht zu hören, aus einer Position mitten aus der Be- wahr, auch nicht, dass diese verzweifelt- kennenden Kirche deutlich. Hans Georg Schroth, verschlungene Argumentation, die im übrigen der Karl Barths »dialektischer Theologie« nahe- Luthers Haltung verharmloste und theologisch stand und nach 1945 zur Arbeitsgemeinschaft überhöhte, eine fatale judenfeindliche Denkstruk- »Juden und Christen« beim Deutschen Evangeli- tur fortschrieb, auch wenn sie diese gegen die schen Kirchentag gehörte, legte 1936 und 1937 Nazis richtete: Das Judentum wird zum ewigen zwei mutige Schriften über Luther und die Juden Symbol des »Antichrist« und des Teuflischen, bzw. über Luthers christlichen Antisemitismus alles Teuflische in seinen verschiedenen Formen heute vor. Mutig deshalb, weil Schroth darin ge- ist, so der Umkehrschluss, Judentum. Damit aber gen rassistische Vorbehalte die Berechtigung der wird das Judentum zur geistigen Gegenmacht »Judenmission« verteidigte, für das Recht eines gegen alles Gute, theologisch und ethisch Wahre. getauften Juden eintrat, als Pfarrer zu amtieren, Auf diesem Hintergrund überrascht es nicht, dass und sich intensiv mit der sog. »Ariergesetzge- auch Schroth kein einziges Wort der Solidarität bung« und dem völkischen Antisemitismus aus- mit Juden fand und dem Staat das Recht auf eine einandersetzte. Er wollte ein theologisches Wort judenfeindliche Rassenpolitik nicht bestritt, son- zur Gegenwart sagen und sich, wie er schrieb, auf dern sich streng auf die Verteidigung der Juden- Luthers »christlichen Antisemitismus« besinnen, christen beschränkte. Schroths Deutungsversuch der jedem unchristlichen Rassendenken wider- ist vor allem deshalb mehr als erhellend, weil er spreche. Luthers »christlicher Antisemitismus« sei unübersehbar macht, dass selbst mit den besten missionarisch ausgerichtet gewesen, habe Hoff- Absichten auf dem Boden der Theologie Luthers nung für das Heil der Juden, ziele aber auf die der Bestreitung der – theologischen wie politisch- theologische Widerlegung des Judentums. Das sozialen – Existenzberechtigung des Judentums 14 39/2015 epd-Dokumentation

nicht beizukommen war, im Gegenteil, dass sie von Jesus abgelehnte »Gesetzlichkeit« und Selbst- diese ständig neu inspirierte. rechtfertigung des Sünders, ihre einzige Zukunft liege in der Bekehrung. Dies aber sind Kernaspek- 3 te einer verhängnisvollen theologischen Juden- feindschaft, die zu keiner Zeit unpolitisch war. Selbst wenn die Antisemitismusforschung zu Sie konnte vielfach selbst dann noch zur bedroh- Recht mehrheitlich zu der Auffassung gelangt, lichen Infragestellung jüdischer Existenz und dass Luthers »Judenschriften« zunächst in ihrem Gleichberechtigung werden, wenn sie mit einer eigenen historischen Kontext zu interpretieren Zurückweisung antisemitischer Bestrebungen sind und jedenfalls nicht von einer unmittelbaren einherging. Auch auf dem Boden der Rezeption Kontinuität von Luthers Judenfeindschaft zum der frühen »Judenschriften« Luthers war die Her- modernen Antisemitismus und zum Völkermord ausbildung einer theologisch fundierten Tradition der Nazis auszugehen ist, wird eine protestan- der Toleranz und des Dialogs mit Juden, die 1933 tisch-theologische Perspektive nach der Shoah ein Resistenzpotential hätte darstellen können, nicht umhin können, sich ohne jegliche Apologe- faktisch undenkbar. Erst nach 1945 ist protestan- tik selbstkritisch mit den auf fatale Weise wirk- tischer Theologie in einem schmerzhaften Er- mächtigen theologisch-politischen Denkmustern kenntnisprozess deutlich geworden, dass auch auseinanderzusetzen, die wesentlich mit zum scheinbar politisch neutrale theologische Urteile Erbe Luthers und des deutschen Protestantismus in fataler Weise mentalitätsbildend wirkten und gehören. Die »Unheilsspuren« der »Judenschrif- dass es ausgeschlossen war, theologische Bilder ten« Luthers sind ebenso unbestreitbar wie er- von der Fremdheit und Minderwertigkeit des schreckend. Seine hasserfüllten Phantasien, Aus- Judentums zu tradieren und gleichzeitig antisemi- brüche und Handlungsanweisungen wurden von tischer Verleumdung wirkungsvoll und solida- Antisemiten unterschiedlicher Prägung als Zeug- risch entgegenzutreten. nis einer Figur von hoher Autorität für die deutsch-protestantische Kultur rezipiert und in Eduard Lamparters Versuch, von Luthers Schrift den Dienst der Dämonisierung des zeitgenössi- von 1523 her eine Tradition der theologischen schen Judentums gestellt. Selbstverständlich gilt Achtung des Judentums zu begründen, blieb eine es festzuhalten, dass darin nicht nur der Schatten marginale Erscheinung und beruhte ebenso auf des Reformators sichtbar wird, sondern dass es einer Idealisierung wie viele jüdische Lutherdeu- insgesamt um die Wirkungsgeschichte einer jahr- tungen dieser Zeit. Es wäre übrigens verfehlt, die hundertelangen antijüdischen Tradition geht, die Faszination, die ein solches idealisiertes Luther- im deutschen Nationalismus eine verhängnisvolle bild auf jüdische Intellektuelle ausübte, gleichsam Verbindung mit rassistischen Elementen einge- als historisch gültiges jüdisches Zeugnis für einen gangen war. Die spezifische Wirkung der lutheri- von Judenfeindschaft unbefleckten Kern des theo- schen Judenfeindschaft wird man aber darin er- logischen Denkens des jungen Martin Luther blicken müssen, dass Luthers Option für die verstehen zu wollen. Gerade die in der jüdischen »scharfe Barmherzigkeit« mit ihren Bildern von Forschung vor 1933 dominierende scharfe Tren- Vertreibung und Synagogenverbrennung spätes- nung zwischen dem »aufgeklärten« und dem ins tens 1933 ausgesprochen aktuelle Handlungskon- Mittelalter zurückgefallenen Luther, die den anti- zepte für eine Verfolgung und Entrechtung der semitischen Interpreten der Reformation einen jüdischen Gemeinschaft bereitstellte, die von Spiegel vorhalten wollte, neigte dazu, die antijü- antisemitischer Seite dankbar aufgegriffen wur- dischen Kontinuitätslinien im Denken Luthers zu den. übermalen. Dass sich die verhängnisvolle Wir- kungsgeschichte der politischen Dimension seiner Weitaus subtiler sind die »Unheilsspuren« des »Judenschriften« im 20. Jahrhundert nicht einfach frühen Luther, denn sie scheinen selbst dort noch von seiner theologischen »Lehre der Verachtung« wirksam, wo Luthers Schriften aufgegriffen wur- (Jules Isaac) ablösen lässt, ist allerdings erst nach den, um dem Antisemitismus entgegenzuwirken 1933 in aller Dramatik deutlich geworden. Der oder ihn zu begrenzen. Dabei wurden zwar unzweifelhaften geschichtlichen Würde dieses Luthers Judenfeindschaft, nicht aber die Prämis- jüdischen Projekts, Luther besser zu verstehen als sen seiner Schrift Daß Jesus ein geborener Jude seine judenfeindlichen Interpreten, kann protes- sei, d.h. Luthers theologisches Judentumsbild, tantische Theologie heute am ehesten gerecht einer Kritik unterzogen. Denn auch diese Schrift werden, indem sie sich differenziert und ohne beruhte ja auf der Überzeugung, Israel sei »ver- Apologetik den dunklen Seiten ihrer Geschichte worfen«, Juden verstünden schuldhaft ihre eigene stellt. Bibel nicht, ihre Torafrömmigkeit verkörpere die epd-Dokumentation 39/2015 15

Die Frage, ob sich eine Tradition des christlich- in deren dunklen unterirdischen Gewölben es jüdisch Dialogs nur gegen oder auch mit den eine Schatzkammer gibt, in der das Gold glim- theologischen Denkmustern Luthers begründen mert, aber auch die Folterkammer mit den Gerä- ließe, ist – auch mit Blick auf das Reformations- ten des Pogroms und der Vernichtung – dort jubiläum 2017 – mehr als nur eine Herausforde- wurden Juden zu dunklen, verhassten Gegenfigu- rung. Ich stimme an dieser Stelle ausdrücklich ren seiner Glaubensüberzeugung. Friedlander Thomas Kaufmanns Urteil zu, der Reformator bittet nun Luther in einem fiktiven Gespräch, stelle in seiner ganzen Zeitgebundenheit und diese Folterkammer zu verschließen und mit ihm Gebrochenheit keine Leitfigur dar, die Orientie- nach oben in die Schatzkammer zu gehen – in rung für einen Dialog oder die Grundlage für eine seine Bibliothek, wo die Bibel steht und wo es ein ernsthafte Neuorientierung christlichen Redens Gespräch geben könnte, in dem beide Gesprächs- vom Judentum und eine Überwindung antijüdi- partner in wechselseitiger Achtung ihr Selbstver- scher Denkmuster bieten könne. Erst ein radikaler ständnis zur Sprache bringen dürfen.49 Das wäre Bruch mit dem christlichen Anspruch auf Abso- ein Bild, das einen Weg unter verschiedenen lutheit und die allein wahre Auslegung der Bibel möglichen zu einem kritischen Umgang mit Lu- sowie mit überkommenen Judentumsbildern thers Erbe andeutend beschreibt: um die Folter- kann neue Wege eröffnen. Damit ist nicht allein kammer in der Burg der protestantischen Traditi- Luthers Erbe, sondern christliche Theologie über- on zu wissen, sie zu verlassen, zu verschließen haupt in ihrem Innersten herausgefordert. Kann und sich dem Ort zuzuwenden, an dem ein offe- diese mit Luther oder doch nicht eben nur gegen ner Dialog auf der Grundlage der gemeinsamen Luther die »Ent-Antijudaisierung« christlichen Leidenschaft für das Buch möglich ist, der das Denkens versuchen? Lässt sich mit Luther eine Christentum – ungeachtet der trennenden Deu- Theologie denken, die befähigt, das Judentum tungstraditionen – an das ihm eingeschriebene buchstäblich theologisch wahrzunehmen, es in Jüdische bindet und ohne dass es seine Substanz seiner vom christlichen Selbstverständnis diffe- preisgäbe. renten Wahrheit anzuerkennen? Lässt sich mit Luther eine Gesprächssituation schaffen, in der beide Traditionen das Recht besitzen, ihre Identi- tät zu bewahren und, ohne die Gegensätze zu Anmerkungen: verschweigen, zur Sprache zu bringen? Ist mit 1 Eine ausführlichere Fassung dieser Überlegungen findet sich in Luther eine bewusste Anerkennung der zweifa- meinem Aufsatz »‚Unheilsspuren‘. Zur Rezeption von Martin chen Nachgeschichte der Hebräischen Bibel und Luthers ‚Judenschriften‘ im Kontext antisemitischen Denkens in der Legitimität der von der christlichen abwei- den Jahrzehnten vor der Shoah«, in: Peter von der Osten Sacken chenden jüdischen Auslegung denkbar? Ich ver- (Hg.), Das mißbrauchte Evangelium. Studien zu Theologie und weise auf Nikolaus Schneider, der in einem Arti- Praxis der Thüringer Deutschen Christen (Studien zu Kirche und kel zum Reformationsjubiläum 2017 vier wichtige Israel 19) Berlin 2001, S. 91-135. Konkretionen des Umgangs mit Luthers Juden- feindschaft im Licht des christlich-jüdischen Dia- 2 Karl Jaspers, »Die nichtchristlichen Religionen und das Abend- logs aufgezeigt hat: 1) Zurückweisung der Juden- land«, in: ders., Philosophie und Welt. Reden und Aufsätze, 2. feindschaft Luthers als dem Wort Gottes wider- Aufl., München 1963, S. 156-166, hier S. 162. sprechende Haltung; 2) sorgsame hermeneutische Reflexion über das Verhältnis von Hebräischer 3 Daniel J. Goldhagen, Hitlers willige Vollstrecker. Ganz gewöhnli- Bibel und Neuem Testament sowie über die Be- che Deutsche und der Holocaust, Berlin 1996, S. 142 (mit Blick deutung der jüdischen Bibelauslegung für Chris- auf Luther). tinnen und Christen; 3) Distanzierung von Lu- 4 thers Bibelauslegung in seinen »Judenschriften« Friedländer, Saul, Das Dritte Reich und die Juden, Bd. 1: Die vom reformatorischen Schriftverständnis aus; 4) Jahre der Verfolgung 1933-1939, München 1998, S. 97. Anerkennung der Hebräischen Bibel als schlecht- 5 Ebd., S. 98. hin unaufgebbare Quelle reformatorischer Schrif- 48 terkenntnis. 6 Heiko A. Oberman, Wurzeln des Antisemitismus. Christenangst und Judenplage im Zeitalter von Humanismus und Reformation, Rabbiner Albert Friedlander hat 1983 in einem Berlin 1981, S. 125. sehr persönlichen Aufsatz über »Martin Luther und wir Juden« ein Bild entworfen, das immerhin 7 Thomas Kaufmann, Luthers Juden, Ditzingen 2014. an der Möglichkeit festhält, Luther mit in dieses 8 Gespräch hineinzuziehen, gegen seine eigenen Vgl. Karl Barth, Einführung in die evangelische Theologie, Zürich Intentionen. Es zeigt Luther in einer festen Burg, 1962, S. 156f.: »Ist es nicht erschütternd, zu sehen, wie selbst die größten und anerkanntesten Theologen, auch Luther, Zwingli, 16 39/2015 epd-Dokumentation

Calvin […], neben ihren positiven Ein- und Auswirkungen alle auch 30 Ebd., S. 15. wahre Unheilsspuren hinter sich gelassen haben? Wo wäre die 31 Theologie sicher davor, indem sie die Schrift auslegt, Fremdes, Ebd., S. 17. ja Gegenteiliges in sie hinein zu legen – indem sie das Eine 32 Ebd. erkennt, das Andere um so gründlicher zu verkennen […]?« 33 Ebd., S. 59f. 9 Ernst Schaeffer, Luther und die Juden (Christentum und Juden- tum. Zwanglose Hefte zur Einführung der Christen in das Ver- 34 Samuel Krauss, »Luther und die Juden«, in: Der Jude 2 ständnis ihrer wechselseitigen Beziehungen, Serie V: Geschichte (1917/18), S. 544-547. Zu den jüdischen Stimmen vgl. meinen der Judenmission), Gütersloh 1917, S. 62. Essay zu den jüdischen Lutherlektüren des 19. Jahrhunderts im vorliegenden Heft. 10 Theodor Fritsch, Handbuch der Judenfrage. Eine Zusammen- stellung des wichtigsten Materials zur Beurteilung des jüdischen 35 Ludwig Feuchtwanger, »Luthers Kampf gegen die Juden«, in: 26 Volkes, Hamburg 1907, S. 415f. Bayerisch-Israelitische Gemeindezeitung 9 (1933), Nr. 23, S. 371ff, hier S. 371. 11 Theodor Fritsch, Der falsche Gott. Beweismaterial gegen 10 Jahwe, Leipzig 1933, S. 192. 36 Alle Zitate aus Heinrich Bornkamm, »Volk und Rasse bei Martin Luther«, in: Bornkamm, Volk – Staat – Kirche. Ein Lehrgang der 12 Ebd., S. 189. Theolog. Fakultät Gießen, Gießen 1933, S. 5-19. 13 Ebd., S. 190f. 37 Erich Vogelsang, Luthers Kampf gegen die Juden, Tübingen 14 Mathilde Ludendorff, Der ungesühnte Frevel an Luther, Lessing, 1933, S. 6. Mozart und Schiller. Ein Beitrag zur Deutschen Kulturgeschichte, 38 Ebd., S. 18. München 1928, S. 11. 39 Ebd., S. 10. 15 Martin Sasse, Martin Luther über die Juden: Weg mit ihnen!, Freiburg 1938, S. 2. 40 Ebd., S. 14.

16 Alfred Falb, Luther und die Juden, München 1921, S. 4 und 8. 41 Ebd., S. 31. Dem Judentum solle keine rassische Verachtung entgegengebracht werden, aber: »Menschen und Völker und 17 Ebd., S. 11. Rassen sind nicht, wie der Rationalismus der Philosemiten meint, 18 Ebd., S. 24. alle gleich wertvoll, gleich an Adel, an Klugheit, an Bejahung, an Kraft« (ebd., S. 12). 19 Ebd., S. 30. 42 Ebd., S. 32. 20 Ebd., S. 47. 43 Ebd., S. 23. 21 Ebd., S. 53. 44 Ebd., S. 25. 22 Ebd., S. 59. 45 Georg Schroth, Luthers christlicher Antisemitismus heute, 23 Ebd., S. 53. Witten/Ruhr 1937, S. 20.

24 Wilhelm Walther, Luther und die Juden, Leipzig 1921, S. 6. 46 Ebd., S. 22.

25 Ebd., S. 9. 47 Ebd., S. 22f.

26 Ebd.. 48 Nikolaus Schneider, »Das Reformationsjubiläum im Licht des erneuerten jüdisch-christlichen Verhältnisses«, in: BlickPunkt.E: 27 Ebd., S. 37. Materialien zu Christentum, Judentum, Israel und Nahost. Son- derausgabe Juli 2014, S. 70-74. 28 Ebd., S. 39. 49 Albert H. Friedlander, »Martin Luther und wir Juden«, in: Heinz 29 Eduard Lamparter, Evangelische Kirche und Judentum. Ein Kremers et al. (Hg.), Die Juden und Martin Luther. Martin Luther Beitrag zum christlichen Verständnis von Judentum und Antisemi- und die Juden. Geschichte – Wirkungsgeschichte – Herausforde- tismus, Stuttgart 1928, S. 5. rung, Neukirchen-Vluyn 21987, S. 289-300, bes. S. 297.

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Martin Luther – Judenfreund oder Antisemit? Von Prof. Dr. Andreas Pangritz, Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn

Reformator, Ketzer, Judenfeind. Jüdische Erst in einem zweiten Schritt widmet sich Luther Perspektiven auf Martin Luther. Tagung der dem leiblichen Menschen, von dem gilt, dass er Evangelischen Akademie zu Berlin und des »ein dienstbarer Knecht und jedermann untertan« Zentralrats der Juden in Deutschland, Berlin ist. »Da heben sich nun die Werke an«, die darin 10.-12.6.2015 bestehen, dass der äußere Mensch dem inneren »gleichförmig« werden soll, wie der »innerliche 1. Von der Freiheit eines Christenmenschen Mensch […] mit Gott eines« geworden ist.6 Ent- scheidend ist hier, dass die Werke nicht dazu Martin Luther hat sich den evangelischen Chris- getan werden, um »fromm und gerecht vor Gott« ten als ein Vorkämpfer der Freiheit eingeprägt. zu werden, sondern, wie Luther formuliert, »aus Die Schrift »Von der Freiheit eines Christenmen- freier Liebe umsonst Gott zu Gefallen«7 und »dem schen« (veröffentlicht Ende Oktober / Anfang Nächsten zugute«.8 So »fließet aus dem Glauben November 1520) beginnt mit einer konfliktträch- die Liebe und Lust zu Gott, und aus der Liebe ein tigen Doppelthese: »Ein Christenmensch ist ein freiwillig, fröhlich Leben, dem Nächsten zu die- freier Herr aller Ding und niemandem untertan.« nen umsonst. […] Wie uns Gott hat durch Chris- Und: »Ein Christenmensch ist ein dienstbarer tus umsonst geholfen, also sollen wir durch den Knecht aller Ding und jedermann untertan.«1 Wie Leib und seine Werke nichts anderes [tun] als passt beides zusammen? dem Nächsten helfen.«9

Luther legt ein Menschenbild zugrunde, wonach So weit dürfte dies zumindest evangelischen ein Christenmensch »von zweierlei Natur« sei, Christen vertraut sein, handelt es sich doch um einerseits »geistlich«, andererseits »leiblich«. Die eine klassische Formulierung dessen, was man evangelische Freiheit ist primär eine geistliche die Rechtfertigungslehre als Zentraldogma refor- Freiheit; sie meint nicht den leiblichen Menschen matorischer Theologie genannt hat. Doch was als gesellschaftliches Wesen, sondern zunächst bedeutet dies, wenn der Nächste kein Christ, nur den geistlichen Menschen, den Luther auch sondern ein Jude ist? »neu« und »innerlich« nennen kann, während der leibliche oder »alte und äußerliche« Mensch da- 2. »Von den Juden und ihren Lügen« von zunächst unbetroffen ist.2 Frei wird die Seele allein durch »das heilige Evangelium, das Wort Luthers aggressiv judenfeindliche Spätschriften Gottes, von Christus gepredigt«.3 sind berüchtigt. In »Von den Juden und ihren Lügen« (1543) wirft er den Juden in einer äußerst Inhalt dieses Evangeliums ist die Botschaft von unflätigen Sprache vor, die Bibel falsch, nämlich der Rechtfertigung des Sünders allein durch »gesetzlich«, zu verstehen: »Pfu euch hie, pfu Glauben ohne Werke des Gesetzes oder mit Lu- euch dort, und wo ihr seid, ihr verdammten Ju- thers Worten: »daß du hörest deinen Gott zu dir den, daß ihr die ernste, herrliche, tröstliche Wort reden, wie all dein Leben und Werke nichts seien Gottes so schändlich auf euern sterblichen, madi- vor Gott. […] So du solches recht glaubst […], so gen Geizwanst [zu] ziehen düret [= wagt] und musst du an dir selbst verzweifeln […].« Aus schämet euch nicht, euern Geiz so gröblich an dieser Verzweiflung befreit Gott den Einzelnen, den Tag zu geben! Seid ihr doch nicht wert, daß indem er ihm »seinen lieben Sohn Jesus Christus« ihr die Biblia von außen sollet ansehen, vorsetzt und ihm durch ihn sagen lässt: »Du sollst [ge]schweige daß ihr drinnen lesen sollet! Ihr dich mit festem Glauben ergeben und frisch auf solltet allein die Biblia lesen, die der Sau unter ihn vertrauen.« Und um dieses Glaubens willen dem Schwanz stehet, und die Buchstaben, die sollen ihm alle seine Sünden vergeben sein.4 »Al- daselbs heraus fallen, fressen und saufen …«10 Die so sehen wir, dass an dem Glauben ein Christen- Stelle ist interessant, nicht zuletzt wegen der von mensch genug hat; er bedarf keines Werkes, dass Luther aufgerufenen Assoziation zwischen Juden er fromm sei. Bedarf er […] keines Werkes mehr, und Schweinen. Tatsächlich war und ist die so ist er gewißlich entbunden von allen Geboten Stadtkirche zu Wittenberg mit einer sog. »Juden- und Gesetzen; ist er entbunden, so ist er gewiß- sau« dekoriert, einem antisemitischen Symbol, lich frei.«5 das im mittelalterlichen Deutschland verbreitet war.11 Luther deutet es auf den jüdischen Umgang mit dem Talmud.12 18 39/2015 epd-Dokumentation

Theologisch wirft der Wittenberger Reformator Schweiß der Nasen«.19 Mehr noch: »dass man den Juden u. a. ihren angeblichen Hochmut bzw. ihnen verbiete, bei uns … öffentlich Gott zu lo- ihre Selbstgerechtigkeit vor, die sie glauben ma- ben, zu danken, zu beten, zu lehren«, »dass che, dass gute Werke vor Gott helfen könnten. ihnen verboten werde, den Namen Gottes vor Darin eingeschlossen ist der Vorwurf, die jüdi- unsern Ohren zu nennen«.20 Kurz: »Sollen wir der sche Messiaserwartung laufe aufgrund ihrer poli- Juden Lästerung rein bleiben und nicht teilhaftig tischen Aspekte auf einen Glauben auf Selbsterlö- werden, so müssen wir geschieden sein und sie sung bzw. Selbstbefreiung hinaus. Dabei führt aus unserm Lande vertrieben werden.«21 Ja, wir Luther neben biblischen Bezügen auch ge- müssen sie »wie die tollen Hunde ausjagen«.22 schichtstheologische Argumente an: Er konfron- tiert Jesus Christus, den »wahren« Messias, der Am 14. Februar 1546, wenige Tage vor seinem angeblich von den Juden gekreuzigt worden ist, Tod, brach Luther seine letzte Predigt in Eisleben mit dem »falschen« Messias Bar Kochba, dem vorzeitig ab, um nur noch eine »Vermahnung Aufständischen; der »schlachtete sehr viele Chris- wider die Juden« zu verlesen. Diese Kanzelab- ten, die unsern Messias Jesus Christus nicht ver- kündigung, die durch die Umstände ihrer Verle- leugnen wollten«, bis er und sein Prophet sung testamentarischen Charakter erhielt, endet Akiba von den Römern getötet wurden.13 Diese mit den Worten: »Wollen sich die Juden zu uns Katastrophe hätte die Juden eigentlich demütigen bekehren und von ihrer Lästerung und, was sie müssen, wären sie nicht blind in ihrer Versto- sonst getan haben, ablassen, so wollen wir es ckung. Sie hätten anerkennen müssen, dass ihr ihnen gerne vergeben: wo aber nicht, so wollen politischer Messianismus gescheitert war und wir sie auch bei uns nicht dulden noch leiden.«23 dass Jesus der wahre, geistliche Messias ist.14 Wie konnte es zu dieser Katastrophe der Theolo- Die Tatsache, dass die Juden Jesus nicht als ein- gie Luthers kommen? Kann es angesichts solcher geborenen Sohn Gottes anerkennen wollen, wird Äußerungen überraschen, wenn der Philosoph von Luther als Blasphemie wahrgenommen: Karl Jaspers knapp formuliert: »Was Hitler getan, »Weil sie aber uns verfluchen, so verfluchen sie hat Luther geraten, mit Ausnahme der direkten unsern HErrn auch; verfluchen sie unsern HErrn, Tötung durch Gaskammern«?24 so verfluchen sie auch Gott den Vater, Schöpfer Himmels und der Erden.« So stellt er fest: »Wer 3. Antisemitismus bei Luther? uns in diesem Artikel abgöttisch verleumdet und lästert, der verleumdet und lästert Christus, das Man muss sich klarmachen, dass Luthers Rat- ist: Gott selbst, als einen Abgott.«15 Das ist der schläge an die Obrigkeit im 20. Jahrhundert von Grund, warum Christen sich nicht länger duldsam den Nazis problemlos als Begründung für ihren gegenüber den Juden verhalten dürfen, wollen sie »Erlösungsantisemitismus« – Erlösung durch Ver- nicht »fremder Sünde teilhaftig« werden.16 Tole- nichtung der Juden – in Anspruch genommen ranz gegenüber den Juden würde eine Lästerung werden konnten. So schrieb der deutsch- Gottes bedeuten, während die Verehrung des christliche Landesbischof von Thüringen, Martin Sohnes Verfolgung seiner Feinde, der Juden, ein- Sasse, in der Einleitung zu seiner Edition von schließen muss. Luthers »Judenschriften«, die 1938 unter dem programmatischen Titel Martin Luther über die In dieser Theologie sind die schrecklichen prakti- Juden: Weg mit ihnen! erschien: »Am 10. No- schen Ratschläge Luthers begründet, die er als vember 1938, an Luthers Geburtstag, brennen in »scharfe Barmherzigkeit« ausgibt,17 in seiner Deutschland die Synagogen.« Dies war nicht etwa Theologie begründet: »dass man ihre Synagogen selbstkritisch, sondern als stolzer Ausdruck des oder Schulen mit Feuer anstecke«, »dass man Triumphes des Luthertums im Nazistaat gemeint: auch ihre Häuser desgleichen zerbreche und zer- »In dieser Stunde«, so betont Sasse, »muß die störe«, »dass man ihnen nehme alle Gebetbücher Stimme des Mannes gehört werden, der als der und Talmudisten«, »dass man ihren Rabbinern Deutschen Prophet im 16. Jahrhundert aus Un- bei Leib und Leben verbiete, hinfort zu lehren«,18 kenntnis einst als Freund der Juden begann, der, »dass man den Juden das Geleit und Straße ganz getrieben von seinem Gewissen, getrieben von und gar aufhebe«, »dass man ihnen den Wucher den Erfahrungen und der Wirklichkeit, der größte verbiete und nehme ihnen alle Barschaft und Antisemit seiner Zeit geworden ist, der Warner Kleinode an Silber und Gold«, »dass man den seines Volkes wider die Juden.«25 jungen und starken Juden und Jüdinnen in die Hand gebe Flegel, Axt, Karst, Spaten, Rocken, Berüchtigt ist auch die Äußerung von Julius Strei- Spindel und lasse sie ihr Brot verdienen im cher, Herausgeber des nationalsozialistischen epd-Dokumentation 39/2015 19

Hetzblattes Der Stürmer, im Prozess gegen die gewesen sei. Verwiesen werden könnte in diesem Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Zusammenhang an die Behauptung der »Toledot Militärgerichtshof Nürnberg am 29. 4. 1946: »An- Jeschu«, wonach Jesus ein Hurenkind sei – eine tisemitische Presseerzeugnisse gab es in Deutsch- Behauptung über die Luther sich in der Schrift land durch Jahrhunderte. So wurde bei mir zum »Vom Schem Hamphorasch« (1543) empört.30 Beispiel ein Buch beschlagnahmt von Dr. Martin Dabei bleibt die ungleiche Machtverteilung unbe- Luther.« Streicher meint hier Luthers Schrift »Von rücksichtigt, die es nur den Christen erlaubte, den Juden und ihren Lügen«; und er fährt fort: ihre Feindseligkeit gegenüber den Juden auch zu »Dr. Martin Luther säße heute sicher an meiner exekutieren. Stelle auf der Anklagebank, wenn dieses Buch von der Anklagevertretung in Betracht gezogen Gerne wird auch versucht, das Problem des Anti- würde.«26 semitismus ökonomisch zu »erklären«: Der Ju- denhass habe mit der Beteiligung von Juden am Im Allgemeinen werden solche Äußerungen heute Zinsgeschäft zu tun. Ungelöst bleibt hier das Rät- als Missbrauch Luthers abgetan. Léon Poliakov sel, »warum die Fugger zwar verflucht, die Juden jedoch, der jüdische Pionier der Antisemitismus- aber verjagt wurden«.31 All diese apologetischen forschung, hat sich durch solche Erklärungen Strategien laufen auf eine Verharmlosung des von nicht beruhigen lassen. So schreibt er in seiner Poliakov benannten Problems hinaus. Geschichte des Antisemitismus: »Im Antisemitis- mus« habe »das religiöse Motiv, die Rechtferti- Mit zwei dieser Strategien will ich mich ausdrück- gung durch den Glauben, eine Ablehnung der lich auseinandersetzen: zunächst mit der biogra- Werke nach sich [gezogen], jener Werke, die phischen Unterscheidung zwischen dem angeb- unzweifelhaft jüdischer Prägung sind«. Und daran lich judenfreundlichen jungen Luther und dem schließt er die beunruhigende Frage: »Muß viel- verbitterten, alten Luther; dann mit der theologi- leicht ein wirklicher Christ, der seinen Gott in der schen Unterscheidung zwischen einem eigentli- Weise eines Martin Luther anbetet, nicht schließ- chen, reformatorischen Luther und einem unei- lich unvermeidlich die Juden aus ganzer Seele gentlichen, politischen Luther. verabscheuen und sie mit allen Kräften bekämp- fen?«27 5. Judenfreundlichkeit beim frühen Luther?

Hat Poliakov hier Luther missverstanden? Oder Gern wird psychologisierend darauf hingewiesen, deutet seine Frage auf ein Problem evangelischer dass die schlimmsten Ausfälle Luthers gegen die Theologie hin? Juden aus seinen letzten Lebensjahren stammen, so dass man zwischen einem judenfreundlichen 4. Apologetische Strategien frühen Luther und dem alten, verbitterten Juden- feind unterscheiden müsse. Man verweist dann Bis heute wird auf jede erdenkliche Weise ver- gerne auf die Schrift »Daß Jesus Christus ein ge- sucht, Luther von dem Verdacht freizusprechen, borener Jude sei« aus dem Jahr 1523, die als »ju- er habe dem modernen Antisemitismus vorgear- denfreundlich« bezeichnet wird. Dazu ist zu- beitet. Verbreitet ist der Versuch, seine Haltung nächst zu bemerken, dass Luther zum Zeitpunkt historisch zu relativieren, indem man sie in den der Veröffentlichung der Schrift nicht mehr gera- Kontext der unter seinen Zeitgenossen weit ver- de jung war. Es handelt sich um keine Früh- breiteten Judenfeindschaft einordnet. Aber wer- schrift; sie ist offenbar eine Folge des reformatori- den Luthers schlimme Äußerungen denn weniger schen Aufbruchs. schlimm, wenn man erfährt, dass etwa auch sein altgläubiger Gegner Johannes Eck ein erbitterter Will man die Haltung des jungen Luther gegen- Judenfeind war?28 Übersehen wird dabei, dass es über den Juden analysieren, dann muss man auf auch im 16. Jahrhundert schon Beobachter gab, seine frühen Vorlesungen über die Psalmen und die sich mit Luthers Haltung kritisch auseinan- über den Römerbrief zurückgreifen und andere dersetzten. Es gab zeitgenössische Kritiker wie Dokumente seiner vorreformatorischen Phase etwa den Züricher Reformator Heinrich Bullinger, berücksichtigen. Ich will hier nur ein bezeich- der sich von Luthers antijüdischen Pamphleten nendes Beispiel nennen: So ergreift er im Februar angewidert zeigte und sie als »schweinisch, kotig« 1514 im Streit zwischen dem Humanisten Johan- bezeichnete.29 nes Reuchlin mit Pfefferkorn und den Kölner Dominikanern um die Forderung der Konfiszie- Beliebt ist auch der Hinweis darauf, dass die Po- rung des Talmud und der rabbinischen Schriften lemik zwischen Juden und Christen gegenseitig die Partei Reuchlins und spricht sich für Toleranz 20 39/2015 epd-Dokumentation

aus. Seine Begründung klingt jedoch zumindest diesmal lassen bleiben, bis ich sehe, was ich ge- zweideutig: Eine Besserung der Juden sei ohnehin wirkt habe.«36 aussichtslos; nur Gott selbst könne ihre innere Bekehrung bewirken und ihren Lästerungen ein Der jüdische Lutherforscher Reinhold Lewin, der Ende bereiten. Bis dahin werde durch die jüdi- mit seiner Dissertation Luthers Stellung zu den schen Schmähungen Christi nur die prophetische Juden im Jahr 1911 die kritische Erforschung Weissagung über dieses Volk erfüllt. Menschen unseres Themas eröffnet hat, kommt im Blick auf sollen aber dem Handeln Gottes nicht vorgreifen. diese Schrift Luthers zu dem ernüchternden Ge- Paradoxerweise erscheint hier die antijudaistische samturteil: »Ihn interessieren die Juden bloß als Theologie als Voraussetzung für die Tolerierung Bekehrungsobjekt.«37 Angesichts dieser Beobach- des rabbinischen Schrifttums.32 Es darf also nicht tung muss die Schrift wohl eher als die keines- überraschen, dass Luthers frühe Vorlesungen wegs judenfreundliche, wohl aber judenmissiona- über die Psalmen und über den Römerbrief voll rische Ausnahme in Luthers theologischer Ent- von theologischer Polemik gegen die Juden sind, wicklung gelten. Tatsächlich verhärtete sich Lu- die den überlieferten Antijudaismus der mittelal- thers Haltung gegenüber den Juden schon bald. terlichen Theologie reproduziert und hier und da Letztlich hat sich die antijudaistische Theologie zuspitzt. seiner Frühzeit durchgesetzt, wobei das Paradox der daraus folgenden praktischen Toleranz auf Die Veröffentlichung der Schrift »Daß Jesus Chris- Dauer nicht durchzuhalten war. Vielmehr zog der tus ein geborener Jude sei« im Jahr 1523 hat dann theologische Antijudaismus je länger je mehr die tatsächlich gewisse Hoffnungen unter Juden aus- Forderung nach Verfolgung der Juden nach sich. gelöst: Luthers Zusammenstoß mit dem römi- schen Katholizismus wurde als Bruch innerhalb Es scheint, dass insbesondere die Erfahrung des der monolithischen Macht der Kirche begrüßt.33 Bauernkriegs von 1525 und die Belagerung Wiens Und tatsächlich unterscheidet sich diese Schrift durch die Türken von 1529 geradezu apokalypti- von Luthers sonstigen Judenschriften durch ihren sche Ängste bei dem Wittenberger Reformator freundlich einladenden Ton. ausgelöst haben. Hinzu mag die unglückliche Begegnung mit drei jüdischen Besuchern gekom- In der Einleitung legt Luther dar, dass es der pri- men sein, die nach kontroverser Diskussion über märe Zweck der Abhandlung sei, seinen Kritikern die Jungfrauengeburt ein Empfehlungsschreiben seine Rechtgläubigkeit zu beweisen, indem er verschmäht hatten, in dem der Name Christi ge- »aus der Schrift« die Gründe »erzählen« will, die nannt war. Schon in den »Vier tröstlichen Psal- ihn »bewegen zu glauben, daß Christus ein Jude men« an die Königin von Ungarn aus dem Jahr sei, von einer Jungfrau geboren«.34 Daneben er- 1526 findet sich scharfe antijüdische Polemik.38 hofft er sich eine positive Nebenwirkung auch bei Und im Jahr 1537 wies Luther Josel von Rosheim den Juden, nämlich, »ob ich vielleicht auch der im Elsass, den Sprecher der deutschen Judenheit Juden etliche möchte zum Christenglauben rei- vor Kaiser und Reich, zurück. Dieser hatte sich, zen«.35 Der Hauptteil besteht jedoch aus zwei ermutigt durch den Straßburger Reformator Capi- ausführlichen antijüdischen Polemiken, in denen to, mit der Bitte an Luther gewandt, sich beim Luther zunächst Schriftbeweise für die christliche sächsischen Kurfürsten, der ein Ausweisungsedikt Lehre von der Jungfrauengeburt Jesu Christi aus- gegen die Juden erlassen hatte, für eine Durchrei- breitet, um danach die jüdische Messiaserwar- seerlaubnis zu verwenden. Luther antwortete, tung aus der Schrift zu widerlegen. Zuletzt sein Herz sei nach wie vor für freundliche Be- kommt Luther auf seine Hoffnung für die Juden handlung der Juden, aber nur, um sie zu ihrem zurück: »Darum wäre meine Bitte und Rat, daß Messias zu bringen, nicht um sie in ihrem Irrtum man säuberlich mit ihnen umginge und aus der zu bestärken. Josel möge sich mit seinem Anlie- Schrift sie unterrichtete, so möchten ihrer etliche gen an andere wenden.39 Von da an wollte Josel herbei kommen. Aber nun wir sie nur mit Gewalt von Luther nur noch als »Lo-Tahor« (= der Un- treiben […], daß man sie gleich für Hunde hält, reine) reden. Und im Jahr 1543 gelang es ihm, was sollten wir Gutes an ihnen schaffen? […] beim Rat der Stadt Straßburg ein Verbot durchzu- Will man ihnen helfen, so muß man nicht des setzen, Luthers Schrift »Von den Juden und ihren Papstes, sondern christlicher Liebe Gesetz an Lügen« nachzudrucken. ihnen üben und sie freundlich annehmen.« In Kenntnis von Luthers weiterer theologischer Ent- Wie kam es von der reformatorischen Theologie wicklung klingen die abschließenden Worte je- zur Judenfeindschaft? doch fast wie eine Drohung: »Hier will ich‘s epd-Dokumentation 39/2015 21

6. »Tiefste theologische Einsichten« des alten Damit soll offenbar genug gesagt sein. Die luthe- Luther? risch-paulinische Unterscheidung von Gesetz und Evangelium, die Lehre vom »Ende des Gesetzes« Das beunruhigendste Problem wird mit der Frage aufgrund des Sieges des Evangeliums von Chris- aufgeworfen, inwiefern Luthers Judenfeindschaft tus, dient hier als Vorwand für die Beschönigung in seinen theologischen Grundüberzeugungen jeglicher praktisch-rechtlichen Unbarmherzigkeit verankert ist. Man hat versucht, den Reformator als »scharfe Barmherzigkeit«.44 Zugleich wird Luther und den judenfeindlichen Politiker Luther deutlich: Die reformatorische Theologie und die scharf voneinander zu unterscheiden. So betont Judenfeindschaft hängen bei Luther unauflöslich etwa der evangelische Theologe Walther Bienert: zusammen. »Der Reformator Luther war ein anderer als der Kirchenpolitiker Luther. Es ist wissenschaftlich Wie sollen wir mit dieser Erkenntnis heute um- nicht vertretbar, eine Harmonie zwischen dem gehen? Reformator und dem kirchenpolitischen Juden- feind zu konstruieren.«40 Damit soll die reformato- 7. Zur Frage der Rezeption heute rische Theologie offenbar vor dem Verdacht be- wahrt werden, sie könne etwas mit Luthers Ju- Die von der Evangelischen Kirche in Deutschland denfeindschaft zu tun haben. Kein Schatten darf propagierte »Luther-Dekade« ist nicht frei von auf sie fallen. Wir wollen nicht konstuieren, hal- Luther-Apologetik geblieben. So verbreitet die ten es aber in aller Bescheidenheit für wissen- Vereinigte Evangelisch-Lutherische Kirche in schaftlich vertretbar, davon auszugehen, dass Deutschland einen Text über Luthers Schriften Luther und Luther derselbe war. über die Juden, in dem der Wittenberger dafür gerühmt wird, dass bei ihm – »trotz seiner maß- Weiter führt der renommierte Lutherforscher losen, ja unsäglichen Polemik gegen die Juden Wilhelm Maurer, der in den 50er Jahren des 20. und das Judentum« – die »verheerende Anklage« Jahrhunderts davon ausgegangen ist, dass sich des »Christusmordes«, wie sie von der mittelalter- zwar die »praktisch-rechtlichen Folgerungen«, die lichen Kirche und Luthers altgläubigen Gegnern Luther aus seiner Theologie gegenüber den Juden vertreten worden war, »in keiner Phase seines gezogen habe, verändert hätten; die theologi- Wirkens zu finden« sei.45 schen Grundlinien seien jedoch »allezeit gleich- geblieben«.41 So werde auch die »scharfe Barm- Das ist leider reines Wunschdenken. Der Autor herzigkeit«, die Luther empfiehlt, verständlich: selbst will seine Behauptung u. a. mit einem Zitat »Mit allen seinen bitteren Anklagen […], mit allen aus Luthers früher Psalmenvorlesung belegen, wo harten Maßnahmen« habe Luther doch nur »etli- es heißt: »Wie die Juden Christus nicht handgreif- che aus der Flammen und Glut erretten« wollen.42 lich, sondern ihrer willentlichen Forderung nach Doch macht es das besser? töteten.«46 Das beweist doch wohl eher das Ge- genteil von dem, was der Autor sagen will. Die Tatsächlich wollte Maurer selbst in der »Alterspo- zahlreichen Stellen, an denen Luther ausdrücklich lemik Luthers […] tiefste theologische Einsichten den Vorwurf des Christusmordes gegen die Juden ausgesprochen« sehen, »die sich aus dem refor- erhebt, bleiben ganz unerwähnt. So weiß Luther matorischen Schriftverständnis ergeben«. Diese schon in der angeblich judenfreundlichen Schrift »tiefsten Einsichten« seien hier in voller Länge »Dass Jesus Christus ein geborener Jude sei«, zitiert, da sie vom Autor offenbar in keiner Weise dass »die ihn kreuzigen und aus dieser Welt trei- problematisiert werden: »Alle Völker stehen unter ben, […] nicht mehr ihm angehören und sein Gottes Gericht und Gnade. Damit wird die Span- Volk sein [werden], sondern [er] wird ein ander nung zwischen Gesetz und Evangelium, von der Volk annehmen.«47 Und in der Spätschrift »Von Luthers Schriftverständnis und damit seine ganze den Juden und ihren Lügen« wiederholt er (in Theologie bestimmt ist, auch für das Verhältnis Auslegung von Dan 9,24: »Da ging das Feuer an von Kirche und Synagoge zur Grundlage genom- wider ihn«, d. h. gegen den Messias): »Da wurden men. Gottes Gesetz setzt sich selbst das Ende. sie zornig, bitter, giftig und unsinnig auf ihn, und Denn es ist allezeit von der Verheißung begleitet gossen endlich die Glocken, dass sie ihn töten und kann nur in der Begrenzung durch sie recht wollten und taten also, kreuzigten ihn aufs aller- verstanden werden. Ist die Verheißung durch die schmählichste [wie] sie immer konnten und küh- Ankunft des Messias erfüllt, dann hat auch das leten ihr Mütlein also, dass auch der Heide Pila- Gesetz seine Rolle ausgespielt.« Erst damit sei das tus merket und zeuget, dass sie ihn aus Hass und »Zeugnis des Paulus gegen die Synagoge zum Neid ohne Ursache unschuldig verdammten und ersten Male richtig erfaßt«.43 töteten.«48 22 39/2015 epd-Dokumentation

8. Zur Differenzierung von Antijudaismus und sches Konzept« – anders als der Antisemitismus – Antisemitismus »nicht auf Vernichtung der Juden«, sondern nur auf ihre Bekehrung gesonnen57, zumindest im War Luther ein Antisemit? Der Begriff »Antisemi- Blick auf den Vernichtungswillen, wie er in Lu- tismus« wurde bekanntlich erst im späten 19. thers »Tischreden« dokumentiert ist, als Verharm- Jahrhundert geprägt. Im Allgemeinen wird er auf losung gelten. Hier ließ Luther sich zu Äußerun- den deutschen Journalisten Wilhelm Marr zu- gen hinreißen, die seine Mordlust gegenüber Ju- rückgeführt, der damit seit 1879 seine »wissen- den zeigen, – so, wenn er einen taufwilligen Ju- schaftlich«, d. h. rassisch begründete Judenfeind- den »auf die Elbbrücke führen, ihm dort einen schaft von der älteren, religiös begründeten Ju- Stein um den Hals hängen und ihn mit den Wor- denfeindschaft abgrenzen wollte,49 die man dann ten herunterstoßen« will: »Ich taufe dich im Na- z. B. Antijudaismus nennt. men Abrahams.«58 Dies kann nicht als einmalige Entgleisung abgetan werden, wie weitere mörde- Der französisch-jüdische Historiker Jules Isaac rische Tischreden belegen.59 hat jedoch die primäre Verantwortung des Chris- tentums für die Herausbildung des Antisemitis- 9. Fazit mus betont: »Keine Waffe erwies sich als bedroh- licher für das Judentum und seine Anhänger als Nach alledem muss wohl gesagt werden, dass die die ‚Lehre der Verachtung‘ […]; innerhalb dieser Vermeidung des Begriffs »Antisemitismus« in Lehre war nichts verderblicher als die Theorie bezug auf Luther ihrerseits Ausdruck einer apolo- vom ‚Gottesmördervolk‘. […] Die Lehre der Ver- getischen Strategie sein dürfte. Die Verwendung achtung ist ein Werk der Theologie.«50 In ähnli- des Begriffs wäre in diesem Kontext nur zu ver- cher Weise verwendet der israelische Historiker meiden, wenn der Terminus überhaupt aus dem Yehuda Bauer den Begriff »Antisemitismus« für Verkehr gezogen werden könnte. Da dies nicht Judenhass in jeder Form und mit jeder Begrün- realistisch erscheint, dürfte letztlich kein Weg dung.51 So habe sich der Antisemitismus auch daran vorbeiführen, von Luther als einem »Kron- durch die Säkularisierung hindurch als »einer der zeugen des Antisemitismus« zu reden.60 Die Tat- wenigen Überreste christlicher Ideologie […] sache, dass seine Judenfeindschaft primär religiös weiter vererbt«.52 Antisemitismus wäre demnach begründet ist, macht das Problem nicht geringer. nicht so sehr als eine neue Ideologie des späten Im Gegenteil: Wegen der tiefen Verankerung von 19. Jahrhunderts zu betrachten, sondern eher als Luthers Antisemitismus in seiner Theologie, muss ein Relikt christlicher Theologie innerhalb der die Judenfeindschaft als ein »Geburtsfehler« der säkularisierten Gesellschaft. lutherischen Theologie gelten. Damit wird auch die Rechtfertigungslehre in der Form, wie Luther Im Übrigen ist auch Luthers primär religiös be- sie vertreten hat, zutiefst fragwürdig. Sie müsste gründete Judenfeindschaft nicht frei von Momen- selbst umgebaut werden, um sie für das christ- ten, die nicht so sehr auf die jüdische Religion als lich-jüdische Verhältnis zu retten. Dies aber wür- vielmehr auf ein unveränderliches »Wesen« des de auf eine radikale Kritik der evangelischen Ge- Juden zielen: Aufgrund ihrer »Verstockung«, die setzeskritik hinauslaufen,61 die nicht weniger ihnen »zur Natur worden« ist, seien die Juden radikal sein dürfte als Luthers Verständnis christ- schlechterdings »nicht […] zu bekehren«, sondern licher Freiheit. Sie müsste es wagen, von einer sie müssten »in der Hölle zerschmolzen […] wer- »evangelischen Freude« am Gesetz zu reden.62 den«.53 Daneben finden sich ökonomische Motive, Aber dies wäre ein anderer Vortrag. wo es um den »Wucher« geht.54 Und es gibt be- reits proto-nationalistische Motive, wenn Luther meint, »uns Deutsche« vor den Juden warnen zu müssen,55 und proto-rassistische Motive, wo er Anmerkungen: auf das jüdische »Blut« als ihre »Natur« anspielt: 1 Martin Luther, Von der Freiheit eines Christenmenschen, in: »Sie haben solch giftigen Hass wider den Gojim ders., Werke. Kritische Gesamtausgabe (WA), Bd. 7, 21. von Jugend auf eingesoffen von ihren Eltern und Rabbinen und saufen noch in sich ohn Unterlass, 2 Martin Luther, ebd. dass es ihnen, wie der 109. Psalm sagt, durch Blut und Fleisch, durch Mark und Bein gangen, 3 Luther, a.a.O., 22. ganz und gar Natur und Leben worden ist.«56 4 Luther, a.a.O., 22f.

Schließlich muss die Behauptung, der religiös 5 Luther, a.a.O., 24f. begründete Antijudaismus habe »als theologi- 6 Luther, a.a.O., 30. epd-Dokumentation 39/2015 23

7 Luther, a.a.O., 31. 26 Vgl. Martin Stöhr, Martin Luther und die Juden, in: Heinz Kre- mers (Hg.), Die Juden und Martin Luther – Martin Luther und die 8 Luther, a.a.O., 35. Juden. Geschichte – Wirkungsgeschichte – Herausforderung, 9 Luther, a.a.O., 36. Neukirchen-Vluyn 1985, 89.

27 10 Léon Poliakov, Geschichte des Antisemitismus, Bd. 2, Worms M. Luther, Von den Juden und ihren Lügen, in: ders., Werke 1978, 126f. (WA), Bd. 53, 478.

28 11 Vgl. Heiko A. Oberman, Wurzeln des Antisemitismus. Christen- Vgl. Isaiah Shachar, The Judensau. A Medieval Anti-Jewish Motif angst und Judenplage im Zeitalter von Humanismus und Refor- and its History (Warburg Institute Surveys, ed. by E. H. Gombrich mation, Berlin 1981, 95. and J. B. Trapp, V), London 1974.

29 12 Vgl. M. Luther, Vom Schem Hamphoras, in: ders., Werke (WA), Vgl. das »Wahrhafte Bekenntniss der Diener der Kirchen zu Bd. 53, 600: »Woher haben die Juden diese hohe Weisheit, daß Zürich« von 1545, das Luthers Schrift »Vom Schem Hampho- man Moses Text, die heiligen unschuldigen Buchstaben, so sollt rasch« (1543) als »schweinisch, kotig« kritisiert; zit. bei Reinhold teilen in drei Verse und arithmetische oder Zahlbuchstaben draus Lewin, Luthers Stellung zu den Juden. Ein Beitrag zur Geschichte machen, auch 72 Engel nennen und Summa, das ganze Schem der Juden in Deutschland während des Reformationszeitalters Hamphoras dergestalt stellen? Da laß mich mit zufrieden, frage [1911], Aalen 1973, 98f. die Rabbinen drum, die werden dir‘s wohl sagen … Es ist hier zu 30 Vgl. M. Luther, Vom Schem Hamphorasch, in: ders., Werke Wittenberg an unserer Pfarrkirchen eine Sau in Stein gehauen, da (WA), Bd. 53, 580-586. liegen junge Ferkel und Juden drunter, die saugen. Hinter der Sau stehet ein Rabbiner, der hebt der Sau das rechte Bein empor, 31 Oberman, Wurzeln des Antisemitismus, 16. und mit seiner linken Hand zeucht er den Bürzel über sich, bückt 32 und guckt mit großem Fleiß der Sau unter dem Bürzel in den Vgl. M. Luther, Brief an Georg Spalatin vom Februar 1514, in: Talmud hinein, als wollt er etwas Scharfes und Sonderliches WA Br 1, 23; dazu H. A. Oberman, Wurzeln des Antisemitismus, lesen und ersehen. Daselbsther haben sie gewißlich ihr Schem 58: »Obwohl er also in der Ablehnung des äußeren Zwangs mit Hamphoras. Denn es sind vorzeiten sehr viele Juden in diesen Reuchlin auf einer Linie liegt, besteht der wesentliche Unter- Landen gewesen … Daß etwa ein gelehrter, ehrlicher Mann solch schied, daß Reuchlin den Talmud gegen den Blasphemievorwurf Bild hat angeben und abreißen lassen, der den unflätigen Lügen ... in Schutz nimmt, während Luther diese ‚Blasphemie‘ als von der Juden feind gewesen ist …« Gott gefügte Tatsache ansieht, an der von Menschen nichts zu bessern ist.« 13 Martin Luther, Von den Juden und ihren Lügen, in: ders., Werke 33 Vgl. Andreas Pangritz, Jüdische Reaktionen auf Luther und die (WA), Bd. 53, 496. Wittenberger Reformation, in: Begegnungen. Zeitschrift für Kirche 14 Luther, a.a.O., 498. und Judentum 94, 1/2011, 8.

15 Luther, a.a.O., 539f. 34 M. Luther, Daß Jesus Christus ein geborener Jude sei, in: WA 11, 314. 16 Luther, a.a.O., 522. 35 Vgl. auch Luthers Erklärung am Übergang vom ersten zum 17 Luther, a.a.O., 522; vgl. a.a.O., 541. zweiten Hauptteil, dass er »auch gerne den Juden dienen« wolle, 18 Luther, a.a.O., 523. »ob wir ihrer etliche möchten zu ihrem eigenen rechten Glauben bringen, den ihre Väter gehabt haben« (WA 11, 325). 19 Luther, a.a.O., 524-526. 36 M. Luther, Daß Jesus Christus ein geborener Jude sei, in: WA 20 Luther, a.a.O., 536. 11, 336.

21 Luther, a.a.O., 538. 37 Reinhold Lewin, Luthers Stellung zu den Juden. Ein Beitrag zur Geschichte der Juden in Deutschland während des Reformations- 22 Luther, a.a.O., 541f. zeitalters [1911], Aalen 1973, 30.

23 Martin Luther, Vermahnung wider die Juden, in: ders., Werke 38 Vgl. Andreas Pangritz, Martin Luthers Stellung zu Judentum und (WA), Bd. 51, 196. Islam, in: Harry Noormann (Hg.), Arbeitsbuch Religion und Ge- 24 Karl Jaspers, Die nichtchristlichen Religionen und das Abend- schichte. Das Christentum im interkulturellen Gedächtnis, Bd. 2, land (1954), in: ders., Philosophie und Welt. Reden und Aufsätze, Stuttgart 2013, 26-28.

München (2. Aufl.) 1963, 156-166; hier 162. 39 Vgl. Martin Luther, Brief an Josel von Rosheim vom 11. Juni

25 1537, in: ders., Werke (WA), Briefe, Bd. 8, 91. Martin Sasse, Martin Luther über die Juden: Weg mit ihnen!, Eisenach/Freiburg i. Br. 1938, 2. 24 39/2015 epd-Dokumentation

40 Walther Bienert, Martin Luther und die Juden. Ein Quellenbuch 52 Bauer, a.a.O., 85. mit zeitgenössischen Illustrationen, mit Einführungen und Erläute- 53 Martin Luther, Vier tröstliche Psalmen (1526), in: ders., Werke rungen, Frankfurt am Main 1982, 190. (WA), Bd. 19, 606f. 41 Wilhelm Maurer, Kirche und Synagoge. Motive und Formen der 54 Vgl. Luther, Von den Juden und ihren Lügen, in: WA 53, 482f.: Auseinandersetzung der Kirche mit dem Judentum im Laufe der Die Fürsten »lassen sich selbst und ihre Untertanen durch der Geschichte, Stuttgart 1953, 46. Juden Wucher schinden und aussaugen und mit ihrem eigen 42 Maurer, a.a.O., 45. Gelde sich zu Bettler machen.« – Vgl. auch a.a.O., 483; a.a.O., 521 (»[…] haben uns gefangen durch ihren verfluchten Wucher 43 Maurer, a.a.O., 47. […]«).

44 Mit Recht bemerkt dazu Martin Stöhr (Luther und die Juden, in: 55 Vgl. Luther, a.a.O., 419: »das unsere Deutschen wissen mö- Evangelische Theologie 20 [1960], 175, Anm. 55): »Keine noch gen«; vgl. auch a.a.O., 579. so beachtliche Virtuosität, mit theologischen Begriffen oder frommen Vokabeln umzugehen, machen aus Luthers ‚scharfer 56 Luther, a.a.O., 481. Barmherzigkeit‘, d. h. aus seinen Kristallnachtvorschlägen, 57 Johannes Heil, »Antijudaismus« und »Antisemitismus«. Begriffe ‚Barmherzigkeit‘. Ein so eindeutiger Begriff wie Barmherzigkeit als Bedeutungsträger, in: Jahrbuch für Antisemitismusforschung läßt sich schlechterdings nicht mit so eindeutigen Vorschlägen 6 (1997), 106. vereinen.«

58 45 Volker Weymann, Luthers Schriften über die Juden. Theologi- Peter von der Osten-Sacken, Martin Luther und die Juden. Neu sche und politische Herausforderungen, Hannover 2013 (Texte untersucht anhand von Anton Margarithas ‚Der gantz Jüdisch aus der VELKD, Nr. 168), 28. – Vgl. auch die Empfehlung der glaub‘ (1530/31), Stuttgart 2002, 116; vgl. Martin Luther, Werke Ausarbeitung durch den Leiter der Presse- und Öffentlichkeitsar- (WA), Tischreden, Bd. 2, 217. beit der VELKD mit dem Hinweis darauf, »dass Luther […] dem 59 Vgl. Martin Luther, WA, Tischreden, Bd. 5, 257: »Ein anderer Vorwurf, die Juden hätten Christus getötet, durchweg widerspro- erzählte viel von den Gotteslästerungen der Juden und fragte, ob chen« habe (Eberhard Blanke, Einleitung, a.a.O., 2). es einem Privatmann erlaubt sei, einem gotteslästerlichen Juden

46 einen Faustschlag zu versetzen. Er antwortete: Ganz gewiss! Ich Luthers erste Psalmenvorlesungen, in: ders., Werke (WA), Bd. wollte einem solchen eine Maulschelle geben. Wenn ich könnte, 55/II, 112; zitiert bei Weymann, Luthers Schriften über die Ju- würde ich ihn zu Boden werfen und in meinem Zorn mit dem den, 28, Anm. 120. Schwert durchbohren. Da es nämlich nach menschlichem und 47 Luther, Daß Jesus Christus ein geborener Jude sei, in: WA 11, göttlichem Recht erlaubt ist, einen Straßenräuber zu töten, viel 335. mehr einen Gotteslästerer.«

48 Luther, Von den Juden und ihren Lügen, in: WA 53, 494. 60 Günther Bernd Ginzel, Martin Luther – »Kronzeuge des Antise- mitismus«, in: Heinz Kremers (Hg.), Die Juden und Martin Luther 49 Reinhard Rürup [gemeinsam mit Thomas Nipperdey], Antisemi- – Martin Luther und die Juden, 189-210. Ginzel verweist (a.a.O., tismus – Entstehung, Funktion und Geschichte eines Begriffs, in: 190) auf Eduard Lamparter, Evangelische Kirche und Judentum. ders., Emanzipation und Antisemitismus, Göttingen 1975, 95: Ein Beitrag zum christlichen Verständnis von Judentum und »Seit der Antike und zumal seit der frühchristlichen Zeit hat es in Antisemitismus, 1928, 17: »Der Luther, welcher die zwei Schrif- Europa eine Judenfeindschaft gegeben, die wesentlich vom ten ‚Von den Juden und ihren Lügen‘ und ‚Vom Schem Hampho- Religionsgegensatz bestimmt war. […] Das Wort ‚Antisemitismus‘ ras und dem Geschlecht Christi‘ niedergeschrieben hat, ist zum meint demgegenüber eine grundsätzlich neue judenfeindliche Kronzeugen des modernen Antisemitismus geworden.« Bewegung […].« 61 Vgl. z. B.: Friedrich-Wilhelm Marquardt, Zur Reintegration der 50 Jules Isaac, Genesis des Antisemitismus. Vor und nach Chris- Tora in eine Evangelische Theologie (1987), in: ders., Auf einem tus (orig. Genèse de l’antisémitisme, Paris 1956), Wien 1969, Schul-Weg. Kleinere christlich-jüdische Lerneinheiten, 2. Aufl., hg. 241. »Eng verbunden mit dieser militanten Theologie« sei »ein v. A. Pangritz, 2004, 229-255. System von Einschränkungen, Ausschließungen und Demütigun- gen, das es verdient, ‚System der Erniedrigung’ genannt zu 62 Vgl. Friedrich-Wilhelm Marquardt, Evangelische Freude an der werden.« Tora, Tübingen 1997.

51 Vgl. Yehuda Bauer, Vom christlichen Judenhaß zum modernen Antisemitismus – Ein Erklärungsversuch, in: Zeitschrift für Anti- semitismusforschung 1 (1992), 79.

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Jüdisches Leben in Deutschland um die Reformationszeit Von Dr. Maria Diemling, Canterbury Christ Church University

Reformator, Ketzer, Judenfeind. Jüdische Gelehrte (und erbitterte Gegner Luthers) definier- Perspektiven auf Martin Luther. Tagung der te in seinem Brevis Germaniae descriptio (1512) Evangelischen Akademie zu Berlin und des die Grenzen Deutschlands als sehr weitläufig. Er Zentralrats der Juden in Deutschland, Berlin schreibt, dass sich keine Region Europas weiter 10.-12.6.2015 erstreckt als Deutschland. Es ist im Süden von Italien und Dalmatien begrenzt, im Osten von Die frühe Neuzeit gilt als Zeit des Übergangs Ungarn und Polen, im Norden von der Baltischen schlechthin. Mit der Reformation, eines der ent- und Nordsee und im Westen von Frankreich und scheidenden Ereignisse am Beginn dieser Zeiten- dem Ärmelkanal.2 In all diesen deutschen Landen wende, wurden religiöse, politische, soziale und lebten Juden, die zum gleichen Kulturraum zähl- wirtschaftliche Prozesse eingeleitet, die die Ge- ten und miteinander auf vielfältige Weise ver- sellschaft nachhaltig veränderten. Wenn auch bunden waren. lange von der Geschichtsschreibung für diesen Zeitraum ignoriert, gilt dies auch für die jüdische Vertreibungen und Neuansiedlungen Minderheit, die in deutschen Ländern, Städten, Fürstentümern und Grafschaften lebte. Zwar hat Was der angesehene Gelehrte Rabbi Israel Isser- das deutsche Judentum im 16. Jahrhundert keine lein (1390-1460) für das 15. Jahrhundert feststell- der Reformation vergleichbare tiefe und auf Dau- te, galt auch noch im frühen 16. Jahrhundert: er prägende intellektuelle und politische Strö- »Wir sind heutzutage unstetig und ständig auf mung erlebt, aber diese Periode bedeutete auch Wegen, und haben kaum feste Wohnplätze.«3 Das für die in deutschen Landen lebenden Juden und Jahrhundert vor der Reformation brachte für die Jüdinnen eine Zeit des Wandels, der vor allem jüdische Bevölkerung Deutschlands eine außer- durch Mobilität gekennzeichnet ist. Diese durch ordentlich hohe Mobilität mit sich. Nicht nur die spezifischen Lebensbedingungen in den deut- waren immer weniger Städte und Länder bereit, schen Landen bedingte Mobilität hatte nicht nur jüdische Familien aufzunehmen und ihnen die Auswirkungen auf Demographie und Siedlungs- Ansiedlung zu gestatten, die meisten jüdischen muster, sondern auch auf die jüdische Gemein- Gemeinden wurden im Laufe des Jahrhunderts destrukturen, Gelehrsamkeit sowie die Beziehun- aufgelöst und die jüdische Bevölkerung musste gen zu den christlichen Nachbarn. wegziehen. Das geschah durch zunehmende rechtliche Einschränkungen, die Juden ihre bishe- Das Ziel dieses Beitrages ist es, einen allgemeinen rige wirtschaftliche Grundlage entzogen, durch Eindruck vom jüdischen Leben in den deutschen die Nichtverlängerung von Privilegien und Landen im späten 15. und 16. Jahrhundert zu Schutzbriefen, die ihnen eine gewisse Rechtssi- vermitteln. Der methodische Schwerpunkt der cherung und das Bleiberecht gewährt hatten und Darstellung wird das Konzept von »Raum« vor allem durch die Vertreibung aus deutschen (»space« in der englischsprachigen Forschungsli- Städten, Ländern und ganzen Territorien.4 Diese teratur1) sein: der städtische Raum, aus dem Ju- Vertreibungen wurden freilich nicht überall kon- den vertrieben und verdrängt werden, der ländli- sequent durchgeführt und in den territorial zer- che Raum, in dem sich jüdische Familien ansie- splitterten deutschen Landen war eine einheitli- deln, der Raum – zu Hause und unterwegs –, in che, das ganze Reich umfassende Vertreibung, dem sich Juden im Alltag aufhalten, der geistige wie etwa in England (1290), Frankreich (1306 Raum, in dem sich jüdische Traditionen und Ge- and 1394), Spanien (1492) und Portugal (1497), bräuche verankern lassen, um in unsteten Zeiten gar nicht möglich. Durch die Vielfalt an Herr- einen spirituellen und praktischen Leitfaden zu schaftssystemen gab es auch kein einheitliches bieten, und der alltägliche und intellektuelle Judenschutzrecht für das gesamte Reich.5 Trotz Raum, in dem es zu wirtschaftlichen und sozialen dieser politischen und rechtlichen Faktoren, die Kontakten und Austausch mit Christen kommt. eine straff organisierte Vertreibung aus dem deut- Die Frage, die diesen Überblick begleitet, ist, wie schen Reich erschwerten, war der Einschnitt für kann man sich »jüdischen Raum« zu Beginn des die jüdische Bevölkerung enorm. 16. Jahrhunderts in Deutschland vorstellen? Die spätmittelalterliche Vertreibungswelle begann »Deutschland« um diese Zeit ist weit gefasst. Jo- in Straßburg und Basel gegen Ende des 14. Jahr- hannes Cochläus (1479-1552), der humanistische hunderts und fand über ein Jahrhundert später 26 39/2015 epd-Dokumentation

einen Höhepunkt mit der Vertreibung der Juden rückblieb, Menschen, die »ihren mühsamen Le- aus Donauwörth, , Weißenburg und benserwerb in kleinen Pfandleihgeschäften, Hau- Rothenberg von 1518-1520. Allein zwischen 1481 sierhandeln und Handwerksberufen fanden.«13 Es und 1520 wurde mehr als ein Viertel aller jüdi- lässt sich nicht nur eine Verdörflichung in deut- schen Siedlungen durch Verfolgung und Vertrei- schen Ländern beobachten. Die Vertreibungen bung beendet.6 Im späteren 16. Jahrhundert folg- führten auch zu einer internen Umstrukturierung ten Ausweisungen aus Mühlhausen und Nord- der Judenschaft in den deutschen Landen und zu hausen, Schweinfurt und Dortmund.7 Die Juden einer Schwerpunktverlagerung jüdischer Ansied- wurden auch flächendeckend aus den größeren lungen innerhalb Europas. War das deutsche Territorien, wie z.B. 1492 aus dem Herzogtum Reich noch im 15. Jahrhundert ein Zufluchtsge- Mecklenburg und 1493 aus dem Erzbistum Mag- biet für aus Frankreich vertriebene Juden, so deburg, vertrieben. Die Gemeinde in Berlin, die kehrte sich das im Laufe des Jahrhunderts um über 100 Juden umfasste, konnte sich bis 1571 und viele Juden wanderte in andere Gebiete aus, halten.8 wo sie sich ansiedeln und sich eine neue Lebens- grundlage schaffen konnten. Oberitalien zog eine Wohin gingen diese Menschen, die ihr Zuhause Reihe von jüdischen Vertriebenen an, besonders verloren hatten? Nicht alle vertriebenen Juden die Städte Bologna, Ferrara, Mantua, Pisa und zogen sehr weit fort. In einer Reihe von Gemein- Siena und Venedig, wo die nazione Tedesca ab den kam es zur Bildung von jüdischen »Vorort- 1516 ein eigenes Judenviertel (das Ghetto Nuovo) gemeinden« außerhalb des Stadttors unter Beibe- bildete. Wie bereits erwähnt, wurde Polen- haltung des Zugangs zum lokalen Markt. Andere Litauen ein besonders wichtiger Ansiedlungsort, Familien, vor allem solche, die finanziell besser weil die Siedlungsbedingungen für Juden als Ge- gestellt waren und die sich leisten konnten, wei- gengewicht zum Bürgertum der Städte und zum ter wegzuziehen und sich auch anderswo bessere Hochadel sehr günstig waren. Jüdische Kaufleute Lebensumstände als Geldleiher erwarten konnten, wurden allen anderen Handelstreibenden gleich- wanderten aus, vor allem nach Norditalien und gestellt. dann auch nach Osteuropa, besonders nach Po- len-Litauen. Eine kleinere Anzahl von Juden sie- Diese Migrationsbewegungen brachten Verschie- delte sich im Mittelmeerraum und im Heiligen bungen europaweiter Dimension, verstärkten Land an.9 aber zugleich das innerjüdische Netzwerk ver- wandtschaftlicher und geschäftlicher Beziehun- Die jüdische Bevölkerung wurde nicht aus allen gen über große Distanzen hinweg. Das wurde Gemeinden in den deutschen Ländern vertrieben. später z.B. besonders für die sogenannten Hofju- Trotz Vertreibungen und Erschwerung der Le- den von Bedeutung, die für ihre Geschäfte auf ein bensbedingungen blieben Juden in Frankfurt, gut ausgebildetes Netzwerk an persönlichen Kon- Friedberg, Worms, Rosheim, Metz und vor allem takten zurückgreifen konnten. auch in Prag, Triest und bis 1670 in Wien, mehr oder weniger kontinuierlich ansässig.10 Freilich Freilich blieb die allgemeine Situation der Juden zählte selbst Frankfurt, die größte verbliebene im deutschen Reich auch im 16. und 17. Jahr- jüdische Gemeinde, um 1500 nur an die 200 Per- hundert sehr instabil. Für die meisten bedeutete sonen.11 es eine Zeit ständiger Migration ohne realistische Aussicht auf gesicherte Ansässigkeit und dauer- Auswirkungen der Vertreibungen haften Schutz durch eine eingesessene oder neu gegründete Gemeinde. Das Gefühl, dass das Le- Nach einer vorsichtigen Schätzung zählte die ben immer wieder durch eine drohende Vertrei- jüdische Bevölkerung des deutschen Reiches im bung oder die Notwendigkeit, anderswo ein Ein- frühen 15. Jahrhundert etwa 7000-8000 Familien, kommen finden zu müssen, unterbrochen werden umgerechnet an die 40000 Personen, die viel- konnte, blieb mindestens bis zum frühen 17. leicht etwa 0.25% der allgemeinen Bevölkerung Jahrhundert bestehen und bedeutete anhaltende ausmachten. Historiker nehmen an, dass sich bis rechtliche Unsicherheit und Ungewissheit.14 zum Ausgang des 15. Jahrhunderts diese Zahl noch weiter verringert haben wird.12 Jüdische Orte

Die für die Frühe Neuzeit im deutschen Sprach- Wo und wie lebten frühneuzeitliche Juden? Wie raum typische Siedlungsstruktur von Juden war kann man sich einen jüdischen Ort um diese Zeit kleinstädtisch und dörflich, weil die ärmere jüdi- vorstellen? Denkt man an die Wohnorte von jüdi- sche Bevölkerung durch die Vertreibungen zu- schen Familien in der Frühen Neuzeit in Deutsch- epd-Dokumentation 39/2015 27

land, drängt sich oft die Vorstellung von einem unterwegs war) zurechtkommen musste. Viele von der christlichen Umgebung getrennten und dieser Reise dauerten nur wenige Tage, wenn abgeschlossenen »Ghetto« auf. Aber wie Benja- Händler Waren einkauften, Messen besuchten min Ravid gezeigt hat, waren »alle Ghettos jüdi- oder Hausierer ihre örtlichen Kunden aufsuchten, sche Viertel, aber nicht alle jüdischen Viertel aber auch wochen- und monatelange Abwesen- waren Ghettos«. Er schlägt vor, den Begriff »Ghet- heiten waren nicht ungewöhnlich. Die Reise er- to« nur dann zu verwenden, wenn Juden folgte meist zu Fuß, nur wenige konnten sich ein zwangsweise im jüdischen Viertel wohnen muss- Pferd, einen Wagen oder gar eine Kutsche leis- ten, wenn dieses abgetrennt (und Christen dort ten.18 nicht lebten durften) und abgeschlossen war (hin- ter Mauern oder Toren, die nachts verschlossen Diese Mobilität hatte seinen Preis. Reisen war wurden).15 anstrengend und gefährlich. Menschen, die un- terwegs waren, wurden überfallen, ausgeraubt, Allgemein lässt sich feststellen, dass Juden in entführt und gelegentlich sogar ermordet. Viel- recht unterschiedlichen Wohnsituationen und leicht waren Juden, obwohl sie nicht die einzigen meistens nicht von der christlichen Bevölkerung waren, die unterwegs waren, mehr gefährdet als getrennt lebten. In der Mehrzahl der Siedlungen, andere, weil sie als Gruppe mehr reisen mussten besonders in den bereits erwähnten Kleinstädten als andere. Sie führte auch zu gesellschaftlichen und Dörfern, in denen die meisten Juden lebten, Veränderungen innerhalb der jüdischen Gesell- wohnten sie inmitten von Christen, manchmal schaft.19 Frauen, die in der Abwesenheit ihres auch durchaus im gleichen Haus. In manchen Mannes Geschäfte führen oder für den Lebensun- Städten, vor allem in den bedeutenden jüdischen terhalt sorgen mussten, gewannen so Erfahrung Gemeinden Frankfurt und Prag, lebten sie in sehr in wirtschaftlichen Belangen und eine gewisse beengten Verhältnissen in jüdischen Vierteln. Die Unabhängigkeit. Auf Reisen, auf Wegen, die man Frankfurter Judengasse, deren Bevölkerung im gemeinsam zurücklegte, oder in Gasthäusern, in Laufe des 16. Jahrhunderts stark zunahm, war die man einkehrte und am gleichen Tisch saß, berüchtigt für die dichtgedrängten Wohnverhält- ergaben sich enge Kontakte mit Christen, mit nisse; mehrere Familien mussten sich die knap- denen man nicht nur geschäftlich verkehrte, son- pen Wohnungen teilen.16 In anderen Städten lebte dern diskutierte, Karten spielte oder trank. Die die Mehrheit der Familien nahe beieinander, Beschränkungen in der Niederlassung an vielen manchmal im Zentrum, manchmal am Stadtrand. Orten und in wirtschaftlichen Belangen, die Juden in bestimmte Beschäftigungszweige drängten, Auch hier zeigt sich große Mobilität. Wenn wohl- führten auch zu einem wichtigen Unterschied habendere Juden versuchten, ihre Wohnsituation zwischen der jüdischen und christlichen Lebens- durch Umzug in ein »besseres Viertel« zu verbes- situation, »der allerdings nicht in der Bewegungs- sern, gab es oft Widerstände von christlicher freiheit, sondern in der Notwendigkeit, in Bewe- Seite. In anderen Fällen mussten Juden, die eine gung zu bleiben, lag«.20 Im Gegensatz zu den im Familie gründen wollten, oft irgendwo anders allgemein sehr sesshaften Christen, mussten jüdi- hinziehen, weil sie in ihrem Ort keine Ansässig- sche Männer und Frauen oft aus ihrem Geburtsort keitserlaubnis erhielten. Wie Robert Liberles fest- wegziehen, um eine eigene Familie und einen stellte: Haushalt zu gründen.21

»Darin unterschieden sie sich völlig von den Jüdische Männer und Frauen müssen um diese deutschen Christen, für die »das Wohnen an ei- Zeit also sehr mobil und flexibel sein, ihr Leben nem Ort ihr Schicksal« wurde. Die Mobilität die- ist unsicher und unstabil, aber auch eng mit den ser Deutschen war im wörtlichen Sinne begrenzt. christlichen Nachbarn, denen man zu Hause und Juden mögen oft von einer solchen Stabilität ge- unterwegs begegnete, verbunden. träumt haben, doch die Umstände erforderten, dass sie in Bewegung blieben: und manchmal Sozialstruktur und wirtschaftliches Profil ging es dabei für sie auch aufwärts.« 17 Eine Fallstudie des israelischen Historikers Mi- Eine andere wichtige Beobachtung zur Mobilität chael Toch zur jüdischen Gemeinde in Nürnberg von spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen am Ende des 15. Jahrhundert macht deutlich, Juden ist, dass das »in Bewegung sein« eine All- dass sich »[u]nter den zunehmend unsicheren tagserfahrung darstellte, sowohl für den Reisen- und nachteiligen Bedingungen des Spätmittelal- den, aber auch für die Familie, die ohne den Fa- ters« eine sehr polarisierte Familien- und Haus- milienvater (es war normalerweise der Mann, der haltsstruktur entwickelte.22 Einerseits gab es einen 28 39/2015 epd-Dokumentation

relativ hohen Bevölkerungsanteil der durch die ben als verfolgte und bedrohte religiöse und eth- Geldleihe vermögenden Juden, ihnen standen nische Minderheit von enormer Wichtigkeit war. andererseits die sozial niedrig gestellten Privat- Selbst wenn ein Gefühl von notwendiger gegen- und Gemeindebediensteten, die von den Vermö- seitiger Unterstützung erhalten blieb und auch die genden abhingen, gegenüber. Zugriff auf die be- wichtige Kommunikation zwischen jüdischen gehrte Aufenthaltserlaubnis, die Ansässigkeit und Gemeinden nicht abriss, so war doch der organi- Rechtssicherheit gewährte, hatte fast nur die satorische Zusammenhalt unterbrochen bzw. wohlhabende Gruppe. Ähnliche Verhältnisse regionalisiert worden oder einzelne Gemeinden lassen sich auch für andere größere Gemeinden stellten das Wohl ihrer eigenen Mitglieder über wie Regensburg oder Magdeburg feststellen. Einer das von anderen Gemeinden, wie sich etwa wäh- Schätzung zufolge nahm die Zahl der nicht ver- rend Johannes Pfefferkorns Versuch, jüdische mögenden Juden, die ihren Lebensunterhalt mit Bücher, die er für gotteslästerlich und gefährlich Dienstleistungen für die Geldleiher verdienten hielt, zu beschlagnahmen, zeigte.25 und daher von ihnen abhängig waren, zwischen Ausgang des 14. und des 15. Jahrhunderts um Jüdischen Gemeinden verfügten über eine Reihe das Doppelte zu, stieg also von etwa einem Vier- von spirituellen und praktischen Strategien, um tel auf über die Hälfte der sesshaften jüdischen Unheil von christlicher Seite abzuwehren. Gebet, Bevölkerung an. Fasten, Almosen und Buße waren an Gott gerich- tet, aber gleichzeitig versuchte man auch durch Dieser Prozess der Verarmung der in deutschen Fürsprache oder Bestechung christliche Obrigkei- Ländern lebenden Juden wurde durch die Aus- ten auf seine Seite zu bringen. R. Isaiah Horowitz wanderung der vermögenden Juden verstärkt. (c. 1565-1630), der Autor des halachischen Kom- Eine Strategie von wohlhabenden Geldleihern, pendiums Shnei Luḥot Habrit, erläuterte diese um ab dem späten 14. Jahrhundert eine wirt- Strategien, betonte aber besonders, wie wichtig schaftliche Alternative zu sichern, war es, Söhne das Eingreifen von schtadlanim – jüdischen Ver- und Schwiegersöhne als eine Art Vorhut nach mittlern und Fürsprechern, (im modernen Oberitalien zu schicken und dort eine neue Sprachgebrauch vielleicht »Lobbyisten«) – war. Grundlage aufzubauen. Später konnte der Rest Sie erfüllten einen wichtigen politischen und reli- der Familie nachfolgen. Zu Beginn des 16. Jahr- giösen Dienst und versuchten, drohendes Unheil hunderts – anders als es die um diese Zeit häufi- von jüdischen Gemeinden abzuwenden. Horowitz gen christliche Pamphlete gegen »jüdischen Wu- pries das mutige und beharrliche Agieren dieser cher« vermuten lassen23 – lebten nur »noch eine Männer: »Selbst wenn sie abgewiesen oder igno- Handvoll jüdischer Geldhändler von Bedeutung« riert werden, kommen sie wieder. Sie sind die in deutschen Landen. Die Juden, die zurückblie- Säulen unserer Existenz im Exil«.26 ben, waren meistens arm. Sie waren durch die Umstände zur Mobilität gezwungen, fanden in Der einflussreichste Fürsprecher in der ersten den durch den Wegzug der bedeutenden Steuer- Hälfte des 16. Jahrhundert war Josel von Ros- zahler verarmenden Gemeinden weniger Unter- heim (c. 1480-1554), der »Kommandant der Ju- stützung und wurden durch die Vertreibungen in den im Heiligen Römischen Reich deutscher den Städten aufs Land gedrängt. Bereits für das Nation«.27 Er soll hier nur kurz im Zusammen- 15. Jahrhundert lässt sich ein Übergang zu ver- hang mit der Pfefferkorn-Reuchlin-Affäre erwähnt schiedenen handwerklichen Berufen und zum werden. Rosheim war in den 1520er Jahren noch Hausierhandel feststellen. Michael Toch hat kon- am Beginn seiner Karriere und nicht direkt in die statiert, dass sich das frühneuzeitliche »Landju- beschriebenen Geschehnisse involviert, er ver- dentum« siedlungsgeschichtlich, wirtschaftlich folgte sie aber mit großem Interesse aus dem und demographisch bereits um diese Zeit zu ent- Elsass. Er schrieb in seinen Erinnerungen, dass wickeln begann.24 Feinde der Juden und Abtrünnige versuchten, das geschriebene Gesetz (sic) zu zerstören. Pfeffer- Solidarität und politisches Handeln korn konfiszierte allein 1500 Bücher von der jüdi- schen Gemeinde in Frankfurt. Die Befürchtung, Die geschilderte soziale und wirtschaftliche Pola- dass diese Aktion den Juden in Deutschland sehr risierung der jüdischen Gesellschaft und der schaden könnte, war nur zu berechtigt. Vertrei- durch die Vertreibungen ausgelöste Kontinuitäts- bungen waren bei Weitem nicht die einzige Ge- bruch und die sich daraus ergebende Mobilität fahr, die Juden um diese Zeit drohte. So führte des jüdischen Alltags hatte nicht nur Auswirkun- ein öffentlicher Schauprozess für eine angebliche gen auf die Gemeindestrukturen, sondern auch Hostienschändung, nachdem ein christlicher auf die innerjüdische Solidarität, die für das Le- Schmied im Juli 1510 Ritualobjekte aus einer epd-Dokumentation 39/2015 29

Kirche gestohlen und angeblich Juden verkauft schwerster Verfolgungen. Es spricht daraus das hatte, dazu, dass 38 Juden in Berlin auf dem Gefühl der eigenen geistigen Unzulänglichkeit, Scheiterhaufen verbrannt wurden. Die Behaup- das sich im Gegensatz zu den Vorfahren nicht tung eines Konvertiten, dass jüdische liturgische mehr zutraute, die älteren Autoritäten kritisch zu und rabbinische Bücher gefährliche Gottesläste- benutzen und in strittigen Fragen abweichend, rungen enthielten, hätte das deutsche Judentum kreativ zu entscheiden. Daraus, aber auch aus an Leib und Seele gefährden können. dem mündlichen, der schriftlichen Kodifizierung abgeneigten Lehrstil der Jeschiva, ergab sich je- Josel von Rosheim berichtet von den Reaktionen ner Konservatismus, der das religiös-geistige auf Pfefferkorns Versuch, jüdische Bücher zu Schaffen des Spätmittelalters kennzeichnet.«30 konfiszieren. Die jüdische Gemeinde in Frankfurt sandte eine Delegation zum Kaiser, um ihn zu Es scheint aber relativ eindeutig, dass bereits die bewegen, Pfefferkorns Treiben Einhalt zu gebie- Krisenzeit des 14. Jahrhunderts mit ihren Pestver- ten, und sicherte im Mai 1510 das Versprechen, folgungen das geistige Schaffen in deutschen die abgenommenen Bücher zurückzuerhalten, Landen nachhaltig beeinträchtig hat. Die traditio- was ihnen viel Geld kostete. Freilich gab es unter nellen Zentren der Gelehrsamkeit in West- und den jüdische Gemeinden keine einheitliche Stra- Mitteldeutschland, mit der Ausnahme von den tegie, um gegen solche Gefahren gemeinsam vor- österreichischen Ländern, fanden ein Ende, was zugehen. Einige nahmen an, dass sie davon nicht aber zu neuen Entwicklungen führte. Von Gelehr- betroffen seien, und wollten nicht hineingezogen ten wie Rabbi Abraham Klausner von Wien (der werden, andere wiederum wollten Frankfurt nicht 1408 starb) kam der Impuls zur Sammlung des finanziell unterstützen, weil sie die dominante lokalen jüdischen Brauchtums (Minhag) in spe- Position dieser Gemeinde fürchteten.28 Dieses ziellen Anthologien, was für diese im Spätmittel- Beispiel zeigt eine ambivalente Haltung unter den alter weitverbreitete Literaturgattung exempla- Gemeinden zueinander, in der es durchaus Zei- risch wurde.31 chen von Solidarität und gegenseitiger Unterstüt- zung gab, Konkurrenzdenken – und wohl auch Elisheva Carlebach hat festgestellt, dass die blü- begrenzte finanzielle Mittel – aber auch eine Rolle hende Minhag-Literatur in den deutschen Län- spielten. dern im Spätmittelalter und der frühen Neuzeit reicher und vielfältiger als in jeder anderen Zeit in Jüdische Kultur der jüdischen Geschichte war. Ritual und Brauch bildeten den Kern dieser Kultur. Minhag-Literatur Wäre Pfefferkorns Versuch, jüdische Bücher zu lehrte die praktischen Details religiöser Obser- beschlagnahmen, auf Gotteslästerungen zu über- vanz, die auf intime Weise mit der Gesetztreue prüfen und bei Bedarf zu zerstören, auf Dauer verbunden war. Die Sifrei Minhagim (»Brauch- erfolgreich gewesen, hätte das eine massive Aus- tumsbücher«) sammelten die Bräuche einer be- wirkung auf das geistige Leben von Juden im stimmten Gemeinde oder eines wichtigen rabbini- Reich gehabt. Auch ohne solche Eingriffe stand es schen Gelehrten. Auf diese Weise konnten jüdi- um das jüdische Geistesleben nicht sehr gut, sche Gemeinden die Erinnerung an ihre Geistes- wenn auch Forscher sich nicht wirklich darüber größen und ihre kollektiven Werte bewahren. Ein einig sind, welche Auswirkungen die Auflösung wichtiger Aspekt dieser intensiven Auseinander- alter Gemeinschaften durch die Vertreibungswel- setzung mit Bräuchen ist die Auffassung, dass das len auf die religiöse Praxis hatten. Manche Histo- Exil verlängert würde, wenn man die Bräuche der riker konstatieren, dass religiöse Vorschriften Vorfahren vernachlässigte. Das Bewahren von durch die Auflösung von Gemeindestrukturen Brauchtum erlangte so auch eine wichtige spiritu- kaum noch beachtet werden konnten oder, wenn elle und sinnstiftende Funktion.32 man den Klagen von Rabbinern Glauben schen- ken darf, großteils gar nicht mehr bekannt wa- In der Geschichte ist es oft ein Zeichen des Be- ren.29 wusstseins von drohendem Verlust eines spiritu- ellen Erbes, wenn in Zeiten des Übergangs und Andere betonen, dass: der Neuorientierung mündlichen Überlieferungen verschriftlicht werden. Das trifft auch auf die »Keinesfalls ist für das fast gänzliche Fehlen eines jüdische Kultur im Spätmittelalter zu. Ein Beispiel eigenständigen geistigen Schaffens in dieser Peri- dafür ist der wohl wichtigste Rabbiner in deut- ode ein Sittenverfall oder intellektuelle Unfähig- schen Landen um diese Zeit, R. Jakob Molin, keit verantwortlich zu machen, allerhöchstens genannt Maharil (um 1360-1427). Als Sohn eines das angeschlagene Selbstgefühl der Überlebenden bedeutenden Rabbiners und sowohl Schüler als 30 39/2015 epd-Dokumentation

auch Lehrer von eminenten Gelehrten, erlebte er 1490er Jahren geboren und wuchs in Regensburg die Verfolgungen in Wien (1420) und als Folge auf. Er konvertierte, wahrscheinlich mit Frau und die Hussitenkriege (1421). Seine Tätigkeit am von Kindern, um 1522 in Bayern und versuchte dann, ihm gegründeten Lehrhaus in Mainz begründete sich als Hebräischlehrer zu etablieren.35 seine außergewöhnliche Autorität, die auch in der Abfassung von Rechtsgutachten, in Sendbriefen Sein 1530 zweimal aufgelegtes Buch Der Gantz an jüdische Gemeinden und als Vertreter seiner Jüdisch Glaub machte ihn schlagartig bekannt. Es Gemeinde gegenüber christlichen Obrigkeiten handelt sich dabei um ein eigenständiges und zum Ausdruck kam. Maharil war sehr an religiö- vollkommen neues Werk, das sich als sehr ein- sem Brauchtum interessiert, insbesondere an den flussreich erwiesen hat. Das Ziel des Buches war in den rheinländischen Gemeinden üblichen, da es, auf systematische und umfassende Weise er sie wegen ihrer langen Tradition für besonders jüdische Rituale und Bräuche, wie sie in der Sy- authentisch hielt. Obwohl eine herausragende nagoge und in der häuslichen Umgebung began- Erscheinung, gilt »Maharils Mischung von Orts- gen werden, einem christlichen Publikum näher- rabbinertum, persönlicher Frömmigkeit, praxis- zubringen. Der Überblick beginnt mit dem Tages- bezogener Halacha und brauchtümlichen Traditi- ablauf, dann folgen Schabbat, Rosch Chodesch onen typisch für die Gelehrten des Spätmittelal- und die jüdischen Feste im Jahreskreis. Margarit- ters«.33 ha beschreibt auch die Speisegesetze, rituelles Schlachten, das Wirken jüdischer Ärzte und die Der christliche Blick auf jüdische Rituale: wichtigsten Ereignisse im Lebenszyklus – Hoch- Anthonius Margaritha zeit, Beschneidung, Tod und Beerdigung. Dies wird von einer Diskussion der sozialen und wirt- Die christliche Umwelt lernte von Juden, die zum schaftlichen Aspekte beschlossen, wie der Geld- Christentum konvertiert waren und anschließend leihe, der Scheidung, Gemeindeämtern, Krankhei- Werke über das Judentum verfassten, über jüd- ten und einem kurzem Überblick über populäre sche Rituale and Bräuche. Das aschkenasische jüdische Literatur. Der zweite Teil des Buchs Interesse am Sammeln und Konservieren von behandelt jüdische Gebete. Die erste umfassende religiösen Bräuchen übte so auch einen großen Übersetzung des Siddurs, des jüdischen Gebetbu- Einfluss auf das christliche Wissen über das Ju- ches, ins Deutsche, enthält auch verschiedene dentum aus. Dieses spezifisch deutsche Phäno- Beobachtungen zu Ritualen. Das Buch folgt der men, das aufgrund der wichtigen Arbeiten von Ordnung des Gebetbuches und es ist klar, dass Ronnie Hsia und Yaacov Deutsch als »polemische Margaritha nicht nur den Text, wohl von einer christliche Ethnographien« bekannt geworden jiddischen Version, sondern auch die rituellen ist,34 ist im Zusammenhang dieser Darstellung Anmerkungen übernommen hat. Margaritha fügt von Bedeutung, weil Martin Luther einen der auch seine eigenen Bemerkungen hinzu. Pioniere dieses Genres, Anthonius Margaritha, gelesen und rezipiert hat und man davon ausge- Margaritha war ein Produkt der spätmittelalterli- hen kann, dass diese Lektüre seine Haltung zum chen rabbinischen Kultur in deutschen Landen. Judentum beeinflusst hat. Sein Vater und sein Großvater waren anerkannte und respektierte Rabbiner, sein Bruder ein Kan- Anthonius Margaritha ist eine in vieler Hinsicht tor. Er hat sein Buch an jüdische Beispiele ange- interessante Figur, dessen Familienhintergrund passt und es ist in vielerlei Hinsicht, besonders viele der hier kurz skizzierten Entwicklungen auch im Vergleich zu anderen antijüdischen Wer- deutlich macht. Er stammt wie Jakob Molin aus ken um diese Zeit, ein sehr »jüdisches« Buch. der Elite des deutschen Judentums und seine Margaritha diskutiert polemische Themen, wie jüdische Famile hat ebenso viele der bitteren zum Beispiel die »hartnäckige Blindheit« der Ju- Erfahrungen des ausgehenden 15. und 16. Jahr- den, die absichtlich die Wahrheit des Christen- hunderts erleben müssen, von Gefangennahme tums leugneten, aber diesen Themen gilt nicht wegen einer Ritualmordbeschuldigung über an- sein hauptsächliches Interessse. Die klassischen haltende Konflikte mit der christlichen Stadtver- polemischen Argumente in der Jahrhunderte al- waltung bis zur Vertreibung aus Regensburg. ten christlichen antijüdischen Tradition, wie die Margaritha wählte aber einen anderen Weg und Jungfrauengeburt, die Dreifaltigkeit oder das distanzierte sich als junger Mann vom Judentum. Kommen des Messias fehlen. Hier geht es nicht Als Konvertit zum Christentum war er einer der um abstrakte Theologie, sondern um alltägliche ersten, die eine Universitätskarriere anstrebten Beoabachtungen, die er einem christlichen Publi- und Hebräisch an einer deutschsprachigen Uni- kum präsentiert. Das Buch ist der Ausgangspunkt versität unterrichteten. Er wurde wohl in den für ein polemisches Genre, das zeitgenössische epd-Dokumentation 39/2015 31

Juden und ihre Rituale und Bräuche von einer Das bedeutete eine Niederlage für ihn, nicht aber »ethnographischen Blickrichtung« aus präsentiert. für sein Buch und die darin ausgeführten Be- Diese ethnographische Sichtweise ist aber keine obachtungen. Der Gantz Jüdisch Glaub wurde bis neutrale oder gar positive Abhandlung – es geht ins frühe 18. Jahrhundert wiederholt aufgelegt Margaritha durchaus darum, das zeitgenössische und beeinflusste christliches Wissen über Juden Judentum negativ darzustellen und besonders und Judentum durch die Frühe Neuzeit hindurch. dessen antichristliche Haltung, die sich in einer Das Buch wurde von ganz unterschiedlichen Vielzahl von Gebeten und Bräuchen äußert, dar- Lesern zur Hand genommen und rezipiert, unter zustellen. Er appelliert an die Obrigkeit, mit Ju- anderem auch von Martin Luther, für den es eine den schärfer umzugehen und sie in ihren Rechten wichtige Quelle über das deutsche Judentum im (noch) mehr einzuschränken. frühen 16. Jahrhundert wurde.36

Es ist sehr wahrscheinlich, dass Margaritha das Jüdisch-christliche Beziehungen im Alltag Erscheinen des Buches auf den Reichstag, der 1530 in stattfand, abgestimmt hatte. Er Anthonius Margarithas Buch war innovativ, weil hoffte auf eine Gelegenheit, öffentlich den jüdi- es einen »ethnographischen« Blick auf deutsche schen Hass auf alles Christliche, den er in vielen Juden einführte und das Alltagsleben zeitgenössi- jüdischen Ritualen zu erkennen glaubt, bekannt- scher Juden in den Vordergrund rückte. Nicht machen zu können, und erwartete sich eine ent- jeder Kontakt zwischen Juden und Christen im sprechende Reaktion christlicher Behörden und 16. Jahrhundert war so spannungsgeladen und die Einschränkung jüdischer Praxis in deutschen von den ungleichen Machtverhältnissen be- Landen. Josel von Rosheim wurde beauftragt, stimmt. Es lassen sich viele Belege für ganz nor- Margaritha in einer öffentlichen Begegnung wäh- male Alltagskontakte finden, wo Juden und Chris- rend des Reichstag entgegenzutreten und eine ten in den gleichen Häusern lebten, gemeinsam jüdische Stellungnahme zu präsentieren. Josel reisten, in Wirtshäusern tranken, Karten spielten von Rosheim und Margaritha berichten beide, oder als Zuschauer zu Pferderennen gingen.37 dass die von Margaritha vorgebrachten und von Juden und Christen unterschieden sich aber auch ihm widerlegten Hauptanklagepunkte waren, in vielem. Die meisten Juden, die in kleinen Ge- dass die Juden die Nationen, in deren Mitte sie meinden auf dem Land lebten, waren im Handel lebten, verfluchten und das Christentum und tätig, häufig in Verbindung mit verwandten Jesus in ihren Gebeten verunglimpften. Dienstleistungen. Die meisten Christen arbeiteten in der Landwirtschaft. Arm waren beide Gruppen, Margaritha hatte aber die politische Lage nicht aber den Juden ging es oft besser als ihren christ- richtig eingeschätzt und was zu einer anderen lichen Nachbarn, weil ihnen in der Wirtschaft Zeit auf offene Ohren getroffen wäre, interessierte mehr Möglichkeiten zur Flexibilität offenstan- den Kaiser diesmal nicht. Kaiser Karl V hatte sich den.38 zu diesem Zeitpunkt zwei enormen politischen Herausforderungen zu stellen. Von aussen stellte Wie bereits erwähnt, bedeutete die erzwungene das Ottomanische Reich (1529 wäre Wien fast in Mobilität, dass Juden einen weiteren räumliche- die Hände der Türken gefallen) eine ernsthafte ren Horizont hatten als die meisten Christen. Gefahr dar und im Inneren drohte die Reformati- Wegen der Niederlassungsbeschränkungen lebten on die Einheit der Kirche zu spalten und politisch jüdische Familien über große Distanzen verstreut. schwerwiegende Konsequenzen zu haben. Sich Der oben erwähnte Anthonius Margaritha wuchs zu dieser Zeit mit angeblicher jüdischer Disloyali- in Regensburg auf, hatte aber als Kind eine Zeit- tät und Subversion auseinanderzusetzen, hätte lang in Prag gelebt (wo sein Onkel Rabbiner war) auch bedeutet, die Behauptung, dass die Juden und er hatte Verbindungen zu Italien, weil sein im Reich gefährlich seien, zu akzeptieren. Das Bruder als Kantor in Verona fungierte. Solche wäre eine unwillkommene Ablenkung gewesen familiären Kontakte wurden genützt, wenn es und hätte auch zu einer Neuordnung des Juden- darum ging, Geschäfte zu erledigen, Kindern eine rechts führen müssen. Es passte dem Kaiser, die Ausbildung zu ermöglichen oder einen geeigneten Situation, wie sie Josel von Rosheim darstellte, zu Ehepartner zu finden. Christen lebten normaler- akzeptieren, weil es die existierende Ordnung weise nahe zu ihren Famlien und suchten ihre bewahrte. Margaritha wurde nach der Disputation Heiratspartner aus der näheren Umgebung aus. gefangen genomen und unter Schwören der Ur- Für Christen spielte sich das Leben in einem sehr fehde aus Augsburg verbannt. überschaubaren Rahmen ab, während es »Juden stärker bewusst gewesen zu sein [scheint], daß es 32 39/2015 epd-Dokumentation

ein Leben jenseits ihres Dorfs oder ihrer Stadt Anmerkungen: gab«.39 1 Die Literatur dazu ist in den letzten Jahren stark angewachsen. Für einen guten Überblick zur Forschungsdebatte siehe Julia Zu diesem breiteren Horizont gehörte auch das Brauch, Anna Lipphardt and Alexandra Nocke, eds., Jewish Bewusstsein des eigenen Wertes als Juden als Topographies: Visions of Space, Traditions of Place. Aldershot: authentische Bewahrer des biblischen Erbes und Ashgate, 2008. einer ruhmreichen Geschichte.40 Trotz aller objek- tiven Schwierigkeiten, die das Leben in Deutsch- 2 Johannes Cochläus, Brevis Germaniae descriptio, 1512. land im frühen 16. Jahrhundert für die Juden als religiöse und ethnische Minderheit mit sich 3 Breuer, »Prolog«, in: Mordechai Breuer und Michael Graetz, brachte, sollten Juden nicht (nur) als passive eds., Deutsch-Jüdische Geschichte in der Neuzeit. Band I: Tradi- Opfer christlicher Aggression und Verfolgung tion und Aufklärung, 1600-1780. C. H. Beck: München 1996, 57. betrachtet werden, sondern durchaus als selbst- 4 Friedrich Battenberg, Die Juden in Deutschland vom 16. bis bewusste Akteure, die ihre eigene Identität im zum Ende des 18. Jahrhunderts. München: Oldenbourg 2001, Umgang mit der christlichen Welt durchaus 11. selbstbewusst zu behaupten wussten. 5 Breuer, »Prolog«, 58. Zusammenfassung 6 Michael Toch, »Siedlungsstruktur der Juden Mitteleuropas im Das Ziel dieses Beitrags war die Darstellung mit Wandel vom Mittelalter zur Neuzeit« in: Alfred Haverkamp und einer Reihe von konkreten Beispielen, wie man Franz-Josef Ziwes, eds., Juden in der christlichen Umwelt wäh- sich »jüdischen Raum« im frühen 16. Jahrhundert rend des späten Mittelalters. Berlin: Duncker & Humblot 1992, vorstellen kann. Es ist ein sehr mobiler und oft 29-39. unsicherer Raum, der Flexibilität erforderte und 7 Battenberg, Die Juden in Deutschland, 3. Horizonte erweiterte. Die allgemeine Lage blieb über Jahrhunderte ungewiss und gefährlich, aber 8 Ibid, 11. die notwendige Mobilität bedeutete auch, dass man Kenntnisse von einer größeren Welt hatte. 9 Michael Toch, Die Juden im mittelalterlichen Reich. München: Es ist auch ein Raum, in dem enge Kontakte mit Oldenbourg, 1998, 13. christlichen Nachbarn, über die man recht gut 10 Battenberg, Die Juden in Deutschland, 3-4. Bescheid wusste, und weitläufige Beziehungen zu weit entfernten Verwandten und Geschäftspart- 11 Arye Maimon, Germania Judaica, 3.1. Tübingen: Mohr, 1987, nern bestanden. Es ist ein Raum, in dem sich die 348. Die Anzahl der jüdischen Haushalte in 1503 betrug 28, was kulturellen Leistungen des Judentums vor allem auf eine geschätzte Zahl von etwa 200 Personen umgerechnet auf das Konservieren älterer Traditionen kon- wird. zentrierte, um in dieser Umbruchphase Halt und Kontinuität zu schaffen. Im getreuen Bewahren 12 Ibid. von althergebrachten Bräuchen wurde der Bezug 13 Toch, Die Juden im mittelalterlichen Reich, 13. zu Orten mit langer jüdischer Siedlungstradition bewahrt und so blieb in gewissem Sinne eine 14 Battenberg, Die Juden in Deutschland, 86-7. virtuelle Verbindung zu einer Stadt oder Region bestehen, auch wenn dort keine Juden mehr leb- 15 Benjamin Ravid, »Alle Ghettos waren jüdische Viertel, aber nicht ten. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass alle jüdischen Viertel waren Ghettos«, in: Fritz Backhaus et al., gerade diese identitätsstiftenden Rituale mit ih- eds., Die Frankfurter Judengasse: Jüdisches Leben in der frühen rem Beharren auf Authentizität von ehemaligen Neuzeit. Frankfurt: Societäts-Verlag, 2006, 13-30. Juden wie Anthonius Margaritha und anderen 16 Fritz Backhaus, »Die Bevölkerungsexplosion in der Frankfurter Autoren mit Konversionshintergrund polemisch Judengasse des 16. Jahrhunderts«, Fritz Backhaus et al., eds., gedeutet wurden und von Martin Luther als Die Frankfurter Judengasse: Jüdisches Leben in der frühen Rechtfertigung für die von ihm geforderte »schar- Neuzeit. Frankfurt: Societäts-Verlag, 2006, 103-117. fe Barmherzigkeit«, eine Liste mit Forderungen, die das jüdische Leben in Deutschland stark ein- 17 Robert Liberles, »An der Schwelle zur Moderne: 1618-1780«, geschränkt und nahezu unmöglich gemacht hät- in: Marion A. Kaplan, ed., Geschichte des jüdischen Alltags in 41 ten, verwendet wurden. Deutschland: vom 17. Jahrhundert bis 1945. München: C. H. Beck, 2003, 37.

18 Ibid., 33.

19 Ibid., 37. epd-Dokumentation 39/2015 33

20 Ibid., 59. 31 Ibid., 31.

21 Ibid., 59-60. 32 Elisheva Carlebach, Divided Souls: Converts from Judaism in , 1500-1700. Yale University Press, 2001, 175-176. 22 Toch, Die Juden im mittelalterlichen Reich, 17. 33 Toch, Die Juden im mittelalterlichen Reich, 32. 23 Siehe dazu Ronnie Po-chia Hsia, »The Usurious Jew: Economic Structure and Religious Representations in an Anti-Semitic Dis- 34 Yaacov Deutsch, Judaism in Christian Eyes: Ethnographic course«, in: Hartmut Lehmann and R. Po-chia Hsia, eds., In and Descriptions of and Judaism in Early Modern Europe. New Out of the Ghetto: Jewish-gentile relations in late medieval and York: Oxford University Press, 2012. early modern Germany. New York: Cambridge University Press, 35 Zu Anthonius Margaritha siehe Maria Diemling, »Anthonius 1995, 161-176. Margaritha and his 'Der Gantz Jüdisch Glaub'«, in: Dean Phillip 24 Toch, Die Juden im mittelalterlichen Reich, 17-18. Bell and Stephen G. Burnett, eds., Jews, Judaism and the Refor- mation in Sixteenth-Century Germany. Leiden-Boston, Brill, 2006, 25 Für eine gute Übersicht über die Konfiskation jüdischer Bücher 303-33; Michael T. Walton, Anthonius Margaritha and the Jewish siehe Avner Shamir, Christian Conceptions of Jewish Books: The Faith: Jewish Life and Conversion in Sixteenth-Century Germany. Pfefferkorn Affair. Copenhagen: Museum of Tusculum Press, Detroit: Wayne State University Press, 2012. 2011. 36 Peter von der Osten-Sacken, Martin Luther und die Juden: neu 26 Joseph M. Davis, Yom-Tov Lipmann Heller: Portrait of a Seven- untersucht anhand von Anton Margarithas »Der gantz Jüdisch teenth-century Rabbi. Oxford: Littman Library of Jewish Civiliza- glaub« (1530/31). Stuttgart: Kohlhammer, 2002. tion, 2004, 143. 37 Breuer, »Prolog«, 64. 27 Selma Stern, Josel von Rosheim. Befehlshaber der Judenschaft im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation. Stuttgart 1959. 38 Liberles, »An der Schwelle zur Moderne: 1618-1780«, 119- Chava Fraenkel-Goldschmidt, ed., Josel von Rosheim: The histor- 120. ical writings of Joseph of Rosheim. Leader of Jewry in early 39 Ibid., 120. modern Germany. Leiden: Brill, 2006.

28 Hans-Martin Kirn, Das Bild vom Juden im Deutschland des 40 Dean Phillip Bell, Jewish Identity in Early Modern Germany: frühen 16. Jahrhunderts, dargestellt an den Schriften Johannes Memory, Power and Community. Aldershot: Ashgate 2007.

Pfefferkorns. Tübingen: Mohr, 1989, 166. 41 Thomas Kaufmann: Luthers Juden. Stuttgart: Philipp Reclam,

29 2014; Thomas Kaufmann, Luthers »Judenschriften«. Ein Beitrag Battenberg, Die Juden in Deutschland, 22. zu ihrer historischen Kontextualisierung. Tübingen: Mohr Siebeck, 30 Toch, Die Juden im mittelalterlichen Reich, 32. 2011 (2. durchges. Aufl. 2013).

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Jewish Responses to Martin Luther: Diplomacy, Polemics and Proximity Von Prof. Debra Kaplan, Bar-Ilan University1, Ramat Gan

Reformator, Ketzer, Judenfeind. Jüdische Christians were reading the Bible, and were de- Perspektiven auf Martin Luther. Tagung der stroying icons, paying heed to the Second Com- Evangelischen Akademie zu Berlin und des mandment – two behaviors that brought them Zentralrats der Juden in Deutschland, Berlin more in line with Judaism – perhaps the messiah 10.-12.6.2015 was going to arrive.4

In the year 280, according to the small counting, By contrast, the aforementioned anonymous [1518-1519] there arose a monk, and his name German-Jewish polemic does not report changes was Martina [sic], which means bitter material to in theology. Rather, it refers to detailed infor- Israel.«2 mation about Luther’s actual (and shifting) writ- ings about the Jews: This excerpt from an anonymous Jewish polemic written in response to Luther’s 1538 Against the And he [Luther] said that [one should] not place Sabbatarians began with a play on words. The a heavy burden on the Jews, and that [one author took the Hebrew word for monk, komer, should] behave towards them in a respectful and and likened it to the Hebrew word for material, loving manner, and he brought proof and com- homer. By adding the first syllable of Luther’s posed a book, »Jesus from the family of He- name, mar, which means bitter in Hebrew, the brews.«5 author sought to establish that the name of the monk Martin Luther evoked the »bitter material« The author was clearly referring to Luther’s 1523 which he brought to Jews. tract, That Jesus Christ was Born a Jew, in which Luther urged Christians to treat the Jews kindly. Other contemporary Jewish writers similarly The author continued, explaining that by the late mocked Luther with linguistic creativity. Two 1530’s, Luther write very differently about the additional polemicists, whose works we will ex- Jews: pound upon shortly – Eliezer ben Abraham Ei- lenberg and Josel of Rosheim, respectively re- And [people] mocked him, [saying] that he was ferred to Luther with a different play on words. a little bit like a Jew, and he regretted it. In or- They wrote Luther’s name as »lo tahor« in He- der to divert suspicion, since people were com- brew script, which sounded phonetically like plaining about him and saying that his faith Luther, but which meant »impure.«3 tended towards Judaism, when he heard all of this, he changed his words, and wrote to all the Looking at the references to Luther as impure and nations to act badly towards us, and he said as bitter material for Israel, one might think that that he did what he had done previously to at- the Jewish response to Luther was unequivocally tract [Jews] to the [Christian] faith, but once he negative. However, the Jewish response to Luther saw that they were not turning to [Christianity], and to the Reformation was far more complex. and they were stiffnecked, and did not listen to The Jews of Germany, who witnessed the Refor- them, he wrote libels about them…and he put mation firsthand, who heard, observed, and dis- into a book all the accusations and lies he could cussed the changes taking place among their find, and he gave the Jews a name, calling them Christian neighbors were responding to concrete Sabbatarians, which comes from the word Sab- events, people, and changes as they occurred on bath, meaning that they observed the Sabbath.6 the ground, and their reactions to Luther and to the Reformation reflect as much. This text differs from that of Joseph ha-Kohen, who heard reports of iconoclasm and reflected on To illustrate this point: As reports of the Refor- their theological significance. The German author mation first began to circulate, Jews from all over closely tracked Luther’s writings in real time, Europe and the wrote about noting the shift in Luther’s policy toward the these developments excitedly. The Italian Jewish Jews. This led him to , write the polemical text to writer, Joseph ha-Kohen and other Jews living which we will return below as an explicit re- outside the argued that if sponse to Against the Sabbatarians. epd-Dokumentation 39/2015 35

As Haim Hillel ben Sasson argued decade ago in a that either directly responded to Luther’s actions critical article, Jews living in Germany had a dif- or writings, or that dealt with the Reformation ferent perspective on the Reformation than did based on information to which they, as local resi- Jews residing elsewhere.7 The Jews of German dents of the Holy Roman Empire, had access. lands did not merely hear about theological de- Looking at both diplomacy and at polemics in velopments, but rather, they witnessed the tandem highlights two aspects of the Jewish re- changes of reform firsthand. They were therefore sponse to Luther. First, the Jewish response to much more aware of the slow process of magis- the Reformation and to Luther was not negative trates, people, and clergy making reforms, and per se, but instead responded to concrete devel- were far more attuned to the attitudes of reform- opments on the ground; second, it reiterates the ers toward local Jews.8 Their reactions to Luther, degree to which Jews were aware of and inter- therefore, differed from those of their brethren twined with their Christian neighbors in the Em- living under Catholic or Muslim rule. They were pire. present for the changes of the Reformation, were impacted by the changes, and responded in kind. Jewish Diplomacy: Josel of Rosheim

Because the German-Jewish response to Luther Let us begin with diplomacy. Jewish diplomatic and to the Reformation was very much a product efforts in Holy Roman Empire during the six- of the circumstances in which they lived, it is teenth century were undertaken by Josel of essential to underscore a few aspects of Jewish Rosheim, the Befehlshaber Gemeine Judisheit. A life in the Holy Roman Empire during the Refor- native of , Josel was first appointed as the mation. By the sixteenth century, the Jews, who representative of Alsatian Jewry in 1510, and had lived primarily in urban areas of the Empire later represented the entire German Jewish com- throughout the Middle Ages, had been expelled munity until his death in 1554.11 I would like to from the major cities. Although each city and concentrate on three different occasions on which principality in the Empire has its own local histo- Josel was involved in negotiations connected to ry, by and large, those Jews that remained in the the Reformation or to Protestant reformers: the Empire lived either in small villages and towns, Peasants’ War in 1525; the expulsion of the Jews where they faced restrictions on the number of of in 1537; and the publication of Luther’s Jewish families that were permitted residence, or On the Jews and their Lies in 1543. else, they resided in the ghettos of Frankfurt and Worms.9 Yet despite the expulsions and quotas, The Peasants’ War and the special laws and taxes to which only Jews were subject, Jews were nevertheless very In late 1524 and 1525, the peasants in Holy Ro- much integrated into their surroundings. In both man Empire rebelled, seeking various rights in- the villages in which only a few Jewish families cluding the right to fish and hunt, the right to use were permitted to reside among a few thousand the woods and meadows, the right of each com- Christians, or in ghettos such as those in Frank- munity to appoint its own preacher, the elimina- furt and Worms, Jews knew and interacted with tion or reduction of certain taxes, and the aboli- Christians on a daily basis. Archival documents, tion of serfdom.12 They couched their demands in polemical literature, and rabbinic responsa all the language of the Protestant Reformation, alt- record these interactions; the economic contacts hough ultimately, Luther advocated for a magiste- between Jews and Christians; the familiarity that rial reformation – one that worked with local Jews had with local and imperial courts; the fact authorities, rather than through violence, to at- that Christians and Jews attended one another’s tain its goals. family celebrations and mourning, in contraven- tion of religious law.10 Local Jews were therefore In Alsace, the peasants mobilized their forces in well-apprised of the deep changes that the Altdorf, about eighteen kilometers southeast of Reformation wrought in Germany. . Local Christian leaders, such as the local Landvogt and Martin Herlin, a councilor The Jewish-German responses to the Reformation from Strasbourg, attempted to negotiate with the and to Luther more specifically can be catego- leader of the Alsatian peasants, Erasmus Gerber. rized into two different (and interrelated) types: Strasbourg’s clerics, including Protestant reform- diplomacy and polemics. Jews engaged in diplo- ers Matthias Zell, , and Martin macy with various Christian leaders, seeking to Bucer, also visited the peasants’ leaders, claiming secure a safe and stable environment in which that their actions were not in line with Christian Jews could live. In addition, they wrote polemics teaching. Like Luther, Strasbourg’s reformers 36 39/2015 epd-Dokumentation

called for a magisterial reformation, arguing that This episode, though not directly connected to reform of the church should be implemented with Luther, is significant because it demonstrates the acquiescence of princely and urban authori- quite clearly that Josel collaborated with ties.13 Protestant reformers. He embraced a Lutheran position in his own negotiation with the peasants. Josel of Rosheim also went to negotiate directly Thus, although Josel (as we shall see shortly), with the peasants. Indeed, Josel personally knew like the anonymous Jewish polemicist, referred to one of the leaders of the peasants, Georg Ittel, as Luther in very harsh terms, this disagreement the latter had once served as Schultheiss of was neither ideological nor theological. Both the Rosheim.14 A close look at Josel’s description of negotiation during the Peasants’ Rebellion as well his negotiation with the peasants reveals that as the intimate relationship between Josel and Josel’s negotiation was closely linked to the nego- Capito – one which extended to Josel attending tiations headed by Strasbourg’s leadership; he Protestant sermons – demonstrate that Josel’s also advocated against the peasant use of vio- opposition to Luther was not rooted in opposition lence. This can be seen from the specific language to per se. that Josel used to describe the Peasants’ War in his Hebrew chronicle. There, Josel explained that Expulsion from Saxony the peasants »wished to swallow us alive.«15 This was a reference to a passage in Tractate Avot in Why did Josel and other Jews come to view Lu- the Mishnah, in which R. Haninah used the same ther in harsh terms? This brings us to a second phrase of »swallowing alive« to refer to chaos diplomatic attempt by Josel, a direct exchange against the reigning authority.16 As Josel recount- between him and Martin Luther. In 1537, the ed in his Hebrew chronicle, he approached the privileges of the Jews of Saxony were set to ex- peasants and warned them that the Bible advo- pire. Josel sought a meeting with Luther, to ask cated against violence, and mandated supporting him to advocate with the elector on the Jews’ the ruling authorities, as Rabbi Haninah had behalf. In order to obtain an audience with Lu- urged in the mishnah.17 In other words, like his ther, Josel solicited letters from the magistrates of Christian contemporaries, Josel argued for a mag- Strasbourg and from Wolfgang Capito. Both rec- isterial reformation. ommended that Luther meet with Josel.21 Howev- er, Luther declined the meeting, writing that he This is significant because it was not by chance would not help those who »had injured the peo- that Josel presented the same argument as did the ple in body and property, and whose beliefs and religious and municipal leaders of Strasbourg. In superstitions had led may Christians astray.«22 addition to his meeting with the peasants, Josel had engaged in direct negotiations with Stras- This second diplomatic encounter reinforces some bourg’s political leadership in order to obtain of what we already saw in the negotiation over refuge for the Jews in the city to protect them the Peasants’ Rebellion. Here, too, Josel was sup- from the peasants. He maintained a close rela- ported by Strasbourg’s magistrates and by Wolf- tionship with Strasbourg’s magistracy for many gang Capito. Just as the city that had expelled its years, as is recorded in his correspondence main- Jews provided them with refuge in 1525, its lead- tained in the city archives, and attested to in his ers similarly sought to help Josel obtain an audi- own writings to the Jewish community.18 Josel ence with Capito. Luther’s refusal to help, which, also had close relations with the reformer (and as we shall see when we turn to polemical litera- negotiator) Wolfgang Capito. Josel relates having ture, greatly angered Josel, set the stage for Jo- attended Capito’s sermons; Capito turned to Josel sel’s third diplomatic encounter. with questions about Jews and books.19 Based on all of these relationships, I would argue that the Publication of On the Jews and their Lies diplomacy we see here was coordinated between Josel and Strasbourg’s leaders. When Josel In My third example of diplomacy is from 1543. In addition to negotiating directly with the peasants, that year, Martin Luther published two of his Josel asked for and was granted permission for notoriously anti-Jewish tracts, On the Jews and Jews to seek refuge in Strasbourg.20 He likely their Lies, and Von Schem Mephoras.23 In re- discussed the situation with Strasbourg’s leaders sponse, Josel of Rosheim wrote two letters to in that conversation, and together, they decided Strasbourg’s magistrates, one in May of 1543, and to negotiate with the peasants using the same one in July of that same year, beseeching the tactics. magistrates to prohibit the publication of Luther’s works in Strasbourg.24 Afraid that the common epd-Dokumentation 39/2015 37

folk would interpret Luther’s writings as a justifi- In 1536/7, the Duke and Prince Hans of Saxony cation to attack Jews, Josel asked the magistrates came to abandon us, and not to allow the Jew- to ban the publication of Luther’s anti-Jewish ish nation walking space [Deut. 2:5] in all of his treatises. 25 In both May and July, the magistrates lands because of the priest who is called Martin agreed, and even used their influence to ensure Luther, may his soul and body be enshrined in the safety of neighboring Jews in Hochfelden in hell, who wrote many heretical books. The idea the wake of the first publication.26 spread from him that whoever helps the Jews, his hope is lost.28 This third example of diplomacy is perhaps the most surprising: that a Protestant center of print- Here, Josel criticized Luther and referred to his ing would acquiesce to ban the publication of books as heretical. Whereas some scholars have Luther’s tract at the request of a local Jew. Yet argued that Josel sided with Catholics against this occasion also demonstrates the strong rela- Protestantism, this was clearly not the case. As tionship between Jews and certain local and reli- we have seen, Josel attended Protestant sermons, gious leaders; the shared interest that both Jews and worked on several occasions with Protestant and Christian authorities had in preventing vio- leaders – he discussed books with Capito, he lence; and the extent to which Jews were in- coordinated the negotiations about the Peasants’ volved with their neighbors in Reformation Ger- War, and he worked with Strasbourg’s magistracy many. on countless occasions. Rather, Luther’s »« is identified by Josel in this text: Luther refused to Polemics help the Jews, and argued that »whoever helps the Jews, his hope is lost.« Josel, by contrast, In his writings, Josel praises Wolfgang Capito and wrote elsewhere that »the greater the ruler, the the magistrates of Strasbourg, noting how the more merciful they are toward the Jews.«29 Lu- Jews were indebted to them for the refuge that ther’s heresy was in refusing to help the Jews; was granted to Jews during the Peasants’ War, Josel praised other Protestant leaders, such as and for the support he had received regarding Capito and Strasbourg’s magistracy, who had Luther. His attitudes toward Luther, however, made the opposite choice. Josel’s intensely nega- were extremely negative. We have already seen tive depiction of Luther stemmed not from Lu- that Josel referred to Luther as »lo tahor« – im- theran theology, but from his opposition to the pure. Josel expanded by saying: concrete choices Luther had made in refusing to help Josel and in publishing harmful tracts That new faith that was established by the against the Jews. priest named Martin Luther, an impure man [lo tahor], he sought to destroy and to kill all of the The personal animosity which Josel had toward Jews from youth to elder. Blessed is God who Luther is mirrored in another contemporary po- thwarted his idea, and who spoiled his plans, lemical text. Eliezer b. Abraham Eilenberg, who and who showed us vengeance and many salva- was originally from Braunschweig but who reset- tions, until this day.27 tled in Safed, recounts his expulsion from Braun- schweig in a kabbalistic manuscript he composed In addition, the language Josel used to describe in the mid-sixteenth century. In it, he blamed the Luther’s plans is taken from the Book of Esther, expulsion from Braunschweig on »the advice of and those words describing God’s reversal and the foul priest, Martin Luther«.30 salvation cite the blessing recited at the conclu- sion of the ritual reading of the book of Esther on Eilenberg’s harsh feelings toward Luther are not Purim. Thus, Josel used Purim and the Book of surprising, as scholars have shown, in Braun- Esther to link Luther to the archetypal villain, schweig, the expulsion of the Jews was a direct Haman, and to underscore the ultimate destiny of result of the anti-Jewish rhetoric in On the Jews final salvation. and their Lies.31 Eilenberg’s anger at Luther, re- flected in the spelling of his name as »lo tahor« Josel similarly criticized Luther in another pas- and in his terming Luther a »foul priest« – a few sage, in which he reports his side of what hap- lines later Eilenberg refers to Luther as the »arch- pened in the second negotiation mentioned heretic« – was personal. Eilenberg blamed Luther above, in which he asked Luther for help regard- for the expulsion of his family – correctly, it ing the expiring privileges in Saxony: would seem – and thus, like Luther, his dislike was motivated by concrete personal experiences. 38 39/2015 epd-Dokumentation

Like Eilenberg and Josel, the anonymous Jewish They said to us, if you are righteous and your polemicist also referred to Luther harshly – here, faith is true, then why are you lingering in exile, as bitter material, homer mar, in the wake of a if not for the sin and crime that your forefathers concrete occurrence: the publication of Against did to their God? We should respond: This the Sabbatarians. world is a vale of tears, and thus Martin wrote in his book, vale of tears in the German lan- This third polemic, however, opens our eyes to guage is Jammerthal.34 another significant aspect to Jewish polemics against Luther. These, too, were shaped by the The charge that the Jews’ exile was a result of the local context. Even though this text contains sev- crucifixion can be traced back to the church fa- eral theological refutations of Luther, when one thers, and there were multiple Jewish responses looks closely at the text, it becomes clear that the to this Christian claim.35 polemicist’s access to Luther was heavily mediat- ed through both contacts with his neighbors and Rather than draw upon those well-known medie- his own presence in Lutheran space in the Em- val responses, the polemicist charges that Lu- pire. ther’s own writings had depicted the world as a »Jammerthal.« The word was used in Luther’s As I mentioned earlier, the Jewish author claims Bible, in the translation of Psalms 84; in Luther’s that his text – only a fragment of which is still short catechism; and in some of his sermons.36 extant – was a direct and explicit refutation of Another route through which this author could Against the Sabbatarians. It was intended to pre- have heard the word »Jammerthal« in conjunc- sent a Jewish rebuttal of Luther’s arguments. tion with Luther is one of Luther’s hymns.37 All of Upon close examination, however, the Jewish these possibilities reflect the ways in which Lu- polemic did not respond directly to Luther’s text. theran laypeople accessed Luther’s ideas. They This is even clear from the first passage, which did not read Lutheran theology, but read his Bible we saw above: and catechism, heard sermons, read popular ver- sions of Luther in German, and sang Lutheran Once he [Luther] saw that they were not turn- hymns.38 The source of the Jew’s information on ing to [Christianity], and they were stiffnecked, Luther may have been a Lutheran neighbor who, and did not listen to them, he wrote libels about in the course of discussion, shared information them…and he put into a book all the accusa- with his Jewish neighbor, as Jews and Christians tions and lies he could find, and he gave the had done for centuries. The Jewish author proba- Jews a name, calling them Sabbatarians, which bly heard this idea through a conversation he had comes from the word Sabbath, meaning that had with a Lutheran friend or neighbor, who they observed the Sabbath.32 passed on his understanding of Luther as he had accessed it through print, song, or preaching. The Jewish author erred here. Luther did not refer to Jews as Sabbatarians – he was referring A second example demonstrates that along with to those Christians who observed a day of rest on conversations that the author may have had with Saturday. The Jewish polemicist was correct that Christian neighbors, some of the his knowledge Against the Sabbatarians attacked the Jews; how- of Luther may have come from his familiarity ever, had he read the text, it would have been with Lutheran space. The author devoted a large clear to him that the Sabbatarians were Chris- section of the introduction to refuting the belief in tians, not Jews. saints, noting that »there are those among Chris- tians« who held such a position.39 He asserted The fact that the Jewish polemicist had not read that Jews had no such mediating figures, explain- Against the Sabbatarians is made clear from the ing that although Jews had their own heroic, fact that the content of Luther’s treatise differs righteous leaders: from the Jewish response.33 He instead learned of Luther’s teachings from other sources, as will be We do not call upon them to help us…and we demonstrated through two short examples from do not establish on their behalf any holiday, as the Jewish polemic. some nations and Christians do, and they for example, honor their images and when they see First, in one of the short sections aimed at ration- their likenesses drawn on the wall or sculpted alizing the lengthy Jewish exile, the author wrote: in wood.40 epd-Dokumentation 39/2015 39

Ironically, if the Jewish author had been familiar saw Lutheran churches.45 It is likely that this Jew with Luther’s theological writings, he would have lived in or near a city that had retained some of known that Luther did not believe in icons, but its icons, and so he saw that this old Jewish ar- rather advocated for an iconoclasm of the heart, gument against Christianity as still relevant and in which common folk would stop believing in valid. Moreover, since Christian reception of Lu- the mediating power of saints.41 Although the ther was not always exactly parallel to what Lu- Jewish polemicist would have argued against ther had intended, the Jewish author may not both the image and the power attributed to the have had enough access to Lutheran theology to saints, his focus here is on the futility of saints. understand that while in practice, some Lutheran churches retained their icons, the argument he Attacking the belief in saints, icons and relics was had constructed against the mediating power of surely among the weakest possible arguments saints was meaningless for refuting Luther.46 one could level against Luther. The Jewish argu- ment against saints had been used frequently in The contact that the author had with medieval polemics, but it is difficult to under- was primarily based on what he saw around him stand why the author would have included that and what he heard from neighbors. This is also in the context of the Reformation, especially seen in his advice to the Jews reading the polem- when his language, cited above, specifies that this ic. To explain the new threat that Lutheranism was a belief held by some Christians, suggesting posed to Jews, the author described the centrality that he knew that there were those who did not of scripture to Luther’s faith, explicating that the adhere to the belief in saints. Indeed, it is impos- Bible was the basis of Lutheranism. »Their faith is sible to argue that this German Jew knew nothing [based on] our prophets and holy writings, and if of the iconoclasm that had often ushered reform we did not have prophets, then they would have into various cities in the Empire.42 As I mentioned no proof or anything to say.«47 Perceiving the at the start of this presentation, even Jews living primacy that Protestants gave to the biblical text as far away as Italy and the Ottoman Empire had as a grave danger to Jews, he warned his readers excitedly discussed this development, reporting to refrain from discussing the Bible in conversa- the violent acts that had taken place in some tion with Lutherans: German cities. For example, like R. Joseph ha- Kohen, who I mentioned earlier, R. Abraham Ibn And at first, do not begin and talk to them [us- Megas, the physician to Sultan Suleiman the ing references] from the Torah, the Prophets Magnificent in the Ottoman Empire, wrote that: and the Writings. And it is only through the way of nature, and with heart and mind that God has aroused the spirit of the Lutherans – one should believe. For it is apparent that there who originally belonged to them, but now re- is a unity governing the entire world, ruling jected their views – to destroy their stelae, de- over what is below and above. And this is what molish their towers and burn the graven images you must do to purify and cleanse them, speak of their gods....Now behold, this congregation to them as if there were no book in the world.48 has cast off all faith in icons and priests, and has discarded the form of this worthless creed.43 The author’s admonition against using biblical sources in discussions with Lutherans clearly Protestant iconoclasm and theology was known establishes that Jews were talking to their to Jews living in faraway Catholic and Muslim Protestant neighbors. Neighborly discussions lands; surely German Jews would have been bet- about faith were, in fact, the reason for the com- ter informed of Lutheran trends compared to their position of the polemic. It is noteworthy that the brethren living elsewhere. Moreover, early Italian author did not instruct his readers to cease speak- Jewish reports of the Reformation had cited cor- ing with their neighbors. Rather, he recommend- respondence with German Jews as the source of ed that in these conversations, Jews steer clear their information, reiterating that German Jews from discussing the Bible, and instead, under- knew all about iconoclasm and the Reformation.44 score the rational nature of Judaism. Sensing the potential seductiveness of a Christianity that The author’s choice of saints and icons as polem- claimed to use text alone, the author stressed that ic makes little sense if one assumes that he had monotheism was a self-evident and rational truth, read Luther. What we see instead is that the au- and that scripture was unnecessary for belief in thor learned about Luther from Lutherans and Judaism. from Lutheran space. As a resident of Germany, he had relationships with local Christians, and 40 39/2015 epd-Dokumentation

The polemical response to Against the Sabbatari- that they shared with both Luther and with Ger- ans underscores the degree to which Jews and many’s Lutherans. Christians interacted in the same spaces, and the degree to which the Jewish response to the Reformation was dictated by their access to and experience of Luther and his teachings in their Anmerkungen: local home environment. In all of the examples 1 This lecture is drawn from several of my publications, including: we have seen, the Jewish response to Luther and Debra Kaplan, Beyond Expulsion: Jews, Christians and Refor- the Reformation in Germany was based on per- mation Strasbourg (Stanford, 2011); idem., »Sharing Conversa- sonal knowledge and experiences. tions: A Jewish Polemic Against Martin Luther,« Archiv für Refor- mationgeschichte, 103 (2012): 41-63, and a forthcoming article, As we have seen, it was the content and impact Entangled Negotiations: Josel of Rosheim and the Peasants’ of Luther’s writing that fueled the anonymous Rebellion of 1525. polemicist and Eilenberg’s respective references to Luther in harsh terms; similarly, Josel’s nega- 2 Ms. Mich. 121, fol. 270r. Unless otherwise noted, all transla- tive depiction of Luther stemmed from Josel’s tions are my own. anger at Luther’s refusal to help the Jews. These negative terms are personal, not theological; they 3 References are given below. are tangible responses to Luther’s writings, the 4 See the discussion of R. Abraham Farissol and R. Abraham ibn consequences of those writings, and to Luther’s Megas in Haim Hillel Ben Sasson, »The Reformation in Contem- actions. porary Jewish Eyes,« Proceedings of the Israel Academy of Sciences and Humanities 4, 12 (1970): 239-326. Indeed, the fact that it was life’s experiences ra- ther than theology that shaped the local Jewish 5 MS Mich. 121, fol. 270v. response to Luther and to the Reformation is evident from Josel’s diplomacy. His negotiations 6 MS Mich. 121, fol. 270v. with the peasants, the refuge he obtained in 7 Ben Sasson, »Reformation in Contemporary Jewish Eyes.« Strasbourg, and his success at preventing the publication of Luther’s anti-Jewish tracts all 8 Lorna Jane Abray, The People's Reformation: Magistrates, demonstrate the collaborative relationship he had Clergy, and Commons in Strasbourg, 1500-1598 (Ithaca, 1985). with Protestant leaders, and his texts betray deep esteem for those leaders who worked with him. 9 Michael Toch, »The Formation of a Diaspora: The Settlement of Jews in the Medieval German Reich,« Peasants and Jews in Finally, the polemical work responding to Against Medieval Germany: Studies in Cultural, Social and Economic the Sabbatarians reminds us that the relation- History (Variorum Collected Studies) (Ashgate, 2003), 55–78 (IX). ships between Jews and Lutherans were not lim- 10 Debra Kaplan, Beyond Expulsion. ited to elites alone. Although the man who penned the anonymous polemic in response to 11 For a biography of Josel, see Selma Stern, Josel von Rosheim: Against the Sabbatarians was undoubtedly eru- Befehlshaber der Judenschaft im Heiligen Römischen Reich dite enough to compose a polemical text in He- Deutscher Nation (Stuttgart, 1959); Hava Fraenkel-Goldschmidt, brew, he drew his information from simple ob- Josel of Rosheim: Historical Writings (Jerusalem, 2006) servation of and conversations with local Luther- ans. Even non-elite Jews, in the course of their 12 See the edition of the Twelve Articles in Tom Scott and Bob daily interactions, discussed matters of religion Scribner, eds., The German Peasants' War: A History in Docu- with their neighbors. Jews saw, heard, and talked ments (Atlantic Highlands, N.J., 1991), 251-276. about the Reformation taking place all around 13 See Martin Luther, Admonition to Peace: A Reply to the Articles them. of the Peasants in Swabia in D. Martin Luthers Werke Kritische Ausgabe (WA) vol. 28, 291-334; idem., Against the Robbing and Although separated from the German Christian Murdering Hordes, WA vol. 28, 357-361. communities through religion, and excluded through numerous laws, the Jews were neverthe- 14 See Stern, Josel von Rosheim; Hava Fraenkel-Goldschmidt, less a part of daily life in the Holy Roman Empire. Josel of Rosheim:,144. As such, while they did not undergo a Refor- mation of their own, they certainly reacted to the 15 Josel of Rosheim, Historical Writings, 289-290. changes taking place before their eyes. Their re- 16 M. Avot 3:2. The passage reads: »Rabbi Haninah the prefect of sponses to Luther, both diplomatic and polemical, the priests said: Pray for the peace of the kingdom, since but for are a clear reflection of the space and contacts fear [of the ruler] each man would swallow his neighbor alive.« epd-Dokumentation 39/2015 41

17 For other examples of Josel’s use of biblical passages, see Zephelium und Johann Raschen, 1563, Psalms 84:7; Gustavus Josel of Rosheim, Historical Writings, 302; Josel of Rosheim, Anthony Wachsel, The Shorter Catechism of Dr. Martin Luther in Sefer haMiknah, ed. Hava Fraenkel- Goldschmidt, (Jerusalem, English and German, (London 1800), 28; Martin Luther, »Zweiter 1970) 14; 74. Sonntag im Advent.Luk. 21, 25-36,« in Kurt Aland (ed.): Martin Luther. Predigten (Göttingen, 2002), 21. 18 Archives Municipales de Strasbourg (AMS) Series III/174/21; Josel of Rosheim, Historical Writings, 342-343. 37 Martin Luther, »All Praise to Jesus’ Hallowed Name,« Hymns of Martin Luther, (Bibliobazaar 2006), 69-70. 19 AMS III/174/23. Published in Josel of Rosheim, Historical Writings, 376-390. 38 Rebecca Wagner Oettinger, Music as Propaganda in the Ger- man Reformation, (Aldershot, 2001); R. Gerald Hobbs, »Quam 20 On refuge requested and granted by the magistrates see AMS Apposita Religioni sit Musica: and Music in the V/1/13; AMS III/174/38/9; AMS III/174/24. The third document Liturgy,« Reformation and Renaissance Review 6 (2004): 155- has been published in its original German and in Hebrew transla- 178. tion in Fraenkel-Goldschmidt, Historical Writings, 328-348. The relevant passage is on 342-343. 39 MS Mich. 121 fol. 271v.

21 Martin Luther, WA Briefe Band 8, 76-79. 40 MS Mich. 121 fol. 271v.

22 Martin Luther, WA Tischreden, Band 3, 442; idem., WA Briefe 41 Bridget Heal, The Cult of the Virgin Mary in Early Modern Ger- Band 8, 89-91. many: Protestant and Catholic Piety, 1500-1648 (New York, 2007). See also Petra Schöner, »Visual Representation of Jews 23 Martin Luther, Von der Juden und iren Lügen, WA 53, 417-552; and Judaism,« in Dean Philip Bell and Stephen Burnett, eds. idem., Von Schem Mephoras und von Geschlecht Christi, WA 53, Jews, Judaism, and the Reformation in Sixteenth Century Germa- 579-648; idem., Von Letzen Wortes Davids, WA 54, 28-200. ny (Studies in Central European Histories, 37) (Leiden, 2006),

24 369-373. AMS III/174/23.

42 25 AMS III/174/23. On iconoclasm, see Lee Palmer Wandel, Voracious Idols and Violent Hands: Iconoclasm in Reformation Zurich, Strasbourg, 26 This entire matter has been discussed by Hava Fankel- and Basel (Cambridge 1995). Goldschmidt, Joseph of Rosheim: Historical Writings, 374-390. 43 Abraham Ibn Megas, Kevod Elohim, as translated in Ben Sas- This section includes her publication and Hebrew translation of son, »Reformation in Contemporary Jewish Eyes,« 273-274. Josel’s letter.

44 27 Ben Sasson, »Reformation in Contemporary Jewish Eyes,« Josel of Rosheim, Sefer ha-Miknah, 74. 264. 28 Josel of Rosheim, Historical Writings, 301-302. 45 Heal, Cult of the Virgin Mary, especially chapters 2-3, where 29 Josel of Rosheim, Historical Writings, 342. she discusses the presence of Marian cults in Lutheran regions, and the impact of confessional frictions upon the strength of the 30 MS JTS NY 2324 fol 89 r. See Haim Hillel Ben Sasson, »The cult. Reformation in Contemporary Eyes,« 289. 46 On the distinctions between reformers’ teachings and the 31 Rotraud Ries, »Zum Zusammenhang von Reformation und reception of those teachings by the laity, see Mark U. Edwards, Judenvertreibung: Das Beispiel Braunschweig,« in Civitatium Jr., Printing, Propaganda and Martin Luther, (Berkeley, 1994); Communitas: Studien zum europäischen Städtwesen: Festschrift Miriam Chrisman, Conflicting Visions of Reform: German Lay Heinz Stoob zum 65. Geburtstag, ed Helmut Häger, Franz Peri, Propaganda Pamphlets, 1519-1530 (Atlantic Highlands, 1996). and Heinz Quirin, part 2 (Cologne, 1984), 630-654. On lay practice and the lack of strict adherence by laypeople to

32 the particular theology of a given confession, see Keith P. Luria, MS Mich. 121, fol. 270v. Sacred Boundaries: Religious Coexistence and Conflict in Early 33 Kaplan, »Sharing Conversations.« Modern (Washington DC, 2005); Michelle Zelinsky Han- son, Religious Identity in an Early Reformation Community: Augs- 34 Ms. Mich. 121 fol. 272v. burg, 1517 to 1555 (Leiden, 2009).

35 For a classic refutation of this, see David Berger, The Jewish- 47 Ms. Mich. fol. 273r. Christian Debate in The High Middle Ages: A Critical Edition of Nizzahon Vetus (Philadelphia, 1979), 226-228. 48 Ms. Mich. fol. 273r.

36 Biblia das ist die gantze Heylige Schrifft teutsch D. Mart. Luth. Sampt einem Register und schönen Figuren, Frankfurt: David

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Deutsch-jüdische Lutherlektüren vor der Shoah: Eine tragische Liebesgeschichte1 Von Prof. Dr. Christian Wiese, Goethe-Universität Frankfurt am Main

Reformator, Ketzer, Judenfeind. Jüdische Diese auf den ersten Blick überraschend positive Perspektiven auf Martin Luther. Tagung der Einschätzung blieb nicht unwidersprochen. Vor Evangelischen Akademie zu Berlin und des allem der Schriftsteller und Sozialpolitiker Felix Zentralrats der Juden in Deutschland, Berlin Adler, Professor für politische und soziale Ethik 10.-12.6.2015 an der Columbia University, wandte sich in einer Rede in New York scharf gegen Hirschs positive 1 Lutherdeutung und hob stattdessen die Schatten- seiten des Reformators hervor: »Glauben Sie mir, 1883 löste Emil Gustav Hirsch, Rabbiner der Re- Martin Luther ist aus meiner Sicht nicht das Ideal formgemeinde Sinai in Chicago, in der jüdischen eines Mannes. Er war ein engstirniger, selbstge- Öffentlichkeit der USA einen handfesten Skandal rechter Mensch, ganz erfüllt von den Vorurteilen aus. Hirsch war die Ehre zuteil geworden, in der seiner Zeit. Er konnte sich niemals von dem Chicagoer Central Music Hall die Festrede anläss- Glauben an einen persönlichen Teufel befreien. lich des Gedenkens an Luthers 400. Geburtstag zu Das gute Werk bedeutete ihm nichts, der blinde halten – ein Zeichen für die guten Beziehungen Glaube alles. Er verdammte die Juden, die doch zwischen der Reformgemeinde und den deut- ohnehin schon verfolgt wurden, und hetzte die schen Lutheranern in der Stadt. Gleichzeitig ent- Völker gegen sie auf. Auch trat er nicht nur für warf er auch in einer Predigt vor seiner Gemeinde die Sklaverei der Bauern ein, sondern bemühte ein ungewöhnlich positives Bild des Reformators, sich sogar, sie als göttliche Ordnung zu rechtferti- pries dessen Bibelübersetzung als »Eckstein der gen.«3 modernen deutschen Literatur«, als »überragen- des, ewiges Monument des deutschen Geistes«, Diese Kontroverse zwischen zwei Söhnen und rief dazu auf, sich bei der Modernisierung deutsch-jüdischer Einwanderer in Amerika lässt der jüdischen Religion am Vorbild Luthers zu erkennen, dass bei der Frage nach der jüdischen orientieren. Der unmittelbare Auslöser des Sturms Wahrnehmung der Gestalt und Wirkung Martin im Blätterwald, der folgte, mag zunächst gewesen Luthers im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhun- sein, dass Hirsch einen seiner jüdischen Gegner, derts – je nach zeitgeschichtlichem und kulturel- den Gründer des Hebrew Union College in Cin- lem Kontext – mit einander widersprechenden cinnati, Isaac Meyer Wise, polemisch mit dem Deutungen zu rechnen ist. Nach diesen Interpre- Ablassprediger Johannes Tetzel verglich und sich tationen und ihren Motiven zu fragen, ist ange- damit selbst implizit als eine Art jüdischer Luther sichts der historisch so umstrittenen Thematik stilisierte. Die Diskussion verlagerte sich jedoch des Verhältnisses Luthers und des Luthertums rasch darauf, dass Hirsch Luthers Rolle im Bau- gegenüber Juden und Judentum in besonderer ernkrieg verteidigt, vor allem aber die Bedeutung Weise von Bedeutung, da diese Perspektive in der der späten antijüdischen Schriften des Reforma- Regel übersehen wird. So ist es mehr als auf- tors heruntergespielt hatte. Der Sturz des »einsti- schlussreich, dass eine der maßgeblichen Arbei- gen Freundes der Juden […] von der Höhe der ten zur Lutherrezeption seit der Aufklärung, Toleranz in das Tal des Fanatismus« war aus der Heinrich Bornkamms Studie Luther im Spiegel der Sicht des Rabbiners im Wesentlichen auf Luthers deutschen Geistesgeschichte, nicht einmal andeu- Enttäuschung darüber zurückzuführen, dass die tend auf eine jüdische Lutherdeutung hinweist.4 Juden seiner Zeit trotz der reformatorischen Rei- Man wird nicht fehlgehen, darin mindestens eine nigung des Christentums hartnäckig an ihrer jüdi- Blindheit gegenüber der jüdischen Partizipation schen Identität festhielten. Man dürfe seine zeit- an der deutschen Geistesgeschichte, wenn nicht bedingte Haltung nicht überbewerten, sondern sogar ein Echo auf ihre historische Missachtung müsse vor allem die Größe und Originalität Lu- im 19. und 20. Jahrhundert – ein Verschweigen thers würdigen, ohne den die Moderne mit ihren der jüdischen Stimme – zu vermuten. auch für die soziale Stellung der Juden grundle- genden Veränderungen nicht denkbar gewesen Ich möchte daher im Folgenden die jüdische Per- sei.2 spektive zur Sprache bringen, einmal um lutheri- sche Rede vom Judentum von ihrer Wirkung her kritisch zu erhellen, vor allem aber auch, um ein epd-Dokumentation 39/2015 43

anderes, vielleicht überraschendes Gespräch zwi- uns den Mut, der nicht zählt. Er hat uns die Frei- schen Kirchengeschichte und jüdischer Historio- heit, dreihundert Jahre ehe sie fällig war, ausbe- graphie zu eröffnen. Dabei ist festzuhalten, dass zahlt, und der spitzbübische Diskonto verzehrte jüdisches Interesse am Reformator, sieht man von fast das ganze Kapital. Und das wenige, was er der unmittelbaren Zeit seines Wirkens ab, in der uns gab, zahlte er wie ein echter barloser deut- es innerhalb des zeitgenössischen Judentums scher Buchhändler in Büchern aus, und wenn wir gleichermaßen zu teilweise messianischen Hoff- jetzt, wo jedes Volk bezahlt wird, fragen: wo ist nungen auf eine fundamentale Veränderung des unsere Freiheit? Antwortet man: Ihr habt sie Verhältnisses von Judentum und Christentum, schon lange – da ist die Bibel. Es ist zu traurig! dann aber zu einer tiefen Desillusionierung ange- Keine Hoffnung, daß Deutschland frei werde, ehe sichts der immer erkennbarer juden- und juden- man seine besten lebenden Philosophen, Theolo- tumsfeindlichen Theologie Luthers kam, im We- gen und Historiker aufknüpft …«5 sentlichen ein Phänomen der Epoche nach der Aufklärung ist. Ich konzentriere mich daher in Diese Passage, in der Martin Luther als Ahnherr meinen Überlegungen auf die vielstimmige jüdi- politischer Unfreiheit erscheint, ist im Kontext der sche Rezeption Luthers im 19. und frühen 20. scharfen Kritik Börnes zu verstehen, der bereits Jahrhundert und frage nach ihren Motiven sowie 1817 an dem Projekt, im Zusammenhang einer ihrer spezifisch jüdischen Prägung im Unter- umfassenden Liberalisierung der deutschen Ge- schied zur nichtjüdischen Lutherdeutung der Zeit. sellschaft auch die bürgerliche Emanzipation der Nach einem kurzen Blick auf die zum Protestan- Juden herbeizuführen, verzweifelt war und sich tismus konvertierten Intellektuellen Ludwig Bör- hatte taufen lassen. Seine hellsichtige Polemik ne und Heinrich Heine, die ihre Reflexionen über gegen das preußische Konzept der Judenemanzi- den Reformator vom Pariser Exil aus formulier- pation, das die bürgerliche Gleichberechtigung ten, gilt die Analyse der Funktion und Ausrich- von einer »Verbesserung« der Juden abhängig tung jüdischer Interpretationen in Deutschland machte und somit willkürlich in die Zukunft ver- selbst. Am Schluss stehen Reflexionen über die schob, zeugt jedoch von seiner bleibenden Bin- Tragik der vielfach überraschend positiven jüdi- dung an seine jüdische Herkunft und mündet in schen Bezugnahmen auf Luther als Vorläufer der den Pariser Briefen in einer Fundamentalkritik am Aufklärung und als Judentum und Protestantis- mangelnden Freiheitswillen und Patriotismus der mus verbindende monumentale Figur deutscher Deutschen. Die Juden, schreibt Börne, bräuchten, Geschichte und Kultur, die im nichtjüdischen sofern man ihnen Freiheit und Integration anbie- Kontext kaum einen Widerhall fanden. te, »nur ein einziges Jahr, um die Freiheit zu ver- dienen und zu erkämpfen und sich ein Vaterland 2 zu erwerben – und die so stolzen, herrischen Deutschen, welche Prahlen, die Freiheit sei ihre Am 14. Februar 1831 verglich Ludwig Börne in Wiege gewesen, die auf die Juden mit solcher seinen vielfach satirischen Briefen aus Paris, die Verachtung herabblicken, haben noch und wollen er nach seiner Übersiedlung nach Frankreich im kein Vaterland, haben noch und wollen keine Gefolge der Juli-Revolution von 1830 verfasste, Freiheit!«6 Der Zusammenhang zwischen dieser die politische Situation in Europa, insbesondere Bewertung und Börnes Deutung der Figur und in Italien, Spanien, Portugal und Polen, mit jener Wirkungsgeschichte des Reformators und der in Deutschland und kam mit Blick auf die unter- Reformation wird in seiner Auseinandersetzung schiedlichen Fortschritte der bürgerlichen Freiheit mit der Deutschtümelei seines früheren Freundes auf die Folgen des lutherischen Protestantismus Wolfgang Menzel sichtbar, der sich zum Nationa- für das politische Bewusstsein der Deutschen zu listen und Judenfeind entwickelt und in seiner sprechen: »Wie wird uns sein, wenn im Lande Geschichte der Deutschen (1824/25) eine enge Loyolas und des Papstes die Pressfreiheit grünt, Verbindung zwischen deutschem Patriotismus die Wurzel und Blüte aller Freiheit, und dem und Reformation postuliert hatte. In seiner 1836 – Volke Luthers wird noch die Hand geführt, wie kurz vor seinem Tode – verfassten satirischen dem Schulbübchen vom Schreibmeister? Wo ver- Schrift Menzel der Franzosenfresser bestritt Börne bergen wir unsere Schande? Die Vögel werden kategorisch jeglichen positiven Zusammenhang uns auspfeifen, die Hunde werden uns anbellen, zwischen Luthers Wirken und dem zeitgenössi- die Fische im Wasser werden Stimme bekommen, schen Streben nach Freiheit und nationaler Un- uns zu verspotten. Ach Luther! – wie unglücklich abhängigkeit. Im Gegensatz zu gängigen Luther- hat der uns gemacht! Er nahm uns das Herz und deutungen seiner Zeit, die den Reformator als gab uns Logik; er nahm uns den Glauben und gab Herold der intellektuellen und bürgerlichen Frei- uns das Wissen; er lehrte uns rechnen und nahm heit sowie als Vorläufer eines gesunden deut- 44 39/2015 epd-Dokumentation

schen Nationalbewusstseins verstanden, führte er katholischen Völker im Laufe ihrer Geschichte die tiefverwurzelten Defizite, die die deutsche zumindest versucht, das Joch der Tyrannei abzu- Geisteskultur und Politik aus seiner Sicht kenn- schütteln, so finde man nur bei den lutherischen zeichneten, in drastischen Formulierungen auf Völkern des Nordens, besonders bei den Deut- die Reformation zurück. Sie war »die Schwind- schen, »jene dumme und blinde Liebe und jene sucht, an der die deutsche Freiheit starb, und abergläubische Verehrung für die Fürsten, die den Luther war ihr Totengräber.« Unmittelbare histo- Menschen so sehr entwürdigen und jene unglück- rische Folge der Reformation, die wenigen Den- lichen Völker an ihre Sklavenketten schmieden«.9 kern zwar Gedankenfreiheit gebracht haben mochte, dem ganzen Land jedoch die »Lebens- Luther, »das Musterbild eines deutschen Philoso- freiheit« nahm, waren die dramatischen Reli- phen«, von hohem Verstande, »ausgebreiteter gionskriege des 16. und 17. Jahrhunderts: »Ein Gelehrsamkeit, geistreich, mit Adleraugen die Jahrhundert lang erwürgten sich die Deutschen Finsternis seiner Zeit durchdringend«, hatte, so untereinander, und um ungestört ihre Wunden Börne, zwar erfolgreich die Macht des Papstes verbinden, ihre Toten begraben zu können, muß- herausgefordert, sich aber als politisch naiv er- ten sie endlich einen Teil ihres Landes fremden wiesen und eine bis ins 19. Jahrhundert reichen- Königen abtreten.«7 Gewinner der Reformation de Tradition der Hinnahme der Machtverhältnisse waren allenfalls die Gelehrten und die Fürsten, der wirklichen Welt begründet: »Der Teufel be- während das Volk nicht nur finanziell, sondern suchte ihn eines Tages in seiner Einsamkeit, um auch spirituell verarmte: »Luther nahm dem Volk ihn zu gewinnen oder zu schrecken; Luther warf das Paradies und ließ ihm die Hölle, nahm ihm ihm das Tintenfaß an den Kopf, und der Teufel die Hoffnung und ließ ihm die Furcht. Er schrieb flüchtete sich durchs Fenster. Weil ihm diese Art die Reue vor, um von den Sünden losgebunden den Krieg zu führen einmal gegen einen armen zu werden, aber die Reue gebietet sich nicht. Er Teufel geglückt war, glaubte Luther, die Tinte verlangte gute Werke statt äußeren Gottesdiens- wäre das beste Wurfgeschütz gegen die Gewalttä- tes, aber die guten Werke wurden seit dieser Leh- tigkeit, den Despotismus, den Ehrgeiz und die re nicht häufiger.« Der Rückgang der religiösen Raubsucht der Mächtigen der Erde. Diese lutheri- Feste, die Umwandlung der Gottesdienste in sche Artillerie ist seitdem nicht vervollkommnet Schulen der Moral, »wo die Gläubigen sich lang- worden, und die deutschen Philosophen, Moralis- weilten und einschliefen«, und die Verkehrung ten und Doktoren der Politik begnügen sich noch der Theologie in eine dem Volk unzugängliche jetzt, gegen die Tyrannen zu schreiben, welche Wissenschaft hatten aus Börnes Sicht dazu ge- sich über sie und ihre Tintenfässer mit Recht führt, dass »das deutsche Volk, ehemals so fröh- lustig machen.«10 lich, so geistreich, so kindlich, […] durch die Reformation in ein trauriges, plumpes und lang- Bei dieser ironisch-sarkastischen Interpretation weiliges Volk verwandelt« wurde.8 der Reformation und ihrer Folgen, die weniger der historischen Darstellung als vielmehr der Die massivste Kritik richtete sich jedoch gegen die Gegenwartskritik diente, handelt es sich vielleicht enge Bindung Luthers an die Fürsten, die gemäß um die kritischste Wahrnehmung Martin Luthers Börnes Darstellung im Gefolge der Reformation durch einen deutschen Intellektuellen jüdischer gleichsam zu einem Erbfehler des deutschen Na- Herkunft in der ersten Hälfte des 19. Jahrhun- tionalcharakters geworden war, das den man- derts. Die besondere Schärfe der Bewertung Bör- gelnden Freiheitswillen der Deutschen begründe- nes wird sichtbar, wenn man die zeitgenössische te. Luther war »ein großer Mann«, aber zugleich Perspektive Heinrich Heines einnimmt, der einen ein »emporgekommener Plebejer«, der seinen ähnlichen Werdegang hinter sich hatte: Studium, eigenen Stand verachtete und »lieber der Schütz- Auseinandersetzung mit der ausbleibenden ling der Fürsten als der Beschützer seinesglei- Emanzipation des Judentums, Konversion zum chen« sein wollte. »Luther war so gerührt von Christentum, die die Besiegelung der Option für ihrer Furcht und so betäubt von ihren Liebkosun- die deutsche Kultur vornehmlich protestantischer gen, daß er gar nicht gewahr wurde, daß die Ausrichtung bedeutete, Zugehörigkeit zur Linken, Fürsten nur aus Ehrgeiz und Habsucht seine Leh- Emigration nach Frankreich und bleibende Bin- ren angenommen und daß sie sich in ihrem In- dung an seine jüdische Herkunft. Heines Reflexi- nern über seinen religiösen und philosophischen onen über Martin Luther, die ebenfalls von Paris Enthusiasmus lustig machten. Luther hat seinem aus publiziert wurden, stehen jedoch in diametra- Vaterlande Böses angetan. Vor ihm fand man bei lem Gegensatz zu jenen seines Dichterkollegen den Deutschen nur Dienstbarkeit, Luther begabte Börne. Gewiss, auch Heine stand dem Reformator sie noch mit Dienstbeflissenheit.« Hätten alle nicht unkritisch gegenüber, sondern erkannte die epd-Dokumentation 39/2015 45

Schwächen, die etwa in seinem Beitrag zur Kon- sondern auch der deutscheste Mann unserer Ge- solidierung der Macht der Fürsten und seiner schichte ist; daß in seinem Charakter alle Tugen- Blindheit gegenüber den legitimen sozialen Anlie- den und Fehler der Deutschen aufs Großartigste gen der Bauern während der Bauernkriege zum vereinigt sind, daß er auch persönlich das wun- Ausdruck kamen. 1823 – in seiner Schrift Franzö- derbare Deutschland repräsentiert. Dann hatte er sische Zustände – bedauerte er, dass Luther auch Eigenschaften, die wir selten vereinigt fin- Thomas Münzer, einen der »heldenmütigsten und den, und die wir gewöhnlich sogar als feindliche unglücklichsten Söhne des deutschen Vaterlan- Gegensätze antreffen. Er war zugleich ein träu- des« und Prediger eines Evangeliums, das »nicht merischer Mystiker und ein praktischer Mann in bloß die Seligkeit im Himmel, sondern auch die der Tat. Seine Gedanken hatten nicht bloß Flügel, Gleichheit und Brüderlichkeit der Menschen auf sondern auch Hände; er sprach und handelte. Er Erden befehle«, nicht verstanden und deshalb war nicht bloß die Zunge, sondern auch das verdammt habe, »wodurch sein eigenes Werk, die Schwert seiner Zeit. Auch war er zugleich ein Losreißung von Rom und die Begründung des kalter scholastischer Wortklauberer und ein be- neuen Bekenntnisses gefährdet wurde.« »Pietisten geisterter, gottberauschter Prophet. Wenn er des und servile Duckmäuser«, so urteilte Heine mit Tags über mit seinen dogmatischen Distinktionen Blick auf die Gegenwart, hätten die unrühmliche sich mühsam abgearbeitet, dann griff er des Schrift gegen die Bauern neu aufgegriffen, um zu Abends zu seiner Flöte, und betrachtete die Ster- zeigen, dass die reine lutherische Lehre den Ab- ne und zerfloß in Melodie und Andacht. Derselbe solutismus unterstütze, und um »durch Luthers Mann, der wie ein Fischweib schimpfen konnte, Autorität den Freiheitsenthusiasmus in Deutsch- er konnte auch weich sein, wie eine zarte Jung- land niederzudrücken«. Christus aber, der für die frau. Er war manchmal wild wie der Sturm, der Gleichheit und Brüderschaft gestorben sei, habe die Eiche entwurzelt, und dann war er wieder sein Wort »nicht als Werkzeug des Absolutismus sanft wie der Zephyr, der mit Veilchen kost. Er offenbart« – »und Luther hatte Unrecht und war voll der schauerlichsten Gottesfurcht, voll Thomas Münzer hatte Recht«.11 Anders als Börne Aufopferung zu Ehren des heiligen Geistes, er setzte Heine diesen offenkundigen theologisch- konnte sich ganz versenken ins reine Geisttum; politischen Defiziten des Reformators und seiner und dennoch kannte er sehr gut die Herrlichkei- zeitgenössischen Inanspruchnahme als Leitgestalt ten dieser Erde, und wußte sie zu schätzen, und lutherischer Unterwürfigkeit gegenüber dem Ab- aus seinem Munde erblühte der famose Wahl- solutismus jedoch den »eigentlichen Luther« ent- spruch: Wer nicht liebt Wein, Weiber und Ge- gegen – eine trotz persönlicher Ambivalenz in sang, der bleibt ein Narr sein Leben lang. Er war ihrer Wirkung auf die europäische Moderne sym- ein kompletter Mensch; ich möchte sagen: ein bolische Lichtgestalt, ohne die Geistesfreiheit, absoluter Mensch, in welchem Geist und Materie Philosophie und Toleranz in Deutschland nicht nicht getrennt sind. […] Wie soll ich sagen: er möglich gewesen wären. Die im Folgenden zitier- hatte etwas Ursprüngliches, Unbegreifliches, Mi- ten Formulierungen Heines begegnen im Kontext rakulöses, wie wir es bei allen providentiellen seines 1834 in Paris erschienenen Essays Zur Männern finden, etwas Schauerlich-Naives, etwas Geschichte der Religion und Philosophie in Tölpelhaft-Kluges, etwas Erhaben-Borniertes, Deutschland. Zunächst in einer der besten Kul- etwas Unbezwingbar-Dämonisches.«13 turzeitschriften Frankreichs (Revue des deux Mondes) unter dem Titel De l’Allemagne depuis Diese panegyrische Würdigung der Persönlichkeit Luther erschienen, zielte die Schrift darauf, fran- Luthers macht deutlich, in welchem Maße der zösischen Lesern, die aus Heines Sicht einer viel- Reformator Heine als Idealbild der Ganzheit und fach verzerrten Wahrnehmung deutscher Reli- Harmonie von Geist und Materie erschien, die in gions-, Geistes- und Kulturgeschichte unterlagen, seiner Deutung des Christentums aufgrund gnos- aufzuzeigen, »was das Christentum ist, wie es tisch-manichäischer Einflüsse bereits in der Anti- römischer Katholizismus geworden, wie aus die- ke verloren gegangen war. Luther, der sich laut sem der Protestantismus und aus dem Protestan- Heine vollkommen natürlich zwischen Askese tismus die deutsche Philosophie hervorging«.12 und Sinnlichkeit, Spiritualismus und Sensualis- Insbesondere hege Frankreich eine völlig falsche mus bewegte, verkörperte einen historischen Vorstellung von der Reformation und der Gestalt Paradigmenwechsel, der einerseits die Befreiung Martin Luthers, der es eine authentische Perspek- der Wissenschaft aus ihrer scholastischen Be- tive entgegenzusetzen gelte: grenzung und andererseits die Befreiung der Diesseitigkeit von ihrer spiritualistischen Verteu- »Die nächste Ursache dieses Nichtbegreifens liegt felung beinhaltete. Bei dieser Interpretation han- wohl darin, daß Luther nicht bloß der größte, delt es sich ebenfalls nicht um eine historisch- 46 39/2015 epd-Dokumentation

objektive Auseinandersetzung mit dem Reforma- Ethik betrifft, so steht Luther Heines Verständnis tor oder um eine präzise Darstellung seiner Theo- zufolge in einer Linie mit dem Aufklärer Lessing, logie, sondern um den Versuch, die Bedeutung der sich – nach der Befreiung des Christentums Luthers an einigen Aspekten seines Wirkens fest- von der Tradition im Zeitalter der Reformation – zumachen, »um sie damit positiv in den emanzi- die Rettung des Protestantismus aus der tyranni- patorischen Prozeß der Geschichte einordnen zu schen Herrschaft des »starren Wortdienstes« zur können«.14 Luther wurde bei Heine zum Symbol Aufgabe gemacht und so das reformatorische einer Bewegung, die sich von der Reformation Werk fortgesetzt habe. Luther und Lessing – »die- über die Aufklärung bis zu einer noch ausstehen- se beiden sind unser Stolz und unsere Wonne. In den politischen Revolution in Deutschland er- der Trübnis der Gegenwart schauen wir hinauf streckte, und gewann somit in erster Linie orien- nach ihren tröstenden Standbildern, und sie ni- tierende Funktion für die Gegenwart. Sein refor- cken uns eine glänzende Verheißung. Ja, kom- matorisches Wirken, das aus Heines Sicht – ganz men wird auch der dritte Mann, der da vollbringt, im Gegensatz zu Börnes Urteil – eine kraftvolle, was Luther begonnen, was Lessing fortgesetzt, befreiende Tradition der Freiheit in Gang setzte, und dessen das deutsche Vaterland so sehr bedarf rechtfertigte es, Luther als den »providentielle(n) – der dritte Befreier!«19 Der Reformator bildet Mann« zu bezeichnen, »durch welchen so großes demnach den Angelpunkt der Heine’schen Inter- für das deutsche Volk geschehen«.15 Bei aller Kri- pretation der Philosophiegeschichte als Geschich- tik in einzelnen Aspekten erscheint der Reforma- te der Befreiung von der dogmatischen Beschrän- tor als heroische Gestalt, als Vorbote der Aufklä- kung des Denkens und einer Bewegung in Rich- rung, der der menschlichen Vernunft das Recht tung auf eine geistige und gesellschaftliche verschafft habe, die Bibel zu erklären und oberste Emanzipation im umfassenden Sinne. Richterin in allen religiösen Streitfragen zu sein, und der dadurch ein »neues Zeitalter in Deutsch- Die Symbolisierung Luthers als des Schöpfers der land« geschaffen habe – das Zeitalter der Geistes- Geistesfreiheit, die die Deutschen nur ergreifen freiheit oder Denkfreiheit, deren »wichtige, welt- bräuchten, beruhte auf der allgemeinen deut- wichtige Blüte« die Revolution der deutschen schen Lutherrezeption der Aufklärung und der Philosophie sei.16 »Ruhm dem Luther! Ewiger idealistischen Philosophie und wandte sich gegen Ruhm dem teuren Manne, dem wir die Rettung jene der Romantik. Deren Kritik, etwa bei Novalis unserer edelsten Güter verdanken, und von des- oder Friedrich Schlegel, die trotz Würdigung der sen Wohltaten wir noch heute leben! Es ziemt volkstümlichen Persönlichkeit und Sprachgewalt uns wenig, über die Beschränktheit seiner An- Luthers ein sehr viel düstereres Bild der Reforma- sichten zu klagen. Der Zwerg, der auf den Schul- tion zeichneten und ihr gerade die Auflösung der tern des Riesen steht, kann freilich weiter schau- Einheit der christlich-europäischen Tradition und en als dieser selbst, besonders wenn er eine Brille das religiös wie politisch zwiespältige Geschenk aufgesetzt; aber zu der erhöhten Anschauung der Freiheit der Vernunft anlasteten, wies Heine – fehlt das hohe Gefühl, das Riesenherz, das wir wie die meisten jüdischen Intellektuellen – impli- uns nicht aneignen können. Es ziemt uns noch zit zurück. Höchst interessant, was das jüdische weniger, über seine Fehler ein herbes Urteil zu Element der Interpretation Heines betrifft, sind fällen; diese Fehler haben uns mehr genutzt, als dabei jene Reflexionen, die sich auf Luthers Bi- die Tugenden von tausend Andern. Die Feinheit belübersetzung und seine Wertschätzung der des Erasmus und die Milde des Melanchthon Hebräischen Bibel beziehen. Noch im üblichen hätten uns nimmer so weit gebracht wie manch- Rahmen der damals vor allem von Johann Gott- mal die göttliche Brutalität des Bruder Martin.«17 fried Herder und Heines Lehrer Georg Wilhelm Friedrich Hegel geprägten Auffassung, wonach Die Fürsten, so Heine, hätten schon zur Zeit der Luther den Durchbruch zur wahren Freiheit des Reformation selbst die von Luther zur Geltung Menschen, zur Unmittelbarkeit zu Gott und zum gebrachte Denkfreiheit legitimiert, so dass alle bürgerlichen Freiheitsgedanken herbeigeführt gegenwärtigen Forderungen nach Pressefreiheit habe, bewegt sich das Lob Luthers als des Geni- und Liberalisierung der Gesellschaft unmittelbare us, der, indem er die Bibel übersetzte, zum Konsequenz daraus und »folglich ein protestanti- Schöpfer der deutschen Sprache in seiner Mi- sches Recht« darstellten, auf das sich das 19. schung aus Innigkeit und Leidenschaft wurde: »In Jahrhundert in seinem Freiheitsstreben berufen der Tat, der göttliche Verfasser dieses Buchs könne18 – eine fundamental andere Sichtweise als scheint es eben so gut wie wir Andere gewußt zu Börnes pessimistische Bewertung der Wirkung haben, daß es gar nicht gleichgültig ist durch wen Luthers auf das politische Bewusstsein der Deut- man übersetzt wird, und er wählte selber seinen schen. Was das Verständnis von Religion und Übersetzer, und verlieh ihm die wundersame epd-Dokumentation 39/2015 47

Kraft, aus einer toten Sprache, die gleichsam Neubesinnung auf religiöse Bindungen und auf schon begraben war, in eine andere Sprache zu die jüdischen Elemente seiner Biografie zur Spra- übersetzen, die noch gar nicht lebte.«20 Heines che kommt, die ja auch in seinem Dichten nie eigenständiger Beitrag zu diesem Bild besteht in versiegt waren. Er führte die »Wiederweckung dem Hinweis auf die Juden als Bewahrer der meines religiösen Gefühls« auf die Hebräische hebräischen Sprache, deren Kenntnis zum theo- Bibel zurück, die ihm zuvor seines »hellenischen logischen Fundament der Reformation geworden Naturells wegen« eher suspekt gewesen sei; nun sei und erst die sprachliche Gestalt ermöglicht aber sehe er, dass die Griechen »nur schöne Jüng- habe, in der das Evangelium den Gläubigen seit linge, die Juden aber […] immer Männer, gewal- Luther entgegengetreten sei. »Nur die Juden, die tige, unbeugsame Männer [gewesen seien], nicht sich, hie und da, in einem Winkel dieser Welt bloß ehemals, sondern bis auf den heutigen Tag, verborgen hielten, bewahrten noch die Traditio- trotz achtzehn Jahrhunderten der Verfolgung und nen dieser Sprache. Wie ein Gespenst, das einen des Elends«. Und widerspräche nicht jeder »Ge- Schatz bewacht, der ihm einst im Leben anver- burtsstolz« dem Eintreten für Revolution und traut worden, so saß dieses gemordete Volk, die- demokratische Prinzipien, so wäre er fast geneigt, ses Volks-Gespenst, in seinen dunklen Ghettos stolz darauf zu sein, »daß seine Ahnen dem edlen und bewahrte dort die hebräische Bibel; und in Hause Israel angehörten, daß er ein Abkömmling diese verrufenen Schlupfwinkel sah man die jener Märtyrer, die der Welt einen Gott und eine deutschen Gelehrten heimlich hinabsteigen, um Moral gegeben, und auf allen Schlachtfeldern des den Schatz zu heben, um die Kenntnis der hebrä- Gedankens gekämpft und gelitten haben«.24 Im ischen Sprache zu erwerben.«21 Zentrum der Würdigung des Judentums und sei- nes Erbes für die Neuzeit stand die Hebräische Durch die Vertiefung in diese im Judentum auf- Bibel, die nun – als jüdisches Buch! – als Kern bewahrte Gestalt der biblischen Botschaft habe auch der Verdienste des Protestantismus er- Luther gegen die im Katholizismus seiner Zeit schien. Gefragt, ob er dem lutherisch- herrschenden Elemente germanischer Nationalität evangelischen Bekenntnis, zu dem er sich nach und eines indisch-gnostischen Christentums die eigener Aussage früher »nur in lauer, offizieller »wahre Religion des judäisch deistischen Evange- Weise« bekannte, nähergekommen sei, verwei- liums« neu zur Geltung gebracht.22 Interessanter- gerte Heine eine »direkte Beantwortung« und weise zog Heine, der vor seiner Konversion – versuchte die »Verdienste zu beleuchten, die sich gemeinsam mit Leopold Zunz, Eduard Gans, Mo- der Protestantismus, nach meiner jetzigen Ein- ses Moser und anderen jüdischen Intellektuellen sicht, um das Heil der Welt erworben«. Früher, so – dem Verein für Cultur und Wissenschaft der betonte er, habe er den Protestantismus vor allem Juden angehört und sich für eine Reform des aufgrund der Verdienste geschätzt, »die er sich Judentums im Geiste historischer Kritik eingesetzt durch die Eroberung der Denkfreiheit erworben, hatte, eine Parallele zwischen Luther und Moses die doch der Boden ist, auf welchem sich später Mendelssohn, so dass letzterer zum jüdischen Leibniz, Kant und Hegel bewegen konnten – Lu- Reformator und die Reformation zum Vorbild ther, der gewaltige Mann mit der Axt, musste eines liberalen, von der rabbinischen Tradition diesen Kriegern vorangehen und ihnen den Weg befreiten und auf Bibel und Vernunft beruhenden bahnen«. Habe er den Protestantismus also als Judentums wurde, wie es Heines Ideal entsprach: »Anfang der deutschen Philosophie« gewürdigt, »Wie Luther das Papsttum, so stürzte Mendels- so gelte diese Wertschätzung namentlich der sohn den Talmud, und zwar in derselben Weise, Auffindung und Verbreitung des heiligen Buches. indem er nämlich die Tradition verwarf, die Bibel »Ich sage die Auffindung, denn die Juden, die für die Quelle der Religion erklärte und den wich- dasselbe aus dem großen Brande des zweiten tigsten Teil derselben übersetzte. Er zerstörte Tempels gerettet, und es im Exile gleichsam wie hierdurch den jüdischen, wie Luther den christli- ein portatives Vaterland mit sich herumschlepp- chen Katholizismus. In der Tat, der Talmud ist ten, das ganze Mittelalter hindurch, sie hielten der Katholizismus der Juden.«23 diesen Schatz sorgsam verborgen in ihrem Ghet- to, wo die deutschen Gelehrten, Vorgänger und Heine redete jedoch nicht nur über die Reforma- Beginner der Reformation, hinschlichen um Heb- tion als orientierendes Vorbild für eine jüdische räisch zu lernen, um den Schlüssel zu der Truhe Reform, sondern reflektierte zugleich über die zu gewinnen, welche den Schatz barg.« Die Juden jüdischen Wurzeln der protestantischen Reforma- also, das Volk, das »der Welt einen Gott gegeben« tion. Zugespitzt findet sich dies in seinen 1854 und paradoxerweise als Gottesmörder verschrien verfassten Geständnissen, in denen eine komple- worden sei, habe die Bibel aus dem Zusammen- xe, zwischen Ernst und Ironie schwankende bruch des Römischen Reiches gerettet und be- 48 39/2015 epd-Dokumentation

wahrt, »bis es der Protestantismus bei ihnen auf- rere zusammenwirkende Faktoren bedingt, die suchte und das gefundene Buch in die Landes- hier kurz skizziert seien. sprachen übersetzte und in alle Welt verbreite- te«.25 Diese berühmte Passage spiegelt Heines 1) Die Entstehung einer jüdischen Geschichts- Überzeugung wider, das Judentum habe nicht schreibung im Rahmen der neuen Tradition der nur an der symbolischen Leistung Luthers – um Wissenschaft des Judentums ermöglichte erstmals mit Hegel zu sprechen: an der Entdeckung der einen eigenen historischen Zugang zum Zeitalter Bibel als des »Rettungsmittels gegen alle Knecht- der Reformation. Von Isaak Markus Jost über schaft des Geistes«26 – teilgehabt, sondern sie Abraham Geiger, , Martin Philipp- zugleich inspiriert und überhaupt erst ermöglicht. son und Simon Dubnow bis zu Ismar Elbogen Sie macht zudem deutlich, in welchem Maße er reichen die Darstellungen der jüdischen Geschich- von einer Affinität der protestantischen Gesell- te, in denen auch der Reformation als einem für schaften zum jüdischen Denken ausging, so dass die Grundlagen der Neuzeit bedeutsamen Kapitel letztlich die Reformation und der mit ihr in Gang Abschnitte gewidmet sind, die sich zwar nicht gesetzte Emanzipationsprozess als – über die wirklich mit Luthers Theologie, zumindest jedoch Bibel vermitteltes – jüdisches Geschenk an die mit seiner Haltung gegenüber den Juden seiner Neuzeit und ihre Freiheitsbestrebungen erschei- Zeit beschäftigen. Luthers »Judenschriften«, die nen. Am Ende steht dann, im Grunde ganz im im 19. Jahrhundert durch ein neues Interesse am Sinne des liberalen Judentums des 19. Jahrhun- Werk des Reformators auch im nichtjüdischen derts, die herausfordernde These von der geisti- Bereich neu ins Bewusstsein gerückt wurden und gen Verwandtschaft »zwischen Juden und Ger- im Zuge des Aufkommens der antisemitischen manen«, die Heine als »die beiden Völker der Bewegung zunehmende Relevanz gewannen, Sittlichkeit« bezeichnete: Am Anfang des Prozes- mussten für jüdische Historiker zwangsläufig in ses geistiger und politischer Emanzipation, den dem Maße zu einer Herausforderung werden, in Luther symbolisiert, steht nun unübersehbar die dem sie, wie zu zeigen sein wird, die Deutung »Freiheitsliebe Israels«, die religiös-sittliche Bega- des Reformators als einer prägenden Gestalt des bung des Judentums, der »große Emanzipator« »deutschen Geistes« teilten und durch gesell- Moses – implizit ein Plädoyer für die Legitimität schaftliche wie kulturelle Integration an diesem der Fortexistenz der jüdischen Religion in einer Geist teilhaben wollten. freien, emanzipierten, von Vernunft und Sittlich- keit bestimmten deutschen Gesellschaft.27 Voller 2) Die Entfaltung eines Reformjudentums, das Ironie erinnerte Heine am Ende dieses Gedanken- seit Beginn des 19. Jahrhunderts im Zuge des gangs daran, dass das Judentum – mindestens Prozesses der Emanzipation und Akkulturation ebenso wie der Protestantismus – einen wirk- versuchte, jüdische Überlieferung und Kultur mit mächtigen Faktor gegen die von Börne zu Recht der Moderne ins Gespräch zu bringen, und sich beklagte Obrigkeitsmentalität vieler Deutscher dabei vielfach an der Ästhetik der protestanti- seiner Zeit darstellte: »O Moses, unser Lehrer, schen Mehrheitskultur orientierte, rückte den Mosche Rabenu, hoher Bekämpfer der Knecht- Reformator Luther als mögliches Vorbild in den schaft, reiche mir Hammer und Nägel, damit ich Blick. Der jüdische Aufklärer und Kantianer Saul unsere gemütlichen Sklaven in schwarzrotgoldner Ascher etwa stellte sich bereits 1792 in dem ers- Livree mit ihren langen Ohren festnagle an das ten großen Entwurf einer Reform der jüdischen Brandenburger Tor!«28 Religion, der Schrift Leviathan oder Über Religion in Rücksicht des Judentums, in der er Kaiser 3 Friedrich Wilhelm II gegenüber das Recht auf eine Modernisierung und Reform des Judentums Der grundlegende Dissens der beiden zum Protes- im Namen der Haskala – der jüdischen Aufklä- tantismus konvertierten Literaten Börne und Hei- rung – begründete, ausdrücklich in die Tradition ne lässt bereits vermuten, dass auch bei Theolo- des Protestantismus und berief sich dabei auf gen, Historikern und Philosophen, die an ihrem Luther: Als »positiver Reformer« habe dieser das Judentum festhielten, mit divergierenden Urteilen Glaubenssystem des Christentum nicht grundsätz- zu rechnen ist, die von der jeweiligen symboli- lich angetastet, sondern vor allem äußere Miss- schen Funktion der Deutung des Reformators für stände beseitigt, ihr eine »neue Constitution ge- das Verständnis der eigenen Zugehörigkeit zur geben und ein neues Verhältnis zwischen ihr und deutschen Gesellschaft und Kultur abhingen. der Gesellschaft festgesetzt«.29 Ähnlich sollte nun Dabei war die jüdische Lutherrezeption des 19. auch eine Reform der jüdischen Religion nicht – und frühen 20. Jahrhunderts generell durch meh- im Sinne einer »negativen Reformation« – ihr »Wesen«, sondern ihre »Konstitution« verändern, epd-Dokumentation 39/2015 49

d.h., das Judentum vom vormodernen Ballast die mit starkem Interesse an der protestantischen halachischer Traditionen befreien und so seine Bibelwissenschaft einherging, wurde Luther zu- Isolation von der umgebenden Gesellschaft und dem als Übersetzer und Ausleger der hebräischen Kultur überwinden. Solange das System der Ze- Bibel große Aufmerksamkeit zuteil. Von Moses remonialgesetzgebung den jüdischen Glauben Mendelssohn, Heinrich Heine und Abraham Gei- bestimme und seine Überschreitung als »gänzli- ger, aus dessen Sicht die Lutherbibel Zeugnis cher Abfall vom Judenthume« gelte, weil noch dafür ablegte, dass der Reformator »seine Erfri- keine andere Konzeption vom Wesentlichen der schung der Kirche mit den Mitteln des Juden- jüdischen Tradition vorliege, entfernten sich ge- thums vollbracht« habe,32 bis zu Franz Rosen- rade die intellektuellen und modernen Juden vom zweig, der den Reformator 1926 in Die Schrift Judentum. Es gelte daher, »die alte Constitution und Luther als religiöses Genie und großartigen um[zu]stoßen« und eine neue zu entwerfen, »die Übersetzer würdigte, weil dieser seinen deut- uns beim Glauben unserer Väter erhalte, uns das schen Lesern zuweilen zumute, »der hebräischen eigentliche Wesen des Judenthums lehre, uns Sprache Raum zu lassen und die deutsche Spra- seinen Zweck lebhaft darstelle, und uns auf den che auszuweiten, bis sie sich der hebräischen Weg leite, wo wir zugleich gute Menschen und Worte gewöhne«,33 reicht die Reihe jüdischer gute Bürger sein können«.30 Aschers Versuch, in Gelehrter, die Luthers Bibelübersetzung welthis- Auseinandersetzung mit der Philosophie Imma- torische Geltung und kulturprägende Kraft bei- nuel Kants das Judentum als Vernunftreligion der maßen. Zweifellos ist dahinter auch der Einfluss wahren Autonomie des Willens zu erweisen und des nichtjüdischen Diskurses über die Bedeutung die Heteronomie der rabbinisch-orthodoxen Ha- der Lutherbibel für die Entstehung einer deut- lacha historisch-philosophisch zu entwerten, schen Nationalsprache zu vermuten. Kritische gipfelte in der Forderung nach einer jüdischen Distanz gegenüber der starken christologischen »Reformation«, welche die Emanzipationswürdig- Perspektive der Lutherübersetzung war dadurch keit der Juden begründen sollte, und im Postulat nicht ausgeschlossen: Gerade in Geigers Deutung eines »Wesens des Judentums«, das er in 14 kommt der herausfordernde Gedanke zum Aus- Glaubensartikeln zusammenfasste: Dazu zählten druck, das Christentum müsse stattdessen zu etwa die Existenz Gottes, die Offenbarung der seinen jüdischen Wurzeln und Elementen zurück- Tora am Sinai, die Vorsehung, die Vergeltung finden, und Luthers Bibelübersetzung sei allen- aller guten und bösen Taten nach dem Tod, die falls ein Schritt in diese Richtung. Diese Interpre- Hoffnung auf den Messias und die Auferstehung tation hängt mit Geigers kritischer Auseinander- der Toten sowie mit Blick auf die religiöse Praxis setzung mit der zeitgenössischen protestantischen die Beschneidung, der Sabbat und die jüdischen Theologie und seinem Bild des Christentums zu- Feste, nicht aber zeremonielle Gebote wie die sammen: Er verstand es als eine – im Vergleich Kaschrut oder das Verbot der Mischehe. 1818 – in zum Judentum als der ursprünglichen, wahren seiner Schrift Die Wartburgs-Feier. Mit Hinsicht Religion und der jüdisch-pharisäischen Theologie auf Deutschlands religiöse und politische Stim- Jesu – aufgrund ihrer heidnisch-philosophisch mung – modifizierte Ascher, der zu den schärfs- inspirierten Dogmatik defizitäre, wenn auch welt- ten Kritikern des entstehenden deutschen Natio- geschichtlich erfolgreiche Religion, die ihr eigent- nalismus zählte, angesichts romantisch- liches Wesen allein durch eine Rückwendung zu nationalistischer Deutungen Luthers als des Va- ihren jüdischen Wurzeln zurückgewinnen könne. ters des Deutschtums allerdings seine Auffassung, die Reformation habe lediglich einen äußerlichen 4) Je stärker Juden sich im Zuge des langwierigen Wandel vollzogen: Der mystisch-intoleranten Prozesses der Emanzipation und Akkulturation Inanspruchnahme des Reformators für ein exklu- seit der Aufklärung mit der deutschen Kultur sives Deutschtum setzte er das Bild eines Kämp- auseinandersetzten und identifizierten, desto fers für die Freiheit des Geistes entgegen, dem es stärker teilten sie das Interesse der nichtjüdischen vor allem darum gegangen sei, das Christentum Deutschen an Luther als einer Gestalt von Bedeu- mit Vernunft und Toleranz zu versöhnen und tung für die nationale Entwicklung Deutschlands. somit tatsächlich radikal auf eine neue Basis zu Calvin und Zwingli etwa interessierten jüdische stellen.31 Luther wurde hier also zur Symbolge- Gelehrte kaum, so dass man davon ausgehen stalt einer grundlegenden Reform, deren auch das kann, dass die Aufmerksamkeit, die Luther ge- Judentum bedürfe. noss, in erster Linie mit seiner Bedeutung als nationaler Symbolgestalt der Gesellschaft zu- 3) Aufgrund der zunehmenden Orientierung des sammenhing, in die sich die jüdische Gemein- liberalen Judentums an der biblisch-propheti- schaft integrieren wollte. Die politisch-kulturellen schen im Gegensatz zur rabbinischen Tradition, Machtverhältnisse und der jüdische Wunsch nach 50 39/2015 epd-Dokumentation

gleichberechtigter Anerkennung im preußisch- Deutung die Reformation als »letzte, große und in protestantisch dominierten Deutschland erklären gewissem Sinne vollendete Welttat des deutschen dabei nicht nur, weshalb sich mit wenigen Aus- Volkes« rühmte und Luther als Herold des Idea- nahmen selbst die kritischsten Historiker auffal- lismus in Anspruch nahm, dessen Werk durch lend mit antilutherischer Polemik zurückhielten. Kant vollendet worden sei, der mit seiner Ver- Sie dürften zugleich die Ursache dafür sein, dass nunftphilosophie »die letzte, stärkste Fessel der die jüdische Wahrnehmung Luthers im 19. Jahr- Menschheit zerbrach«.34 Leopold Rankes Deutsche hundert kaum eigene, spezifisch jüdische Akzente Geschichte im Zeitalter der Reformation beschrieb aufwies, sondern in hohem Maße vom Lutherbild im Gegensatz zur üblichen Symbolisierung Luther des zeitgenössischen Protestantismus bestimmt erstmals als wirklichen Menschen in menschli- blieb. Zudem beruhten die jüdischen Deutungen chen Glaubenskämpfen und Konflikten und bezog in der Regel nicht auf einer eigenständigen Aus- sich dabei auf seine theologischen Schriften. Im einandersetzung mit den Quellen der Reforma- Gegensatz zu Heine und anderen jüdischen Auto- tionszeit und den Charakteristika lutherischer ren lobte er Luther als großen Konservativen und Theologie, sondern lebten von der Rezeption pries seine Stellung im Bauernkrieg.35 Eine Ab- unterschiedlicher Perspektiven des nichtjüdischen wendung von Ranke bedeutete es hingegen, Diskurses, in dem Luther vielfach als »Symbol« wenn sich die nationale Historiographie der deut- der Freiheit und Entfaltung des Geistes sowie der schen Einigungsbewegung und des Kaiserreichs spezifischen Prägung des deutschen Charakters auf Fichte, Ernst Moritz Arndt und Herders fungierte. Volksgeistgedanken berief und Luthers Gestalt und Werk aus der Verkörperung des deutschen Eine genaue Analyse der zahlreichen jüdischen Wesens heraus erklärte. Dieses Denkmodell, das Bezugnahmen auf Luther stößt auf eine Fülle zur Substanz unzähliger wissenschaftlicher und geistiger Einflüsse oder Gegenentwürfe. Während populärer Lutherdarstellungen wurde, konnte der Aufklärung erwuchs aus dem konfessionellen sich zum gefährlichen Rausch entwickeln, der das Bild des prophetischen Schöpfers der Kreuzes- Geschichtsbewusstsein einer ganzen Generation theologie und Rechtfertigungslehre und aus dem bestimmte. Nicht umsonst war es der in den Ber- pietistischen Idealbild des »jungen Luther«, des liner Antisemitismusstreit 1880/81 verstrickte herrlichen Werkzeugs Gottes, das in Anfechtung Historiker Heinrich von Treitschke, der diese und Gebet religiöse Heldenkraft empfing, die exklusive Inanspruchnahme Luthers 1883 pro- Vorstellung vom mutigen Streiter für Vernunft grammatisch formulierte: »Ein Ausländer mag und Geistesfreiheit, der im Auftrag Gottes den wohl ratlos fragen, wie nur so wunderbare Ge- Glauben zum sittlichen Tun läuterte und zur wis- gensätze in einer Seele zusammenliegen mochten: senschaftlichen Forschung sowie zur Erfüllung diese Gewalt zermalmenden Zornes und diese der bürgerlichen Pflichten befreite: Luther als Innigkeit frommen Glaubens, so hohe Weisheit symbolisches Vorbild des Aufklärers. Es war Jo- und so kindliche Einfalt, so viel tiefsinnige Mystik hann Salomo Semler, der als erster Historiker und so viel Lebenslust, so ungeschlachte Grobheit Luther als Vorläufer der aufklärerischen Tradition und so zarte Herzensgüte […] Wir Deutschen politischer und geistiger Freiheit darstellte, ohne finden in alledem kein Rätsel, wir sagen einfach: allerdings die Kritik an seiner dogmatischen Be- Das ist Blut von unserem Blute. Aus den tiefen fangenheit und Unduldsamkeit zu verhehlen. Bei Augen dieses urwüchsigen deutschen Bauernsoh- Johann Gottfried Herder gewann nicht allein das nes blitzte der alte Heldenmut der Germanen, der von Semler und von Gotthold Ephraim Lessing die Welt nicht flieht, sondern sie zu beherrschen nur flüchtig gezeichnete Bild der Persönlichkeit sucht durch die Macht des sittlichen Willens.«36 des Vorläufers der Aufklärung an Farbe und Tie- Diese Sprache des nationalen Selbstruhms hat fe: Luther erscheint bei ihm, abgesehen von sei- schließlich das Denken der deutschen protestanti- nem religiösen Genius, als patriotischer Held des schen Theologie im Deutschen Kaiserreich und in deutschen Volkes, als deutscher Charakter, der der Weimarer Zeit zutiefst geprägt und damit eine Humanität, Toleranz, Gewissenhaftigkeit, der Tradition geschaffen, an der jüdisches Denken Vernunft und Tatkraft miteinander vereinte. In kaum mehr teilhaben konnte. Luthers Geist hat sich danach die nationale Reli- gion des deutschen Volkes am reinsten ausge- Jüdische Stimmen waren aus guten Gründen vor prägt, ihm zur Mündigkeit verholfen und ihm erst allem von der Perspektive der Aufklärung und seine Individualität unter den europäischen Völ- des Idealismus geprägt, während die gegenläufige kern geschenkt. Die großen Denker des Idealis- Kritik der Romantik oder gar die nationalistischen mus vertieften dieses Verständnis, wenn etwa der Stimmen kaum Widerhall fanden. Trotz vielfach junge Johann Gottlieb Fichte in stark nationaler geäußerter Kritik an der engen Verbindung zwi- epd-Dokumentation 39/2015 51

schen Reformation und politischer Macht wurde des Christentums zu seinen jüdischen Wurzeln, Luther in jüdischer Wahrnehmung vielfach gera- die Hoffnung auf eine gemeinsame Vollendung dezu beschwörend als Symbol und Vorläufer der der »religiösen Aufgabe der Menschheit« wecke. Freiheit des Geistes angeführt, die zur Grundlage Am bedeutendsten erschien ihm die Reformation der noch immer unvollendeten politischen Eman- aufgrund ihres auch für die Reform des Juden- zipation der Juden geworden sei. Leopold Zunz, tums in der Gegenwart bedeutsamen »Prinzip[s] einer der Gründer und bedeutendsten Vertreter der Selbstbefreiung der Religion von der Autorität der Wissenschaft des Judentums im 19. Jahrhun- der Überlieferung«, das zuletzt zur Anerkennung dert, sah Luther als Überwinder des Mittelalters, der menschlichen Vernunft als Maßstab der der seiner Zeit weit voraus war und dessen Wahrheit des Glaubens führen müsse. »Wir sind Wahrheiten, insbesondere die Gedanken- und auch als Juden zur dankbaren Anerkennung der Gewissensfreiheit, in der Gegenwart überhaupt Reformation verpflichtet, nicht nur weil sie uns erst eingeholt werden müssten.37 Salomon Ludwig das Christenthum wieder näher gebracht, und Steinheim, der in seinem Werk Die Offenbarung offenbar auch die günstige Veränderung herbeige- nach dem Lehrbegriffe der Synagoge den Versuch rufen hat, welche für unsere äußere Stellung in- einer philosophischen Rechtfertigung des Juden- nerhalb desselben eingetreten, sondern vorzüg- tums als dem Christentum überlegene Offenba- lich darum, weil sie den Sieg ihres Prinzips nicht rung vorlegte, formulierte diese Überzeugung nur für ihr eigenes Gebiet, sondern auch für das 1863 in hymnischer Sprache: »Ehre dem Helden Judenthum errungen hat, und dadurch auch die- des sechzehnten Jahrhunderts, dem großen, herr- sem die Richtung vorzeichnete, in welcher es lichen Deutschen, der das Panier der Denkfreiheit seiner neuen Entwicklung entgegenstreben soll.«42 in der höchsten und reinsten Region des mensch- lichen Denkens, des Denkens von und über Gott, Dieser These, Luthers Werk stehe nicht nur am aus dem Seelenkerker der Inquisition mit starkem Anfang der Judenemanzipation, sondern könne Arme befreit, und es der Menschheit zu Ehren, überhaupt als richtungsweisend für das Judentum wieder hoch auf der Warte des Geistes entfaltet der Gegenwart gelten, widersprach Abraham hat! Gesegnet sei das Andenken Luthers trotz Geiger 1871 in seiner Schrift Das Judenthum und allem und allem, was er in Wort und That geirrt seine Geschichte entschieden: Luther erscheint und gefehl haben mag! Auch uns sei sein Anden- dort als äußerst zwiespältige Gestalt – als Mann, ken heilig!«38 »der mit dem Hammer seines Geistes die alte Form zertrümmert, die geistliche Bevormundung Einige jüdische Reformer dieser Zeit zählten zu beseitigt hat« und dem daher ein »Platz in der Luthers Errungenschaften auch die Anbahnung Ehrenhalle des deutschen Volkes und der einer Verbesserung des Verhältnisses zwischen Menschheit« gebühre, zugleich aber als tenden- reformatorischem Christentum und Judentum. ziell reaktionäre Gestalt, die an den Dogmen des Am weitesten ging darin sicher Sigismund Stern, Christentums festgehalten und die »freisinnigeren einer der Mitbegründer der radikalen Berliner Richtungen« mit solcher Heftigkeit verfolgt habe, Reformgemeinde, der mit seiner außerordentlich »daß fast das ganze Reformationswerk dadurch positiven Lutherdeutung erkennbar auf eine Ver- erschüttert« worden sei. Zwar habe Luther durch besserung der Stellung der jüdischen Gemein- die Lehre vom Priestertum aller Gläubigen »den schaft im protestantisch dominierten preußischen Geist von der priesterlichen Macht befreit«, eine Staat zielte und letzteren auf den »höchste[n] Errungenschaft, die im Judentum allerdings »be- Grundsatz des Protestantismus« – die Tradition reits vor ihm der alte Pharisäismus gegenüber der Gewissensfreiheit – ansprach.39 Für die Juden dem priesterlichen Sadducäismus vollzogen« bedeutete die Reformation, wie Stern idealisie- habe, doch insgesamt biete seine »sehr eng[e] rend hervorhob, nicht nur eine Verminderung und beengend[e]« reformatorische Lehre mit ih- »der Last des Hasses und der Verachtung, von ren »dogmatischen Spitzfindigkeiten« kaum An- welcher der Jude niedergebeugt wurde«,40 son- knüpfungspunkte für ein Gespräch mit dem Ju- dern auch die Hoffnung auf eine Wiederannähe- dentum, weil seine Rechtfertigungslehre auf den rung des Christentums an das Judentum. Zwar dogmatischen Lehren des Sühnetodes Jesu und habe Luther an den zentralen Dogmen festgehal- der Trinitätslehre beruhe: »Zu der Höhe des heb- ten, aber durch die Wendung gegen »jene letzte räischen Prophetentums vermochte er sich nicht Konsequenz der [heidnisch inspirierten] Vereh- zu erheben; jene selige, innere Befriedigung in rung Gottes im Menschen, gegen die Hierarchie dem thatkräftigen reinen Willen, verbunden mit und das Papsttum« den »wahren Geist des Chris- der Erkenntnis des alleinigen Gottes […] kamen tenthums« wieder zur Erscheinung gebracht.41 in ihm nicht zur Klarheit. Er verharrte auf dem Stern erblickte darin Ansätze zu einer Rückkehr alten kirchlichen Standpunkte.«43 52 39/2015 epd-Dokumentation

Die pointierteste Fortschreibung dieser kritischen In ihrer reifen Gestalt begegnet Baecks Lutherkri- Perspektive auf Luther und Luthertum stammt tik in seinen Essays über »Romantische Religion« aus der Feder des liberalen Rabbiners Leo Baecks, (1922) sowie »Das Judentum in der Kirche« der auch sonst stark auf Abraham Geigers Ver- (1925), in denen der Reformator mit seinem »sola such zurückgriff, eine wirksame »Gegengeschich- fide« – im Gefolge des Paulus, der Jesu authenti- te« gegen die christliche Sicht des Judentums als sche jüdische Botschaft christologisch verwässert einer überholten, »toten« Religion zu entwerfen habe, sowie des Augustinus mit seiner Sünden- und auf diese Weise die Fortexistenz und Überle- und Gnadenlehre – als Exponent einer amorali- genheit des Judentums als einer religiös wie schen, »romantischen« Religion erscheint, die den ethisch relevanten kulturellen Kraft der Moderne Menschen zum – mit Schleiermacher gesprochen intellektuell zu begründen.44 Die Grundlagen für – »schlechthinnig abhängigen«, passiven, senti- die selbstbewusste Behauptung, das Judentum sei mentalen und auf das eigene Seelenheil fixierten nicht nur legitimer Teil der westlichen Kultur, Geschöpf der göttlichen Gnade reduziere.49 Das sondern zudem die »Religion der Zukunft«, legte Judentum erscheint dagegen als Verkörperung Baeck 1905 in seinem Buch über Das Wesen des des Typus der »klassischen« Religion, die den Judentums, einer glänzenden Apologie der jüdi- Menschen als Subjekt seines eigenen sittlichen schen Religion, die der jüdisch-christlichen Debat- Handelns versteht und in die Verantwortung für te gerade deshalb neue Eindringlichkeit verlieh, die Gerechtigkeit der Welt stellt. Während Baeck weil sie den kulturhegemonialen Ansprüchen des den Calvinismus, der ihm aus seiner Geburtsstadt liberalen Protestantismus und der religionsge- Lissa vertraut war, aufgrund seines stärkeren schichtlichen Herabwürdigung des antiken (im- Willens zur ethischen Weltgestaltung und seiner plizit auch des verschwiegenen zeitgenössischen) Betonung der Hebräischen Bibel zum Zeugen der Judentums mit dem Postulat der religiösen und fortdauernden Bedeutung des jüdischen Erbes in ethischen Überlegenheit der jüdischen Tradition der modernen Welt erhob, erblickte er die »unjü- begegnete. Das »Wesen« des Judentums, begrün- dische Art der Religion Luthers« darin, das sie det im »ethischen Monotheismus« der biblischen infolge ihres radikalen Paulinismus ethisches Propheten, erscheint Baeck zufolge gerade nicht Handeln zum bloßen Appendix des Glaubens als partikulare »Gesetzesreligion«, sondern als mache und stattdessen den Staat zum »Gebieter zukunftsweisender, zutiefst universaler Glaube, und Meister über die Sittlichkeit« erhebe.50 In in dem Religion und Humanität unauflöslich mit- seinem Vortrag »Heimgegangene des Krieges«, einander verbunden seien.45 Zentrale Aspekte den er 1918 an der Lehranstalt für die Wissen- seines Verständnisses des jüdisch-christlichen schaft des Judentums in Berlin hielt, beleuchtete Verhältnisses, die sein gesamtes späteres Werk Baeck die Kehrseite der lutherischen »Zwei- durchziehen und in der Unterscheidung zwischen Reiche-Lehre«, die seiner Überzeugung gemäß dem Judentum als dogmenloser »klassischer« Gottes allmächtiger Herrschaft über alles Seiende Religion der ethischen Hingabe an den einen Gott widersprach, sozialen wie politischen Stillstand und dem Christentum als der »romantischen«, zur Folge hatte und in der engen Verquickung durch die Einflüsse der griechischen Philosophie von Kirche und Staat mündete, wie er sie vor verdunkelten Religion des trinitarisch-christo- 1918 in Preußen erlebt hatte. Offenbar war Baeck logischen Dogmas wurzeln, sind hier erstmals hier von Ernst Troeltsch beeinflusst, dessen Wer- systematisch entfaltet. Im Zusammenhang mit der ke ein Reservoir moderner politischer Lutherkritik Kennzeichnung des Judentums als einer der Pro- bildeten und den Reformator als Januskopf phetie verpflichteten Religion der Tat begegnen zeichneten, der einerseits als bewundernswertes hier erste lutherkritische Akzente: Zwar habe die religiöses Genie erschien, aber auch als mittelal- Reformation in ihrer Kritik des Priestertums eine terlicher Mensch, der zu Autorität, Zwang und »Rückkehr zu der alten Anschauung des Juden- Intoleranz griff. Es erinnert an Börne, wenn tums« vollzogen,46 mit dem Akzent auf dem Troeltsch das national-heroische Bild Luthers zu »Wort« und dem lehrhaften Bekenntnis aber eine zerstören versuchte und ihn nicht nur einer welt- gefährliche »Anlehnung an die staatliche Gewalt« indifferenten Ethik zieh, die bloß Glauben und als Garantin der »Rechtgläubigkeit« gesucht47 und persönliche Nächstenliebe forderte, die Welt aber zudem das wortreiche Bekennen anstelle des ihren Gesetzen überließ, sondern zudem die The- ethischen Handelns gesetzt.48 Die starke ethische se vertrat, er sei für die deutsche politische Ge- Orientierung des modernen Kulturprotestantis- schichte zum Verhängnis geworden, insofern er mus erschien Baeck hingegen als eine Luther und durch sein konservativ-patriarchalisches Denken der Reformation widersprechende Tendenz, in geholfen habe, das Übergewicht von Obrigkeit der er eine Affinität von liberalem Judentum und und Staat sowie die politische Passivität des deut- liberalem Protestantismus erkannte. schen Volkes heranzuzüchten.51 Ähnlich urteilte epd-Dokumentation 39/2015 53

Baeck unter Hinweis auf das allzu enge Bündnis wegungen der protestantischen Art religiöser von Thron und Altar, der »alles bevormundende Kultur auf das unverkennbarste angeschlossen« Polizeistaat« sei »in gerader Linie aus dem Luther- hätten – »in allen geistigen Fragen der Religion tum hervorgegangen«. Die von der Revolution denken und fühlen wir im protestantischen von 1918 erschütterte »preußische Religion« war Geist«.53 Vom Reformator sprach er mit höchster demnach von einem mit der christlichen Weltan- Verehrung und nannte ihn aufgrund der »religiö- schauung verbundenen »starren Autoritäts- und sen Befreiung«, die er ins Werk gesetzt habe, Untertanenbegriff« gekennzeichnet, während das »Martin Luther gesegneten Angedenkens« – eine Ethische allein der Sphäre des Privaten überlas- Formulierung, mit der fromme Juden von ihrem sen blieb. Baecks Hoffnung richtete sich darauf, rabbinischen Lehrer zu reden pflegen.54 Die Ju- dass nach der Novemberrevolution Luthers »un- denfeindschaft Luthers findet hingegen mit kei- protestantische« Haltung, die das Luthertum weit nem Wort Erwähnung. Stattdessen forderte Co- vom Judentum entfernt hatte (»So jüdisch Luther hen die Juden in Deutschland zum Respekt vor begonnen hatte, so fernab von allem Jüdischen Luther auf, ohne dessen befreienden Geist weder hatte ihn sein weiterer Weg geführt«) durch das die politische Emanzipation noch die religiöse dem Judentum weit nähere calvinistische Ele- Blüte des deutschen Judentums im 19. Jahrhun- ment, vor allem aber durch die endgültige Durch- dert möglich gewesen seien, und hob hervor, die setzung der mit dem »jüdischen Geiste« innig religiöse Entwicklung eines modernen, liberalen, verwandten »Geist der Aufklärung« überwunden der zukünftigen gesellschaftlichen Befreiung der werden und in Deutschland eine neue, der jüdi- Menschheit verpflichteten Judentums liege »in schen Gemeinschaft und dem Gespräch zwischen der geschichtlichen Tendenz des deutschen Pro- Judentum und Christentum zuträglichere Kultur testantismus«.55 wachsen könne.52 Die weiteren Grundzüge seiner Lutherdeutung Eine differenzierte Bewertung des vielfach sche- entfaltete Cohen später in seiner Ethik des reinen matischen Luther- und Luthertumsbildes Baecks, Willens (1907), in seiner 1915 entstandenen das als Element der Verteidigung des Judentums Kriegsschrift Deutschtum und Judentum und in gegen das Konzept einer dominierenden, exklusiv seinem Essay »Zu Martin Luthers Gedächtnis«, protestantischen deutschen Kultur zu verstehen den er 1917 in den Neuen Jüdischen Monatsheften ist, ist sicher notwendig. Seine Arbeiten verkör- veröffentlichte – »als deutscher Jude«, wie er pern jedoch am eindrücklichsten eine gegenüber schrieb, »der, als Bekenner des Judentums, sich der vom protestantischen Mehrheitsdiskurs be- der Pietät bewußt ist, die ihn auch für seine Reli- stimmten jüdischen Wahrnehmung Luthers ei- gion, nicht nur für seine Kultur, mit dem genständige kritische theologisch-politischen Deutschtum verknüpft«. Zu den »gewaltigsten Auseinandersetzung mit Geschichte und Wir- Schöpfern des Deutschtums« aber, so Cohen, kungsgeschichte der lutherischen Reformation. gehöre »Luther, der die providentielle Richtung Spannend ist vor allem, dass Baeck damit implizit des deutschen Geistes in diejenigen Bahnen ge- einen entschiedenen Kontrapunkt gegen ihre lenkt hat, welche die späteren Klassiker zum philosophisch-symbolische Interpretation bei Ziele des deutschen Humanismus geführt ha- seinem Lehrer Hermann Cohen setzte. Der mit ben«.56 Luther wird bei Cohen zum Symbol der namhaften Vertretern des liberalen Kulturprotes- geistigen Überwindung des Mittelalters, das histo- tantismus – wie Martin Rade und Wilhelm Herr- risch recht naiv als »finsteres Zeitalter« der Un- mann – befreundete Marburger Neukantianer, in freiheit firmiert,57 während von Luthers Ideen, dessen Geschichtsbild Reformation und Protestan- etwa dem Gedanken des allgemeinen Priester- tismus nicht nur ein Element des geistig-sozialen tums aller Gläubigen, die »Freiheit des sittlichen Fortschritts Europas, sondern zugleich ein Binde- Denkens und Gewissens« ausging.58 Lob erfährt glied zwischen jüdischer Überlieferung und deut- auch der »politische Geist« Luthers, der die geisti- scher Kultur darstellten, hatte zu Beginn des 20. ge Kultur von der Herrschaft der Kirche befreit Jahrhunderts die wohl positivste Lutherdeutung und der weltlichen Obrigkeit anvertraut habe: Die aus der Feder eines jüdischen Gelehrten vorge- Kehrseite des lutherischen Obrigkeitsdenkens legt. In seinem gegen Heinrich von Treitschke findet, anders als bei Baeck, keine Erwähnung, gerichteten Aufsatz »Ein Bekenntnis in der Juden- im Gegenteil – die »protestantische Staatsidee« frage« rechtfertigte Cohen auf der Suche nach findet höchste Zustimmung.59 Von großer Bedeu- einer Versöhnung der jüdischen und der deutsch- tung war auch für Cohen Luthers Bibelüberset- protestantischen Kultur die Forderung nach zung, mit der dieser den jüdischen Geist in der gleichberechtigter Integration der deutschen Ju- abendländischen Kultur wirksam und die Hebräi- den damit, dass sie sich »in ihren religiösen Be- sche Bibel »zum Lebensbaum« gemacht habe »für 54 39/2015 epd-Dokumentation

alles moderne Geistesleben, zur Wurzel, aus der schien, war aus der Sicht vieler Interpreten die alle Kräfte der neueren Völker entsprossen und Voraussetzung für eine Vollendung von Emanzi- genährt worden sind.«60 Aus Luthers Wertschät- pation und kultureller Integration durch eine zung des »Alten Testaments« schloss der Philo- Synthese deutschen und jüdischen Wesens. Das soph, der Reformator habe die wichtigsten Glau- Ziel dieser Konstruktion, das Cohen selbst tref- benswahrheiten weniger aus den Evangelien oder fend definierte, wenn er davon sprach, es gehe von Paulus, sondern aus den Psalmen und Pro- darum, das »Schreckgespenst« zu bannen, »als ob pheten gewonnen, und erblickte darin den An- [der Jude] ein Fremdling wäre in der christlichen knüpfungspunkt für eine gemeinsame religiöse Kultur und gar in der deutschen protestanti- Grundlage des deutschen Nationalstaats, als de- schen«,65 wäre allerdings nur dann realistisch ren gleichberechtigte Träger Juden und Christen gewesen, wenn ihr von deutsch-protestantischer gelten müssten.61 Theologisch ging er von einer Seite aus eine Antwort im Sinne der Achtung des tiefen Verwandtschaft zwischen Luthers Glauben Judentums als Teil der deutschen Kultur entspro- an den gnädigen Gott und dem jüdischen Glau- chen hätte. Dass diese Antwort weitgehend aus- ben an Gott als Versöhner und Erlöser des Men- blieb, lässt sich ausgerechnet am Ringen deutsch- schen aus und deutete – ein Widerhall der Schule jüdischer Gelehrter um die Wirkungsgeschichte Albrecht Ritschls – die Rechtfertigungslehre im der »Judenschriften« Martin Luthers vor der Sho- Sinne einer Befreiung zur selbstverantwortlichen ah aufzeigen. Sittlichkeit, die auch das Wesen jüdischer Ethik ausmache.62 Natürlich war sich der Marburger 4 Philosoph der tiefgreifenden Glaubensunterschie- de zwischen Judentum und Christentum, die er in Interessanterweise spielte bei den bisher gehörten anderen Zusammenhängen durchaus polemisch jüdischen Stimmen, selbst bei der sehr kritischen zur Geltung bringen konnte, vollkommen be- eines Leo Baeck, die Frage nach der Judenfeind- wusst, setzte seine Hoffnung jedoch auf eine schaft Luthers keine wesentliche Rolle. Das mag allmähliche Annäherung des modernen Kultur- zum einen damit zusammenhängen, dass auch protestantismus an die Prinzipien des jüdischen im protestantischen Bereich die »Judenschriften« »sittlichen Monotheismus«.63 Luthers vorwiegend erst im Zuge der Entstehung einer modernen antisemitischen Bewegung und Darüber, dass zahlreiche Züge der historischen einer national-völkischen Lutherdeutung im spä- Gestalt Luthers und der Reformation seiner ideali- ten 19. Jahrhundert bewusst rezipiert und disku- sierten liberalen Interpretation widersprachen, tiert wurden, zum anderen aber auch damit, dass war sich Cohen selbstverständlich im Klaren. Er jüdische Intellektuelle – um der Integration in die begegnete dieser Schwierigkeit jedoch mit einer deutsche Gesellschaft und Kultur willen – eher methodologischen Überlegung, mit der er auch positive Anknüpfungen an die für das deutsch- sonst seine Auffassung religionsgeschichtlicher protestantische Kulturbewusstsein so zentrale Erscheinungen, etwa das Postulat einer jüdischen Figur Luthers suchten. Erkannten jüdische Histo- Vernunft- und Sittlichkeitsreligion, zu verteidigen riker überhaupt erst im 19. Jahrhundert, dass der pflegte: Nicht das Leben in Wittenberg während Reformator über und gegen die Juden geschrie- des 16. Jahrhunderts, nicht alle Gedanken und ben hatte, so wurde dies zunächst meist ausge- Handlungen Luthers, der Kind seiner Zeit war, blendet oder heruntergespielt: Isaak Markus Jost sondern die »Idee« der Reformation, der Antrieb, etwa zitierte 1828 in seiner Geschichte der Israeli- den sie der Entwicklung des deutschen Denkens ten lediglich Luthers Schrift Daß Jesus ein gebore- gegeben habe, sei entscheidend. Mit Hilfe dieser ner Jude sei,66 während etwa der Reformrabbiner symbolischen Abstraktion war es Cohen möglich, Samuel Holdheim in Berlin noch 1858 Friedrich Luther und die Reformation als wichtiges Element Julius Stahl gegenüber Luthers religiöse Toleranz der geistigen Entwicklung von der biblisch- preisen und ihn als das Prisma beschreiben konn- prophetischen Tradition über Plato, Maimonides, te, durch das im 16. Jahrhundert Gottes Licht in Luther und Kant bis zu seiner neukantianischen die europäische Geschichte strahlte, ohne sich Interpretation des Judentums in Anspruch zu überhaupt auf dessen Stellung zu den Juden zu nehmen, die ihm als Garantin der Relevanz des beziehen.67 Judentums für den »deutschen Geist« erschien.64 Darin wird ein Charakteristikum eines einflussrei- Der erste jüdische Historiker, der sich explizit mit chen Strangs der deutsch-jüdischen Lutherrezep- dieser Thematik auseinandersetzte und so die tion vor dem Ersten Weltkrieg überhaupt sicht- jüdische Wahrnehmung Luthers grundlegend bar: Die geistige Befreiung, die von einem ideali- veränderte, war Heinrich Graetz, der in seiner sierten Luther und der Reformation auszugehen Geschichte der Juden von den ältesten Zeiten bis epd-Dokumentation 39/2015 55

auf die Gegenwart zu erklären versuchte, weshalb lichen Ländern ausgesetzt sei. Dies war die Logik Luther, der sich zunächst im Widerspruch zur der Ereignisse, die Luther dazu nötigte, die Maske spätmittelalterlichen Praxis von Verfolgung und der Judenfreundlichkeit bald abzustreifen und Vertreibung »in seinem ersten reformatorischen dem Judentum den Kampf auf Leben und Tod Aufflammen so kräftig der Juden angenommen« anzusagen.«72 habe, in seinen späten Jahren »all die lügenhaften Märchen von Brunnenvergiftung, Christenkin- Eine genaue Analyse der jüdischen Historiogra- dermord und Benutzung von Menschenblut wie- phie lässt erkennen, dass die These vom Bruch in derholen konnte«.68 Er führte diesen dramatischen der Haltung Luthers in dem Maße an Attraktivität Wandel auf eine tiefe Verbitterung und Rechtha- gewann, in dem seit Anfang des 20. Jahrhunderts berei Luthers und ein ebenso tiefes Unverständnis und dann mit großer Vehemenz in der Weimarer für den sittlichen Charakter des Judentums zu- Zeit völkische Interpretationen die Spätschriften rück und warf dem Reformator vor, die protestan- Luthers zum Maßstab seiner Theologie und zum tische Welt »mit seinem judenfeindlichen Testa- Kriterium politischen Handelns gegenüber der ment […] auf lange Zeit hinaus« vergiftet zu ha- jüdischen Minorität in Deutschland erhoben. Der ben.69 Spätere Forschungen, etwa jene des Histo- Historiker Samuel Krauss etwa, der an der Israeli- rikers Ludwig Geiger, der über hervorragende tisch-Theologischen Lehranstalt in Wien lehrte, Quellenkenntnisse mit Blick auf die Zeit der Re- charakterisierte Luther anlässlich des Reforma- naissance, des Humanismus und der Reformation tionsgedenkens 1917 in seinem Aufsatz »Luther verfügte, haben dieses Bild differenziert und we- und die Juden« als einen der schlimmsten Juden- sentlich stärker als die persönlichen die theologi- feinde seiner Zeit. Dessen »große[n], unbändi- schen Motive Luthers in den Blick genommen: ge[n] Haß« gegen die Juden führte er auf seine Geiger machte für den Bruch, den er bei ihm leidenschaftliche theologische Unduldsamkeit und wahrnahm, enttäuschte missionarische Bestre- auf die Naivität zurück, mit der er ein »Aufgehen bungen verantwortlich, vor allem aber die erst des Judentums im Christentum« erwartete.73 Den- allmähliche Erkenntnis des fundamentalen jü- noch würdigte er den Reformator als großen disch-christlichen Dissensus in der Interpretation Theologen, dessen frühe Äußerungen historisch der Hebräischen Bibel.70 Die überwiegende Mehr- schwerer wögen als seine späteren Schmähschrif- zahl jüdischer Deutungsversuche ging jedoch ten. Dahinter verbirgt sich ganz offenbar die weniger von der theologischen Kontinuität der Hoffnung, den Reformator im Sinne einer aufklä- Haltung Luthers als von einer »Zwei-Perioden- rerischen Lutherdeutung als Gewährsmann einer Theorie« oder »Enttäuschungstheorie« aus. 1911 Politik der Integration und Gleichberechtigung in vertrat der jüdische Historiker Reinhold Lewin Anspruch nehmen zu können: »Die Grundsätze«, dezidiert die These der Diskontinuität der Haltung schrieb Krauss, »die [Luther] zu Beginn seiner des späten Luther im Vergleich zu seinen toleran- Laufbahn in alle Welt eingeführt hat und die auch ten frühen Einstellungen. Über die Wirkungsge- reiner und gerechter waren als die von Haß und schichte seines Judenhasses machte sich Lewin Bitterkeit verzerrten Aufstellungen seines Alters, dabei aber keine Illusionen: »Wer immer aus Grundsätze der Aufklärung und der freien Entfal- irgendwelchen Motiven gegen die Juden schreibt, tung des menschlichen Geistes, darunter auch die glaubt das Recht zu besitzen, triumphierend auf Forderung, daß den Juden weder geistig noch Luther zu verweisen.«71 Wesentlich kritischere leiblich ein Zwang angetan werden dürfe, erwie- Töne finden sich bei Simon Dubnow, der 1927 in sen sich als gewaltige Faktoren der Folgezeit, die seiner Weltgeschichte des jüdischen Volkes Lu- selbst durch Luthers eigene Fehler nicht mehr zu thers frühe Haltung nicht auf den Wunsch nach bannen waren.«74 Ihren Widerhall findet eine Gerechtigkeit und Gewissensfreiheit zurückführte, solche Deutung in allerdings nur den ganz ver- sondern auf die Absicht, »sie auf diese Weise für einzelten Versuchen protestantischer Theologen das Christentum neuester Observanz zu gewin- kurz vor der nationalsozialistischen Machtergrei- nen«. Als sich der Reformator in seiner naiven fung, in einer Idealisierung des frühen Luther den Missionshoffnung getäuscht gesehen habe, sei immer mächtiger werdenden Schatten der Juden- sein Wohlwollen in Zorn und krankhaften Juden- feindschaft Luthers und ihrer völkischen Instru- hass – eine Art »Judäophobie« – umgeschlagen: mentalisierung durch die Berufung auf eine Tradi- »Das Volk der Bibel, dem Christus und die Apos- tion der Liebe und der Glaubensfreiheit zu ban- tel entstammten, lehne es ab, durch seinen Bei- nen, die in der Reformation prinzipiell angelegt tritt zur lutherischen Kirche die göttliche Mission sei. ihres Stifters zu bestätigen, also sei es – so folger- te Luther – unverbesserlich und verdiene alle Qualen und Verfolgungen, denen es in den christ- 56 39/2015 epd-Dokumentation

5 ihrer Töne zu versuchen. Niemand, auch wer die Hoffnungslosigkeit dieses Schreis ins Leere von Es wäre verfehlt, die Faszination, die ein ideali- jeher begriffen hat, wird dessen leidenschaftliche siertes Lutherbild auf jüdische Intellektuelle aus- Intensität und die Töne der Hoffnung und der übte, als historisch gültiges jüdisches Zeugnis für Trauer, die in ihm mitgeschwungen haben, ge- einen von theologischer Judenfeindschaft unbe- ringschätzen. […]…Von einem Gespräch vermag fleckten Kern des theologischen Denkens des ich bei alledem nichts wahrzunehmen. Niemals jungen Luthers verstehen zu wollen. Gerade die hat etwas diesem Schrei erwidert […].«75 Das in der jüdischen Forschung vor 1933 dominieren- jüdische Projekt, Luther besser zu verstehen als de scharfe Trennung zwischen dem »aufgeklär- seine judenfeindlichen Interpreten, mag sich im ten« und dem ins Mittelalter zurückgefallenen Lichte der Deutung Scholems als Utopie erwiesen Luther, die den antisemitischen Interpreten der haben, ihr wohnt jedoch zweifellos eine ge- Reformation einen Spiegel vorhalten wollte, neig- schichtliche Würde inne, die sich nicht von der te zu einer unhistorischen Interpretation, die in Hand weisen lässt: Ihr kann die protestantische Gefahr stand, die antijüdischen Kontinuitätslinien Kirche der Gegenwart am ehesten gerecht wer- im Denken Luthers zu übermalen. Dass es sich den, indem sie sich – anlässlich des Reforma- dabei um Kernaspekte eines verhängnisvollen tionsgedenkens – differenziert und ohne Apologe- theologischen Antijudaismus handelte, der einer tik den dunklen Seiten ihrer Geschichte stellt. antisemitischen Fortschreibung seiner Prämissen nichts entgegenzusetzen hatte, ist erst nach der Shoah dramatisch deutlich geworden. Man kann daher angesichts der protestantischen Deutungen Anmerkungen: Luthers, die seit Beginn des 20. Jahrhunderts 1 Diese Reflexionen beruhen auf meinem Essay »‚Auch uns sei immer stärker in nationalistische, antisemitische sein Andenken heilig!‘ Symbolisierung, Idealisierung und Kritik in und völkische Denkweisen abglitten, nur von der jüdischen Lutherrezeption des 19. und 20. Jahrhunderts«, in: einer großen Tragik der jüdischen Lutherrezep- Hans Medick/Peer Schmidt (Hg.), Luther zwischen den Kulturen: tion des 19. Jahrhunderts insgesamt und insbe- Zeitgenossenschaft - Weltwirkung, Göttingen 2004, 214-259. sondere der Jahrzehnte vor der Shoah reden. Die überwiegend positive Wahrnehmung Luthers, die 2 Alle Zitate im Bericht des Chicago Occident vom 26.10.1883. mit der starken Identifikation mit Deutschland und seiner Geistesgeschichte sowie mit der inten- 3 Vgl. Chicago Occident vom 26.10.1883. siven Hoffnung auf gleichberechtigte Integration in die deutsche Gesellschaft und Kultur zusam- 4 Heinrich Bornkamm, Luther im Spiegel der deutschen Geistes- menhing, erscheint rückblickend als Fehlurteil. geschichte, Heidelberg 1955. Gershom Scholems kritische Ausführungen über den »Mythos vom deutsch-jüdischen Gespräch« 5 Ludwig Börne, Briefe aus Paris, in: Werke in zwei Bänden (Bibli- lassen sich, wenn es um die »Liebesgeschichte« othek deutscher Klassiker), Bd. 2, Weimar 1959, S. 160f. vieler jüdischer Intellektueller mit Martin Luther und den befreienden Wirkungen der Reformation 6 Ebd., S. 222. geht, einschließlich des bisweilen verzweifelten Versuchs, den judenfeindlichen, sei es völkischen 7 Ludwig Börne, »Menzel der Franzosenfresser«, in: Werke in zwei oder konservativen Lutherdeutungen gleichsam Bänden, Bd. 2, S. 340. beschwörend eine Tradition aufklärerischer Inter- pretation entgegenzusetzen, nur schwer entkräf- 8 Ebd., S. 341f. ten. Der historische Rückblick erweist dies als Illusion, der auf nichtjüdischer Seite keine Wirk- 9 Ebd., S. 342. lichkeit des Gesprächs, der Akzeptanz und des Willens zur Aufnahme der jüdischen Gemein- 10 Ebd., S. 343f. schaft in die deutsche Gesellschaft und Kultur entsprach. Mit Scholems Worten: »Die Juden 11 Heinrich Heine, »Französische Zustände«, in: Werke, Bd. 3 haben ein Gespräch mit den Deutschen versucht, (Schriften über Frankreich), Frankfurt a.M. 1968, S. 192. von allen möglichen Gesichtspunkten her, for- dernd, flehend und beschwörend, kriecherisch 12 Heinrich Heine, »Zur Geschichte der Religion und Philosophie in und auftrotzend, in allen Tonarten ergreifender Deutschland«, in: Werke, Bd. 4 (Schriften über Deutschland), Würde und gottverlassener Würdelosigkeit, und Frankfurt a. M. 1968, S. 44-165, Zitat S. 51. es mag heute, wo die Symphonie aus ist, an der Zeit sein, ihre Motive zu studieren und eine Kritik 13 Ebd., S. 71f. epd-Dokumentation 39/2015 57

14 Jürgen Ferner, Versöhnung und Progression. Zum geschichts- 35 Vgl. ebd., S. 37-45 und S. 167-176. philosophischen Denken Heinrich Heines, Bielefeld 1994, S. 220. 36 Heinrich von Treitschke, Luther und die deutsche Nation 15 Heine, »Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutsch- (1883), zit. n. Bornkamm, Luther im Spiegel der deutschen land«, S. 78. Geistesgeschichte, S. 183.

16 Ebd., S. 73 und S. 75f. 37 Leopold Zunz, Die synagogale Poesie des Mittelalters, Bd. 1, Frankfurt a.M. 1920, S. 334. 17 Ebd., S. 73. 38 Salomon Ludwig Steinheim, Die Offenbarung nach dem Lehr- 18 Ebd., S. 73. begriffe der Synagoge (Dritter Theil: Die Polemik. Der Kampf der Offenbarung mit dem Heidenthume, ihre Synthese und Analyse), 19 Ebd., S. 114f. Leipzig 1863, S. 246.

20 Ebd., S. 78. 39 Sigismund Stern, Das Judenthum und der Jude im christlichen Staat, Berlin 1845, S. 28. 21 Ebd. 40 Ders., Die Aufgabe des Judenthums und des Juden in der 22 Ebd., S. 84. Gegenwart, Berlin 21853, S. 28.

23 Ebd., S. 113. 41 Ebd., S. 64.

24 Heinrich Heine, »Geständnisse«, in: Werke, Bd. 4, S. 476-527, 42 Ebd., S. 64f. Zitate S. 508f. 43 Geiger, Das Judenthum und seine Geschichte, Bd. 3, S. 140f. 25 Zitate ebd., S. 511ff. 44 Vgl. Christian Wiese, »Ein unerhörtes Gesprächsangebot. Leo 26 Georg Wilhelm, Friedrich Hegel, Religionsphilosophie, 3. Teil: Baeck, die Wissenschaft des Judentums und das Judentumsbild Die absolute Religion (1830) (Jubiläumsausgabe Bd. 16), S. 290. des liberalen Protestantismus«, in: Georg Heuberger/Fritz Back- haus (Hg.), Leo Baeck 1873-1956. ‚Mi gesa rabbanim’ – Aus 27 Heine, »Geständnisse«, S. 514f. dem Stamme von Rabbinern, Frankfurt a. M. 2001, S. 147-171.

28 Ebd., S. 516. 45 Leo Baeck, Das Wesen des Judentums, Berlin 1905, bes. S. 1-58. 29 Saul Ascher, Leviathan oder Über Religion in Rücksicht des Judentums, Berlin 1792, S. 213. 46 Ebd., S. 32.

30 Ebd., S. 227f. 47 Ebd., S. 34.

31 Saul Ascher, Die Wartburgs-Feier. Mit Hinsicht auf Deutsch- 48 Ebd., S. 35. lands religiöse und politische Stimmung, Berlin 1818, S. 3-7; vgl. ders., Eisenmenger der Zweite. Nebst einem vorangesetzten 49 Leo Baeck, »Romantische Religion«, in: ders., Aus drei Jahrtau- Sendschreiben an Herrn Professor Fichte in Jena, Berlin 21794; senden – Das Evangelium als Urkunde der jüdischen Glaubens- ders., Die Germanomanie. Skizze zu einem Zeitgemälde, Berlin geschichte (Werke Bd. 4), Gütersloh 2000, S. 59-120, bes. 1815. S. 61 und 88.

32 Abraham Geiger, Das Judenthum und seine Geschichte, Bd. 3, 50 Leo Baeck, »Judentum in der Kirche«, in: ders., Aus drei Jahr- Breslau 1871, S. 141. tausenden, S. 130-147, Zitate S. 143.

33 Franz Rosenzweig, »Die Schrift und Luther«, in: ders., Zwei- 51 Vgl. Ernst Troeltsch, Die Bedeutung des Protestantismus für stromland. Kleinere Schriften zu Glauben und Denken (Gesam- die Entstehung der modernen Welt, München 1911. melte Schriften Bd. 3), Dordrecht/Boston/Lancaster 1984, S. 749-772. Zitat S. 761. 52 Leo Baeck, »Heimgegangene des Krieges«, in: ders., Wege im Judentum. Aufsätze und Reden, Gütersloh 1997, S. 285-296, 34 Zit. n. Bornkamm, Luther im Spiegel der deutschen Geistesge- Zitate S. 287ff. schichte, S. 27. 58 39/2015 epd-Dokumentation

53 Hermann Cohen, »Ein Bekenntnis in der Judenfrage«, in: ders., 67 Samuel Holdheim, Stahl’s Christliche Toleranz beleuchtet, Jüdische Schriften, Bd. 2, Berlin 1924, S. 73-94, Zitate S. 79 Berlin 1856, S. 46. und 93. 68 Heinrich Graetz, Geschichte der Juden. Von den ältesten Zeiten 54 Ebd., S. 93. bis auf die Gegenwart, Bd. 9, Darmstadt 1998 (41907), S. 300. Luthers frühe Schrift bezeichnete er als »Wort, wie es die Juden 55 Ebd., S. 78. seit einem Jahrtausend nicht gehört hatte« (S. 189).

56 Hermann Cohen, »Zu Martin Luthers Gedächtnis«, in: Neue 69 Ebd., S. 301f. jüdische Monatshefte 2 (1917/18), S. 45-49, Zitate S. 46. 70 Ludwig Geiger, »Zur jüdischen Geschichte. 2. Luther und die 57 Cohen, »Ein Bekenntnis in der Judenfrage«, S. 93. Juden«, in: Jüdische Zeitschrift für Wissenschaft und Leben 5 (1867), S. 23-29; ders., »Die Juden und die deutsche Literatur«, 58 Hermann Cohen, Schriften zur Philosophie und Zeitgeschichte, in: Zeitschrift für die Geschichte der Juden in Deutschland 2 Berlin 1928, Bd. 1, S. 547. (1888), S. 297-374 (zu Luther S. 326ff.).

59 Hermann Cohen, Ethik des reinen Willens, Berlin 21907, 71 Reinhold Lewin, Luthers Stellung zu den Juden. Ein Beitrag zur S. 307. Geschichte der Juden in Deutschland während des Reformations- zeitalters, Berlin 1911, S. 110. 60 Cohen, »Zu Martin Luthers Gedächtnis«, S. 46. 72 Simon Dubnow, Weltgeschichte des jüdischen Volkes. Von 61 Hermann Cohen, »Der Jude in der christlichen Kultur«, in: ders., seinen Uranfängen bis zur Gegenwart, Bd. 6, Berlin 1927, S. Jüdische Schriften, Bd. 2, S. 193-209, bes. S. 209. 192-217, Zitate S. 200 und 202f.

62 Cohen, »Zu Martin Luthers Gedächtnis«, S. 46f. 73 Samuel Krauss, »Luther und die Juden«, in: Der Jude 2 (1917/18), S. 544-547 (wieder abgedruckt in: Kurt Wilhelm 63 Hermann Cohen, »Deutschtum und Judentum«, in: ders., Jüdi- (Hg.), Wissenschaft des Judentums im deutschen Sprachbereich. sche Schriften, Bd. 2, S. 237-291, bes. S. 256. Ein Querschnitt Bd. 1, Tübingen 1967, S. 309-314, Zitate S. 310 und 312). 64 Vgl. Cohen, »Deutschtum und Judentum«, S. 244. 74 Ebd. S. 313. 65 Cohen, »Der Jude in der christlichen Kultur«, S. 209. 75 Gershom Scholem, »Wider den Mythos vom deutsch-jüdischen 66 Isaak Markus Jost, Geschichte der Israeliten seit der Zeit der Gespräch«, in: ders, Judaica, Bd. 2, Frankfurt a.M. 1970, Maccabäer bis auf unsere Tage (Achter Theil), Berlin 1828, S. 7-11, Zitat S. 7ff. S. 211f.

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Martin Luther und die Juden – eine politologische Betrachtung Von Prof. Dr. Micha Brumlik, Zentrum Jüdische Studien Berlin-Brandenburg

Reformator, Ketzer, Judenfeind. Jüdische Der wohl beste Kenner der Geschichte der Refor- Perspektiven auf Martin Luther. Tagung der mation in Deutschland, der Kirchenhistoriker Evangelischen Akademie zu Berlin und des Kaufmann, stellt freilich fest, dass Luther zu Un- Zentralrats der Juden in Deutschland, Berlin recht auf der Nürnberger Anklagebank sitzen 10.-12.6.2015 würde, denn:

1.Einleitung »… die Nürnberger Richter hatten nicht über die obsessiven Vorstellungen eines nach unseren »Judenpolitik« so ein sehr guter Kenner von Maßstäben theologischer und sittlicher Vernunft, Luthers »Judenschriften« und ihrem historischen aber auch dem ‚kirchenrechtlichen Gebot der Kontext, der Göttinger Kirchenhistoriker Thomas Nächstenliebe‘ und »judenrechtlichen Bestim- Kaufmann, »war in der frühen Neuzeit immer mungen des römischen Rechts« irregeleiteten auch Finanz-, Wirtschafts- und Gesellschaftspoli- Theologieprofessor des 16. Jahrhunderts zu ent- tik und unterlag Regulierungsmechanismen, die scheiden, sondern über die Massenmörder des 20. zwar von theologischen Argumentationsmustern Jahrhunderts. Einer physischen Eliminierung der begleitet, aber auch von politischen und wirt- Judenheit« so beschließt Kaufmann sein Argu- schaftlichen Interessen bestimmt oder von ment »hat Luther nicht das Wort geredet.«4 Ressentiments geprägt wurden.« Diese Behauptung Kaufmanns ist noch einmal zu Dieser deutlichen Aussage lässt Thomas Kauf- überprüfen, freilich unter einem veränderten mann eine relativierende Bewertung folgen: »Die Blickwinkel. Es liegt auf der Hand, dass Luther strukturellen Bedingungen territorialstaatlicher und seine entsprechenden Äußerungen zumal in Judenpolitik in der frühen Neuzeit legen es nahe, den Kirchen der Reformation unter theologischen weder die »positiven« Folgen einer Rezeption von Gesichtspunkten betrachtet werden müssen, Luthers früher »Judenschrift«, noch die »negati- gleichwohl soll hier eine Perspektive vorgeschla- ven« Folgen einer entsprechenden Rezeption sei- gen werden, die auch Thomas Kaufmann im Blick ner Spätschrift allzu hoch zu veranschlagen«1. hat, wenn er schreibt: Dem möchte ich widersprechen, ebenso wie den Hinweisen etwa der Berliner Kirchenhistorikerin »Judenpolitik war in der frühen Neuzeit immer Dorothea Wendebourg, die durch den Nachweis auch Finanz-, Wirtschafts- und Gesellschaftspoli- einer positiven jüdischen Lutherrezeption im tik und unterlag Regulierungsmechanismen, die neunzehnten Jahrhundert zeigen will, dass Lu- zwar von theologischen Argumentationsmustern thers Judenhass überhaupt erst von den National- begleitet, aber auch von politischen und wirt- sozialisten und ihren Vorläufern ans Licht ge- schaftlichen Interessen bestimmt oder von bracht wurde.2 Ressentiments geprägt wurden.«5

Daher: Die Antwort auf die Frage nach der Stel- Kaufmanns brillante Studie arbeitet präzise her- lung Luthers zu Juden und Judentum wird sich aus, dass es Luther sowohl bei seinen frühen als letztlich daran bemessen, für wie angemessen auch bei seinen späten Judenschriften nie darum man die Einlassung des später in Nürnberg zum ging, die Juden selbst anzusprechen, sondern Tode verurteilten Herausgebers des »Stürmers«, stets darum, entweder die Papstkirche ob ihrer Julius Streichers, vor dem internationalen Militär- ineffektiven Methoden der Judenmission zu kriti- gerichtshof auf die ihm vorgehaltenen antisemiti- sieren oder sich selbst gegen andere reformatori- schen Verbrechen hält. Damals sagte Streicher: sche Autoren, die ihn inakzeptabler Lehrmeinun- gen wegen angriffen, zu verteidigen. Eine prakti- »Dr. Martin Luther säße heute an meiner Stelle sche Wirksamkeit spricht Kaufmann Luthers vor auf der Anklagebank, wenn dieses Buch von der allem späten Judenschriften weitestgehend ab – Anklagevertretung in Betracht gezogen würde. In mit Ausnahme seines Einflusses auf den Grafen dem Buch ‚Die Juden und ihre Lügen‘ schreibt Albrecht von Mansfeld, der 1547 die Juden aus Dr. Martin Luther, die Juden seien ein Schlangen- Eisleben vertrieb.6 gezücht, man solle ihre Synagogen niederbren- nen, man solle sie vernichten.«3 60 39/2015 epd-Dokumentation

2. Ein politischer Denker Mensch; (es ist mit ihm) so wie man einen tollen Hund totschlagen mu߸ schlägst du ihn nicht, so Im Gegenzug zu der nach wie vor theologischen schlägt er dich und ein ganzes Land mit dir.«9 Betrachtung Luthers soll es hier um Martin Luther als einen nach wie vor unterschätzten frühneu- Vor allem in dem apologetischen »Sendbrief von zeitlichen politischen Theoretiker vom Range dem harten Büchlein wider die Bauern« macht eines Niccolo Macchiavelli oder Thomas Hobbes Luther, ob derartiger Aufrufe scharf kritisiert, den gehen und vor allem darum, seine späte Schrift Sinn seiner sog. »Zwei-Reiche-Lehre« unmissver- als Ausdruck einer bestimmten Konzeption des ständlich klar, nämlich »daß die weltliche Obrig- im Entstehen begriffenen modernen National- keit in ihrem eigenen Amt nicht barmherzig sein oder doch mindestens Territorialstaates zu analy- kann noch soll, obwohl sie das Amt Gnade ruhen sieren.7 lassen kann.«10 Eine theologische Überlegung besiegelt diese Überzeugung; sie hängt auf das Der Kern von Luthers politischem Denken ist in Engste mit Luthers Sehnsucht nach einem gnädi- einem theo-politischen Motiv zu suchen, das er gen Gott zusammen: sich früh angeeignet hat. Schon der junge Refor- mator spricht unter Bezug auf Paulus, Römer 13, »Wer nun diese zwei Reiche ineinandermengen 1 einer weltlichen, der christlichen weltlichen wollte, wie unsere falschen Rottengeister tun, der Gewalt die Freiheit zu, ihr Amt ungehindert aus- würde in Gottes Reich den Zorn versetzen und zuüben. In seinem Sendschreiben »An den christ- Barmherzigkeit in der Welt Reich: das wäre eben- lichen Adel »deutscher Nation« (man beachte so, wie den Teufel in den Himmel und Gott in die auch diese Adressierung) stellt Luther gegen die Hölle versetzen.«11 römische Theorie von zwei Rechtskorpora – ei- nem geistlichen und einem weltlichen – fest, dass Aus den Evangelien dient ihm Joh 18,36 als Beleg die weltliche Herrschaft ein Mitglied des christli- für diese Haltung; dort äußert Jesus, dass sein chen Leibes geworden sei, Reich nicht von dieser Welt, sei »wäre mein Reich von dieser Welt, meine Diener würden darum »und, obwohl sie ein leibliches Werk hat, doch kämpfen, daß ich den Juden nicht überantwortet geistlichen Standes ist, weshalb ihr Werk frei würde.«12 Luther fordert die »Zwei-Reiche-Lehre« unbehindert in alle Gliedmaßen des ganzen Kör- sogar für Person und Innenleben des einzelnen pers gehen soll, strafen und antreiben, wo es die Christen: »Der Christ«, so Luther in einer Tischre- Schuld verdienet oder die Not fordert, unangese- de, »hat keine Beziehung zum öffentlichen Leben, hen der Päpste, Bischöfe, Priester, sie mögen wie sie ein Nachbar zum anderen, ein Bürger drohen oder bannen, wie sie wollen.«8 zum anderen hat.«13 Freilich war Luther in der Anwendung dieser »Zwei Reiche Lehre« nicht Das ist nun keine Befürwortung einer Theokratie, unbedingt konsequent. Zwar stellte er in seiner sondern – ganz im Gegenteil – die Absage an jede Schrift »Von weltlicher Obrigkeit« fest, dass sich Theokratie durch die Annahme, dass es Gottes dieselbe nur auf das äußere Leben, auf Hab und Wille ist, dass Menschen grundsätzlich unter Gut bezieht: einer Obrigkeit leben und ihr auf jeden Fall will- fahren müssen. Diese Obrigkeit aber soll sich »Das weltliche Regiment hat Gesetze, die sich nach Gottes Wille dadurch auszeichnen, als Frie- nicht weiter erstrecken, denn über Leib und Gut den stiftendes und Frieden erhaltendes weltliches und was sonst äußerlich ist auf Erden. Denn über Regiment ohne Einschränkungen gegen alle vor- die Seele kann und will Gott niemand regieren zugehen, die den weltlichen Frieden beeinträchti- lassen als sich selbst allein.«14 gen. Von daher war es nur schlüssig, dass Luther in den Bauernkriegen und in der Frage der rebel- Gleichwohl wird Luther später, 1536, eine Denk- lischen Wiedertäufer eindeutig aufseiten der Ob- schrift von Wittenberger Theologen unterschrei- rigkeit stand. Im Bauernkrieg jener, so Friedrich ben, in dem diese die regierenden Fürsten nach Engels, »ersten bürgerlichen Revolution« hatte ihrem Amt auffordern, Wiedertäufer hinzurich- Luther die Fürsten zu einer geradezu eliminatori- ten, also Todesurteile wegen Gesinnungen zu schen Kriegsführung aufgestachelt: verhängen:

»Drum soll hier erschlagen, würgen, stechen, »Jedermann ist schuldig nach seinem Stand und heimlich oder öffentlich, wer da kann und daran Amt, Gottes Lästerung zu verhindern und abzu- denken, daß nichts giftigeres, Schädlicheres, wehren. Und kraft dieses Gebots haben Fürsten Teuflischeres sein kann als ein aufrührerischer und Obrigkeiten Macht und Befehl, unrechten epd-Dokumentation 39/2015 61

Gottesdienst abzutun … Dazu dient auch der Text einen präzisen Katalog von Maßnahmen, die zu Levit. 24: Wer Gott lästert, der soll getötet wer- ergreifen er den christlichen Landesherren nahe- den.« So grausam eine solche Todesstrafe sei, legt: grausamer sei es doch, wenn falsche Prediger die wahre Lehre unterdrücken »und dazu regna »Erstlich, dass man ihre Synagogen oder Schulen mundi« unterdrücken wollen.15 mit Feuer anstecke und, was nicht verbrennen will, mit Erde überhäufe und beschütte, dass kein 3. Luthers Haltung zu den Juden Mensch einen Stein oder Schlacke sehe ewig- lich.«18 Wenn sich Luther also 1543 gegen die Juden wendet, so tut er dies zwar auch aus theologi- »Zum zweiten: dass man ihre Häuser desgleichen schen, vor allem aber aus politischen und öko- zerbreche und zerstöre, denn sie treiben eben nomischen Motiven. dasselbe darin, das sie in ihren Schulen treiben. Dafür mag man sie etwa unter ein Dach oder Stall Anders als Wiedertäufer und Bauern galten ihm tun wie die Zigeuner, auf dass sie wissen, sie die Juden gewiß nicht als »Aufrührer«, wohl aber seien nicht die Herren in unserm Lande, wie sie als eine Gruppe, gegen die – ganz im Sinne der rühmen, sondern in der Verbannung und gefan- totalen Vollmacht weltlicher Obrigkeit – jede gen ...«19 Maßnahme ergriffen werden kann. Thomas Kaufmann scheint auf den ersten Blick recht zu »Zum dritten: dass man ihnen alle Betbüchlein haben: Luther fordert keine unmittelbar mörderi- und Talmudisten nehme, worin solche Abgötte- sche Elimination der Juden – dass ihm eliminato- rei, Lügen, Fluch und Lästerung gelehrt wird.«20 rische Kriegsführung grundsätzlich nicht fremd war, haben die von ihm gewünschte Maßnahmen »Zum vierten: dass man ihren Rabbinen bei Leib gegen die Bauern gezeigt. Seine Position, die ei- und Leben verbiete, hinfort zu lehren ...« ner scharfen Trennung vom Reich christlicher Barmherzigkeit hier und dem nach Gottes Willen »Zum fünften: dass man den Juden das Geleit auf Armut verzichtenden Reich weltlicher Obrig- und Straße ganz und gar aufhebe, denn sie haben keit dasWort sprach, entfaltete Luther 1525, in nichts auf dem Lande zu schaffen, weil sie nicht der Konfrontation mit den aufständischen Bauern. Herren noch Amtsleute noch Händler noch der- Die Anwendung dieser Position auf die Juden gleichen sind; sie sollen daheim bleiben.«21 sollte sich noch etwa zwanzig Jahre verzögern. »Zum sechsten: dass man ihnen den Wucher In der in Wittenberg 1543 von Hans Luft gedruck- verbiete und ihnen alle Barschaft und Kleinod an ten und publizierten Schrift »Von den Juden und Silber und Gold nehme und zur Verwahrung bei- ihren Lügen« werden die Juden unter Bezug auf seitelege. Und dies ist die Ursache: alles, was sie das alttestamentliche Buch Ester schon in den haben, haben sie uns gestohlen und geraubt ersten Zeilen konsequent dämonisiert: durch ihren Wucher, weil sie sonst kein anderes Gewerbe haben …«22 »Kein blutdürstigeres und rachgierigeres Volk hat die Sonne je beschienen, als die sich dünken »Zum siebenten: dass man den jungen starken lassen, sie seien darum Gottes, dass sie sollen die Juden und Jüdinnen in die Hand gebe Flegel, Axt, Heiden morden und würgen. Und es ist auch das Karst, Spaten, Rocken, Spindel und lasse sie ihr vornehmste Stück, dass sie von ihrem Messias Brot verdienen im Schweiße der Nasen.«23 erwarten, er solle die ganze Welt durch ihr Schwert ermorden und umbringen. Wie sie denn Am Ende, nach einem Katalog, der präzise die im Anfang an uns Christen in aller Welt wohl Zerstörung der Synagogen und Wohnungen, ver- erwiesen und noch gerne täten, wenn sie es ordnete Obdachlosigkeit, Vernichtung des kultu- könnten, habens auch oft versucht und darüber rellen und religiösen Erbes, Reiseverbote, von auf die Schnauze weidlich geschlagen worden Staats wegen angeordnete Enteignung, also Raub, sind.«16 und schließlich Zwangsarbeit vorschlägt, plädiert Luther für die Vertreibung der Juden. Mit Blick Vor diesem Hintergrund plädiert Luther für eine auf das osmanische Reich, auf die Türken glaubt »scharfe Barmherzigkeit«, die zwar immerhin zur Luther feststellen zu können, dass diese unter eher unwahrscheinlichen Bekehrung einiger Ju- den Juden nicht zu leiden hätten, daher: »so den führen könnte, indes: »rächen dürfen wir uns müssen wir geschieden sein und sie aus unserem nicht.«17 Luthers »scharfe Barmherzigkeit« umfasst 62 39/2015 epd-Dokumentation

Lande vertrieben werden. Sie mögen in ihr Vater- und Gassen; dazu sitzen die Fürsten und Obrig- land gedenken.«24 keit, schnarchen und haben das Maul offen, las- sen die Juden aus ihrem offenen Beutel nehmen, Am Ende, so stellt Luther beinahe resignierend stehlen und rauben, was sie wollen, das ist: sie fest, mag all das nicht helfen, daher: »so müssen lassen sich selbst und ihre Untertanen durch der wir sie wie die tollen Hunde ausjagen …«25 Vor- Juden Wucher schinden und aussaugen und mit bilder für diese von ihm geforderte Vertreibung ihrem eigenen Gelde sich zu Bettlern machen.«29 sind ihm – wie Luther fälschlich meint – die von Kaiser Karl »neulich« angeordnete Vertreibung Sieht man also von seinem theologisch begründe- der Juden aus Spanien sowie die Vertreibung von ten Judenhass ab, geht es Luther ökonomisch Juden aus den Ländern der böhmischen Krone und politisch gegen das, was er als »Wucher« sowie aus Regensburg und Magdeburg. Dabei bezeichnet, sowie juristisch darum, bisher gel- war Luther gewiß nicht der einzige, der derartig tende Gesetze der Freizügigkeit und Rechtssi- präzise Vorschläge machte: sie waren auch auf cherheit wieder aufzuheben. Die geforderte Aus- katholischer Seite bekannt, zu denken ist an Lu- grenzung der Juden aus der Rechtsgemeinschaft thers Gegner Johannee Eck, aber auch den Re- der Territorialstaaten begründet Luther mit ihrer formator Straßburgs, Martin Bucer. Auf jeden Fall Andersartigkeit: hat Thomas Kaufmann in einer Hinsicht recht: einen offenen Vorschlag zur massenhaften Er- »Denn die Juden als Fremdlinge sollten wahrlich mordung von Juden präsentiert Luther 1543 und gewisslich nichts haben, und was sie haben, nicht, wohl aber sämtliche Maßnahmen, die die dass muß gewisslich unser sein.«30 Nationalsozialisten bis zum Beginn des Zweiten Weltkrieges und noch anderthalb Jahre danach Mindestens an dieser Äußerung lässt sich erken- gegen die in ihrem Herrschaftsbereich vorfindli- nen, dass Luther nicht nur ein christlicher Antiju- chen Jüdinnen und Juden exekutiert haben. daist, sondern doch ein Judenfeind, wenn man so will ein Frühantisemit war, wenngleich ihm die- Luthers Suada mitsamt ihren präzisen Vorschlä- ser Begriff nicht verfügbar sein konnte. Gleich- gen richtet sich an die christlichen Landesherren, wohl: Seit Jahrhunderten in deutschen Ländern »die Juden unter sich haben«26. Er legt ihnen na- lebende Juden werden hier als »Fremdlinge« be- he, so sie seinen Vorschlägen nicht folgen mögen, zeichnet. wenigstens andere Maßnahmen zu ergreifen, um jüdischen Spott über den christlichen Glauben 4. Luther als Nationalökonom und jüdische Angriffe auf Geld und Gut ihrer und ihrer Untertanen zu verhindern, also »keinen Mit seiner Polemik gegen den jüdischen Wucher Schutz noch Schirm noch Geleit noch Gemein- nimmt Luther ein Motiv auf, das ihn gleicherma- schaft sie haben lassen, auch nicht eure und eu- ßen schon zwanzig Jahre früher beschäftigt hatte, rer Untertanen Geld und Güter durch den Wucher nämlich das Problem des Kaufs und Verkaufs von ihnen dazu dienen und helfen lassen.«27 Tatsäch- Importgütern sowie der Zinsnahme, damals noch lich begründet Luther die geforderte Einschrän- ganz ohne antisemitische, wohl aber mit frühna- kung der Bewegungsfreiheit von Juden mit der tionalistischen Untertönen: Forderung nach Aufrechterhaltung der öffentli- chen Ordnung, als Maßnahme zur Verhinderung »Gott« so stellt er in seiner Schrift »Von Kaufs- von Ausschreitungen des Volkszorns: handlung und Wucher« aus dem Jahr 1524 fest »hat uns Deutsche dahin geschleudert, dass wir »Werdet ihr Fürsten und Herren solchen Wuche- unser Geld und Silber in fremde Länder geben, rern nicht die Strasse ordentlicherweise verlegen, alle Welt reich machen und selbst Bettler bleiben so möchte sich etwa eine Reiterei gegen sie sam- müssen.«31 Luther analysiert hier die negative meln, weil sie aus diesem Büchlein lernen wer- Handelsbilanz der deutschen Territorien, die auf- den, was die Juden sind …«28 grund des übermäßigen Imports ausländischer (Luxus)waren erzeugt wird, und greift nicht zu- Luther begründet seine Maßnahmen zweifach: letzt große Handels- und Messestädte wie Frank- theologisch mit dem Spott und den Lügen der furt am Main an: Juden über den christlichen Glauben, aber eben auch politisch und ökonomisch: »Frankfurt ist das Silber- und Goldloch, durch das aus deutschen Lande herausfließt, was nur bei »Sie leben bei uns zu Hause, unter unserm Schutz uns quillt und wächst, gemünzt oder geschlagen und Schirm, brauchen Land und Straßen, Markt wird. Wäre das Loch zugestopft, so brauchte man epd-Dokumentation 39/2015 63

jetzt nicht die Klage zu hören, wie allenthalben waren.38 Schon vorher wurde den Juden in dem lauter Schulden und kein Geld, alle Städte mit von Kaiser Karl V in Kraft gesetzten Rechtsbuch Zinsen beschwert und ausgewuchert sind.«32 »Carolina« ein leicht verbesserter Status als Rechtssubjekte zuerkannt. Schon zuvor, seit Daher fordert Luther 1524 das Verbot der Han- 1530, galt für Juden eine »Reichspolizeiordnung«, delsgesellschaften: die – so Ismar Elbogen – »allen Juden, die Wu- cher trieben, das Geleit aufsagte.«39 Man darf an- »Sollen die Handelsgesellschaften bleiben, so muß fügen: aber nur jenen. Luther aber wollte mit Recht und Redlichkeit untergehen. Soll Recht und seinen generalisierenden Einlassungen diese be- Redlichkeit bleiben, so müssen die Handelsgesell- reits gesetztlich festgelegte Tendenz verschärfen. schaften untergehen.«33 Die »Speyrerer Judenordnung« von 1544 wurde 5. Die gesellschaftliche und rechtliche Lage nicht zuletzt aufgrund einer Klage von Juden an den kaiserlichen Hof erlassen, einer Klage In welche politische, rechtliche und ökonomische darüber, dass man sie »gewaltigelich, fraventlich Situation hinein richtete Luther seine Schrift und muetwillig an ihren persohnen, leiben, haab »Über die Juden und ihre Lügen«? 1523, als er und güettern mit tottschlagen, rauben, wegfüren, seine Schrift »Daß unser Herr Jesus ein geborener außtreibung ihrer heußlichen wohnungen, ver- Jude sei« publizierte, war der hoch- und spätmit- sperung und zerstörung ierer schuellen und sina- telalterliche Verfolgungs- und Vertreibungsdruck gogen, deßgleichen an gelaiten und zollen weitgehend zu einem Ende gekommen,34 die all- belaidigt und beschwerdt«, dass man sie damit mähliche Durchsetzung eines reichsweiten Land- am Erwerb ihres Unterhaltes hinderte und dass friedens führte zu einem allmählichen Ende von man sie hinderte, das Kaiserliche Kammergericht Pogromen und Massenmorden.35 Freilich bedeute- oder andere Gerichten anzurufen. Hinzu wurde ten auch die den Juden jetzt von manchen Fürs- beklagt, dass die Juden in einigen Städte des Rei- ten gegen hohe Zahlungen gewährten temporären ches »nit allain ierer haab und güetter entsetzt, Aufenthaltsgenehmigungen keine dauerhafte geblündert und außgetriben, sondern auch ohne Rechtssicherheit, nach Ablauf der Gültigkeit der alle unser rechtliche erkhanndtnuß gefangen, Schutzbriefe waren entweder neue Zahlungen gepeiniget, vertilgt und umb leib und guett« ge- oder Austreibungen fällig. Martin Luther hat diese bracht wurden.40 unsichere Lage der Juden in einer frühen Schrift trefflich charakterisiert: Festzuhalten bleibt also, dass Luthers und ande- rer Reformatoren, aber auch anderer Machthaber »… sitzen immer auff der schuckel und wurff- Versuch, die relative Rechtlosigkeit der Juden in schauffel. Heute nisten sie hie, morgen werden einzelnen deutschen Territorien sowie auf dem sie vertrieben und ihre nester zurstöret, und ist gesamten Gebiet des Heiligen Römischen Reichs kein Prophet hie, der da spreche, flihet dort hin nicht nur aufrechtzuerhalten oder zu verlängern, odder hie her, sondern mussen auch des orts sondern sogar sie weiterhin zu verschärfen, auf ihres Elendes ungewis sein und schweben im Widerstand sowohl der Betroffenen als auch an- winde, wo er sie hin weht.«36 derer Machthaber stieß. Daher stellt sich die Fra- ge, in welchem Verhältnis die damaligen Juden- Freilich herrschte zwischen den sich konsolidie- ordnungen bzw. die Bestrebungen, sie zu verän- renden Territorialstaaten und dem kaiserlichen dern oder aufzuheben, zur damaligen Rechtsent- Hof, der Reichsregierung, hier in Gestalt der Kai- wicklung im Heiligen Römischen Reich standen. ser Maximilian I. und Karl V. insoweit ein Gegen- Sogar wenn vorausgesetzt werden darf, dass es satz, als der kaiserliche Hof im Kaiserlichen Privi- dort – anders als in England – keine der »Magna leg von 1544, einer Verlängerung des hochmittel- Charta« auch nur vergleichbaren Ansätze zur alterlichen Speyrer Judenprivilegs,37 ein Jahr nach Sicherung von Rechten gab, ist dennoch nicht Luthers letzter Schrift, den Juden sicheres Geleit, anzunehmen, dass es keine Rechtsordnung gab. Schutz ihres Handels, Verbot der Schließung von Wie sah die allgemeine Rechtsordnung aus? Tat- Synagogen und Schutz vor Vertreibung verhieß. sächlich wurde von Kurfürsten, Reichsstädten Das Privileg gestattete den Juden sogar, höhere und kaiserlichem Hof nach zähen Verhandlungen als unter Christen übliche Zinsen zu nehmen, in den Jahren 1500 bis 1502 bzw. 1521 bis 1530 und zwar mit dem Argument, dass sie einer kai- ein »Nürnberger Reichsregiment« beschlossen, serlichen Sondersteuer unterlägen und ihnen die ihm folgte die auf dem Reichstag zu Worms 1495 meisten Handwerke und Ämter aufgrund der beschlossene Aufhebung des Fehderechts und die zünftigen, christlichen Verfassungen verboten damit einhergehende Errichtung eines »Ewigen 64 39/2015 epd-Dokumentation

Landfriedens.« Ebenfalls schon 1495 wurde das konzipiert, um sie zum Verlassen des Landes zu Reichskammergericht errichtet sowie eine reichs- nötigen, er aber auch bereit war, Todesfälle durch weite Steuer beschlossen.41 Doch sah das Recht »Volkszorn« hinzunehmen – entsprechen die des Alten Reiches auch das Institut der »Reichs- Juden in diesem späten Traktat jener Gestalt des acht« vor, mittels dessen einzelne Personen aus alten römischen Rechts, die der Philosoph Giorgio der Rechtsgemeinschaft ausgestoßen, sie ihrer Agamben als »Homo Sacer« analysiert hat.44 Nach Güter, Haus und Hof verlustig gehen sollten und römischen Recht waren »Homines sacri« Men- für vogelfrei galten. Diese, dem mittelalterlichen, schen, die auf keinen Fall geopfert werden dürfen kirchlichen Ketzerrecht entstammenden Regelun- und insofern heilig sind, aber gleichwohl straffrei gen wurden auf dem Wormser Reichstag 1521 von jedem getötet werden dürfen. Agamben ver- gegen Martin Luther verhängt – Formen der sucht zu zeigen, dass genau diese Institution den Rechtlosigkeit, unter denen Luther nur deshalb Raum politischer Souveränität konstituiert: nicht zu leiden hatte, weil einzelne Landesfürs- ten, die seiner Lehre folgten, ihn schützten. Per- »Souverän ist die Sphäre, in der man töten kann, sonen, die sich in der Reichsacht befanden, konn- ohne einen Mord zu begehen und ohne ein Opfer ten, wie das Beispiel des tschechischen Reforma- zu zelebrieren, und heilig, das heißt tötbar, aber tors Hus schon hundert Jahre vorher gezeigt hat- nicht opferbar, ist das Leben, das in diese Sphäre te, umstandslos hingerichtet werden. eingeschlossen ist.«45

6. Homo Sacer Die faktische Vollmacht zu töten ist es, die nach Agamben den modernen, souveränen Staat aus- Vor diesem Hintergrund ist nun noch einmal macht. Dass es dabei tatsächlich nicht nur um die Luthers Fazit in seiner Schrift über die »Juden Juden, sondern um den Kern des neuzeitlichen und ihre Lügen« zu betrachten. Dort heißt es: Souveränitätsgedankens geht, die absolute Voll- macht des Staates, beliebige Menschen einzeln »Summa, ihr lieben Fürsten und Herrn, die Juden oder in Gruppen zu töten, wird auch am Fall des unter sich haben, ist euch solcher mein Rat nicht Begründers der neuzeitlichen Lehre von der Sou- genehm, so trefft einen bessern, daß ihr und wir veränität, an Jean Bodin deutlich. Bodin (1530 – alle der unleidlichen, teuflischen List der Juden 1596), ein französischer Zeitgenosse Luthers, war entladen werden und nicht vor Gott all der Lü- zugleich einer der intensivsten Befürworter der gen, des Lästerns, Speiens, Fluchens schuldig und Hexenjagd, indem er Hexerei als politisches Ver- teilhaftig werden…..keinen Schutz noch Schirm brechen ansah; freilich – das unterscheidet ihn noch Geleit noch Gemeinschaft sie haben lassen von Luther – sprach er einer strikt rechtsförmigen auch nicht eure und euere Untertanen Geld und Hexenverfolgung das Wort.46 Auch hier – bei Güter durch den Wucher ihnen dazu dienen und Bodin – sind Rationalität und Irrationalität kaum helfen lassen.«42 zu entflechten: Hexen, »weise Frauen«, waren dafür bekannt, Mittel der Empfängnisverhütung Dieses Fazit nimmt noch einmal Luthers fünfte bzw. Techniken der Abtreibung zu kennen. Sie Forderung auf: nämlich den Juden Geleit und zu bekämpfen war damit allemal auch Ausdruck Straße ganz und gar aufzuheben.43 Rechtshisto- einer kalkulatorischen Biopolitik, um dem souve- risch betrachtet laufen Luthers Forderungen auf ränen Staat auch genug Untertanen zu garantie- nichts anderes heraus, als die Juden ohne ent- ren. sprechendes Verfahren in Acht und Bann zu stel- len, d.h., ihnen jenen Nicht-Status zukommen zu Dieser Logik gemäß fordert Luthers Judenschrift lassen, den in die Reichsacht gezwungene Perso- sogar, wenn auch verklausuliert, zum Mord an nen innehatten. Im alten Reich wurde die Acht Juden auf. Wiederholt fordert er die Fürsten auf, nach einer Verhandlung gegen Personen oder gegenüber den Juden »scharfe Barmherzigkeit« zu auch Körperschaften verhängt, die nachweislich üben, man »zwinge sie zur Arbeit und gehe mit ihrer Steuerpflicht nicht nachkamen, sich der ihnen nach aller Unbarmherzigkeit um, wie Mo- Majestätsbeleidigung schuldig machten oder ses in der Wüste tat, der dreitausend totschlug, Landfriedensbruch begingen. Sie galten als vogel- daß nicht der ganze Haufe verderben musste«. frei und durften – sofern sie rechtmäßig in der Acht waren, was Luther 1521 drohte – straffrei Erst wenn auch eine solche selektive Tötung die von jedermann umgebracht werden. Sofern diese Judenheit der deutschen Länder nicht in die Annahme zutrifft – und sie trifft genau dann zu, Flucht jagt, kommt das letzte Mittel in Betracht: wenn man zwar in Rechnung stellt, dass Luther die Rechtlosstellung der Juden als eine Drohung epd-Dokumentation 39/2015 65

»Will das nicht helfen, so müssen wir sie wie die Mannes gehört werden, der als der Deutschen tollen Hunde ausjagen, damit wir nicht, ihrer Prophet im 16. Jahrhundert aus Unkenntnis einst gräulichen Lästerung und aller Laster teilhaftig, als Freund der Juden begann, der, getrieben von mit ihnen Gottes Zorn verdienen und verdammt seinem Gewissen, getrieben von den Erfahrungen werden. Ich habe das Meine getan; ein jeglicher und der Wirklichkeit, der größte Antisemit seiner sehe, wie er das Seine tue.«47 Zeit geworden ist, der Warner seines Volkes wi- der die Juden.«49 Thomas Kaufmann hat der Frage der Behandlung von Juden als Hunden einen eigenen Anhang Infrage steht letztlich, ob es tatsächlich Luthers gewidmet. Er weist dort nicht nur auf die Ge- theologischer Antijudaismus gewesen ist, der ihn schichte dieses Topos hin, sondern auch auf eine – verstärkt durch einen wie auch immer erklärba- tatsächlich vollzogene Strafrechtspraxis – sie war ren persönlichen Leidensdruck – zu seinen mani- seit 1515 bekannt – aus dem Jahr 1559 in einem fest politischen, antisemitischen Forderungen katholischen Gebiet, wonach ein wegen Dieb- getrieben hat, oder ob nicht vielleicht Luthers stahls ehrlos verurteilter Jude an den Füßen zwi- ganzes christliche Anliegen, das in seiner antise- schen zwei Hunden aufgehängt wurde, bei der mitischen Hetzschrift von 1543 ihren Höhepunkt die an Schwanz und Hinterpfoten aufgehängten fand, letztlich nicht doch vor allem der theolo- Hunde den armen Juden bissen. Im Fall seiner gisch verbrämte Ausdruck einer bestimmten poli- durch unerträgliche Schmerzen erzwungenen tischen, frühneuzeitlichen Konstellation war. Bekehrung bewegten sich die Hunde nicht mehr – Diese Konstellation zeichnete sich dadurch aus, nach der schließlich vom Delinquenten ge- dass sich der Gedanke eines in sich systematisch wünschten und endlich vollzogenen Taufe wurde aufgebauten Rechtskorpus, dessen Idee50 sich seit er, der jetzt Christ gewordene Jude sofort erdros- der »päpstlichen Revolution des Hohen Mittelal- selt.48 Seine Seele immerhin war jetzt gerettet. ters« durchgesetzt hatte, mit der Idee eines souve- ränen National- oder Territorialstaates so zusam- Nun ist die Hinrichtung neben und die Folter mengeschlossen hatten, dass die Geltung eines durch Hunde selbstverständlich nicht identisch zweiten, kirchlichen Rechtskorpus und mit der Behandlung von Juden als Hunden, frei- -anspruchs zurückgewiesen und abgewehrt wer- lich spricht Luther am Ende seines Aufrufs auch den musste: Kern jener gesellschaftlichen Revolu- nicht nur von Hunden im Allgemeinen, sondern tion, die die Reformation darstellte. Sie postulierte von tollen Hunden, die man allemal auch wie das kanonische Recht ein systematisches dadurch ausjagte, dass man sie, so man ihrer Rechtssystem, koppelte es freilich entschlossen habhaft wurde, erschlug. von allen moralisch-theologischen Vorgaben ab und musste daher auch das Recht der Papstkirche 7. Der souveräne NS-Staat systematisch negieren.

Es ist diese Konstellation eines totalen, seine Obwohl Luther in seiner »Zwei Reiche Lehre« Souveränität durch die Rechtlosstellung von Men- einer strikten und unüberbrückbaren Kluft zwi- schen – hier der Juden – konstituierenden Staa- schen dem allein Gott vorbehaltenen Erbarmen tes, die von Luther geprägt wurde und folgerich- und der unbarmherzig friedenssichernden Gewalt tig in die Begründung des nationalsozialistischen des Staates das Wort redete, sah er sich nicht in Staates, eines Koalitionsregimes von Nationalis- der Lage, die politischen Konsequenzen seiner ten, Konservativen, Völkischen und weltanschau- Theologie des Gewissens und des Erbarmens zu lichen Antisemiten einging. Am 23.11. 1938 gab tragen. »Usus legis theologicus« und »Usus legis der thüringische Landesbischof der Deutschen politicus« verschwimmen endlich in der Begrün- Christen, Martin Sasse, einer Neupublikation von dung evangelisch gesonnener Landesherrschaft. Luthers Judenschrift folgendes mit auf den Weg: Die Souveränität dieser Landesherrschaft soll sich an ihrem feindseligen Umgang mit den Juden »Am 10. November 1938, an Luthers Geburtstag, erweisen, auch und gerade dort, wo sie einem brennen in Deutschland die Synagogen. Vom schon erreichten Rechtsniveau widerspricht und deutschen Volke wird zur Sühne für die Ermor- hinter es zurückfällt. dung des Gesandtschaftsrates vom Rath durch Judenhand die Macht der Juden auf wirtschaftli- chem Gebiete im neuen Deutschland endgültig gebrochen und damit der gottgesegnete Kampf des Führers zur völligen Befreiung unseres Volkes gekrönt…. In dieser Stunde muß die Stimme des 66 39/2015 epd-Dokumentation

Postscriptum des Judenspiegel«. Als Erscheinungsort und -zeit wird »Jerusalem, in der neuen Buchhandlung In einem Kommentar zu einer Veranstaltung in 5582« angegeben, auf Luthers judenfeindliche Berlin, in der es um die dunklen Seiten der luthe- Tischbemerkungen nimmt Hundt-Radowsky u.a. rischen Reformation ging,51 äußerte sich der Re- auf den Seiten 26 und 163 Bezug. Das Titelkupfer dakteur von »Christ und Welt« in einer Weise, die des Buches zeigt Karikaturen jüdischer Männer, dem Ernst des Themas nicht angemessen war, die gierig an den Zitzen einer Sau nuckeln. Wie- von Unkenntnis nur so strotzte und daher nicht derum sechzehn Jahre später, 1838, veranlasste anders als fahrlässig zu bezeichnen ist. Thiele- ein C. Fischer in Leipzig den Nachdruck von Lu- mann schrieb: thers »Von den Juden und ihren Lügen«. Fünf- undvierzig Jahre danach, 1883, hielt der national- »Denn Luthers judenfeindliche Schriften wurden liberale Antisemit Heinrich von Treitschke – wenig verbreitet und abgelehnt ... In späteren nachdem er schon 1880 seinen Traktat »Noch Jahrhunderten, auch im Dritten Reich, waren einige Bemerkungen zur Judenfrage« publiziert seine Schriften gegen die Juden daher in der Kir- hatte – eine Rede unter dem Titel »Luther und die che fast unbekannt. Erst die braunen Machthaber deutsche Nation«, in der in der Druckfassung auf haben die Christen an das vergessene Erbe erin- Seite 484 der gesammelten Schriften zu lesen ist: nert – und Luthers theologisch motivierte Juden- »«Wo immer deutsches und fremdes Volksthum feindschaft zum rassistischen Antisemitismus feindselig auf einander stößt, da war der Protes- umgedeutet.«52 tantismus allzeit unser sicherster Grenzenhüter.«

An dieser Behauptung ist nichts wahr! Entgegen Knapp dreißig Jahre später, 1910, lange vor dem apologetischen Versuchen, die auch von dem von »braunen Machthabern«, publizierte schließlich Thielemann bemühten Pietismusforscher Johan- Theodor Fritsch sein berüchtigtes »Handbuch zur nes Wallmann betrieben werden, lässt sich näm- Judenfrage«. In dieser Hetzschrift bezieht sich lich mit Wallmann zeigen, dass Luthers Schriften Fritsch etwa zwanzig Mal auf Martin Luther. So im siebzehnten, achtzehnten sowie im frühen findet sich ein Bezug auf Luther in der und späten neunzehnten Jahrhundert sehr wohl 279.000sten Auflage aus dem Jahr 1944 schon auf bekannt waren. Zunächst: dass – worauf Wall- auf Seite 9 – der unmittelbare Zusammenhang mann richtig hinweist – Luthers judenfeindliche des Texts, der auch Hitler erwähnt, könnte frei- Schrift von 1543 im Pietismus abgelehnt wurde, lich darauf hinweisen, dass die nämliche Passage belegt doch zunächst nur eines: dass sie nämlich später, nach Fritschs Tod, eingefügt wurde. bekannt war. Dem Göttinger Reformationshistori- ker Thomas Kaufmann verdanken wir den Hin- Gleichwohl: In den offensichtlich nicht später weis, dass ein jüdischer Konvertit diese Thesen überarbeiteten Teilen des Buches wird Luther mit 1738 in seiner Schrift »Gespräche aus dem Reich seiner judenfeindlichen Tendenz etwa auf den der Todten« kannte. Im Jahre 1746, sechs Jahre Seiten 8, 41, 48, 110 und 265 einschlägig er- später, starb der Helmstedter Theologe und wähnt. Orientalist Hermann von der Hardt, in dessen Besitz ein Buch war, in dem er handschriftlich Auf Seite 48 heißt es: Luthers Judenschrift erwähnte. Der erste, von Pogromen begleitete Ausbruch des modernen »Wohl hatte Luther in seinen letzten Jahren ernst deutschen Frühantisemitismus wird im Allgemei- und laut vor den Juden gewarnt. Aber das wurde nen – mit den Würzburger sog. »Hep-Hep«- vergessen; man hat bisweilen den Eindruck, als Unruhen – auf das Jahr 1819 datiert. Zwei Jahre wenn die Juden als Bundesgenossen im Kampf zuvor, 1817, erschien ein von einem Anonymus gegen Rom betrachtet wurden. Aber wie wenig verfasstes Werk unter dem Titel »Luthers und sie von der großen Geistesbewegung der Renais- v. Herders Stimmen über die Juden. Nebst einem sance, des Humanismus und der Reformation Epilog« sowie dem Untertitel »Wer Ohren hat zu berührt wurden, geht daraus hervor, daß gerade hören, der höre« – als Erscheinungsort wird im 16. Jahrhundert der Schulchan-aruch nieder- »Deutschland« angegeben. Drei Jahre nach den geschrieben wurde, der alle Gebiete des prakti- Würzburger Pogromen, 1822, publizierte der schen jüdischen Religionsrechts in kurzer Form hasserfüllte Antisemit H. v. Hundt-Radowsy ein festlegt. Hier tritt uns ein völlig fremder, unser Buch unter dem Titel »Die Judenschule, oder deutsches Gefühl aufs tiefste verletzender Geist gründliche Anleitung, in kurzer Zeit ein voll- entgegen.« kommener schwarzer oder weisser Jude zu wer- den von Hartwig Hundt-Radowsky, der Verfasser epd-Dokumentation 39/2015 67

Und auf auf Seite 111: »Der Toleranzgedanke der 10 A.a.O. S. 209; vgl. E.-W. Böckenförde, Geschichte der Rechts- Kalvinisten lähmte den altlutherischen Antijuda- und Staatsphilosophie. Antike und Mittelalter, Tübingen 2006, ismus und führt geradlinig zu der modernen Re- S. 407 - 412 de: ‚Die Juden sind doch auch Menschen‘.« 11 A.a.O.

Mit diesem weitverbreiteten Pamphlet war Lu- 12 Verantwortung D. Martin Luthers auf das Büchlein wider die thers Judenschrift von 1543 nach mehr als drei- räuberischen und mörderischen Bauern, in: 12 M. Luther, Wider hundert Jahren in ihr Eigenes gekommen. die räuberischen und mörderischen Rotten der Bauern, in: K. Aland (Hg.) Luther Deutsch. Die Werke Luthers in Auswahl, 7:, Indes: Sogar, wenn man nicht von einer ungebro- Der Christ in der Welt, Göttingen 1991, S. 199 chenen Überlieferung ausgeht, sondern eine »Spätdatierung« seit dem frühen neunzehnten 13 : K. Aland (Hg.) Luther Deutsch. Die Werke Luthers in Auswahl, Jahrhundert für besser begründet hält, führt 9:, Die Tischreden, Göttingen 1991, S. 180 nichts an der Einsicht vorbei, dass der moderne, 14 eliminatorische Antisemitismus in Luther einen WA 11, 262, 7/8 seiner wichtigsten Zeugen gefunden hat. Das alles 15 Böckenförde S. 422 hat mit irgendwelchen »braunen Machthabern« – Thielemann meint vermutlich jene evangelischen 16 D. Martin Luther, Von den Juden und ihren Lügen, erstmals Pfarrer und Bischöfe, die sich den »Deutschen gedruckt zu Wittenberg. Durch Hans Lufft. M.D.XLIII, gescannt Christen« angeschlossen haben – gerade so viel von cOyOte. zu tun, als dass sie alle ihren Luther nur zu gut 17 verstanden haben. Wenn Martin Luther für etwas A.a.O. S. 8 stand, dann doch dafür, aufrichtig zu sein und 18 A.a.O. beharrlich für das einzutreten, was er sagte. Wa- rum sollte das mit Blick auf die Juden anders 19 A.a.O. S. 9 gewesen sein? 20 A.a.O.

21 A.a.O. S. 10

Anmerkungen: 22 A.a.O.

1 Th. Kaufmann, Luthers Judenschriften, Tübingen 2011, 23 A.a.O. S. 11 S. 142 24 A.a.O. S. 16, vgl. dazu auch: Th. Kaufmann, »Türckenbüchlein«. 2 D. Wendebourg, Jüdisches Luthergedenken im 19. Jahrhundert, Zur christlichen Wahrnehmung »türkischer Religion« in Spätmit- in: M. Witte/T. Pilger (Hrsg.) Mazel tov. Interdisziplinäre Beiträge telalter und Reformation, Göttingen 2008 zum Verhältnis von Judentum und Christentum, Leipzig 2012, 25 S. 195-213 A.a.O. S. 18

26 3 Zitiert nach Th. Kaufmann, Luthers »Judenschriften«, Tübingen A.a.O. S. 13 2011, S. 144 27 A.a.O. 4 A.a.O. S. 145 28 A.a.O. 5 A.a.O. S. 140 29 A.a.O. S. 5 6 A.a.O. S. 157 30 A.a.O. S. 5 7 Vgl. Q. Skinner, The Foundations of modern political Thought, 31 In K. Aland (Hg.) Luther Deutsch. Die Werke Luthers in Auswahl, Vol. Two, The Age of Reformation, Cambridge 1978, S. 3 - 108 Bd. 7: Der Christ in der Welt, Göttingen 1991, S. 264 8 M. Luther, An den christlichen Adel deutscher Nation, in: K. 32 A.a.O. Aland (Hg.) Luther Deutsch. Die Werke Luthers in Auswahl, 2: Der Reformator, Göttingen 1991, S. 163 33 A.a.O. S. 282

9 M. Luther, Wider die räuberischen und mörderischen Rotten der 34 H. Oberman, Die Juden in Luthers Sicht, in: H. Kremers (Hrsg.) Bauern, in: : K. Aland (Hg.) Luther Deutsch. Die Werke Luthers in Die Juden und Martin Luther. Martin Luther und die Juden, Neu- Auswahl, 7:, Der Christ in der Welt, Göttingen 1991, kirchen-Vluyn 1985, S. 138 S. 192 35 Vgl. H. Kellenbenz, Die Juden in der Wirtschaftsgeschichte des rheinischen Raumes, in: K. Schilling (Hrsg.) Monumenta Judaica. 68 39/2015 epd-Dokumentation

2000 Jahre Geschichte und Kultur der Juden am Rhein, Köln 44 G. Agamben, Homo Sacer. Die souveräne Macht und das 1963, S, 224 f. nackte Leben, Ffm. 2002

36 Zitiert nach: K. Deppermann, Judenhaß und Judenfreundschaft 45 A.a.O. S. 93 im frühen Protestantismus, in. B. Martin/E. Schulin, (Hrgs.) Die 46 J. Bodin, Traite de la demonomanie des sorciers, in der deut- Juden als Minderheit in der Geschichte, München 1985, S. 113 schen Übersetzung von Johann Fischart, in: G. Becker u.a. 37 H.H. Ben Sasson, Im zweifelhaften Schutz des Kaisers, in: (Hrsg.) Aus der Zeit der Verzweiflung. Zur Genese und Aktualität G. Stemberger (Hrsg.,) Die Juden. Ein historisches Lesebuch, des Hexenbildes, Ffm. 1977, S. 374-385; C. Honegger (Hrsg.) München 1990, S. 146 Die Hexen der Neuzeit. Studien zur Sozialgeschichte eines kultu- rellen Deutungsmusters, Ffm. 1978, S. 94 – 102; C. Opitz- 38 K. Deppermann, Judenhaß und Judenfreundschaft im frühen Belakhal, Das Universum des Jean Bodin. Staatsbildung, Macht Protestantismus, in. B. Martin/E. Schulin, (Hrgs.) Die Juden als und Geschlecht im 16. Jahrhundert, Ffm. 2006; Minderheit in der Geschichte, München 1985, S. 112 47 A.a.O. S. 18 39 I. Elbogen, Geschichte der Juden in Deutschland, Berlin 1935, S. 115 48 Kaufmann a.a.O. S. 158/159

40 Speyerer Judenordnung von 1544, b 49 Zitiert nach W. Gerlach, »Daß man ihre Synagogen verbrenne«. http://www.historicum.net/themen/reformation/reformation- Luthers Antijudaismus und seine Erben, in: S. Staffa (Hrsg.) Vom politikgeschichtlich/das-reich-rahmenbedingungen/1g- Protestantischen Antijudaismus und seinen Lügen, Magdeburg reichsstaedte/ vom 5.11. 2012 1993, S. 45

41 H. Klueting, Das Konfessionelle Zeitalter 1525 – 1648, 50 Vgl. H. Berman, Recht und Revolution, Ffm. 1991 Stuttgart 1989, S.64 51 Die Schatten der Reformation, 25.10.2013 im Berliner Radial- 42 M. Luther, Von den Juden a.a.O. S. 13 system

43 A.a. O. S. 10 52 Christ und Welt 46/2013

epd-Dokumentation 39/2015 69

Zum Umgang mit der aktuellen Debatte um Luthers Einfluss und Wirken – aus protestantischer Sicht Von Prof. Dr. Gury Schneider-Ludorff und Dr. Axel Töllner, Augustana-Hochschule in Neuendettelsau

Reformator, Ketzer, Judenfeind. Jüdische ditionen und Lutherinterpretationen nach 1945. Perspektiven auf Martin Luther. Tagung der Beispielsweise durch Kirchenhistoriker wie Hein- Evangelischen Akademie zu Berlin und des rich Bornkamm, der in seiner maßgeblichen Stu- Zentralrats der Juden in Deutschland, Berlin die Martin Luther im Spiegel der deutschen Geis- 10.-12.6.2015 tesgeschichte1 aus dem Jahr 1955 auf die katholi- sche Lutherrezeption, aber nicht einmal andeu- Die Debatte um Luthers Einfluss und Wirken hat tungsweise auf eine jüdische Lutherdeutung hin- in den letzten Monaten an Vehemenz gewonnen, weist. Dies muss, wie Christian Wiese an anderer gerade im Blick auf die Frage nach der Rezeption Stelle geschrieben hat, als Missachtung oder be- seiner späten »Judenschriften« in der protestanti- wusstes Verschweigen der jüdischen Stimme schen Theologie. Von den Vorträgen von gedeutet werden.2 Christian Wiese und Micha Brumlik ausgehend, sollen zunächst einige Punkte aufgegriffen wer- Jüdische Perspektiven als irrelevant auszublen- den, die für die heutige Diskussion bedenkens- den und in der Forschung zu marginalisieren, wert sind und die in den zukünftigen Debatten gehört ebenso zur impliziten und untergründigen um Luther – gerade auch im Blick auf das Jubilä- Fortführung judenfeindlicher Traditionen. Für die um 2017 –, aber auch um den christlich-jüdischen aktuelle Debatte um Luthers Einfluss und Wirken Dialog notwendig erscheinen. wäre es also notwendig, auch die Kontinuität solcher Strategien und latenter Mechanismen Christian Wiese hat in einer beeindruckenden aufzudecken und bewusst zu machen. Weise die Vielstimmigkeit jüdischer Lutherrezep- tion im 19. und 20. Jahrhundert zur Sprache ge- Micha Brumlik hat in seiner politologischen Be- bracht und in die sich verändernden politischen trachtung Luther als frühneuzeitlichen politischen Kontexte eingezeichnet. Beeindruckend sind die Theoretiker in den Blick genommen. Und er hat je nach zeitgeschichtlichem und kulturellem Kon- die Verbindung von Luthers späten Judenschrif- text aufgezeigten, sich durchaus widersprechen- ten zu bestimmten Konzeptionen des im Entste- den Deutungen, die mit dem Ringen um eine hen begriffenen modernen Nationalstaats oder angemessene Aktualisierung theologischer Impul- Territorialstaats analysiert. Er hat die politischen se Luthers für Protestantismus und jüdische Tra- und ökonomischen Motive im Rahmen von Lu- ditionen zu verstehen sind. Vor allem die unter- thers Theologie überzeugend vor Augen geführt, schiedlichen Versuche jüdischer Gelehrter im 19. die schließlich zu der Forderung nach Zerstörung und zu Beginn des 20. Jahrhunderts, dem tödli- von Synagogen und Wohnungen, der verordneten chen Zusammenspiel antijüdischer Traditionen Obdachlosigkeit, der Vernichtung des kulturellen und eines antisemitischen Vernichtungswillens, und religiösen Erbes, des Reiseverbots, zur Ent- Martin Luther für eine Gegentradition von Aufklä- eignung, Raub und Zwangsarbeit, schließlich zur rung, Freiheit des Denkens und Humanität in Vertreibung geführt haben. Anspruch zu nehmen, sind beachtlich. Er hat auf die unheilvolle Verknüpfung hingewie- Bedrückend ist heute nicht nur der »Schrei ins sen, die durch diese zweifache Begründung der Leere«, wie Gerschom Scholem diese Versuche Maßnahmen erfolgt ist: politisch-ökonomisch und charakterisiert hat: die Verweigerung einer Auf- theologisch, die dann der weltlichen Obrigkeit die nahme dieser Deutungsangebote durch die evan- Umsetzung der Maßnahmen anheimstellte. gelischen Theologen, die in einer immer stärker werdenden nationalen Verengung des Protestan- Viele der evangelischen Theologen in der Zeit des tismus und der Zunahme antisemitischer Über- Nationalsozialismus, wie der Kirchenhistoriker zeugungen schon in den 1920er Jahren eine Ab- Erich Vogelsang, aber auch zahlreiche Exegeten wehr und Abgrenzung zum Ziel hatte. wie Gerhard Kittel rezipierten diese zweifache Begründung und aktualisierten sie unter den poli- Beschämend ist aber auch die weitgehende Igno- tischen Voraussetzungen des NS-Staats, indem sie ranz dieser vielfältigen jüdischen Forschungstra- antisemitische Ideologien und zeitgenössische 70 39/2015 epd-Dokumentation

Vorurteile miteinander verflochten. Sie knüpften führt habe. Seit dieser Zeit hätten die Juden direkt an Luthers späte Judenschriften an und nichts mehr mit dem ursprünglichen Gottesvolk legitimierten mit theologischen und politischen Israel zu tun, da die Christen dieses Erbe weiter- Begründungen die Maßnahmen gegen Juden. Auf führten. Die Enterbungstheologie und der Bruch diese Weise stützten und unterfütterten sie auch wurden 1933 noch schärfer herausgestellt, um die Verfolgungs- und Vernichtungspolitik theolo- eine radikale Distanz auch und vor allem mit den gisch, zogen sich selbst jedoch aus der Verant- Jüdinnen und Juden der Zeit zu betonen und sich wortung. auch innerprotestantisch zu legitimieren.

Grundprobleme der aktuellen Debatte um die Wir haben es hier also mit zwei Kontinuitätsli- späten »Judenschriften« Luthers nien der Lutherrezeption zu tun, eine offensicht- liche, die die späten Judenschriften unter den 1. Explizite und implizite antijüdische Luthertradi- Bedingungen der Ideologie des Nationalsozialis- tionen mus aktualisierte, und eine subtile, untergründi- ge, die die Grundlagen der Theologie Luthers Die in den letzten Monaten vehement diskutierte betrifft. Diese schoben sich in der Zeit des Natio- Frage nach dem Beginn der expliziten Rezeption nalsozialismus ineinander. Sie konstruierten ein der späten »Judenschriften« im neuzeitlichen Bild des Judentums, als ein den Christen feindlich Protestantismus kann ein verstärkter Rekurs auf gesonnenes Volk. Was wiederum dazu führte, die späten »Judenschriften« mit dem Jahr 1933 dass man den Angriffen des NS-Staats auf die festgestellt werden. Dass sie längst bekannt wa- Juden auch theologisch nichts mehr entgegenzu- ren, darauf hat Micha Brumlik hingewiesen. Seit setzen hatte. 1933 aber wurden sie explizit eingesetzt, um sich den nationalsozialistischen Machthabern anzu- Es gilt also, in der Debatte um die Kenntnis oder dienen. Unkenntnis der späten Judenschriften zu beach- ten, dass es weitere Formen antijüdischer Die Instrumentalisierung der Judenfeindschaft in Traditionsbestände gibt, die der Theologie den späten Lutherschriften wurde nun zum be- Luthers inhärent sind, auf den ersten Blick jedoch stimmenden Narrativ. Während der Weimarer nicht so offensichtlich wie die furchtbaren »Ju- Republik war diese Form der Rezeption auf der denratschläge« Luthers. Diese Tradierung der Ebene des Vereinsprotestantismus diskutiert, aber untergründig vorhandenen antijüdischen Elemen- im Wesentlichen von völkischen Gruppen betrie- te christlicher Theologie hat jener Rezeption der ben, während man diese eher steinbruchartige späten »Judenschriften« in der Theologie an den Verwendung in der wissenschaftlichen Theologie Universitäten vorgearbeitet, ihre Überzeugungs- und an den Universitäten mit Zurückhaltung beo- kraft generiert und 1933 zur Durchsetzung ver- bachtet hatte. holfen.

Offenbar konnte man aber 1933 auf andere anti- 2. Nur Luther? Ein Blick in die Reformationszeit jüdische Traditionen der Theologie Luthers auf- setzen, die in den theologischen Wissenschaften Bei den derzeitigen Debatten wird ein weiteres an den Universitäten untergründig vorangetrieben Grundproblem sichtbar: Sie konzentrieren sich worden waren und sich nun mit dieser offenen auf Martin Luther und sie konzentrieren sich Form der Judenfeindschaft verschränkten. zudem auf nur wenige Stellen aus zwei Schriften, die man zu Luthers sog. Judenschriften zählt. Solche »Zubringerdienste« leistete beispielsweise die Diskussion der Exegeten um das Alte Testa- Natürlich bestreitet niemand die zentrale Bedeu- ment als Grunddokument des christlichen Glau- tung des Wittenbergers für die Reformation, doch bens. Auch hier lässt sich eine bestimmte Rezep- hat die kirchengeschichtliche Forschung die Viel- tion der Theologie Luthers feststellen, die nicht in falt herausgearbeitet, in der sich die Reformation erster Linie auf der Rezeption seiner »Judenschrif- im 16. Jahrhundert entwickelt hat. ten« basiert, sondern seine Hermeneutik und die Grundlagen seiner Theologie betrifft. Es sind nicht nur vereinzelte Schriften, in denen sich Luther oder auch viele andere der namhaften So beriefen sich die Theologen auf eine unter- Reformatoren über Juden oder das Judentum schiedliche Interpretation des Alten Testamentes äußerten. Sie taten das ganz grundsätzlich, wenn und der Hebräischen Bibel von Juden und Chris- sie die Bibel auslegten oder ganz konkret, wenn ten, die schon vor 1900 Jahren zum Bruch ge- sie Gutachten erstellten, ob und wie Juden in epd-Dokumentation 39/2015 71

bestimmten Gebieten geduldet oder vertrieben das wahre Heiligtum, den höchsten Priester, den werden sollten. wahren Altar der Rauch- und Brandopfer, näm- lich Christus; sie haben den wahren Gottesdienst, Auffällig oft ist die Rede von Juden, wenn die der einst in den religiösen Handlungen vorabge- Gelehrten miteinander stritten, sowohl die bildet war [...] Nunmehr sind wir das auserwähl- Anhänger verschiedener Strömungen der Refor- te Volk.«5 Und deshalb gelte: »Ihr Juden seid nicht mation untereinander als auch Altgläubige mit Kinder der Verheißung, denn ihr glaubt nicht an Anhängern der Reformation. Wenn einzelne Au- den, den Gott euch gesandt hat. Folglich seid ihr toren ihre Position gegen eine andere abgrenzten nicht das Volk Gottes.«6 oder verteidigten, taucht regelmäßig der Vorwurf auf, die Vertreter der abweichenden Meinung Einig waren sich die Reformatoren darin, dass würden »judaisieren« oder ins Judentum zurück- von den Frommen des Alten Testaments, den fallen, also nach damaligem Verständnis jüdische Erzvätern und Propheten, eine direkte Linie nur Irrlehren in die christliche Lehre einbringen. Wer in die christliche Kirche hineinführte. Und diese »judaisierte«, also scheinbar Juden nachahmte, war für sie ausschließlich die Kirche der Reforma- galt als vom wahren Glauben abgefallen.3 tion, denn Juden wie auch römische Katholiken verfehlten den Sinn und die Bestimmung der Der Zürcher Reformator Huldrych Zwingli war Heiligen Schrift. Beide würden sich nur auf ihre zwar selbst mit diesem Vorwurf vergleichsweise eigenen Leistungen und Regeln stützen und das zurückhaltend, doch bestätigt ein Wort von ihm, Gesetz einhalten, um bei Gott Gerechtigkeit und wie verbreitet das Phänomen war: »Wie wir es Anerkennung zu finden. noch heute sehen können, welch grosser Schimpf der Judenname ist, so dass wir die, die wir mit Für Philipp Melanchthon beispielsweise setzte der grössten Schmähung behaften möchten, Ju- sich in der römisch-katholischen Kirche der Teil den nennen.«4 des jüdischen Volkes fort, der immer schon die Lehre falsch verstanden habe. Nach seinem Urteil Hier zeigt sich eine Grundüberzeugung, die die schöpfte die römische Kirche bei ihren Zeremo- Reformatoren weithin teilen, ganz gleich, wie sie nien aus jüdischen Quellen.7 Das Judentum galt die Bibel im Einzelnen verstanden und auslegten. als Inbegriff der Religion der Werkgerechtigkeit, Diese Grundüberzeugung geht bis in die Alte der die wahre Kirche gegenüberstehe. Grundle- Kirche zurück, erhält aber in der Reformationszeit gend war dabei die Vorstellung, dass Juden sich eine neue Dynamik und Bedeutung. Schon des- durch die Erfüllung der Vorschriften des Gesetzes wegen, weil die Reformatoren mit der Verände- ihren Lohn bei Gott erarbeiten und verdienen rung der Rechtsgrundlagen bei der Neugestaltung wollten. Insofern war für die Reformatoren auch der Territorien deren theologische Fundierung die römisch-katholische Kirche jüdisch und Lu- von den Reformatoren einforderten. ther konnte sagen, die »Papisten« – also die rö- misch-katholischen Anhänger des Papstes – sind Während mittelalterliche antijüdische Legenden »unsere Juden«.8 Das Klischee von der jüdischen von angeblichen Ritualmorden, Brunnenvergif- Gesetzlichkeit bildet sozusagen bei Luther das tungen oder Hostienfreveln bei den Vertretern der Gegenstück zur evangelischen Freiheit. Reformation in den Hintergrund traten und von einigen Reformatoren sogar massiv als Aberglau- Luther hat über die sogenannten Judenschriften be zurückgewiesen wurden, propagierten diese hinaus in zahlreichen Schriften seine Sicht auf andere traditionelle judenfeindliche Stereotype Juden und das Judentum dargestellt. Die Spanne weiterhin – nun unter den Vorzeichen reformato- reicht von seiner ersten Psalmenvorlesung im rischer Theologien. Jahr 1513/15 bis zu seiner letzten Predigt in Eis- leben, wenige Tage vor seinem Tod 1546. Zeitle- So galten die Juden den Reformatoren als verwor- bens hat ihn der Umstand beschäftigt, dass es fenes Volk, das unter dem Zorn Gottes steht, weil Juden gibt, die nicht die christliche Wahrheit es sich der Wahrheit widersetzt, die in seiner anerkennen, so wie er sie verstand.9 Für ihn stand Bibel steht. Der Zürcher Reformator Heinrich fest: Aus dem Alten Testament geht unzweifelhaft Bullinger fasste diese Grundüberzeugung so zu- hervor, dass Jesus von Nazaret der verheißene sammen: »Die gesamte Ehre des Volkes Gottes ist Messias ist. auf die Christen übergegangen [...]; sie urteilen recht über das Gesetz und den Bund des Herrn; Als Bibelausleger versucht Luther immer wieder sie haben die heiligen Schriften, und bei deren zu zeigen, dass man nur von Jesus Christus her Auslegung sind sie mit Erfolg gesegnet; sie haben das Alte Testament richtig verstehen kann: »Wir 72 39/2015 epd-Dokumentation

Christen haben den synn und verstand der Biblia, auch Folgen einer eigenständigen Bibellektüre weil wir das Newe Testament, das ist Jhesum und -aneignung: Christum haben, welcher im alten Testament verheissen und hernach komen, mit sich das Als 1538 das hessische Schutzprivileg auslief, liecht und verstand der schrifft bracht hat«. Ihnen kam auf den Landgrafen die Frage zu, wie künftig stehen für ihn die Juden gegenüber: Denn »weil der Umgang mit den Juden im Territorium zu sie diesen Christum nicht annemen, können sie regeln sei. Dies war schon aufgrund der Vertrei- nicht wissen, noch verstehen, was Moses, die bungspolitik des kursächsischen Nachbarn not- Propheten und Psalmen sagen, was rechter glau- wendig, der bereits 1536 die Juden aus dem Land be ist, was die Zehen gebot wollen, was die gewiesen sowie die Durchreise und den Handel Exempel und Historien leren und geben, sondern verboten hatte. Aber auch die zunehmenden die schrifft mus jnen sein (nach Jsaias 29. weis- Auseinandersetzungen der christlichen Unterta- sagung) wie ein brieff, dem, der nicht lesen nen mit den ortsansässigen Juden sowie der kan.«10 Druck der hessischen Pfarrer ließen eine Neurege- lung sinnvoll erscheinen. Philipp selbst war an Die Wahrnehmung und Abgrenzung von ver- einer Duldung und nicht an einer Ausweisung der meintlich Jüdischem ist kein Nebenthema Luthers jüdischen Bevölkerung interessiert. Er verfolgte oder der anderen Reformatoren, auch wenn diese damit fiskalische Interessen und demonstrierte in vielleicht nicht mit eigenen »Judenschriften« an der souveränen Ausübung des Judenschutzes die Öffentlichkeit getreten sind, in denen sie ihre nach außen sichtbar seinen frühabsolutistischen Vorstellungen entfalten. Es sind die Begriffe »Ju- Machtanspruch. dentum« und »Juden«, die seit Jahrhunderten als Negativfolie schlechthin galten. Deshalb belegte Der Landgraf wandte sich an Martin Bucer, der man mit ihnen Gegner oder diejenigen, gegen die sich in seinen Augen als Kirchendiplomat be- man sich selbst abgrenzen wollte. währt hatte, und beauftragte ihn mit einem Gut- achten, das jedoch nicht so ausfiel, wie er es Es geht also im Blick auf den Umgang mit der erwartet hatte. Denn die Vorschläge, die Bucer aktuellen Debatte um Luthers Einfluss und Wir- zur Grundlage einer Judenordnung aufgeführt ken nicht nur um die offensichtlichen antijüdi- hatte, waren eine Zusammenfassung von Be- schen Positionen und Spitzenaussagen, sondern stimmungen, die sich zum großen Teil in den es geht um implizite antijüdische Traditionen der Bahnen verschiedener mittelalterlicher Konzilsbe- christlichen Theologie, die unterschwellig repro- schlüsse bewegten, faktisch jedoch nie zeitgleich duziert, an die jeweilige Situation angepasst und in Geltung waren. Durch ihre Bündelung und ihre – gegebenenfalls mit den Namen von Autoritäten Interpretation vom alttestamentlichen Fremden- verbunden – weitervererbt werden.11 recht her verschärfte Bucer die bestehenden Ge- pflogenheiten, indem er die Handlungsspielräume Die Rechtfertigungslehre, die sich gegen das Kli- der Juden auf religiös-kultischem wie wirtschaft- schee einer Frömmigkeit absetzt, die auf Ver- lichem Gebiet extrem beschränken wollte. Zusätz- dienst und Leistungen beruht, nimmt bei Luther lich dazu riet Bucer, die Juden schwerer Zwangs- und seinen Anhängern eine zentrale Rolle ein, arbeit zu unterwerfen. Mit seinem Plädoyer für ohne dass deren Schlussfolgerungen im Blick auf eine »Duldung« unter den erdenklich härtesten das Judentum identisch und unveränderlich blei- Bedingungen versuchte der Straßburger Reforma- ben.12 Wiederum haben auch die Hochschätzung tor zugleich, die hessischen Prediger zu überzeu- des alttestamentlichen Gesetzes oder die Vorstel- gen, die eine Ausweisung der Juden nach dem lung, dass Alter und Neuer Bund Ausdruck des kursächsischen Modell, und damit auch dem der einen Bundes Gottes sind, wie sie die Schweizer Wittenberger Theologen, favorisierten.15 und die ihnen nahestehenden Reformatoren ver- traten, keine positivere Sicht des Judentums zur Der Rat Bucers traf bei dem Landgrafen auf wenig Folge. Das lässt sich etwa bei Huldrych Zwingli, Zustimmung.16 Am 23. Dezember übersandte er Heinrich Bullinger, Martin Bucer oder Jean Calvin einen Brief an seine Räte, in dem er mitteilte, er zeigen.13 könne nicht finden, dass man die Juden so hart behandeln solle, wie das Gutachten es verlange: Da begegnet bei Landgraf Philipp von Hessen »Dann auf den Ratschlag, so die gelehrten ge- eine erstaunliche andere Sichtweise, wenngleich stellt, wäre es den Juden vnmöglich zu bleiben. er diese in der schon genannten Judenordnung Denn solcher Ratschlag, ist also enge gemacht nicht gegen Martin Bucer und die hessischen und gespannet, das sy sich bey vns nitt halten Theologen durchzusetzen vermochte.14 Sie zeigt konnten.«17 Sein implizites Ziel war also das Ver- epd-Dokumentation 39/2015 73

bleiben der Juden im Territorium, und dies be- Sinne des alttestamentlichen Gastrechtes für gründete er mit seiner Bibelhermeneutik und Fremde. Hier zieht der Landgraf Dtn 10,18–19 seiner Auslegung von Röm 11, die unter den al- heran: »Got hat die frembdlinge lieb, das er ihnen lermeisten theologischen Positionen der Zeit als auch Speis und kleider gebe. Darum solt Ihr auch außergewöhnlich gelten kann.18 die Fremdlinge lieben, denn ihr seyd auch Frembdlinge gewesen in Egyptenland.«23 Damit Philipp von Hessen argumentiert von der Stellung übernimmt auch Philipp von Hessen die Deutung der Juden in der (christlichen) Heilsgeschichte der Juden als Fremdlinge im christlichen Territo- aus.19 Mit Röm 11 weist er darauf hin, dass die rium, aber er stellt heraus, dass ihnen ein allge- Juden ein »herrlich Geschlecht«20 seien, aus dem meines Gastrecht gebühre, das im Gegensatz zu auch Christus hervorgegangen sei. Damit rekur- den von Bucer vorgeschlagenen Unterdrü- riert Philipp von Hessen auf dieselbe Bibelstelle ckungsmaßnahmen stehe. wie die Prediger, legt sie jedoch anders aus: Das Gesetz, der Gottesdienst und die Verheißung Got- Insgesamt, so der Landgraf, könne er in der gan- tes wurden zuerst dem jüdischen Volk zuteil. Aus zen Heiligen Schrift keine Gründe dafür finden, ihm komme auch Christus. Während Bucer von dass man Juden so übel behandeln solle, wie dem alttestamentlichen Fremdenrecht ausgegan- Bucer dies vorschlägt. Auch verweist er auf die gen war und Röm 11,28 nur als Begründung da- historische Tatsache, dass auch Kaiser und Bi- für herangezogen hatte, dass die christlichen schöfe die Juden durch Schutzprivilegien und Kaiser und Bischöfe in der Vergangenheit die Schutzrechte im Lande gehalten hätten. Die Ju- Juden besser behandelt hätten als andere nicht- den seien aufgrund ihrer Stellung in der Heilsge- christliche Gruppen, stellt der Landgraf Röm schichte als Volk Gottes und tragende Wurzel 11,17–24 als Kern seiner Argumentation dar.21 anzuerkennen und um der Väter willen zu lieben.

Der Landgraf verweist zunächst darauf, dass es Betont Bucer den Unterschied zwischen Juden sich bei dem Volk Gottes um die Juden handelt: und Christen und ordnet die Juden den Christen Das Volk Israel ist das Volk der Juden, und es hat unter, verweist der Landgraf auf die Kontinuität eine eigenständige Position in Gottes Heilsplan. zwischen beiden und die gemeinsame Herkunft. Während Bucer die Meinung vertreten hatte, dass Weiterhin besteht er, im Gegensatz zu gängigen die Juden diese Position verloren haben, weil sie theologischen Positionen, auch auf der Kontinui- »das Blut Christi, der Apostel und der Märtyrer tät zwischen dem Volk Israel und der zeitgenössi- vergossen« hätten, setzt sich der Landgraf dieser schen Judenschaft: Nicht nur Jesus, auch die gängigen theologischen Meinung entgegen, indem Apostel waren Juden, ihnen sei das Wort Gottes er an der bleibenden Erwählung der Juden fest- zuerst anvertraut worden, und durch sie sei den hält. Christen Heil widerfahren. In dieser Kontinuität befindet sich auch die hessische Judenschaft. Die Verwerfung Christi durch die Juden und das Festhalten Gottes an seinem Volk sieht der Land- Um den vehementen Auseinandersetzungen mit graf durch Lk 17,25 und in Lk 21,32 im göttlichen der Pfarrerschaft ein Ende zu bereiten, wurde Heilsplan vorgegeben: »Warlich, ich sage Euch, schließlich 1539 eine Judenordnung erlassen.24 dises Geschlecht wurdt nitt vergehen, bis das es Neu war die Art und Weise der Bestätigung, die alles geschehe« – und er fügt hinzu: »Diese wort nun als Ordnung für das gesamte Territorium verstehen wir auf die Juden«.22 Weiterhin ver- verbindlich war. Die personale Bindung zwischen weist er auf die Zusage des Neuen Bundes in Jer den Juden und dem Landgrafen wurde aufgege- 31. Gegenüber Bucer, der den »Abbruch bzw. die ben zugunsten der abstrakten Beziehung, die auf Ablösung« der hervorgehobenen Stellung der das Territorium bezogen war.25 Die Forderungen Juden in der Heilsgeschichte seit der Ablehnung Bucers wurden im Wesentlichen nicht aufge- Christi durch die Juden betont, insistiert der nommen. Dennoch fanden einige seiner Vor- Landgraf auf der »Kontinuität« der Stellung in schläge in die Ordnung Eingang. Gottes Heilsplan. Er zieht damit eine Linie von den zeitgenössischen Juden des hessischen Terri- Die Ordnung verschärfte damit zum einen die toriums zu dem auserwählten Volk Israel. Da aus Lebensbedingungen der hessischen Judenschaft diesem Volk Christus hervorgegangen ist, sind die gegenüber dem vorherigen Modell, da unter der Juden damals und heute Gottes erwähltes Volk. bisherigen Schutzherrschaft keine dieser Vorga- ben gemacht worden waren, was Glauben und Dementsprechend ist auch den Christen ein Religionsausübung betraf. Die Aufnahme der freundlicher Umgang mit den Juden geboten im Vorschläge Bucers ist als »Pazifizierungsmaß- 74 39/2015 epd-Dokumentation

nahme« gegenüber den hessischen Predigern zu Gleichwohl rechnete er weiterhin mit einer Kon- erklären, die weiterhin eine strickte Ausweisung version der jüdischen Gemeinschaft und setzte der Juden forderten. Zum anderen wurde den sich deshalb 1539 und 1540 für deren Duldung in Juden durch die Ordnung ein langfristiger Auf- Braunschweig ein, und zwar gegenüber den Re- enthalt und eine Rechtssicherheit innerhalb des präsentanten der Stadt und der dortigen Geist- Territoriums gewährt. Handel und finanzielle lichkeit. Bereiche wurden unter die Aufsicht der landgräf- lichen Verwaltung gestellt. Dies bietet in der Re- Rhegius argumentierte wie Philipp von Hessen formationszeit ein Alternativkonzept zu anderen vor allem mit dem 11. Kapitel des Römerbriefs. evangelischen Territorien wie Kursachsen, die die Mit Röm 11,18 warnte er einerseits die Christen Ausweisung der Juden betrieben hatten. vor Selbstruhm und erinnerte andererseits an die paulinische Erwartung einer endzeitlichen Ret- Der theologischen Begründung Philipp von Hes- tung aller Juden (Röm 11,25f.). In Anlehnung an sens ist der Reformator des Herzogtums Braun- Röm 11,28 forderte er, die Juden zu »lieben um schweig-Lüneburg Urbanus Rhegius an die Seite der heiligen Väter willen, denen die heilbringen- zu stellen. Rhegius zählte zu Luthers Anhängern den Verheißungen gegeben worden sind«, und und stand als christlicher Hebraist im Austausch zwar unbeschadet der Tatsache, dass sie »unsere mit jüdischen Gelehrten und Gemeinden. Eine Feinde« seien, »insoweit sie bis jetzt die Wahrheit wichtige Rolle für seine Äußerungen spielte seine des Evangeliums mit blindem Eifer verfolgen«.29 aus Augsburg stammende Frau Anna Weissbrü- cker, die ebenfalls theologisch gebildet war und In seinem »Dialogus von der herrlichen / trostrei- Hebräisch gelernt hatte. Im Unterschied zu den chen Predigt / die Christus Luce xxiiii. von Jeru- Braunschweiger Geistlichen oder dem späten salem bis gen Emaus / den zweien Jüngern am Luther hielt Rhegius fest an seinem Plädoyer für Ostertage / aus Mose vnd allen Propheten gethan die Tolerierung der Juden. Rhegius setzte über- hat«30 mit seiner Frau Anna entfaltete Rhegius dies seine Studien und den Austausch mit jüdi- seine Israellehre.31 Die gegenwärtige Ablehnung schen Gemeinden und Gelehrten fort. Andere des Evangeliums durch die Juden interpretiert er christliche Hebraisten hatten dies in den 1530er traditionell mit der negativ konnotierten Meta- Jahren oft aufgegeben, weil ihre Studien ihnen pher Blindheit, betont jedoch die heilsgeschicht- den Vorwurf angeblichen Judaisierens einge- lich positive Funktion dieser Blindheit für die bracht hatten. Von dieser Stigmatisierung wollten Nichtjuden: »Du hast zuuor aus der Epistel Pauli sie sich befreien, indem sie die Beschäftigung mit Rom. xi. gehöret, wie er die Jüden wil vnuerach- hebräischen (bzw. aramäischen) jüdischen Schrif- tet32 haben / Denn sie haben eine verheissung jrer ten aufgaben.26 bekerung vor dem Jüngsten tage / nemlich / wenn nu die Israeliten nach dem geist / das ist / Auch Rhegius vertrat antijüdische Vorurteile. die erwelte zal der kinder Gottes aus der Heiden- Beispielsweise interpretierte er die Bedrückungen schafft erfüllet ist / das sie alle sind Christen durch die hessische Judenordnung als gerechtfer- worden / so werden die Jüden als denn von jrer tigte Strafe für die angebliche Halsstarrigkeit der blindheit abstehen / vnd sich zu dem rechten dortigen jüdischen Bevölkerung.27 Mit Zustim- Messiah Jhesu Christo versamlen / vnd das Eu- mung übernimmt er die Unterstellung des Hiero- angelium auch annemen / [...] das sie in der nymus, Juden suchten nur »ein weltlich Reich an letzten zeit noch sollen begnadet / beruffen vnd Christo«, und sein Urteil über die häufig »grobe / bekeret werden / durchs Euangelium / welche tölpische / phantaseien der Jüden«. Weil sie eben noch vnter jnen ins reich Christi gehören / der »nicht in der Christlichen Kirchen / da der heilige seine Scheflein wol kennet / vnd sie jren Hirten Geist die warheit der Schrifft allein offenbaret« auch wol kennen werden.«33 seien, hätten »sie keinen rechten verstand in der Biblien«.28 In der Regel eint die allermeisten Reformatoren unterschiedlichster Prägung eine grundsätzliche Rhegius las also die Hebräische Bibel wie seine Ablehnung des Judentums, auch wenn einige christlichen Zeitgenossen selbstverständlich chris- Luthers Schärfe abgelehnt haben. Elemente dieser tologisch und richtete seine Hoffnung auf die antijüdischen Einstellung sind die Überzeugun- Hinwendung der Juden zum Glauben an Jesus gen, dass die Judenheit verblendet sei, den Sinn Christus. Mit diesen Überzeugungen trat er an die des Alten Testaments verdrehe, sich selbst zu jüdischen Gemeinden in Hannover und Braun- erhöhen und mit eigenen Werken Anerkennung schweig heran, stieß dort allerdings auf kein Ver- bei Gott zu verdienen versuche. Weiter erkenne ständnis für seine missionarischen Initiativen. sie nicht die Botschaft, die ihr gegeben ist, töte epd-Dokumentation 39/2015 75

Christus und erfahre den Zorn und den Fluch Judentum auch jenseits von Luthers hasserfüllten Gottes in den drückenden Bedingungen, unter Spätschriften in den Blick kommen. denen sie nunmehr leben müsse. Diese religiösen Vorurteile mischten sich mit gesellschaftlichen Die Evangelisch-Lutherische Kirche in Bayern hat Vorurteilen gegen Juden wie etwa deren angebli- schon 1998 darauf aufmerksam gemacht, dass es cher Gewinnsucht und Ausbeutung der übrigen um mehr geht. In ihrem Wort zum Verhältnis von Bevölkerung oder ihrer Abneigung gegenüber Christen und Juden heißt es: »Es ist für die luthe- körperlicher Arbeit. Wenn auch bestimmte Vorur- rische Kirche, die sich dem Werk und Erbe Mar- teile an Bedeutung verloren, weil sie mit abge- tin Luthers verpflichtet weiß, unerläßlich, auch lehnten Frömmigkeitspraktiken verknüpft waren, seine antijüdischen Äußerungen wahrzunehmen, überdauerte das zeitgemäß aktualisierte antijüdi- ihre theologische Funktion zu erkennen und ihre sche Ressentiment die reformatorischen Aufbrü- Wirkung zu bedenken. Sie hat sich von jedem che nicht nur, sondern entfaltete teilweise auch Antijudaismus in lutherischer Theologie zu dis- mit verschiedensten Schriften und Gutachten tanzieren. Hierbei müssen nicht nur seine Kampf- unter dem Namen verehrter und als Autorität schriften gegen die Juden, sondern alle Stellen im geltender Lehrer der Reformation eine neue Dy- Blick sein, an denen Luther den Glauben der namik, etwa im Bereich der Gegenüberstellung Juden pauschalisierend als Religion der Werkge- von Glaube und Werken oder Gesetz und Evange- rechtigkeit dem Evangelium entgegensetzt.«36 lium.34 Es geht also auch darum, alte hermeneutische Wer Gottes Zorn entkommen wollte, musste sich Fragen neu zu bedenken – auch das hat Nikolaus Jesus Christus zuwenden. Das war die Überzeu- Schneider angeregt: »Die Fragen nach dem Ver- gung vieler reformierter und lutherischer Theolo- hältnis von Altem und Neuem Testament, die gen, ganz gleich, wie sie den Alten und den Neu- Fragen nach dem Christuszeugnis in der Hebräi- en Bund, das Gesetz und das Evangelium im schen Bibel, die Fragen nach der Bedeutung ihrer Einzelnen verstanden. Es ist bezeichnend, dass jüdischen Auslegung für uns Christinnen und »Juden«, »jüdisch« und »Judentum« weiterhin Christen.«37 unhinterfragt als Inbegriff für eine verfehlte Reli- gion gelten und zur Beschimpfung Andersden- Und es muss darum gehen, andere Perspektiven kender dienen. kennenzulernen.

Auch diejenigen, die für Juden eine positive Das ermöglicht nur die Begegnung. Neben der heilsgeschichtliche Zukunft erwarteten, hielten selbstkritischen Sichtung der eigenen christlichen das Judentum für einen vorläufigen, letztlich theologischen Tradition gilt es, auch jüdische doch beschränkten Glauben, der durch eine end- theologische Traditionen wahrzunehmen. zeitliche Hinwendung zum Evangelium über- wunden werde. Die jüdischen Gemeinden sind im Umbruch, sie stellen sich neu auf. Sie setzen neue Themen, Ausblick neue Akzente. All dies bedeutet auch neue Her- ausforderungen – auch für den christlich- Der frühere Ratsvorsitzende der EKD, Nikolaus jüdischen Dialog. Es gilt, neue Orte des Austau- Schneider, hat 2013 als Schlussfolgerungen aus sches zu schaffen. Diese Tagung ist ein solcher dem schweren Erbe der Judenfeindschaft vorge- Ort. Akademien überhaupt sind solche Orte, jüdi- schlagen, das Reformationsjubiläum zum Anlass sche Akademien wie christliche Akademien. zu nehmen, »die antijüdischen Äußerungen Mar- tin Luthers und seine judenpolitischen Empfeh- Auch die Augustana-Hochschule in Mittelfranken lungen als dem Wort Gottes widersprechend zu- ist an dieser Begegnung und an Kooperationen rückzuweisen«.35 Dies haben einige Landeskir- interessiert. Seit Jahren wird dort an der Ge- chen grundsätzlich bereits seit den 1980er Jahren schichte der Synagogen in Bayern gearbeitet. unternommen, vor dem Hintergrund des Refor- »Mehr als Steine« – heißt das Projekt.38 Es geht mationsjubiläums hat das jüngst die EKHN getan. um die lange Tradition des wechselvollen Zu- Solch deutliche Distanzierung und konkrete Kon- sammenlebens von Juden und Christen in Bay- sequenzen wären auch für andere Landeskirchen ern. Diese Geschichte gilt es, zu rekonstruieren. und die EKD wünschenswert. Zusätzlich dazu Und im Frühjahr 2016 wird das neue Institut für sollten auch die übrigen Reformatoren und die christlich-jüdische Studien und Beziehungen an problematischen Vorstellungen von Juden und der Augustana-Hochschule in Neuendettelsau offiziell eröffnet. Denn es geht nicht nur darum, 76 39/2015 epd-Dokumentation

an die Vergangenheit zu erinnern, sondern auch pin, David Neuhold (Hg.), Schwierige Toleranz. Der Umgang mit darum, Zukunft zu gestalten. Auch das wäre eine Andersdenkenden und Andersgläubigen in der Christentumsge- Aufgabe im Umgang mit der aktuellen Debatte schichte (Studien zur christlichen Religions- und Kulturgeschichte um Luthers Einfluss und Wirken – aus protestan- 17), Fribourg – Stuttgart 2012, S. 51–62. tischer Sicht. 15 Der »Judenratschlag« Martin Bucers und der Hessischen Theo- logen, sowie die Diskussion um die zu schaffende Judenordnung in: BDS – Martin Bucer opera omnia, hg. v. Robert Stupperich, Anmerkungen: Bd. 7: Schriften der Jahre 1538-1539, Gütersloh 1964; 360ff. Vgl. daneben Detmers, Judentum, S. 204–215; von der Osten- 1 Heinrich Bornkamm, Martin Luther im Spiegel der deutschen Sacken, Luther, S. 248–253. Geistesgeschichte, Heidelberg 1955.

16 Schreiben Philipps von Hessen an seine Räte vom 23. Dezem- 2 Christian Wiese, Gegenläufige Wirkungsgeschichten: Jüdische ber 1538, BDS 7, S. 382. und antisemitische Lutherlektüren im Deutschen Kaiserreich und der Weimarer Republik, in: Wolfgang Kraus/Harry Oelke/Gury 17 A.a.O. S. 380. Schneider-Ludorff/Anselm Schubert/Axel Töllner (Hg.), Die Re- zeption von Luthers »Judenschriften« im 19. und 20. Jahrhundert, 18 Vgl. dazu auch Cornelis Augustijn, Ein fürstlicher Theologe. Göttingen 2015 (Erscheint Ende 2015). Landgraf Philipp über Juden in einer christlichen Gesellschaft, in: Reformiertes Erbe. Festschrift für Gottfried W. Locher, hg. von 3 Vgl. dazu mit zahlreichen Beispielen Achim Detmers, Reforma- Heiko A. Obermann u.a. Zürich 1993, S. 1–11. Vgl. auch Gury tion und Judentum. Israel-Lehren und Einstellungen zum Juden- Schneider-Ludorff, Der fürstliche Reformator. tum von Luther bis zum frühen Calvin (Judentum und Christentum 7), Stuttgart – Berlin – Köln 2001, S. 64–76, S. 138f. u.ö. 19 Vgl. dazu und zum Folgenden: Schreiben Philipps von Hessen an seine Räte vom 23. Dezember 1538, BDS 7, S. 380–382. 4 So in einer Predigt zu Jer 23,15 (1530/31). Zit. nach Detmers, Reformation, S. 160. 20 A.a.O. S. 380.

5 So in einer Predigt aus der Sammlung Sermonum decades 21 Ebd. quinque, fol. 182v–183r. Zit. nach Detmers, Judentum, S. 173.

22 Ebd. 6 So im Römerbriefkommentar (1533) zu Röm 9,6b–9. Zit. nach Detmers, Judentum, S. 173. 23 Vgl. Schreiben Philipps von Hessen an seine Räte vom 23. Dezember 1538, BDS 7, S. 380. 7 Detmers, Judentum, S. 130.

24 Vgl. die Judenordnung von 1539, in: BDS 7, Anlage 8, S. 8 »Papistas, Iudaeos nostros«, Galaterbriefvorlesung 1531, WA 391ff.; Ausführlich dazu J. Friedrich Battenberg, Judenordnungen 40, I, S. 336, 13. der frühen Neuzeit in Hessen, in: Neunhundert Jahre Geschichte der Juden in Hessen, Beiträge zum politischen, wirtschaftlichen 9 Vgl. dazu Thomas Kaufmann, Luthers Juden, Stuttgart 2014, und kulturellen Leben, hg. v. der Kommission für die Geschichte hier: S. 7–17. der Juden in Hessen, Wiesbaden 1983, S. 83–122.

10 Von den letzten Worten Davids (1543), WA 54, S. 29, 3–6 u. S. 25 Vgl. dazu Battenberg, Judenordnungen der frühen Neuzeit in 30, 1–5. Hessen, S. 83–122.

11 Vgl. dazu jetzt David Nirenberg, Anti-Judaismus. Eine andere 26 Zu Rhegius insgesamt s. Scott J. Hendrix, Toleration of the Geschichte des westlichen Denkens, München 2015. Jews in the German Reformation: Urbanus Rhegius and Braun- schweig (1535–1540), in: Archiv für Reformationsgeschichte 81 12 Vgl. dazu Peter von der Osten-Sacken, Martin Luther und die (1990), S. 189–215; von der Osten-Sacken, Luther, S. 263– Juden. Neu untersucht anhand von Anton Margarithas »Der gantz 270. Jüdisch glaub« (1530/31), Stuttgart 2002, bes. S. 242–270. Zu Melanchthon vgl. Detmers, Judentum, S. 119–143. 27 Hendrix, Toleration, S. 201.

13 Vgl. dazu Detmers, Judentum, S. 144–215 u. 239–317 (für 28 Dialogus von der herrlichen / trostreichen Predigt / die Chris- den frühen Calvin bis 1544). tus Luce xxiiii. von Jerusalem bis gen Emaus / den zweien Jün- gern am Ostertage / aus Mose vnd allen Propheten gethan hat. 14 Die Darstellung hier folgt Gury Schneider-Ludorff, Die Haltung Zit. nach dem Druck Wittenberg 1553, BSB, 4 asc. 861; der Reformatoren zu den Juden, in: Mario Delgado, Volker Lep- epd-Dokumentation 39/2015 77

urn:nbn:de:bvb:12-bsb00017881-3, hier: fol. 53r. Zu antijüdi- 33 Dialogus, fol. 260v.; auch bei von der Osten-Sacken, Luther, schen Überzeugungen von Rhegius mit weiteren Beispielen vgl. S. 267. Thomas Kaufmann, Luthers »Judenschriften«. Ein Beitrag zu ihrer historischen Kontextualisierung, Tübingen 2011, S. 176. 34 Vgl. dazu Nirenberg, Anti-Judaismus, S. 253-271; Kaufmann, Luthers Juden, S. 87-98. 29 Hendrix, Toleration, 214 (= Appendix, Z. 111–113): »Sint igitur Iudaei inimici nostri quatenus adhuc caelo zelo persequuntut 35 Nikolaus Schneider, Das Reformationsjubiläum im Licht des veritatem Evangelii, sed diligamus eos propter patres eorum christlich-jüdischen Verhältnisses, in: Begegnungen 1/2014, sanctos quibus promissiones salutiferae factae sunt.« Überset- S. 4–11, hier: S. 7. zung zit. nach von der Osten-Sacken, Luther, S. 266. Bis zu einem gewissen Grad ähnlich argumentierte auch der Nürnberger 36 Der Text findet sich beispielsweise unter Reformator Andreas Osiander in seinem Gutachten gegen einen http://augustana.de/fileadmin/user_upload/Kirchengeschichte/E Ritualmordvorwurf. Vgl. dazu von der Osten-Sacken, Luther, rkla__rung_der_ELKB_von_1998.pdf (letzter Aufruf 13.08.2015). S. 253–259, hier: S. 256f. 37 Schneider, Reformationsjubiläum, S. 9. 30 Zit. nach dem Druck Wittenberg 1553, BSB, 4 asc. 861; urn:nbn:de:bvb:12-bsb00017881-3. 38 Mittlerweile sind drei der geplanten vier Teilbände erschienen: Band I im Jahr 2007 mit den (ehemaligen) jüdischen Gemeinden 31 Nach Hendrix orientiert sich der »Dialogus« am »Sefer Niz- von Oberfranken, Oberpfalz, Oberbayern, Niederbayern und zachon« (wörtlich »Buch des Sieges«), einer antichristlichen Schwaben, Band II im Jahr 2010 mit denen von Mittelfranken und jüdischen Polemik des Mittelalters. Seine Absicht bestehe darin, Band III/1 mit dem westlichen Teil Unterfrankens. Band III/2 mit den »Nizzachon« zu widerlegen, Toleration, S. 195. den fehlenden Landkreisen Unterfrankens soll ca. 2018/2019 erscheinen. Vgl. dazu http://www.synagogenprojekt.de (letzter 32 unverachtet. Aufruf 13.08.2015).

Autorenverzeichnis

Prof. Dr. Christian Wiese, Martin-Buber- Professor em. am Institut für Allgemeine Erzie- Professur für Jüdische Religionsphilosophie, hungswissenschaft der Goethe-Universität Frank- Goethe-Universität Frankfurt am Main. furt am Main

Prof. Dr. Andreas Pangritz, Professur für Prof. Dr. Gury Schneider-Ludorff, Lehrstuhl für Systematische Theologie am Evangelisch- Kirchen- und Dogmengeschichte an der Theologischen Seminar der Rheinischen Fried- Augustana-Hochschule in Neuendettelsau und rich-Wilhelms-Universität Bonn und Direktor des Co-Direktorin des Instituts für christlich-jüdische Ökumenischen Instituts Studien und Beziehungen an der Augustana- Hochschule Dr. Maria Diemling, Reader in Jewish-Christian Relations an der Canterbury Christ Church Uni- Dr. Axel Töllner, Landeskirchlicher Beauftragter versity der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern für den christlich-jüdischen Dialog und Geschäfts- Prof. Debra Kaplan, Bar-Ilan University, Ramat führer des Instituts für christlich-jüdische Studien Gan (Israel) und Beziehungen an der Augustana-Hochschule in Neuendettelsau Prof. Dr. Micha Brumlik, Senior Advisor am Zentrum Jüdische Studien Berlin-Brandenburg,

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