Der Rote Abreißkalender Revolutionsgeschichte Als Wandschmuck

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Der Rote Abreißkalender Revolutionsgeschichte Als Wandschmuck Der rote Abreißkalender Revolutionsgeschichte als Wandschmuck Wolfgang Hesse Wolfgang Hesse Der rote Abreißkalender Revolutionsgeschichte als Wandschmuck Lübeck 2019 Inhalt Dank 7 Einführung 9 Anmerkungen/Abbildungen 13 Genosse Thomas und der Verlag Carl Hoym Nachf. 17 Anmerkungen/Abbildungen 22 Ressourcen und Bündnislinien 27 Anmerkungen/Abbildungen 37 Jolán Szilágyi und die Kunst der Straße 43 Anmerkungen/Abbildungen 63 Eduard Fuchs und Honoré Daumier 71 Anmerkungen/Abbildungen 81 Fotogeschichten im Medienverbund 85 Anmerkungen/Abbildungen 97 Zensur und Bildkritik 103 Anmerkungen/Abbildungen 111 Die Gegenwart der Vergangenheit 115 Anmerkungen/Abbildungen 139 Honoré Daumier: Lithografen 1834 bis 1871 145 Personenindex 153 Die Geschichte ist Gegenstand einer Konstruktion, deren Ort nicht die homogene und leere Zeit sondern die von Jetztzeit erfüllte bildet. […] Das Bewusstsein, das Kontinuum der Geschichte aufzusprengen, ist den revolutionären Klassen im Augenblick ihrer Aktion eigentümlich. Die Große Revolution führte einen neuen Kalender ein. Der Tag, mit dem ein Kalender einsetzt, fungiert als ein historischer Zeitraffer. Und es ist im Grunde derselbe Tag, der in Gestalt der Feiertage, die Tage des Eingedenkens sind, immer wiederkehrt. Die Kalender zählen die Zeit also nicht wie Uhren. Sie sind Monumente eines Geschichtsbe­ wußtseins […]. Walter Benjamin, Über den Begriff der Geschichte (1940), These XIV Revolutionsgeschichte als Wandschmuck 5 Dank Die Materialsammlung für die vorliegen- Dank gilt Christian Joschke (Université de Studie ist vom Entgegenkommen der Paris-Nanterre), Nadine Kulbe (Dresden) mit Anfragen, Benutzungsdiensten und und Uwe Sonnenberg (Berlin) für ihre Reproduktionen befassten Mitarbeiterin- klärende Kritik des Manuskripts. Nadine nen und Mitarbeiter zahlreicher Instituti- Kulbe hat ihm dankenswerterweise au- onen getragen, für deren freundliche Un- ßerdem seine sichtbare Form gegeben. terstützung angesichts ihrer vielfältigen Für weitergehende Auseinandersetzun- Aufgaben umso mehr zu danken ist. gen mit dem Arbeiterkalender bedeutsam Der Band ergänzt die Publikationen ist, dass die Sächsische Landesbiblio- aus dem von der DFG geförderten For- thek – Staats- und Universitätsbibliothek schungsprojekt „Das Auge des Arbei- Dresden alle Jahrgänge digitalisiert und ters“. Dieses war von 2009 bis 2015/16 im November 2017 online veröffentlicht am Institut für Sächsische Geschichte hat. Für ihre Unterstützung der vorliegen- und Volkskunde in Dresden angesiedelt, den Publikation im Wissenschaftsportal dem der Verfasser sich dankbar verbun- Qucosa sei namentlich Achim Bonte, den sieht. Jens Bove und Martin Munke gedankt. Lübeck, im Herbst 2018 Revolutionsgeschichte als Wandschmuck 7 1 8 Wolfgang Hesse | Der rote Abreißkalender Einführung Die insgesamt 1 750 Abreißblätter des dere Wirkung auf den Beschauer ausübt. von 1923 bis 1933 jährlich im deutschen Denn ein illustriertes Buch wird leichter Verlag der Kommunistischen Internatio- gelesen und gekauft und eine illustrier­ nale, Carl Hoym Nachf. Hamburg-Berlin, te Zeitung ist eine unterhaltendere Lek­ erschienenen Arbeiterkalenders vereinen türe als der Leitartikel einer politischen mehr als ebenso viele Reproduktionen Tageszeitung. Die Fotografe wirkt auf von Grafken, Zeichnungen, Plakaten, das Auge des Menschen, das Gesehe­ Gemälden, Plastiken, Vignetten, Statis- ne spiegelt sich im Kopfe wieder, ohne tiken, Dokumenten und – zunehmend dass der Mensch zu kompliziertem Den­ dominant – Fotografen mit erheblichen ken gezwungen wird. – Auf diese Wei­ Textmengen in den Datumskästen und se kommt die Bourgeoisie der Trägheit auf den Rückseiten.1 Die elf Ausga- breiter Volksschichten entgegen und au­ ben des Kalenders popularisierten An- ßerdem macht man ein gutes Geschäft – schauungs- und Studienmaterial zur denn die illustrierten Zeitungen erreichen Geschichte der Klassenkämpfe vor al- oft Millionenaufagen. Damit aber nicht lem seit der Französischen Revolution, genug, viel wichtiger ist die – letzten mit Rückblicken bis hin zum Deutschen Endes – politische Wirkung, die durch Bauernkrieg. Das Hauptaugenmerk je- die Zusammenstellung mehrerer Bilder, doch lag auf dem noch jungen und durch die Unterschriften und Begleittex­ schon so bewegten 20. Jahrhundert mit te erzielt wird. Das ist das Entscheiden­ dem Epochenbruch des Weltkriegs, mit de. Auf diese Weise kann ein geschickter der russischen Revolution und den Um- Redakteur jedes Foto in sein Gegenteil sturzversuchen in Deutschland sowie verfälschen, kann er den politisch nicht deren sozialen und politischen Voraus- geschulten Leser in jeder gewünschten setzungen und Folgen. Richtung beeinfussen. Diese Tatsachen Das in hoher Aufage produzierte Perio- müssen die revolutionären Arbeiter aller dikum markiert prominent die bald nach Länder klar erkennen. Sie müssen den deren Gründung im März 1919 propa- Klassenfeind mit allen Mitteln bekämp­ gierte Medienpolitik der Komintern. Als fen, ihn auf allen Fronten schlagen.2 eine der ersten massenhaft verbreiteten Mit seinem abwechslungsreichen Ne- Veröffentlichungen dieser visuell akzen- beneinander der reproduzierten Künste tuierten Strategie für Agitation und Pro- und als medialer Hybrid von Wandbild, paganda formte der Arbeiterkalender Wechselausstellung, Illustrierter und frühzeitig mit, was Willi Münzenberg 1931 Lehrbuch richtete sich der Arbeiterka­ in der Rückschau sowohl pressepolitisch lender gleichermaßen an ein revolutio- als auch in Hinblick auf die Verbindung när-proletarisches wie ein linkslibera- von Fotografe und Text charakterisieren les Publikum. Anders als die nach wie sollte: Die Fotografe ist ein unentbehr­ vor textzentrierten und nur sporadisch liches und hervorragendes Propaganda­ bebilderten Tageszeitungen, als gele- mittel im revolutionären Klassenkampf gentlich erscheinende Festpostkarten, geworden. Die Bourgeoisie hat bereits Broschüren und Bücher oder selbst als vor 30 und 40 Jahren verstanden, daß die Illustrierten der Arbeiterbewegungen das fotografsche Bild eine ganz beson­ hinterfng er den Alltag seiner Betrach- Revolutionsgeschichte als Wandschmuck 9 ter und Leserinnen mit einer auf ihre Le- Parteimitgliedschaft nach außen, und benswelt zielenden Vergegenwärtigung gleichzeitig der Stärkung der Kohäsion von Geschichte – dank der sichtbaren innerhalb der Partei. Schließlich sollten Präsenz der immer wieder neuen Bild- die Parteimitglieder drittens mit einer seiten an Küchen- oder Stubenwänden, ‚Gebrauchsanweisung‘ nicht nur für den physisch durch den Seitenwechsel in politischen Alltag, sondern für das Leben den Tagesablauf eingebunden und mit insgesamt ausgestattet werden, also mit dem Angebot kursähnlicher Lektüre einer ‚Weltanschauung‘ im umfassends- knapper, pointierter Texte. So konnte ten Sinne.“4 der Arbeiterkalender noch vor der seit In ästhetischer Hinsicht steht der Ar­ 1924 erscheinenden Arbeiter Illustrierten beiterkalender als prominentes Element Zeitung (AIZ) aus dem Neuen Deutschen exemplarisch für eine Bildpraxis politi- Verlag oder der KPD-Parteiillustrierten schen Eingreifens. Sie hatte sich in der Der Rote Stern gelebtes Leben mit histo- deutschen Sozialdemokratie – in Ausein- rischer Zeit und utopischem Denken ver- andersetzung mit der allgemeinen Me- binden – emotionalisierend, aufklärend, dienentwicklung – seit Aufhebung des unterhaltend. Parteiverbots in den 1890er Jahren etwa Dieses ebenso komplexe wie mit ins- mit Festzeitschriften zum 1. Mai oder gesamt etwa 3 500 Seiten Umfang vo- dem Satireblatt Der Süddeutsche Postil­ luminöse Periodikum wird in der vorlie- lon herausgebildet: Nicht minder klug be­ genden Publikation erstmals umfassend rechnet war die Massenwirkung von Ka­ untersucht.3 Das Interesse gilt dabei ins- lendern, die bis tief in die Kreise dringen, besondere den Jahren bis etwa 1926/27 in welche vielleicht niemals ein Zeitungs­ mit Blickrichtung auf die beteiligten Ak- blatt gelangt. Sie waren und sind bis in teurinnen und Akteure, auf Ressourcen den kleinsten Vers, bis in die unbedeu­ und Rezeptionsweisen. Damit wird zu- tendste Anekdote von der kommunisti­ dem ansatzweise unternommen, den schen Weltanschauung getränkt.5 Der Arbeiterkalender als Element „symbo- Arbeiterkalender steht in dieser Tradition lischer Integration der Mitglieder“ der eines inhaltsbezogenen Bildverständnis- KPD und ihrer Sympathisanten zu re- ses, das die heterogenen Stile, Techni- konstruieren: „Es handelt sich dabei um ken, Provenienzen und Gebrauchswei- einen komplexen dynamischen Kommu- sen nicht-hierarchisch nebeneinander nikationsprozess, über den den Partei- gelten lässt. Die Untersuchung entwi- mitgliedern im Rahmen der alltäglichen ckelt damit auch ein Element einer, nicht Interaktion innerhalb der Partei über auf die künstlerische Avantgarde fokus- Sprache, Medien und andere Symbole sierten, analytischen Betrachtungsweise die spezifschen mit der Parteiidentität der Bildkultur der Weimarer Republik verbundenen Werte, Normen, Einstel- insgesamt. Sie ergänzt so die Forschun- lungen, Konzepte, Wahrnehmungs- und gen zur proletarischen Amateurkultur der Verhaltensmuster vermittelt werden soll- „Arbeiterfotografe“ um die zu einer off- ten. […] So sollte erstens die Existenz ziösen Quelle.6 der Partei als solcher, ihre Struktur, ihre Mit Fug und Recht darf beim Arbeiterka­ Führung, sowie die vorrangig von ihr for- lender von einer „Visual History“ avant mulierte politische Strategie legitimiert la lettre gesprochen werden.7 Im Zeit- werden. Zweitens diente die symboli- sprung seiner Motive und der Aktualisie- sche Integration
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